Angelpunkte Evangelische Gemeinde zu Beirut Jahrbuch 2019 2020
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Angelpunkte Evangelische Gemeinde zu Beirut Jahrbuch 2019 - 2020 Besinnung Rückblick: Ein Gang durch das Jahr Berichte und Bilder: Beginn und Fortgang der Proteste Die Krise Coronavirus im Libanon, Maßnahmen in der Gemeinde Nachruf auf Pfarrer Georg Richter Gemeindeleben im Krisenjahr Engagement für andere: Unser Hilfsprojekt und die Zusammenarbeit mit JCC Eine Erfolgsgeschichte: Der Kirchenladen „Alle eure Sorge werft auf ihn, denn er sorgt für euch!“ 1. Petr 5,7 1
Inhalt Besinnung 3 Rückblick: Ein Gang durch das Jahr 3 Berichte und Bilder: Zur Lage im Libanon „Und alle warenvoll Hoffnung“ - Beginn und Fortgang der Proteste 7 Die Krise - ein Ausnahmezustand folgt dem andern 11 Covid 19 – Coronavirus im Libanon und Maßnahmen in der Gemeinde 15 „Stimmen aus der Quaräntäne“ - Befindlichkeiten von Gemeindegliedern 18 Gottesdienst 2.0 – online in der Kirche 19 Nachruf „Eine Kerze mehr auf unserm Altar“ Trauer um Pfarrer Georg Richter 20 Gemeindeleben im Krisenjahr Unser Kinder- und Jugendtreff 21 Feste vor und in der Krise: Begrüßungsfest 26 Erntedankfest 26 Weihnachtsbasar 27 Weihnachten 29 Impressum: Weltgebetstag 30 Redaktion layout und V.i.S.d.P. Pfarrer Jürgen Henning Engagement für andere: Projekte Ev. Gemeinde Beirut Unser Hilfsprojekt: Pierre Aboukhater Bldg. Die Flüchtlingsschule von Naàme 30 Rue Mansour Jurdak 429 Manara- Beirut 2036 – 8041 / Lebanon Wir arbeiten zusammen mit JCC: Ein Besuch im Palästinnenscamp Dbaye 31 Tel. 00961-1-740 318 (mobil Pfr. 00961-3-839196) Zum Schluss eine Erfolgsgeschichte: Email: „The Olive Branch“ info@evangelische-gemeinde-beirut.org – unser Kirchenladen 34 pfarrer@evangelische-gemeinde-beirut.org Homepage: www.evangelische-gemeinde-beirut.org Youtube-Kanal: www.youtube.com „Evangelische Gemeinde zu Beirut“ Bankkonten: Evangelische Gemeinde zu Beirut Deutschland: Evangelische Bank eG, IBAN: DE92 5206 0410 0006 4286 73, BIC: GENODEF1EK1 Für Spendenquittung Name und Anschrift angeben Libanon: BLOM Bank (Beirut, Bliss Branch) LBP: IBAN: LB32 0014 0000 3301 3000 8804 9113 Redaktionsschluss: 31.05.2020 USD: IBAN: LB67 0014 0000 3302 3000 8804 9112 2
Liebe Freundinnen Ein Gang durch das zurückliegende Jahr. und Freunde in Christus. Es begann recht fröhlich und hoffnungsvoll, Ein sorgenreiches Gemeinde- das neue Gemeindejahr im September nach der jahr liegt hinter uns seit dem Sommerpause. Die Mitgliederzahl lag stabil bei Erscheinen der letzten Angel- 100 eingetragenen Gemeindegliedern, wir hatten punkte. Haben wir es mit dem einige schöne Ereignisse in Planung, die Finanzen fröhlichen Begrüßungsfest noch sahen günstig aus, für unsere Klientinnen und Kli- zuversichtlich begonnen, zog enten in den Sozialen Diensten unserer Gemeinde bald schon die Wirtschafts- und für die Flüchtlingsschulen in der Beka und vor und Finanzkrise auf, fingen die allem in Naáme hatten wir einige Spenden erhalten, Proteste an. Ein permanenter Ausnahmezustand, an darunter einige sehr großzügige, für die ich nicht den wir uns gleichwohl gewöhnten! Und schließlich genug und immer wieder danken kann! Der Sing- schreckte das Coronavirus uns alle auf. Immer kreis trat wieder zusammen und übte den Sonnen- wieder stellte sich die sorgenvolle Frage, ob Ge- gesang des Franziskus für das geplante Begrü- meindeveranstaltung noch stattfinden könne. Eine ßungsfest, der Frauentreff fand im luftigen Hof bei Zeit fielen sie ganz aus. Anfangs war es die Sorge, der Kirche statt – stets mit reichlich Kuchen ob der ob die Zufahrtswege zur Gemeinde wieder einmal vielen Geburtstage, die es nachzufeiern galt - und blockiert sein würden. Später die Sorge, ob unser beim ersten Treffen sogar mit ein paar Fläschchen Zusammenkommen nicht eine Gefahr für die Ge- Sekt zum Geburtstag des Pfarrers, der just auf den sundheit unserer Gemeindeglieder darstellen könn- ersten Dienstag fiel! Und auch die Kinder und El- te. Und jeden Monat neu die Sorge um das Geld! tern vom Kindertreff erfreuten sich im Hof: Sand- Sorgen! Jeder kennt sie, jede drückt sie dann kasten, Tischfußball, Tischtennis oder einfach rum- und wann. Ach, könnte ich dann doch einfach ver- tollen; so viel Auslauf muss man einfach genießen! gessen, was mich beschäftigt, abhaken, was mich Am 15. September feierten wir auf Anregung bedrückt! Und wenn’s nur für einen Tag wär‘, nur und mit großzügiger finanzieller Unterstützung für heute, für heute Abend, wenn ich mich zu Bett unseres Botschafters Dr. Georg Birgelen und seiner lege. Aber die Sorgen bleiben, die Aufgaben und Frau Sibylle, treue Glieder unserer Gemeinde, das Probleme auch. Sorgen sind hartnäckig. Sie kleben. „Begrüßungsfest“, mit dem wir sowohl die neu im Sie werden immer neu geboren. So ist die Welt: Libanon Angekommenen begrüßen und in die Ge- Ich muss sorgen, vorsorgen, fürsorgen, solange ich meinde einladen wollten, als auch das neue Ge- Mensch bin, solange ich lebe. Und doch sagt die meindejahr für alle beginnen. Was soll ich sagen: Bibel – aus der Erfahrung des Glaubens, aus dem es war ein überwältigender Erfolg! So viele waren Erleben Gottes heraus: „Alle eure Sorge werft auf gekommen, tatsächliche „Neulinge“, von denen ihn, denn er sorgt für euch!“ (1. Petr 5,7) einer hernach sogar für unseren Singkreis zu be- Wohl kann ich Sorgen nicht einfach abwerfen geistern war. Und auch „langgediente“ Gemeinde- und nicht überwinden, irgendwie wegtherapieren. glieder waren gekommen, Familien, viele Kinder Aber ich kann sie übertragen, wenn ich weiß: da ist wie erhofft. Denn das Fest begann mit einem gene- einer, der will sie mittragen. – „Er sorgt für rationsübergreifen- euch.“ Das heißt: Ihr seid nicht allein, ihr seid den Gottesdienst in auch in Zukunft nicht allein. Dem alle Macht ge- der nahezu voll geben ist im Himmel und auf Erden und der bei besetzten Kirche uns ist alle Tage bis an der Welt Ende – er gestaltet zum Thema „Mutter unsere Zukunft ja doch mit, er trägt uns mit seiner Erde“ nach dem Liebe, aus der wir nicht herausfallen werden, nie- Sonnengesang des mals, was auch immer geschieht. Darum: „Alle Heiligen Franzis- eure Sorge werft auf ihn, denn er sorgt für euch!“ kus, bei dem viele Sorgen bleiben uns immer, ja. Aber in dem aktiv beteiligt wa- Entscheidenden ist für uns gesorgt. Gott steht zu ren – und eben auch uns, Gott nimmt uns, wie wir sind, Gott trägt unser Kinder: unsere klei- Leben, Gott erträgt auch unseren Kummer und nen „Früchtchen“, Jammer. Und Gott führt uns auch wieder über un- wie ich sie immer sere Sorgen hinaus in einen neuen Morgen, zuletzt liebevoll nenne, in den neuen Morgen der Ewigkeit. also die Früchtl- Ihr / Euer Pfarrer Jürgen Henning 3
Kinder! Ein fröhliches Feiern mit gemeinsamem Deutschland anreisen. Die gesamte Reise musste Essen, Gesprächen, Vorstellung der Gemeindeakti- aufgrund der Unruhen im Libanon abgesagt wer- vitäten, Spielen und Basteln der Kinder setzte sich den. - Über die Ereignisse während der Protestwel- bis zum späteren Nachmittag fort. len in den folgenden Monaten und über die weite- Am 29. September, dem Tag des Erzengels ren Krisen, die uns erschüttern und auch als Ge- Michael und aller Engel, haben wir im themati- meinde wie unsere Gemeindeglieder arg in Mitlei- schen Gottesdienst zu den „Himmlischen Body- denschaft ziehen sollten, bis hin zu den Auswir- guards“ leider von einer „Säule“ unserer Gemein- kungen durch das Coronavirus schreibe ich noch de, unserem Gemeindekirchenrat gesondert und ausführlich! Frank Kuntermann Abschied neh- Jedenfalls war das nächste men müssen, der eine neue leiten- geplante Fest verbunden mit einem de Position in Paris übernahm. Wir Ausflug in die Bekaa, schon nicht sind dankbar für all sein Engage- mehr möglich: das Reformations- ment und seine Anregungen, die er fest in der Michaelskirche der aus seiner Erfahrung im Manage- Schneller-Schule zu feiern und ment als CEO der ABC-Malls her- anschließen Zeit auf dem Gelände aus unserer Gemeinde zugute- von Taanayel rund um den See zu kommen ließ. verbringen. Wir mussten alles ab- Das nächste Fest begingen wir sagen, denn wir wären schon gar mit unserem traditionellen Ausflug nicht aus der Stadt herausgekom- zu Erntedank nach Broummana, men. Dagegen konnten wir zum wo wir Familiengottesdienst und Volkstrauertag wie gewohnt auf das anschließende Dankfest mit dem Friedhof bei den Soldatengrä- gemeinsamem Essen im Garten des Hotels Rüssli bern zum Gedenken zusammenkommen und an- feierten. Erfreulicherweise waren auch die deut- schließend den Gottesdienst auf der Wiese dahinter schen Studierenden der NEST mitgekommen und feiern. Im Gottesdienst am Ewigkeitssonntag hiel- genossen es sichtlich; Verena schrieb dann auch ten wir das Totengedenken für Maria Saidah, geb. prompt einen kleinen Bericht für unser Monatsblatt Fuhs, die seit Jahren wieder in Hamburg lebte, im November. doch ihrer alten Gemeinde weiter verbunden blieb. Schön war auch, dass wir einigen Besuch von Am 3.10.1933 geboren, verstarb sie im Alter von Landsleuten aus Deutschland, Österreich und der 85 Jahren am 26. August 2019. In großer Gemeinde Schweiz hatten, Einzelreisende und Gruppen, die hatten wir mit ihren hiesigen Angehörigen und zu uns kamen, Gottesdienst mit uns feierten, ins Freunden am 6. September eine Trauerfeier in un- Gespräch mit uns kamen – und nicht zuletzt kräftig serer Kirche gehalten. Und auch für unseren „Alt- in unserem Kirchenladen einkauften. Schon im pfarrer“ Georg Richter zündeten wir eine Kerze zu Frühjahr fing eine neue Reisewelle an, der Touris- seinem Gedenken an. (Ein ausführlicher Nachruf mus, der unter dem Krieg in Syrien gelitten hatte, findet sich in diesen Angelpunkten weiter unten.) setzte hoffnungsvoll wieder ein. Am Samstag vor dem 1. Ad- Doch als am 20. Oktober unser vent, am 30. November veranstalte- „Altpfarrer“ Lucius Jordi mit seiner ten wir allen Widrigkeiten zum Gruppe aus Zolikofen bei Bern Trotz unseren Weihnachtsbasar. gekommen war und auch die Pre- Immer hatte er stattgefunden, auch digt im Gottesdienst in seiner alten im Bürgerkrieg. So sollte er auch Kirche hielt, war bereits die „Revo- jetzt nicht ausfallen, selbst wenn lution“ voll im Gange. Wider Er- nicht viele kommen und noch we- warten hatten sie es geschafft, von niger kaufen würden, so dachten ihrem Domizil in Wardanieh bei wir. – Er hat alle unsere bescheide- Saida aus durch Barrikaden und nen Erwartungen übertroffen: so Straßenblockaden hindurch zu uns viele kamen, so eine wunderbare zu kommen. Aber Pfarrer Jordi und Stimmung herrschte, und das Er- seine Frau kann ohnehin im Libanon so schnell gebnis konnte sich auch wieder sehen lassen. Es nichts erschüttern, sind sie doch „bürgerkriegser- war einfach wichtig und Balsam für die Seelen in probt“. Die nächste, für den 27. Oktober angesagte unruhigen Zeiten, dass einmal wieder etwas so war, Gemeindegruppe konnte schon nicht mehr aus wie es immer war. Unser Basar! Und es weihnachtete. 4
Noch vor Weihnachten besuchte ich wieder verheiratet, seine Frau und seine drei Kinder leben „unsere“ Schule in Naáme. Immer von Neuem bin in Bangladesh. Seit 23 Jahren lebt und arbeitet ich begeistert, wenn ich so sichtlich dankbare Schü- Omar im Libanon. Er hätte, nachdem das Hotel, in lerinnen und Schüler sehe, die sich freuen, dass sie dem er zuletzt angestellt war, wie so viele Betriebe zur Schule gehen dürfen. Ich konnte eine sehr im Land schließen musste, auch nach Bangladesh großzügige Spende eines unserer größten Wohltä- zurückgehen müssen. Nun ist er froh über die An- ters übergeben. Inzwischen existiert die Schule nur stellung bei uns, wodurch er weiter seine Familie noch von den Spendengeldern, die uns weitherzige, ernähren und die Kinder zur Schule schicken kann. hilfsbereite Menschen aus Deutschland dafür über- Und wir sind froh, einen so engagierten und ver- geben. Ihnen kann ich nicht genug danken! sierten neuen Mitarbeiter zu haben. Schön war es dann wieder, in großer Gemein- Seit langem fand die Musik einmal wieder Ein- schaft Weihnachten zu feiern. Diesmal waren recht zug in unsere Kirche: Am 2. Februar gaben Klaus viele junge Leute da, vor allem Botschaftsangehö- Schulten aus Moos am Bodensee und Kristina rige, die über Weihnachten Schmid ein Konzert für im Libanon bleiben muss- Orgel und Violine. Die ten, und es sichtlich genos- zahlreichen Besucherinnen sen, deutsche Weihnachten und Besucher dankten zu feiern. Und mir hat es Ihnen den Genuss mit gro- viel Freude gemacht, wider ßem Applaus. Wir hoffen für 26 Leute ein Mahl ko- auf baldige Wiederholung chen zu dürfen, das wir in besseren Zeiten! nach der Vesper und dem Im Februar war auch Glühweinempfang ver- noch einmal ein Treffen im speisten. Bis nach 23.00 Norden möglich. Nachdem Uhr waren wir beieinander. eines im Herbst abgesagt Nach den Weihnachts- werden musste, weil der ferien ließ sich da neue Jahr recht „normal“ an. An Highway blockiert war und man wochenlang nicht die Einschränkungen durch die Wirtschaftskrise nach Tripoli fahren konnte, freuten wir uns zu- hatten wir uns gewöhnt. Es drehte sich viel ums nächst sehr, dass das traditionelle vorweihnachtli- Geld. Alle, auch wir in der Gemeindeverwaltung che Treffen bei Anita stattfinden konnte. Auch der waren ständig mit der Frage beschäftigt: Wie und Einladung Andreas im Februar nach Balamand woher bekommen wir genügend Bargeld, um allen konnten einige noch folgen. Das Märztreffen war Verpflichtungen nachkommen zu können. De- durch den Lockdown schon nicht mehr möglich. monstrationen und Blockaden hielten sich in Gren- Wann wir uns wieder im Norden treffen können, zen. Frauentreff und Kindertreff fanden statt. Wie- bleibt weiter ungewiss. Wir hoffen auf die neue derum viele junge Menschen hatten wir Gemeindesaison im Herbst. Pläne, so am 18. Januar zu Gast in unserer Ge- erleben wir in diesen Zeiten, werden meinde. Der Verein „ Lebanon Intervar- schnell durch Ereignisse durchkreuzt. Zu sity Fellowship (LIVF), vergleichbar sehr waren wir an die Planbarkeit und dem deutschen „Studentenmission in selbstverständliche Machbarkeit aller Deutschland“ (SMD), mit der er auch Dinge in jeder Hinsicht gewöhnt. Nun verbunden ist, veranstaltete ein Studie- lernen wir ganz neu zu schätzen, was wir rendentreffen, einen „Einkehrtag“ in un- leben, was wir in Gemeinschaft leben seren Räumlichkeiten. Es war mir eine können. Hausabendmahlfeier, Gesprä- Freude – selbst früher bei der SMD – zu che, gemeinsames Essen, Fröhlichkeit, und mit den Studentinnen und Studenten Nachdenken … wie vermissen wir das in sprechen zu können. der gewohnten Runde. Einmal werden Zum 1. Februar haben wir unsere wir uns wiedersehen! neue Reinigungskraft und „Mädchen für Unser Omar. Vieles war im Februar noch möglich. alles“, unseren Omar eingestellt, nachdem Dass es uns nicht trifft, hatten wir doch unre- Sarah - wie bereits vor einem Jahr ihre Mutter Jou- alistischerweise alle irgendwie gedacht. Jedenfalls da – in die Schweiz gegangen war. Omar kannten besuchte ich eine weitere Einrichtung, die wir als bereits viele vom Basar her, wo er schon mit viel Gemeinde mit Spendengeldern an JCC (Joint Elan mitgeholfen hatte. Omar ist 51 Jahre alt und Christian Committee for Social Support) unterstüt- 5
zen: Das Palästinensercamp in Dbaye, - auch dar- Nachdem Ende April die Zahl der Neuinfizier- über ist im Weiteren noch in einem eigenen Artikel ten stark rückläufig war, veröffentlichte die Regie- zu lesen. rung einen Plan zur allmählichen Rückkehr in ei- Im März dann der Weltgebetstag! Das letzte nen gleichwohl noch nicht vollkommen gewohnten große Ereignis in unserer Gemeinde, von einer Alltag. Am Ende sollten nach dem 8. Juni auch kleinen Gruppe liebevoll vorbereitet und gestaltet, wieder gemeinschaftliche Moscheegebete und Ge- auch der Singkreis beteiligte sich gern wieder. Die meindegottesdienste in den Kirchen möglich sein. am folgenden Sonntag, dem. 15. März angesetzte Ganz überraschend wurde das aufgrund der sehr Gemeindeversammlung konnte nicht mehr stattfin- positiven Entwicklung auf das zweite Maiwochen- den, sie fiel schon dem allgemeinen „Lockdown“ ende vorgezogen, sodass wir am 10. Mai wieder zum Opfer. Von da an fanden auf Anweisung des einen Gottesdienst in der Kirche mit Gemeinde Innenministeriums nach Ausrufung des medizini- feiern konnten: allerdings in großem Abstand sit- schen Notstands und dem folgenden monatelangen zend und unter Einhaltung der Hygieneregeln. Sie- Ausnahmezustand überhaupt keine Gemeindever- ben Gemeindeglieder waren gekommen. Die ande- anstaltungen mehr statt. Das Gemeindeleben verla- ren konnten weiter den Gottesdienst am Bildschirm gerte sich ins Internet – ein Segen, dass es das gibt. mitfeiern. Den Gottesdienst am Sonntag Rogate am Wir hielten untereinander Kontakt, versuchten ei- 17. Mai konnten wir allerdings schon wieder nicht nander aufzumuntern und uns umeinander zu als Gemeindegottesdienst feiern, da die Regierung kümmern. Zunächst verschickte ich E-Mail- wegen des neuen Anstiegs der Infektionszahlen Andachten, dann gingen wir sehr bald zu On- erneut einen viertägigen Lockdown verhängt hatte. linegottesdiensten über. Großen Dank an unseren So gestalteten sich die Gottesdienste „Zweigleisig“ Sascha, der den Anstoß gab und jede Woche den weiter bis in den Sommer hinein: Himmelfahrt, Gottesdienst aufnahm, den ich am Sonntag allein – Pfingsten … in der Kirche und am Bildschirm - meist aber nicht ganz - in der Kirche ab 11.00 Uhr und am 14. Juni ein geplantes bescheidenes Ge- hielt und den viele zuhause am Bildschirm mitfei- meindefest mit Abstand und Anstand in Anschluss erten – schmerzlich allerdings sicherlich noch ein- an einen Gottesdienst zu dem Lied „Schmücke mal die so begangene Kar- und Osterwoche. Das dich, o liebe Seele“. Das aber schon nach Redakti- Einschalten vieler aber, die auch vorher schon nicht onsschluss, da die Angelpunkte früher in Druck mehr zur Kirche kommen konnten, veranlasste uns gehen mussten, damit ich sie zu meinem in diesem schließlich zu dem Vorhaben, in Zukunft jeden Jahr aus verschiedenen Gründen früheren Aufbruch Sonntagsgottesdienst live zu übertragen - Dank der in den Heimaturlaub noch mitnehmen konnte. Da- großzügigen Unterstützung unseres Botschafters rum wird wohl der Jahresrückblick in den nächsten Dr. Georg Birgelen und des Auswärtigen Amtes, Angelpunkten mit einem Abschied beginnen: Un- das unbürokratisch Mittel zur Anschaffung der ent- sere treuen Gemeindeglieder Botschafter Dr. Georg sprechenden Gerätschaften zur Verfügung stellte! Birgelen und seine Frau Sibylle nahmen das Ab- Die Schwierigkeit bestand allein in der Beschaf- standsfest zum Anlass, sich von der Gemeinde zu fung angesichts der im Lockdown geschlossenen verabschieden, da sie im Sommer ganz nach Elektronikgeschäfte, weshalb sich das Vorhaben Deutschland zurückkehrten, wo Dr. Birgelen noch denn auch hinauszögerte. einmal eine neue verantwortungsvolle Position Am 19. April verstarb unser Gemeindeglied übernehmen wird. Gottes reichen Segen wünschen Maria Hildegard Tauscher – geb. am 21. Februar wir, Dank für alles Engagement für uns sagen wir – 1939 - im Alter von 81 Jahren. Noch am selben und „auf Wiedersehen“, vergesst uns nicht! Tag wurde ihr Leichnam auf unserem protestanti- schen Friedhof den Notstandsbestimmungen zur Jürgen Henning Coronavirus-Epidemie gehorchend in ganz kleinem Kreis beerdigt. Ihre in New York weilende Tochter Nadine konnte ja seit der Flughafenschließung nicht mehr herkommen und auch nicht von ihr Ab- schied nehmen. Das vergrößert die Trauer, und wir fühlen mit ihr. Eine weitere Tochter und ein Sohn waren vor Jahren leider schon gestorben, ebenso ihr Ehemann. Möge sie, die viel Leid tragen musste in ihrem Erdenleben, mit ihnen nun schauen, was sie geglaubt hat und geborgen sein bei Gott! 6
Und alle waren voll Hoffnung Schulen, Universitäten, öffentliche Einrichtungen und Banken bis auf weiteres geschlossen bleiben Erinnerung an den Beginn der Proteste sollten. Als wir mittags zum Gemüsehändler gin- bis zum Rücktritt des Premierministers gen, um für die Nachfeier unserer Hochzeit mit Freunden am Samstag einzukaufen, stellten wir fest, dass bis auf die Supermärkte auch alle Ge- schäfte in Hamra geschlossen waren. Immer wieder fuhren an uns Züge von wild hupenden Motorrä- dern vorbei mit jungen Leuten darauf, die libanesi- sche Fahnen schwenkten oder als Kopf- und Hals- tücher trugen. Das löste schon ein etwas „mulmi- ges“ Gefühl aus. Wir erfuhren, dass die Ost-West- Verbindungen in der Stadt überall unterbrochen waren. Ob durch die Armee oder Demonstranten, Am Freitag den 18. Oktober schrieb ich auf war nicht klar. Jedenfalls kam niemand durch. Le- WhatsApp an meine Kinder nach Deutschland: diglich Müllabfuhr und Versorgungsfahrzeuge „Habt ihr schon was mitbekommen vom Libanon? wurden ab Samstag wieder durchgelassen. Alles ist zu, also Unis, Schulen, öffentliche Ein- Unsere Party am Samstag auf der Dachterrasse richtungen, Banken. Jetzt gibt‘s scharfe Proteste fand statt. Aber die Hälfte der Geladenen konnte gegen die Regierung. Auslöser waren neue Steuern, nicht nach Hamra durchkommen. Lediglich die in u.a. 20 Cent pro Tag auf WhatsApp-Nutzung. Das Westbeirut Wohnenden konnten kommen – und brachte gestern Abend das Fass zum Überlaufen: eine Freundin aus Baabdat in den Bergen über Jal Kaputte Scheiben, brennende Autos, verwüstete El Dib, die in langer Fahrt auf abenteuerlichen Straßen ..., wie damals in Athen. Es gab auch zwei Schleichwegen herfand und von den Blockaden Tote und Verletzte. Den Kindertreff heute musste durch Demonstrierende berichtete. ich absagen, weil auch keiner auf den Campus der Überall das gleiche Bild: demonstrierende AUB (American University of Menschen, sehr viele junge, aber auch ältere und Beirut) kommt, wo heute ein alte! Generationenübergreifend, „Tree Hunting“, eine botanische schichtübergreifend, religions- Führung für Kinder, sein sollte. übergreifend! Zuweilen fast Par- Es hatten sich 46 angemeldet. tystimmung – oder besser viel- Schade! Aber man kommt ohne- leicht: „Kirchentagsstimmung“, hin schlecht durch. Zentrale Stra- wie man sie in Deutschland kennt. ßen sind blockiert. Mal sehen, wie Und das heißt vor allem: es wird es weitergeht“. friedlich demonstriert. Nachdem Wir hatten zunächst am Don- sich der Volkszorn am Donners- nerstagabend (17.10. – Beginn der tagabend Luft gemacht hatte und Proteste) nichts mitbekommen. wohl auch einige Chaoten durch Nur auf dem Weg zum Super- die Polizei verdrängt worden wa- markt nahmen wir eine seltsame ren, setzten die Menschen fried- Ruhe in den Straßen wahr, der lich Zeichen, dass sie nicht länger Verkehr war weniger stark, weni- einfach alles über sich ergehend ger Leute waren unterwegs. Erst am nächsten Mor- in für die allermeisten miserablen gen erreichten uns die Nachrichten und Bilder. Und Zuständen weiterleben können und wollen: lan- meine Frau Bettina (Professorin an der Heilig Geist desweit, ob in Downtown Beirut um den Märtyrer- Universtät Kaslik) erhielt die Mitteilung, dass der platz, an den zahllosen Blockadestellen auf dem Costal Highway nach Tripoli an vielen Stellen Highway, in den größeren Städten und den kleinen durch Straßensperren blockiert sei, kein Durch- Orten, Jal El Dib, Kaslik, Jounieh, Byblos, kommen zur Uni nach Kaslik! Beim Öffnen der Batroun, Tripolis! – Und eben sogar nach Süden Fenster war Brandgeruch wahrnehmbar. Ein uns hin bewegte es sich, wo viele Schiiten leben und zugeschicktes Foto mit Panoramablick auf Beirut bislang allerhöchstens für die Hisbollah und gegen von Nordosten her zeigte eine Stadt im Nebel, in Israel auf die Straße gingen, aber nicht gegen die der an verschiedenen Stellen Rauchsäulen aufstie- Regierung, an der Amal und Hisbollah beteiligt gen. Dann kam die offizielle Verlautbarung sind: Khalde, Damour, Sidon, Tyrus, Nabatieh … 7
Das irritierte nicht zuletzt Hisbollahführer mung, dass das persönliche Leben und das Ge- Hassan Nasrallah aufs Höchste. Vor allem aber, meindeleben mit den Gottesdiensten, Andachten, dass es ein führerloser Protest war: Kein Gesicht, mit Frauentreff, Kindertreff, Sitzungen, Administ- das man plakativ angehen konnte, keinen, den man ration… irgendwie normal weitergeht. verantwortlich machen und womöglich greifen und Das nach Ablauf der 72 Stunden tatsächlich am beseitigen konnte. So kam von Montag (21. 10.) verkündete Nasrallah nur die unterstellende Reformpaket fand allerdings Frage: „Wer hat euch bezahlt?“ keine Zustimmung bei der Be- – Das aber war und ist symp- völkerung. Es wurden einige tomatisch für die führenden Reformen, darunter Verzicht Eliten im Libanon: Sie können auf Neuverschuldung des Staa- sich gar nicht vorstellen, dass tes, Privatisierung des Energie- etwas ohne Bezahlung, ohne und Kommunikationswesens, Korruption geht, dass es einfach Gehaltskürzungen für Regie- ein solidarisches Denken und rungsmitglieder und Beamte Verhalten geben kann. Und angekündigt und ein Vorgehen genau dagegen richtete sich der gegen Korruption durch eine Protest, gegen Korruption, Regierungskommission in Aus- Misswirtschaft und ein konfes- sicht gestellt. Die Proteste gin- sionelles politisches System, gen weiter. „Alle“ und „Alles“ das eine Gesellschaft, ein Land hieß es, besonders nachdem die lähmt und jede Entwicklung christliche Partei ihre Minister verhindert. So waren die Forderungen der Protest- aus der Regierung zurückgezogen hatte. Alle soll- bewegung ganz klar und eindeutig: Auflösung des ten zurücktreten, alle Forderungen sollten erfüllt Parlaments; Rücktritt der gesamten Regierung und werden, alles sollte sich ändern. „Alle heißt alle“, Neuwahlen; Bildung eines „Technokratenkabi- wurde zum Slogan der Bewegung. Und man sollte netts“ aus sachkundigen, unprätentiösen, fähigen endlich zur Kenntnis nehmen, dass die Protestbe- Frauen und Männern; Reform des politischen Sys- wegung nicht eine einer einzelnen Interessengruppe, tems; Verabschiedung eines Ge- sondern eine zivilgesellschaftli- setzes zur Rückführung verun- che Bewegung, ein Aufschrei treuter Staatsgelder; Vorgehen und Aufstand quer durch das gegen Korruption und Misswirt- gesamte libanesische Volk ist. schaft und dazu Einsetzung ei- Die Demonstrationen hiel- ner unabhängigen Kommission. ten unablässig an. In Downtown Wir dachten tatsächlich an- Beirut war eine Zeltstadt ent- fangs noch, nach dem Wochen- standen. Menschen schliefen ende würden die Proteste enden dort. Tag und Nacht harrten die und die Menschen in das All- Demonstrierenden aus. Auch tagsleben zurückfinden, beson- einsetzende heftige Regenfälle ders, nachdem die neuen Steu- hielten sie nicht ab, weiterzuma- ern sofort wieder zurückge- chen. Die Rede von Staatspräsi- nommen wurden und Premier- dent Aoun zur Lage der Nation minister Hariri verlautbart hatte, am Donnerstag (24.10.) erntete er habe der Regierung ein Ulti- nur Gelächter. Man konnte es matum von 72 Stunden gestellt, sogar aus Bars und Restaurants um ein Reformprogramm auszuarbeiten. Am Sonn- heraus hören, wo Menschen die Rede an Bild- tag feierten wir Gottesdienst mit einer schweizeri- schirmen verfolgten. Niemand schien die Riege der schen Kirchengemeindegruppe, die von Sidon her alten Kämpfer mehr ernst zu nehmen. Daraufhin problemlos mit dem Bus zu uns kommen konnten. gab es aber auch kleinere Gegendemonstrationen, Alles wirkte so „normal“. Das war aber das wider- z.T. mit Gewaltanwendung gegen Mitglieder der sprüchliche Empfinden während der ganzen Zeit: Protestbewegung – offen von Anhängern der Amal Das Empfinden, dass hier so etwas wie eine Revo- und Hisbollah. Das zeigte deren spürbare Furcht lution im Gange ist und das öffentliche Leben still vor Verlust ihres Einflusses und ihrer Deckung steht einerseits. Und andererseits die Wahrneh- durch die Regierung. Reformen und Vorgehen ge- 8
gen Korruption würden ja auch sie stark treffen, die ra nach Downtown an. Für uns ein Ausdruck unse- mit iranischen Geldern und Einnahmen etwa aus rer Solidarität mit den Menschen in diesem Land, Drogenhandel ihr System betreiben. Polizei und in dem wir als Gäste leben! Auf dem Weg kamen Armee verhinderten zunächst Ausschreitungen die Protestzüge der LAU („Libanese American vonseiten der Gegendemonstranten. Abends University“) und der altehrwürdigen jesuitischen schrieb ich an meine Schwägerin: „Das Militär hat USJ („Université Saint-Joseph“) hinzu – ein be- heute einen Befehl ver- eindruckender langer Zug weigert, die Barrikaden engagierter junger Men- gewaltsam zu durchbre- schen und ihrer Lehrer. chen. Sie stehen auf der Besonders berührt hat Seite der Protestbewe- mich als Pfarrer, plötzlich gung. Das ist schon Revo- neben mir zwei Nonnen lution. Die Regierung ist im Ornat und einen Pries- praktisch handlungsunfä- ter im Collarhemd Fahnen hig“. Und überall hörte schwenkend mitmarschie- man bei den Demonstrati- ren und mitskandieren zu onen nun auch den Ruf sehen:„Thawra“! „Thawra“! Thawra“! – Thawra“! – „Revolution“! „Revolution“. Hunderttausende riefen es Am Freitag (25.10.) mit einer Stimme über öffnete ich ganz normal die Tür zum Kindertreff, den Märtyrerplatz und ganz Downtown. wohl wissend, dass nicht viele kommen könnten, Nach dem Gottesdienst am Sonntag folgten wir doch wie sagte Luther: „Wenn ich wüsste, dass dem Aufruf, sich einer Menschenkette anzuschlie- morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ßen, die ein friedliches Protestband bilden sollte, ein Apfelbäumchen pflanzen“. „Sechs Kinder ka- welches das ganze Land umschließt, von Tripolis men mit ihren Müttern. In friedlicher Stimmung im Norden bis nach Tyrus im Süden, über 170 Ki- haben wir die Martinslämpchen geprickt“, schrieb lometer. Ab 12.00 Uhr begannen die Menschen ich einer aus dem Team, die nicht kommen konnte. sich an verschie- Und sie teilte mir in ihrer Antwort mit, dass es gut denen Orten zu war, dass sie sich nicht auf den Weg gemacht hatte: sammeln und in ihrem schiitisch geprägten Stadtviertel wurden aufzustellen. Wir gerade zwei Demonstrierende auf dem Heimweg waren gegen aus einem Gebäude heraus niedergeschossen, das 13.00 Uhr an der anschließend von der Polizei gestürmt wurde. Die Corniche. Um Lage schien sich zuzuspitzen. Die für den nächsten 14.00 Uhr wurde Gottesdienst am Sonntag angesagte deutsche Rei- gemeldet, dass segruppe sagte ab. Sie war aufgrund der Entwick- nun eine 180 Km lungen und der Reisewarnungen des Auswärtigen lange Menschen- Amtes in Deutschland geblieben. kette von Tripoli Am Samstag (26.10.) hielt es meine Frau und bis Tyrus ge- mich allerdings schlossen war. auch nicht mehr im An die 200.000 Haus, das wir in Menschen. Beeindruckend! den zurückliegen- Ob jetzt noch einer der herrschenden Herren zu den Tagen nicht oft sagen wagt, die seien alle vom Ausland bezahlt? verlassen hatten, Die Autos sind hupend, die Insassen applaudierend und wenn, dann und fahnenschwenkend an uns vorbeigefahren. Der hatten wir uns nur Anblick einer alten muslimischen Frau, die aus in der näheren dem Rückfenster eines Wagens winkte, berührte Umgebung bewegt. mich ebenso wie ein kleines Mädchen, das ein Wir schlossen uns Kreuzchen an einer Halskette tragend aus dem am Nachmittag Schiebedachfenster heraus stehend die libanesische dem Protestmarsch Flagge schwenkte. Reich geschmückte Ladies in der AUB von Ham- fetten SUVs mit Flagge an der Scheibe fuhren 9
ebenso rhythmisch hupend an uns vorbei wie Tankstellen angekündigt wurde. Weitere Versor- weniger betuchte einfache Leute auf Motorrädern: gungsengpässe waren zu erwarten. Der Vater etwa, der vorn zwei Kinder auf dem Am folgenden Dienstag (29.10.) spitzte sich Schoß hatte und die Lage weiter zu. Vor allem kam es am Mittag zu die Mutter dahin- gewaltsamen Ausschreitungen. Sascha, unser ehe- ter mit weiteren maliger Praktikant, gab uns seinen Augenzeugen- zweien, die liba- bericht, als er noch sichtlich aufgeregt am Nachmit- nesische Flagge tag zu uns kam. Das Goetheinstitut, wo er jetzt ar- als Kopftuch ge- beitet, hatte alle Mitarbeitenden mittags nach Hau- bunden. Beson- se geschickt. Es liegt nahe Downtown. Er traf sei- ders bewegend nen Freund bei den Demonstranten. Dann sahen sie aber war für mich, als ein Militär- fahrzeug vorbei- fuhr, besetzt mit Soldaten, die mit der Hand an der Schläfe salutierten. Und aus den Polizeiautos her- aus grüßten Polizistenhände mit dem Peace- Zeichen. Und ernteten Kusshände dafür! Erste Ge- rüchte über einen tatsächlich bevorstehenden Rück- tritt Hariris erreichten uns. Ob es gleich am Montag geschehen würde? Ob das Land dann zu einer ge- von oben von der Ring-Brücke her die Störtrupps wissen Normalität zurückkehren würde? Ob die von Amal und Hisbollah herunterstürmen, hunderte Banken wieder öffnen würden? schwarz gekleidete Männer. Die Polizei war ihnen Am Montag (28.10.) blieben die Banken zu, nachgerannt ohne aber Weiteres zu unternehmen. auch weiterhin Schulen, Universitäten, öffentliche Erst die Armee, die eine halbe Stunde später an- Einrichtungen, Geschäfte. Und uns ging in der rückte, drängte sie zurück. In der halben Stunde Gemeinde wie vielen das Geld aus. Die Banken hatten sie alles kurz und klein geschlagen. Sascha blieben allerdings nicht wegen der Demonstratio- und sein Freund haben sich in die große Moschee nen geschlossen, sondern wegen der schon voll im geflüchtet: „Da flog alles in der Luft rum wie bei Gange befindlichen Finanzkrise. Nach dem letzten einem Tornado. Hinterher war überall Blut auf der desaströsen Ranking fürchtete man, dass viele in Straße, weil die die Demonstranten mit Baseball- großem Stil ihr Geld abheben und auf dem freien schlägern zusammengeschlagen haben. Und was Markt in US-Dollar umtauschen würden, was einen sie nicht kaputtschlugen, ließen sie mitgehen, Han- radikalen Kursverfall zur Folge hätte. Auszahlun- dies und was sie erwischen konnten.“ – Vielleicht gen in US-Dollar waren bereits ein verzweifelter Versuch, zu ver- stark reglementiert worden. Jeden- hindern, was kurz darauf geschah? falls konnten wir nun zum Monats- Am Nachmittag des 29. Oktober ende nicht mehr allen Gemeinde- verkündete Premierminister Har- angestellten das Gehalt auszahlen, iri seinen Rücktritt. auch das Pfarrgehalt wurde bis auf Allgemeiner Jubel. Man fühlte weiteres ausgesetzt, Rechnungen sich als Sieger. Man hatte etwas konnten nicht mehr beglichen wer- bewegt! Und ich war beeindruckt den – und vor allem: Spendengel- von diesen Menschen, die jetzt so der in großer Höhe konnten wir zusammenstanden. Am Tag danach vorerst nicht mehr auszahlen, auf blieb es noch ruhig, Protestierende die verschiedene Organisationen aus den Camps waren nach Hause dringend warteten, mit denen wir in gegangen, Straßenblockaden auf- der Hilfe für syrische Flüchtlinge, gehoben. Es wurde angekündigt, besonders in der Beschulung der dass Schulen, Universitäten, öffent- Flüchtlingskinder zusammenarbei- liche Einrichtungen, Banken den ten. Abends wurden Gemeindejeep und unser PKW Betrieb wieder aufnehmen sollten. – Aber wie wür- noch einmal vollgetankt, weil die Schließung der de es nun weitergehen? Jürgen Henning 10
Der Libanon ruter Pfarrehepaar Weltzien zu Besuch gehabt. Den kämpft weiter mit Ausflug in die Bekaa, wo wir den Gottesdienst ei- einer Wirtschafts- gentlich in der Kirche der Schneller Schule feiern und Finanzkrise wollten, hatte ich am Freitag angesichts der Ge- und leidet unter samtsituation absagen müssen. Die Entwicklungen dem Krieg im be- im Laufe des Sonntags sollten auch zeigen, dass nachbarten Syrien. das die richtige Entscheidung war: mittags hoben Die Staatsver- die Demonstrationen und Blokaden überall erneut schuldung liegt bei an, nachdem Hisbollah und Amal verkündet hatten, 92 Mrd. US-Dollar, keineswegs auf ihre Macht verzichten zu wollen eine der höchsten und ihre Minister aus der Regierung abzuziehen. Schuldenquoten In den folgenden Wochen fanden die Demonst- weltweit. Die Kriti- rationen mehr als gezielte besondere Aktionen statt. ker warfen den So etwa der Marsch der Frauen, eine interreligiöse Regierenden vor, Reformen über Jahre verschleppt Lichterprozession mit Kerzen und Gebeten, oder zu haben. Die soziale Ungerechtigkeit ist augenfäl- Studentenproteste und „Sitins“ vor den Universi- lig: Einer kleinen Wirtschaft und Politik beherr- tätseingängen, Demonstrationen vor Verwaltungen schenden reichen Elite steht die breite Masse ar- wie etwa Telefon- oder Elektrizitätsverwaltung. mer Bevölkerungsschichten gegenüber. Die Le- Der regelmäßigste Protest war das abendliche benshaltungskosten aber sind höher als etwa in der „Töpfeschlagen“ um 20.00 Uhr von den Balkonen Schweiz und liegen an weltweiter Spitze. Der Zu- der Häuser. Überall war es zu hören. Nur anschei- gang zu Strom und fließendem Wasser ist täglich nen nicht in den Ohren der Eliten, die nicht wahr- rationiert. Das politische System, das vom religiö- haben wollten, dass die Menschen nicht länger be- sen Proporz und dem daraus resultierenden Ein- reit waren, die seit dem Bürgerkrieg herrschenden fluss der verschiedenen Religionen geprägt ist, war Zustände hinzunehmen und sich in die Verhältnisse der Versuch einer Konkordanzdemokratie, die allen zu ergeben. Aber es gab auch von Parteien organi- Bevölkerungsgruppen die Teilhabe am politischen sierte Gegendemonstrationen. Als sich zwischen- Leben ermöglichen sollte. Seit dem Bürgerkrieg zeitlich abzeichnete, dass die kommissarische Re- (1975-1990) wird die konfessionelle Parität ausge- gierung unter Hariri sich weiter Zeit ließ und auch glichen geregelt. Ebenso lange lähmt der Konfessi- die Möglichkeit bestand, dass der Staatspräsident onalismus jedoch jede zivilgesellschaftliche Ent- Hariri erneut als Premierminister berufen könnte, wicklung. flammten wieder landesweite heftige Demonstrati- onen auf, wurden Straßen erneut blockiert. ------------------------- Am 12. November war zu einem Generalstreik aufgerufen worden: Reaktion auf das geplante Zu- Die Krise - sammentreten des Parlaments „as usual“. Das Er- ziehungsministerium ordnete erneut die Schließung ein Ausnahmezustand folgt dem anderen von Schulen und Universitäten an. Auch Behörden und vor allem Banken blieben wieder geschlossen. In der vereinbarten Zeit des Stillhaltens nach Doch aus Gründen, die nichts mit den Einschrän- dem Rücktritt Hariris, waren die Demonstrationen kungen durch die Proteste zu tun hatten und woge- eher Mahnwachen, mit Ausnahme von Tripoli und gen sich doch die Proteste von Anbeginn auch rich- Saida, wo es heftig weitergegangen ist. Es blieb die teten: die Wirtschafts- und Finanzkrise trat nun Forderung an den Staatspräsidenten, jemanden mit offen zu Tage: Die Abhebung von Geld wurde li- der Bildung eines Technokratenkabinetts zu beauf- mitiert auf den Wert von 1500 Dollar pro Monat. tragen. Universitäten, Banken, öffentliche Einrich- Dollar konnte nur noch erhalten, wer ein bestücktes tungen waren zunächst tatsächlich wieder geöffnet, Dollarkonto hatte. Ein Umtausch bei Banken war sodass wir Geld für die Gemeinde abheben konn- nicht mehr möglich. Wenn man am Automaten ten. Die Blockaden, bis auf die in Tripoli und Saida Dollar als Währung eingab, sprang es sofort auf und einige in der Bekaa, waren aufgehoben. Alle libanesische Pfund um. Der Wert des Pfundes wur- Geschäfte waren wieder auf, das Alltagsleben fühl- de zwar von der Zentralbank immer noch mit etwas te sich halbwegs normal an. über 1500 LL pro Dollar angegeben. In den Wech- Am dritten November haben wir in kleiner selstuben musste man allerdings inzwischen für den Schar von 16 Leuten in unserer Kirche den Sonn- Dollar bis 1850 LL bezahlen. tagsgottesdienst gefeiert, sogar das ehemalige Bei- 11
Die Preise stiegen. Die Preise, die in den Su- Flüchtlingshilfe und Beschulung syrischer Flücht- permärkten auf den Waren standen, galten nicht lingskinder an verschiedene Organisationen wei- mehr. An den Kassen wurden schon etwa 10 % tergibt sind 1,5 Mio. LBP kaum mehr als nichts! draufgeschlagen. Firmen und Privatpersonen, die Und wie dramatisch war das für Betriebe aller Art? Zahlungen in Dollar leisten mussten, waren ge- - Viele Firmen, Geschäfte, Restaurants, Hotels zwungen, das libanesische Geld, das sie nur noch mussten schließen. Viele Menschen wurden ar- erhielten, bei freien Wechslern umzutauschen. Die- beitslos. Und die Preise stiegen schleichend weiter ses und die Verknappung durch zurückgehende – „hatte der Käse letzte Woche nicht noch 2000 Importe bewirkten weiter steigende Preise oder einen weniger gekostet? zunehmend spürbaren Mangel. Besonders drama- Bis Weihnachten waren es schon 40 Prozent tisch etwa bei Öl und Benzin. Zeitweilige Tank- der Libanesen, die unter der Armutsgrenze lebten. stellenschließungen waren an der Tagesordnung. Besonders erschreckend: Immer mehr Menschen Ein regelrechter Schock nahmen sich das Leben, für alle war die gezielte Er- Männer, die in der hiesigen schießung von Alaa Abou patriarchalen Gesellschaft als Fakhr, einem Drusen, an einer die „Ernährer“ gelten, brin- Straßenblockade in Khalde gen sich um, weil sie nicht am Abend des 12. November mehr für ihre Familie sorgen durch einen Soldaten bei dem können. Inzwischen gab es Versuch, eine Straßenblocka- Gedenk- und Trauerfeiern für de aufzuheben. Am Tag nach sie. Der spektakulärste Fall seinem Tod wurde der Sarg war ein Mann, der die mit seinem Leichnam in ei- 700000 LBP, also gerade mal nem langen Demonstrations- gut 400 Euro, für die Krebs- zug durch die Innenstadt zum behandlung seiner Frau nicht Riad El Sol getragen und dort aufbringen konnte, weshalb vor dem Parlament aufge- das Krankenhaus sie nicht bahrt. An der Stelle seiner aufnahm. Er hat sich aus Erschießung wurde eine Ma- Verzweiflung selbst getötet. rienstatue mit seinem Bild Krankenhäuser verweigerten aufgestellt. Und die Beerdi- die Behandlung, Menschen gung in seinem Heimatdorf starben, weil sie kein Geld Choueifat wurde von allen politischen Seiten in- hatten. Das war inzwischen auch Alltag. Medika- strumentalisiert. Voran der Führer der drusischen mente und medizinischen Hilfsmittel wurden „fortschrittlichen sozialistischen Partei“ Jumblat, knapp. Selbst das Krankenhaus der AUB hatte kei- sprach von einem „Märtyrer der Revolution“ – und ne Impfstoffe mehr, nicht einmal für eine Teta- ließ sich (!) von den Trauergästen kondolieren. nusimpfung, wie sie meine Frau als Auffrischungs- Irgendwie gewöhnten wir uns alle an den per- impfung brauchte. manenten Ausnahmezustand. Mal konnten Ge- Das Leben in der Kirchengemeinde versuchten meindeveranstaltungen stattfinden, mal nicht, Das wir so „normal“ wie möglich weiterzuführen. Es Treffen im Norden mit Hausgottesdienst wurde tat allen gut, dass in dem permanenten Ausnahme- geplant, dann wieder abgesagt. Mal waren Straßen zustand etwas so war, wie es immer war. Das war blockiert, mal wieder offen. Parlamentssitzungen, auch der eigentliche Erfolg unseres Weihnachtsba- bei denen es permanent um die Bildung einer neu- sars 2018, was viele Besucher direkt so sagten: en Regierung gehen sollte, wurden angesetzt und „Gut, dass einmal etwas so ist wie immer!“. - Und wieder abgesagt. Mal waren die Banken geöffnet der trotz Krise gute Basarerlös hielt uns finanziell und die fortgesetzt limitierte Abhebung von Gel- noch einige Zeit über Wasser. In unseren Andach- dern möglich, mal waren sie wieder geschlossen. ten und Gottesdiensten nahmen wir die Situation 1,5 Mio. libanesische Pfund pro Woche mochten stets mit hinein in unser Gebet. Und überall blieb für einen Haushalt zwar noch ausreichen, aber für die dringende Hoffnung der Menschen, es möge eine Kirchengemeinde, die neben den Betriebskos- einen baldigen wirklichen Wandel geben, und es ten ein Apartmenthaus zu bewirtschaften und Geh- möge ein Wandel zum Guten sein. älter zu zahlen hat, die vor allem auch Spendengel- Eine zunächst für Montag, den 9. Dezember der aus Deutschland verwaltet und im Rahmen der angesetzte Parlamentssitzung wurde wieder ausge- 12
setzt, als der reiche Geschäftsmann Samir Kathib kommen oder seine Miete zu bezahlen, war ge- seine Kandidatur für das Amt des Ministerpräsi- zwungen, sein Geld in den Wechselstuben zu tau- denten nach einem Treffen mit Hariri zurückgezo- schen – bis Februar für über 2700 LBP pro Dollar. gen hatte. Der sunnitische Mufti des Libanon hatte Im Januar schwiegen sich zwar die Medien sich für die Wiedereinsetzung Hariris als Minister- über die Proteste etwas aus, dennoch gingen sie präsident ausgesprochen und erwartet, dass die weiter. Die Inflation ging auch weiter. Alle Güter, sunnitischen Parteien dem folgen. - Leben wir im besonders Importwaren – doch was wird im Liba- Mittelalter? – so fragten sich viele! Am Donners- non nicht importiert? – wurden teurer. … „Die 2 tag, den 19. Dezem- Scheiben Räucherschinken für 7, 20 Euro hab ber fand dann in einer ich nicht gekauft. Auch nicht die 180 gr. Parlamentssitzung Räucherlachs für 12 Euro. Man hätte noch doch die Wahl eines 200 gr. rohen Schinken für 18 Euro kriegen neuen Premierminis- können. Aber das ist Luxus und überflüssig. ters statt: Hassan Di- Den Liter Milch für 2 Euro hab ich genom- ab, Professor für men. Und weil die Damen es so gern essen: Elektroingenieurswis- 375 gr Schokomüsli für 7,20 Euro. Der senschaft an der Scheibenkäse ist, o Wunder, wieder etwas AUB. Er war schon billiger geworden. Da sind 150 gr zum einmal als Bildungs- Schleuderpreis von 4,20 Euro zu haben. Zwei minister an einer Re- Flaschen Mineralwasser hab ich gekauft, da gierung beteiligt, - hat die Flasche nur 1,50 Euro gekostet und und also nicht so fern 250 gr Bandnudeln für 2,50 Euro. 100 gr von der politischen Bulgarischen Schafskäse hab ich für ebenfalls Elite! Aber in gewis- läppische 2,50 Euro gekriegt“. So gab ich sem Sinne doch auch spaßeshalber einmal einen Einkaufsbericht. ein „Technokrat“. Er Weniger spaßig war es, zufällig mit dem Be- wurde mit 69 von 128 Stimmen gewählt und von sitzer von „Red Shoe“ in seinem Laden in der Präsident Aoun mit der Bildung einer neuen Regie- Hamra über seine Schuhfabrikation zu sprechen: rung beauftragt. Mit seinen 60 Jahren ist er gemes- Der konnte nun kein Material mehr kaufen, weil er sen an den vergreisten alten Kämpfern eine gera- von den Banken keine Dollar mehr bekam, mit dezu jugendliche Erscheinung. Ob und wie er von denen er es bezahlen müsste. Sie würden noch mit der Bevölkerung akzeptiert würde, ob man ihm dem Material weiter produzieren, dass sie hätten, einen Wandel zutraute? Aber egal wer es sagte er traurig, würden wurde: er konnte sich angesichts der an- sie schließen müssen, stehenden Maßnahmen in der gegenwärti- wenn sich nichts änderte. gen Wirtschafts- und Finanzkrise ja nur Sein in den 50er Jahren unbeliebt machen. Der Zusammenbruch gegründet hatte Betrieb, schien nicht mehr abzuwenden. der u.a. Schuhe für Ama- Am Wahltag und über Weihnachten ni und Prada produziert, herrschte in der Protestbewegung eine hätte mit zweimaliger unerwartete Ruhe, nachdem es zuvor im- Zerstörung und Wieder- mer wieder auch schon zu gewaltsamen aufbau den Krieg über- Auseinandersetzungen zwischen Anhä- standen. Da sei immer ngern der Protestbewegung und Gegnern, Geld vorhanden gewesen. vor allem aus den Reihen von Amal und Jetzt aber würde er trotz Hisbollah gekommen war. Die finanzielle bester Auftragslage wohl Krise spitzte sich derweil weiter zu. Der schließen müssen. – Ein freie Marktwert des libanesischen Pfundes Beispiel für viele! lag inzwischen 30 Prozent über den immer noch Was im Januar auch weiterging, war das Scha- von der Zentralbank gehaltenem Kurs von etwa chern der Parteien um Posten und der Versuch Di- 1500 LBP für den Dollar. Gehälter, die bis dahin in abs, ein neues Kabinett zu bilden. Erst am 22. Ja- US-Dollar bezahlt wurden, stellte man jetzt auf nuar war ihm Erfolg beschert, und der Libanon libanesische Pfund um. Wer Dollar brauchte, etwa hatte eine neue Regierung, die anscheinend von um Zahlungsverpflichtungen im Ausland nachzu- allen religiösen Gruppen anerkannt wurde. Sie setzt 13
sich auch nach dem alten Verteilungsschlüssel zu- man schließlich gar keine Dollar mehr von seinem sammen. Aber es wurde versichert, dass die Kabi- Dollarkonto abheben. nettsmitglieder auch „Technokraten“ seien, also Wie von Premierminister Diab am 7.3. ange- sachkundige Menschen. In seiner Antrittsrede sagte kündigt, zahlte Libanon die am 9. März fälligen 1,2 der Premierminister u.a., dass die Szenen, die das Mrd. Eurobond-Schulden nicht und erklärte damit Land in den letzten Tagen sehen musste, sehr praktisch den Staatsbankrott. Natürlich gab es schmerzvoll waren und es daher nun wichtig sei, nach der Ankündigung Proteste, doch eher verhal- die Stabilität zu wahren und die Armee und Si- ten. Es fanden weiter Demonstrationen statt. Doch cherheitskräfte zu stärken. kaum mehr in der Überzeu- Danach wurden die Proteste umso gung, wirklich noch etwas da- heftiger im ganzen Land. In Downtown mit zu bewegen. Viele hatten gab es Straßenschlachten, Wasserwer- inzwischen die Hoffnung auf fer, Tränengas und Gummigeschosse eine echte „Revolution“ mit von der einen, Steine, Flaschen und tiefgreifenden Reformen und Feuerwerkskörper von der anderen Sei- einer grundlegenden Änderung te. Von vielen Menschen war zu hören: des politischen Systems aufge- „Diese Regierung ist nichts als ein Ma- geben. Die Menschen waren rionettentheater von Hisbollahs Gnaden jetzt eher damit beschäftigt, unter dem Management des Iran“. Die persönlich über die Runden zu Straßenszenen erinnerten an einen Bür- kommen. gerkriegszustand. Die Regierung ließ Und etwas Anderes war die Sicherheitskräfte mit unglaublicher inzwischen heraufgezogen, das Härte gegen die Demonstranten jeder die Menschen mehr beschäftig- Richtung vorgehen. Die Parlamentssitzung, in der te: das Coronavirus. Nachdem am 15. März mit der das neue Kabinett erst noch bestätigt werden muss- Erklärung des medizinischen Notstands ein neuer te, wurde von Mal zu Mal wieder verschoben. Erst Ausnahmezustand hergestellt war, wurde sozusa- am 11.2. hat das Parlament schließlich das neue gen im Schatten der Ausgangssperre am 28.3. das Kabinett bestätigt und ihm das Vertrauen ausge- Protestlager auf dem Märtyrerplatz durch die Ar- sprochen. Es waren nur knapp über die Hälfte der mee geräumt und der Platz samt den bis dahin ge- Parlamentarier gekommen. Draußen gab es derweil sperrten Straßen in Downtown wieder für den Ver- heftige Proteste und eine Großdemonstration, kehr freigegeben. – Symbolischer Ausdruck für das nachdem es in den letzten beiden Wochen zuvor vorläufige Ende der „Revolution“? Die „Krise“ zumindest in Beirut allerdings hatte im Grunde ja erst angefan- diesbezüglich eher ru- gen. Und als Ende April das libanesische hig war. Die Armee Pfund auf dem „freien“ Markt 4300 für hatte hart durchgegrif- einen Dollar stand, dementsprechend die fen und Straßenblocka- Preise gestiegen waren und viele sich Le- den schnell aufgehoben bensmittel nicht mehr leisten konnten, oder verhindert. Tat- flammten ungeachtet der Bedrohung durch sächlich eine neue das Coronavirus erneut heftige Demonstra- Gangart! tionen mit Straßenblockaden wieder auf. Die Banken hatten Gewaltsame Auseinandersetzungen gab es inzwischen die Abhe- vor allem in Tripoli. Als die Armee mit bung von den Dollar- scharfer Munition in die Menge schoss, konten noch enger limi- kam ein junger Mann zu Tode, andere tiert. Dagegen die Ab- wurden schwer verletzt. Es kam zu ersten hebung von libanesi- Plünderungen von Supermärkten. Folge der schen Lira etwas gelo- immer weiter anwachsenden Armut! ckert. Sie wollten erzwingen, dass die Leute ihre „harten“ Dollarkonten in die auf Talfahrt befindli- che libanesische Währung umwandeln lassen. Real hatten die Banken ja so gut wie keine Dollar mehr. Seit August wurden über 10 Milliarden Dollar Ka- pital ins Ausland gezogen. Ab Mitte März konnte Jürgen Henning 14
Was seit 21. Februar alles überschattet: März als dritter starb. Andererseits konnte die zu- erst erkrankte Frau an diesem Tag als geheilt aus COVID19 Coronavirus im Libanon dem Krankenhaus entlassen werden. Zu diesem und Maßnahmen in der Gemeinde Zeitpunkt zählte man bereits 73 Fälle, am folgen- Nachdem die den Sonntag, dem 15. März, gut drei Wochen nach Erkrankung in Ausbruch, 99 Erkrankte. China ausgebro- An diesem Tag erklärte die Regierung schließ- chen war und sich lich den nationalen medizinischen Notstand, um von da in raschem das Ausbreiten des Coronavirus einzudämmen bzw. und beängstigen- zu verlangsamen. Es wurde konstatiert, dass die dem Umfang über medizinischen Kapazitäten nicht ausreichen wer- die Welt, vor al- den, um allen Patienten, die sich in einem sehr kri- lem auch in Euro- tischen Stadium befinden, helfen zu können. Daher pa ausbreitete, wurde zu den bereits verfügten Schließungen etwa wurde am 21. der Bildungseinrichtungen auch die Schließung von Februar der erste Banken und allen anderen öffentlichen Einrichtun- Fall einer Infekti- gen verfügt. Menschenansammlungen jeder Art, on im Libanon auch religiöse, wurden verboten, sämtliche private gemeldet. Eine Betriebe, Sportclubs, Restaurants, Geschäfte etc. 45jährige Frau hatte sich im Iran angesteckt. Die sollten geschlossen bleiben, mit Ausnahme von Regierung verhielt sich wie in anderen Ländern Bäckereien, Lebensmittelgeschäften und Apothe- auch zunächst abwartend. Es wurden Flüge aus ken. Gleichfalls wurden Bus- und Kleinbustrans- dem Iran nicht gestoppt, von wo, wie sich zeigte, porte verboten, lediglich das Material- die meisten Infektionen herrührten. Daneben war Transportwesen blieb unbetroffen. Alle Einreisen später in geringerem Maße auch Ägypten, Italien in den Libanon wurden ausgesetzt. Lediglich liba- und Großbritannien als Ur- nesische Staatsbürger und de- sprung auszumachen. ren Familienangehörige sowie Als die Fallzahl langsam Ausländer mit einer Aufent- anstieg, verfügte das Bil- haltsgenehmigung durften noch dungsministerium am 28. Feb- bis 18. März einreisen, sofern ruar die Schließung von Schu- sie sich nicht vorher in China, len und Universitäten für zu- Südkorea, Iran, europäische nächst eine Woche, später, be- Staaten u.a. Deutschland, also sonders nach Infektionen im in allen betroffenen Ländern Umfeld von Schulen, wurde sie aufgehalten hatten. Allerdings um 45 Tage bis über die Oster- mussten auch diese sich einer ferien hinaus ausgedehnt. Die intensiven Untersuchung am Zahl der Infektionen verviel- Flughafen unterziehen und bei fachte sich so rasch, dass Pre- unkritischem Befund in eine mierminister Diab am 6. März vierzehntägige häusliche Isola- verlautbarte, man befände sich tion begeben. Das Rafik Hariri nicht mehr in der Phase der Krankenhaus wurde als einzige Eindämmung der Krankheit Anlaufstelle für Verdachtsfälle COVID19. Er rief zu freiwilli- und erkannte Erkrankungen gen Präventivmaßnahmen auf, benannt. Zum Schluss wurde wie das Meiden öffentlicher Plätze und Veranstal- verfügt, jegliche unnötigen Bewegungen in der tungen wie Kinos, Theater, Nachtclubs, Sportstu- Öffentlichkeit außerhalb der Wohnung zu unterlas- dios. Waren es am 8. März, also nur gut zwei Wo- sen. Die Sicherheitskräfte wurden angewiesen, chen nach dem ersten Auftreten, 32 Infektionen, Kontrollen durchzuführen. stieg die Zahl zwei Tage später auf 52. Unsere Gemeinde reagierte nach den Empfeh- Am 10. März war auch der erste Tote zu bekla- lungen der deutschen Kirchen früh: Seit Bekannt- gen, einen Tag später der zweite: ein 55jähriger werden der ersten Fälle verstärkten wir zunächst die Lehrer aus Jbeil. Dieser hatte im Krankenhaus ei- Hygienemaßnahmen: alle Räumlichkeiten, Böden, nen 79 Jahre alten Mann angesteckt, der am 12. Griffe, Türklinken, Schalter, Stuhllehnen …wurden 15
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