COVID-19: Der soziale Ort Schule in der Krise - Paulo Freire Zentrum
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Instituto Paulo Freire Austria für transdisziplinäre Entwicklungsforschung und dialogische Bildung // Sophie Deuer // Elisabeth Haller // Nicole Wyszecki // Stefanie Zauner COVID-19: Der soziale Ort Schule in der Krise Aktion & Reflexion Texte zur transdisziplinären Entwicklungsforschung und dialogischen Bildung Heft 18 Wien: Paulo Freire Zentrum, Dezember 2021 1 // COVID-19: Der soziale Ort Schule in der Krise // Aktion & Reflexion
// Sophie Deuer // Elisabeth Haller // Nicole Wyszecki // Stefanie Zauner COVID-19: Der soziale Ort Schule in der Krise Forschungsbericht zum transdisziplinären Forschungsseminar „Generationen ungleicher Bildungswege”; SoSe 2021. Lehrveranstaltungsleitung Dr. Gerald Faschingeder Aktion & Reflexion Texte zur transdisziplinären Entwicklungsforschung und Bildung Heft 18 Wien: Paulo Freire Zentrum, Dezember 2021 Diese Seminararbeit entstand im Rahmen des Master- studiums Internationale Entwicklung an der Universität Wien. Alle Fotos stammen von den Schüler*innen sowie von den Autor*innen. Layout: Christina Schneider mit freundlicher Unterstützung von: 2 // COVID-19: Der soziale Ort Schule in der Krise // Aktion & Reflexion
Inhalt Abbildungsverzeichnis.................................................. 4 Vorwort ........................................................................ 5 1. Einleitung ................................................ 6 2. Kontext: COVID-19 Pandemie und Schulschließungen.................................... 7 3. Theoretischer Hintergrund ...................... 9 3.1 Schule als sozialer Ort .................................... 9 3.2 Bildungsungleichheit..................................... 10 4. Projektbeschreibung.............................. 13 4.1 Ausgangspunkt............................................. 13 4.2 Forschungspartner*innen.............................. 13 4.3 Methodologie............................................... 14 4.4 Zusammenarbeit mit den Schüler*innen / Workshops.................................................... 17 4.5 Auswertungsverfahren.................................. 19 5. Ergebnisse.............................................. 22 5.1 Begegnungsräume........................................ 22 5.2 Schule als sozialer Ort................................... 24 5.3 Distance-Learning......................................... 26 5.4 Distanz.......................................................... 28 5.5 Tagesablauf / Routine .................................. 30 5.6 Mentale Gesundheit...................................... 32 5.7 Zusammenfassung der Ergebnisse................ 35 6. Evaluativer Teil....................................... 36 6.1 Beantwortung der Forschungsfrage.............. 36 6.2 Reflexion des Forschungsprojektes............... 37 6.3 Relevanz der Ergebnisse und Beitrag zur transdisziplinären Entwicklungsforschung ... 39 7. Literatur ................................................. 41 3 // COVID-19: Der soziale Ort Schule in der Krise // Aktion & Reflexion
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Mapping....................................................... 20 Abb. 2: Leerer Innenhof, Milica.................................. 22 Abb. 3: Gang von oben, Shahd.................................. 22 Abb. 4: Mapping, Begegnungsräume........................ 23 Abb. 5: Desinfektionsmittelspender, Sude................. 24 Abb. 6: Küchentür, Majed.......................................... 24 Abb. 7: Turnsaal, Hamid............................................ 25 Abb. 8: Barometer Distance-Learning vs. Präsenzunterricht.......................................... 26 Abb. 9: Distanzfoto Skelett, Zeljka & Laura............... 28 Abb. 10: Barometer Abstand....................................... 29 Abb. 11: Maskenselfie vor Spielplatz, Sergej............... 29 Abb. 12: Leerer Fußballkäfig, Milica............................ 30 Abb. 13: Weiße Sneaker vor weißer Linie, Zeljka......... 30 Abb. 14: „Help”, Halima............................................. 34 Abb. 15: Stufenmodell der Partizipation, Unger 2014:40.............................................. 38 4 // COVID-19: Der soziale Ort Schule in der Krise // Aktion & Reflexion
Vorwort Die COVID-19-Pandemie hat global enorme Folgen Diese Ausgabe der Reihe „Aktion & Reflexion“ macht nicht nur in medizinischer, sondern auch in sozialer dazu eine von Paulo Freire inspirierte Fallanalyse der Hinsicht gezeitigt. Weiterhin ist die Pandemie nicht Öffentlichkeit zugänglich: Eine Vierergruppe Stu- überwunden, sodass diese Arbeit ihre Aktualität leider dentinnen der Universität Wien suchte im Rahmen nicht so bald verlieren wird. Doch auch nach dem Ende eines Forschungsseminars den lernenden Dialog der COVID-19-Krise werden Gesellschaften an den mit Schüler*innen der Mittelschule Währing (früher langfristigen Folgen zu leiden haben: Die Überforde- NMS18, ehemals KMS18...) - eine Schule im 18. Wiener rung der Gesundheitsdienste, aber auch strukturelle Gemeindebezirk, mit der das Paulo Freire Zentrum seit Folgen wie Irritationen von Produktionsketten und Langem bereits eine produktive Beziehung gemeinsa- enorme Arbeitslosigkeit brachte soziale Systeme an men Lernens, Lehrens und Forschens unterhält. Diese die Grenzen ihrer Resilienz. Soziale Ungleichheit zeigte Arbeit ist ein weiterer Beleg dafür, dass alle Menschen sich abermals von ihrer hässlichen Seite: Corona wirkte Forschende sind - und sein können, wenn man sie insbesondere dort fatal, wo Ungleichheit bereits vorher nur lässt und ihnen ihre „epistemologische Neugier“ Verwerfungen gebracht hatte. Arme Länder litten (Paulo Freire) nicht vorzeitig abspricht. Es gibt keine mehr als reiche, von sozialer Prekarisierung geprägte „vorwissenschaftlichen Arbeiten“, es gibt hingegen Bevölkerungsgruppen mehr als Wohlhabende und Ver- sehr wohl anti-wissenschaftliche Formen der Unterdrü- mögende. Für die USA ist die relative Übersterblichkeit ckung. Vom Zugang zur Selbsterforschung, der Selbst- ethnischer Minderheiten belegt; für Österreich liegen erkenntnis und der Erforschung der eigenen Realität dazu keine Daten vor. Dieser Befund gilt insbesondere abzuhalten ist eine dieser Formen der Unterdrückung. für das Bildungssystem: Ein Umstieg auf e-Learning Insofern versteht sich diese Arbeit als ein kleiner Bei- setzt materielle Ausstattung und gute EDV-Kenntnisse trag zur Selbstbefreiung. voraus; der Verlust sozialer Kontakte wirkt auf jene stärker, die kaum Kontakte außerhalb der Schule Maßgeblich für das Gelingen des dialogischen For- haben. schens war die engagierte Lehrerin der Mittelschule Währing, Gerda Reißner, der ich neuerlich einen großen Dank aussprechen möchte! Eine inspirierende Lektüre wünscht Gerald Faschingeder Direktor des Paulo Freire Zentrums 5 // COVID-19: Der soziale Ort Schule in der Krise // Aktion & Reflexion
1. Einleitung Das Jahr 2020, geprägt von der COVID-19-Pandemie, Den Schüler*innen sollten die Mittel gegeben werden, stellte alle gesellschaftlichen Sektoren vor noch nie die ihnen bei der Darstellung dieser Bedürfnisse helfen dagewesene Herausforderungen - Bildungseinrichtun- konnten. In einem partizipativen Projekt fertigten sie gen wie Schulen und Universitäten waren gefordert bis in Kooperation mit dem Forscherinnenteam Bildar- überfordert. In mehreren Phasen der Epidemie mussten beiten an, die sich mit verschiedenen Aspekten ihres Schulen geschlossen bleiben, Distance-Learning er- veränderten Schulalltages befassten. Die so für die setzte zumindest zeitweise den Präsenzunterricht und wissenschaftliche Forschung zugänglich gemachten Schüler*innen verbrachten ihre Tage zuhause vermehrt Reflexionen der Schüler*innen werden im folgenden vor verschiedenen Bildschirmen. Innerhalb kürzester Forschungsbericht aufgearbeitet. Zeit musste die Institution Schule neu gedacht werden. Die Maßnahmen, die zur Eindämmung der Pandemie Nach der Darstellung des Kontextes (Kap. 2) bildet in den Schulen eingeführt wurden, zeigten rasch die eine theoretische Basis (Kap. 3) unter anderem eine Ungleichheiten in unserem Bildungssystem auf. Die allgemeine sowie eine österreich-spezifische Be- Verfügbarkeit des nun plötzlich unbedingt benötigten trachtung von Bildungsungleichheit ab, welche eine technischen Materials variierte etwa stark, ebenso zentrale Grundlage unseres Projektes darstellt. In der die der zuhause vorhandenen Plätze für ungestörtes detaillierten Projektbeschreibung (Kap. 4) werden die Arbeiten. Der „Schulweg“ an den PC gestaltete sich relevanten Praxispartner*innen vorgestellt, genaue für manche schwieriger als der gewohnte Schulweg, Abläufe der Forschung aufgezeigt sowie die angewen- und Lehrer*innen berichteten davon, einige ihrer deten Methoden dargelegt. Bei der vorliegenden Arbeit Schüler*innen schlicht nicht mehr erreichen zu können. steht vor allem die partizipative und transdisziplinäre Während den erzwungenermaßen veränderten Unter- Forschung im Vordergrund. Die Ergebnisse des Pro- richtsformen auch medial rasch große Aufmerksamkeit jektes, die Auswertung und Interpretation, erfolgt auf zukam, geriet zumindest zeitweise in Vergessenheit, Basis von sechs Themen, die mittels der Bildarbeit mit dass die Institution Schule mehrere Funktionen zu er- den Schüler*innen generiert wurden (Kap. 5). Neben füllen hat: Neben der Vermittlung des Lehrstoffes ist sie den bereits angesprochenen Fragen von Distance- auch die Arena, in der sich das soziale Leben der Kinder Learning und dem sozialen Ort Schule kamen dabei und Jugendlichen abspielt. Zwischenmenschliche Bezie- auch (physische) Distanz und Begegnungsräume, sowie hungen werden dort geknüpft und gepflegt. Soziale Problemfelder der täglichen Routine und der mentalen Netze der Schüler*innen hängen stark an dieser einen Gesundheit zur Sprache. Abschließend erfolgt eine Institution. Der soziale Ort Schule steht im Fokus des Reflexion über den Forschungsprozess (Kap. 6). vorliegenden Forschungsprojektes, das im Zeitraum von März bis Dezember 2020 durchgeführt wurde. In enger Zusammenarbeit mit einer Schulklasse einer Wiener Mittelschule sollte nachvollziehbar gemacht werden, wie sich die Phasen des Distance-Learnings auf die Schüler*innen auswirkten. Wie nahmen die Kinder und Jugendlichen die Schulschließungen wahr? Wie veränderte sich diese Wahrnehmung mit den unterschiedlichen Phasen des eingeschränkten Schul- betriebes? Weiters stellte sich die Frage danach, welche Bedürfnisse der Schüler*innen in dieser Ausnahmesi- tuation sichtbar oder ihnen selbst bewusst geworden waren. Ein weiterer Fokus des Projektes beschäftigte sich mit der Frage danach, welche Coping-Strategien die Kinder und Jugendlichen anwenden (können), um möglicherweise ungenügend befriedigten Bedürfnissen besser gerecht werden zu können. 6 // COVID-19: Der soziale Ort Schule in der Krise // Aktion & Reflexion
2. Kontext: COVID-19 Pandemie und Schulschließungen Am 11.02.2020 gab die World Health Organization von Hilfsangeboten wie Online- oder Telefonberatun- (WHO) einer neuen, sich schnell ausbreitenden Infekti- gen davon ausgegangen, dass die Zahl der Personen, onskrankheit den Namen COVID-19. Durch das SARS- die während beziehungsweise aufgrund der Umstände CoV-2-Coronavirus verursacht, wurde die Erkrankung der COVID-19 Pandemie an Angstzuständen, Depressio- erstmalig Ende 2019 in der Metropole Wuhan, Provinz nen oder Vorstufen davon erkrankt sind, weitaus höher Hubei in China, beschrieben. Anfang 2020 breitete sich ist als vor der Krise (Hutsteiner 2020). Dies äußert sich COVID-19 zu einer weltweiten Pandemie aus. Das Virus nicht zuletzt bei Kindern und Jugendlichen, die ihren verbreitet sich durch Tröpfcheninfektion, wie auch an- gewohnten Unterricht nicht mehr in der Schule in An- dere Erreger von Atemwegserkrankungen. Die meisten spruch nehmen konnten. Auch für sie kam es zu großen infizierten Personen entwickeln leichte oder mittel- Umstellungen. Sie verbrachten den Großteil der Zeit schwere Symptome und erholen sich von der Krankheit in geschlossenen Räumen, oft auch auf engem Raum auch ohne Krankenhausaufenthalt. Ältere Personen mit der Familie. Viele erlebten aufgrund dieser Extrem- oder Personen mit Vorerkrankungen erleiden häufiger situation und großer Überforderung auch vermehrt einen eher schweren Krankheitsverlauf, oft auch mit Konfliktsituationen und häusliche Gewalterfahrungen. Todesfolge (Robert Koch-Institut o.J.). Weiters war der persönliche Kontakt zu Freund*innen, Lehrer*innen oder anderen Bezugspersonen, die nor- Die Pandemie beziehungsweise die politischen Gegen- malerweise in der Schule anzutreffen waren, unterbun- maßnahmen, die in Österreich ergriffen wurden, wirk- den beziehungsweise nur reduziert oder in veränderter ten sich auf verschiedenste gesellschaftliche Bereiche Form möglich. aus. Im März 2020 war das Land mit dem ersten Lock- down konfrontiert - alle Betriebe außer Apotheken und Für unser Projekt besonders relevant sind die Schul- jene, die Lebensmittel vertreiben, mussten geschlossen schließungen und die veränderten Unterrichtsmodali- werden. Zahlreiche Unternehmen schlossen ihre Pfor- täten des Distance-Learnings: Von 16. März 2020 bis ten und mussten ihre Mitarbeiter*innen kündigen. Im 15. Mai 2020 wurden alle Schulen in ganz Österreich Juni 2020 waren etwa 10 Prozent der österreichischen ohne nennenswerte Vorbereitungs- oder Übergangszeit Bevölkerung arbeitslos - vor der COVID-19 Pandemie geschlossen und im Distance-Learning weitergeführt hatte dieser Prozentsatz bei 7,4 gelegen (APA 2020). (in weiterer Folge beziehen wir uns darauf als ‘erste Andere Unternehmen, die über mehr Ressourcen Schulschließung’). Nach dem 15. Mai - unterbrochen verfügten, konnten auf Home-Office oder Kurzarbeit von den Sommerferien - arbeiteten viele Schulen in umsteigen. Die globalen wirtschaftlichen Einbußen unterschiedlichen Formen des Schichtbetriebs bezie- waren und sind enorm. Nachdem in Österreich über hungsweise unter besonderen Sicherheitsvorkehrun- den Sommer viele Einschränkungen gelockert wor- gen. Ab dem 17. November 2020 erfolgten weitere den waren, begann mit Herbst eine lange Phase mit Verschärfungen, die zeitweise und zumindest für die schrittweise strengeren Einschränkungen, von Am- höheren Schulstufen eine weitere Schulschließung be- pelsystem über ‘Lockdown-Light’ bis hin zu weiteren dingten (in weiterer Folge ‘zweite Schulschließung’). In ‘harten’ Lockdown-Phasen, in welchen das öffentliche Wien wurde mit dem 8. Februar 2021 wieder teilweise und private Leben erneut strengen Reglementierungen auf Präsenzunterricht umgestellt. Hybride Unterrichts- unterlag (APA 2020). formen und Schichtbetrieb wurden aber auch danach weitergeführt und eine vollständige Rückkehr zum Auf psychosozialer Ebene sind durch die Pandemie ,normalen‘ Schulbetrieb war mit Stand Februar 2021 starke Veränderungen zu verzeichnen. Vom Großteil noch nicht absehbar. der österreichischen Bevölkerung wurden die Situation sowie die Lockdown-Maßnahmen als Herausforderung Die Schulschließungen wirkten sich unterschiedlich auf erlebt. Erwerbsarbeit unter Einhaltung strenger Hygien- betroffene Schüler*innen und deren Familien aus. Dies emaßnahmen, berufsabhängige Über- oder Unterforde- hängt vor allem von sozioökonomischen Hintergründen rung, Home-Office, geschlossene Schulen, Arbeitslosig- und folglich Ressourcen und Möglichkeiten ab, die den keit, vermehrtes Auftreten häuslicher Gewalt, fehlende jeweiligen Familien zur Verfügung stehen. Es liegt nahe, soziale Kontakte und Nähe gehören zum Alltag. In dass durch die verschiedenen Ausgangslagen die Kluft Österreich wird aufgrund der hohen Inanspruchnahme zwischen den unterschiedlichen sozialen Schichten 7 // COVID-19: Der soziale Ort Schule in der Krise // Aktion & Reflexion
vergrößert wurde. Statt regulärem Unterricht fanden meldete beispielsweise in einer Umfrage, dass bereits Online-Videokonferenzen mit den Lehrpersonen statt, in der zweiten Woche der Schulschließung 20 Prozent und die Schüler*innen verbrachten einen großen Teil ihrer Schüler*innen nicht mehr erreichbar waren (Teach ihrer Zeit in virtuellen Räumen. Kindern und Jugendli- for Austria 2020). Die integrative Muttersprachenlehre- chen, die aus sozioökonomisch schwächer gestellten rin der Mittelschule Schopenhauerstraße Hala Albinni Familien stammen, fehlte es nicht nur oftmals an berichtete sogar davon, lediglich mit einem Drittel ihrer technischer und räumlicher Infrastruktur, um dem zu betreuenden Schüler*innen und deren Familien Online-Unterricht folgen zu können, sondern auch der regelmäßig in Kontakt gestanden zu sein (Stajic 2020). Überblick über Arbeitsaufgaben und der geregelte Blieben Schüler*innen unerreicht, versuchte eine Tagesablauf gingen vielen schlichtweg verloren. Der Vielzahl von Lehrer*innen dies auf irgendeine Art und Umstieg auf Lernplattformen gestaltete sich schwierig, Weise zu kompensieren, beispielsweise funktionierte da diese oftmals zum Zeitpunkt der ersten Schulschlie- dies über gängige Messenger-Dienste recht gut (Spiel, ßung noch nicht eingerichtet waren und Schüler*innen zit.n. Goldenberg, Wittstock 2020). demnach den Umgang damit von zu Hause aus lernen mussten. Das Hochladen von Dokumenten oder das Die Institution Schule sollte keinesfalls auf ihre Rol- Arbeiten am Computer funktionierte teilweise nicht, le der Wissensvermittlung reduziert werden. Sie ist da die technischen Mittel oder das Know-How (noch) vielmehr ein physischer Ort, an dem einerseits soziale nicht vorhanden waren. Deswegen wurde nach vier Unterschiede aufgefangen und andererseits soziale Wochen virtuellen Unterrichts teils auf niederschwelli- Kontakte und zwischenmenschliche Beziehungen ge- gere, analoge Abholstationen umstrukturiert. So konn- knüpft werden. Die Schule erfüllt damit eine besondere ten Kinder, Jugendliche oder ihre Eltern das Lernmate- soziale Funktion, auf die im folgenden Kapitel näher rial ausgedruckt von der Schule abholen, wobei aber eingegangen wird. auch dieses Angebot selten bis kaum genutzt wurde (Goldenberg & Wittstock 2020). Einen weiteren Aspekt in diesem Zusammenhang stellt die Wohnsituation der Schüler*innen dar. Sozioökono- misch schwächer gestellte Familien leben häufig auf engerem Raum. Daraus folgen fehlende Rückzugsmög- lichkeiten zum ungestörten Arbeiten. Lärm, mögli- cherweise chaotische Abläufe und fehlende Unterstüt- zungsmöglichkeiten seitens der Familienmitglieder erschweren konzentriertes Lernen. Durch den erzwun- genen Rückzug in die eigenen vier Wände erlangen auch Themen wie Vernachlässigung, Gewalt, Armut und Instabilität noch größere Bedeutung. Gleichzeitig wurde das selbstorganisierte Lernen in Wiener Schulen viel zu wenig gefördert (Spiel, zit. n. Goldenberg, Witt- stock 2020). Den Kindern fehlten teils die mündlichen Anleitungen zu Arbeitsaufgaben, und es war für sie im Distance-Learning schwieriger, Nachfragen zu stellen. Das selbstständige, auf sich allein gestellte Lernen und die plötzliche Verantwortung für den eigenen Tages- plan können als extreme Herausforderungen für Kinder und Jugendliche gesehen werden. So schreibt das Bildungsnetzwerk Teach for Austria, dass innerhalb der achtwöchigen Zeit der Schulschließung etwa 12 Pro- zent der Wiener Schüler*innen nicht von ihren Lehrper- sonen erreicht werden konnten. Hier zeigen sich aber je nach Schultyp Unterschiede in den Zahlen. Teach for Austria, welches vor allem in Mittelschulen tätig ist, 8 // COVID-19: Der soziale Ort Schule in der Krise // Aktion & Reflexion
3. Theoretischer Hintergrund Das Forschungsprojekt ist theoretisch verortet in der - Schüler*innenbeziehung kann die Schule dieser Debatte um Bildungsungleichheit und die Rolle der Aufgabe nicht gerecht werden (Hofmann 2008). Schule bei der Generierung derselben. Nachfolgend soll Die Beziehungen zwischen Kinder und Jugendlichen darum erläutert werden, welche Teilfunktion der Insti- selbst ist nicht minder relevant. Klassenkolleg*innen tution Schule im Zentrum unserer Betrachtung steht. werden zu Freund*innen und Bezugspersonen. Die Darauf folgt eine Darstellung relevanter Theorien zu Kinder und Jugendlichen teilen wichtige Momen- Bildungsungleichheit im Allgemeinen sowie in Öster- te ihrer Entwicklung miteinander und genau diese reich im Speziellen. Situationen und Beziehungen sind essenziell für ihre Persönlichkeitsbildung. Schule bedeutet demnach 3.1 Schule als sozialer Ort mehr, als ,nur‘ Lernen und Wissen zu erlangen. Es Der soziale Ort Schule ist definiert durch zwischen- geht vielmehr um die Formung des Charakters und menschliche Beziehungen. Die Kinder und Jugendlichen der Persönlichkeit. Wichtige Werte und lebenswichtige bauen positive Beziehungen und Bindungen auf und Kompetenzen sollen innerhalb der Institution vermittelt werden außerdem dazu befähigt, das eigene Handeln werden (Coelen, Otto 2008:153f.). zu reflektieren. Die Selbst- wie auch die Fremdeinschät- zung ist hierbei von besonderer Bedeutung. Die Schule Die Wichtigkeit von freundschaftlichen Beziehungen ist somit ein Ort des sozialen Lernens, wo Kinder und steigt mit dem Ablösungsprozess der Jugendlichen vom Jugendliche dazu befähigt werden sollen, Unterschiede Elternhaus. Freundschaften spielen über den gesamten untereinander zu respektieren. Die Lehrpläne werden Lebenszyklus eines Menschen hinweg eine essenzielle in den österreichischen Schulen herangezogen, um die Rolle. Bereits in jungen Jahren lernen Individuen sich Entwicklung von bestimmten Qualifikationen und auch in einem ständig wandelnden Netz von Bezügen zu das Herausbilden von wichtigen Kompetenzen im, aber verorten (Milowiz 1998:4). In einer gewissen Lebens- auch außerhalb des Unterrichts zu unterstützen. Ziel phase, nämlich im Jugendalter, bekommen jedoch ist somit nicht nur der Erwerb von Fachkompetenzen, Freunde eine besondere Bedeutung. Eckert (2012:53), sondern vielmehr das Erlangen von Selbst- und Sozial- deutscher Psychologe und Psychotherapeut, zeigt, dass kompetenz (OEZEPS o.J.). Wichtige Aspekte sind etwa etwa 80 Prozent der Adoleszent*innen in Freundeskrei- die „Bereitschaft zum selbstständigen Denken und se integriert sind, während nur 6,1 Prozent angaben, zur kritischen Reflexion, sozial orientierte und positive sich individuell mit Personen anzufreunden, also ohne Lebensgestaltung, befriedigendes Leben, konstruktive Gruppenzugehörigkeit. Diese für die Lebensphase Mitarbeit an gesellschaftlichen Aufgaben, dynamische spezifische Form der Freundschaft wird als Peergruppe Fähigkeiten (Fähigkeiten und Bereitschaft, Verantwor- bezeichnet. tung zu übernehmen; mit anderen kooperieren; mitwir- ken an der Gestaltung des sozialen Lebens; Initiative Um Teil dieser Peergruppen sein zu können, versuchen entwickeln), verantwortungsbewusster Umgang mit sich die Jugendlichen in diversen Rollen und Verhal- sich selbst und den anderen, Weltoffenheit (Humanität, tensweisen zu beweisen. Die einzelnen Peers dienen Solidarität, Toleranz, Frieden, Gerechtigkeit, Gleichbe- dabei sozusagen als Spiegel, der Handlungen sowie rechtigung, Umweltbewusstsein als handlungsleitende Verhalten reflektiert. Dadurch werden innere Bilder Werte).“ (OEZEPS o.J.) korrigiert oder verändert und anschließend wieder aufgenommen. Daher kann gesagt werden, dass die Deutlich wird somit, dass das soziale Geschehen in Peergruppen, die meist im Schulkontext verortet sind, der Schule beziehungsweise in der Klasse besonders eine bedeutende Sozialisationsfunktion übernehmen im Vordergrund steht. Das Klima in der Schule ist und äußerst relevant für die Identitätsfindung sind zentral und entscheidend für den Entwicklungspro- (Kolip 1993:73). zess der Schüler*innen. Dafür sind Strategien der Konfliktlösung, Zusammenarbeit, Partizipation, Em- Nairz-Wirth und Meschnig (2010:395) zeigen den powerment und persönlichkeitsbildende Angebote positiven Einfluss von persönlichen Beziehungen für besonders relevant, die allesamt auf zwischenmensch- den weiteren (Aus)Bildungsweg auf. Infolgedessen lichen Beziehungen zwischen Lehrpersonen und sollten diese als soziale Ressource betrachtet werden. Schüler*innen beruhen. Ohne eine gute Lehrer*innen 9 // COVID-19: Der soziale Ort Schule in der Krise // Aktion & Reflexion
Die Peergruppen-Beziehungen entstehen häufig in Er- von Bildungsungleichheit dar, welche sich zwischen ziehungs- und Bildungseinrichtungen, auch wenn sich 1960 und 1980 mit der Chancengleichheit im US- ihre identitätsstiftende Wirkung dann außerhalb der amerikanischen Bildungssystem beschäftigen. In einem Schule entfalten mag. Zusammengefasst kann somit groß angelegten Vergleich von Schulen in den USA gesagt werden, dass die Schule einen besonderen Stel- stellte sich heraus, dass Schulen mit einem höheren An- lenwert in der Entwicklung von zwischenmenschlichen teil weißer1 gegenüber Schwarzer1 Kinder und Jugend- Beziehungen darstellt. Innerhalb des Systems Schule licher insgesamt höhere Lernerfolge verzeichneten. werden sehr viele, wenn nicht sogar die meisten Die Gründe dafür: Schwarze Schüler*innen stammen Freundschaften geschlossen, die sich in der Zukunft vermehrt aus ärmeren und bildungsfernen Familien, positiv auf das Leben eines jeden Individuums aus- ihnen werden Privilegien, wie bessere Unterstützungs- wirken können. Aus dieser theoretischen Betrachtung maßnahmen und höhere Bildungsaspirationen, von geht somit deutlich hervor, dass Schule eine wichtige welchen weiße Schüler*innen vermehrt profitieren, soziale Funktion erfüllt. nicht zuteil. Weiters vergleicht der Report katholische und andere private sowie staatliche Schulen. Erstere Zuletzt ist auch eine zentrale gesellschaftliche Funk- hätten bessere Punktwerte bei Leistungstests erzielt, tion hervorzuheben: Schulen bieten Raum für gesell- was laut Coleman ebenfalls auf eine besser gestell- schaftlichen Austausch und Durchmischung. Durch te soziale Herkunft und höhere Leistungsmaßstäbe Schulschließung und Distance-Learning treten darum zurückzuführen sei (Hunt 1991, Mayer 1997, zit.n. auch gesellschaftliche Ungleichheiten verstärkt in den Erler 2007a:26f). Schlussendlich kann auch ein Zusam- Fokus. menhang zwischen Bildungszertifikaten und Karrieren gemacht werden. Bildungszertifikate haben einen bes- 3.2 Bildungsungleichheit seren Zugang zu höheren beziehungsweise auch besser Der Begriff Bildungsungleichheit bedeutet „Unter- bezahlten Positionen zur Folge. Allerdings ist Titel schiede im Bildungsverhalten und in den erzielten nicht gleich Titel. Erlangen (viele) Angehörige niedri- Bildungsabschlüssen beziehungsweise Bildungswe- ger sozialer Schichten gewisse Bildungsabschlüsse, so gen von Kindern, die in unterschiedlichen sozialen entwertet dies eben diese Titel (Erler 2007b: 46). Dieser Bedingungen und familiären Kontexten aufwach- Effekt beweist wiederum, dass Bildungssysteme ge- sen.“ (Müller, Haun 1994:3 zit.n. Schlicht 2011:63) samtgesellschaftlich gesehen eben genau die Funktion Die soziale Bildungsungleichheit kann somit als ein erfüllen, Ungleichheiten zu generieren, zu erhalten und Konstrukt verstanden werden, das die Wechselwir- zu legitimieren. Darum ist der Kampf gegen generatio- kung von individuellem Bildungserfolg und sozialer nenübergreifende Bildungsungleichheit gleichzeitig so Herkunft beschreibt. Zumeist wird ein Zusammenhang unumgänglich wie aussichtslos. zwischen dem elterlichen sozioökonomischen Status, Boudon unterscheidet zwischen primären und sekun- dem Bildungserfolg der Kinder sowie dem erreichten dären Effekten der Schichtzugehörigkeit. Ein niedriger Bildungsabschluss postuliert (Pfeffer 2008:543). Inner- familiärer Sozialstatus hat eine geringere beziehungs- halb des Schulsystems gibt es unterschiedliche Ansätze und Analysen zur Bildungsungleichheit, in denen etwa 1 Schwarz und weiß sind keine biologischen Merkmale, auf die affektive Distanz verwiesen wird. Lehrer*innen sondern konstruierte Zuordnungsmuster. Der Empfehlung hätten Vorurteile gegenüber Kindern ärmerer Gesell- des Vereins Initiative Schwarze Menschen in Deutschland schaftsklassen; würden diese als Menschen zweiter folgend, übernehmen wir die Schreibweise, in welcher „Schwarz“ und „Schwarz-sein“ durch Großschreiben her- Klasse wahrnehmen. Dementsprechend würden sie vorgehoben wird, „um zu verdeutlichen, dass es sich um ein einzelnen Schüler*innen unterschiedliche Begabungen, konstruiertes Zuordnungsmuster handelt, und keine reelle Kenntnisse und Fähigkeiten nicht zutrauen. Aufgrund „Eigenschaft“, die auf die Farbe der Haut zurückzuführen ihrer sozialen Herkunft wird davon ausgegangen, dass ist. So bedeutet Schwarz-sein in diesem Kontext nicht nur, sprachliche Schwierigkeiten bestehen oder geringere pauschal einer „ethnischen Gruppe“ zugeordnet zu werden, Möglichkeiten der Eltern, bei schulischen Fragen oder sondern ist auch mit der Erfahrung verbunden, auf eine bestimmte Art und Weise wahrgenommen zu werden.” auch beim Lernen zu helfen, vorhanden sind (Erler (Schearer, Haruna) Außerdem soll durch das bewusste Groß- 2007a:25). schreiben von „Schwarz“ und Kleinschreiben von „weiß“ auf das rassistisch konstruierte Machtgefüge und die damit Für den US-amerikanischen Kontext stellen die soge- verbundenen Kämpfe aufmerksam gemacht werden. nannten ‘Coleman Reports’ eine grundlegende Analyse 10 // COVID-19: Der soziale Ort Schule in der Krise // Aktion & Reflexion
weise weniger gesellschaftlich akzeptierte kulturelle Davon kann es selbstverständlich Ausnahmen geben, Ausstattung der Kinder zur Folge, was schlussendlich wie etwa das Beispiel von Eribon (2016) zeigt. Eribon zu geringerem Zurechtfinden und Erfolgen im Schul- stammt aus einer Arbeiter*innenfamilie, die in Reims, und Bildungssystem führt. Diese sind primäre Effekte. einer kleinen Stadt im Norden Frankreichs in der fran- Sekundäre Effekte währenddessen können mit einer zösischen Peripherie lebte (Eribon 2016:42). Eribon zog Kosten-Nutzen-Bewertung gleichgesetzt werden. Das später nach Paris und entfremdete beziehungsweise Verbleiben im oder Verlassen des Bildungssystems grenzte sich von seiner Familie ab, um sich selbst neu hängt somit von der Wahrscheinlichkeit des ,Überle- zu erfinden und damit sozusagen seine Identität neu bens‘ ab und könne durch ein Rational-Choice-Modell zu erschaffen, wie er selbst reflektiert (Eribon 2016:53). erklärt werden (Erler 2007a:32f.). In diesem Kontext Auch der Bildungsweg des österreichischen Journa- gibt es zwei dominante Theoriestränge; einerseits die lists Marco Maurer kann als Beispiel dafür dienen, bereits genannten Rational-Choice-Ansätze, die sich dass diese für Frankreich nachgezeichnete strukturelle auf eine klassen- und akteursspezifische (hyperratio- Benachteiligung von Arbeiter*innenkindern gegenüber nalen) Kosten-Nutzen-Kalkulation im Bildungssystem Akademiker*innenkindern auch auf die österreichi- beziehen. Andererseits gibt es den konflikttheoreti- schen Bildungsinstitutionen zutrifft. Seine soziale schen Ansatz von Bourdieu. Hierbei wird mit Selekti- Herkunft und Milieu erschwerten ihm den Verbleib im onsmechanismen im gesamtgesellschaftlichen Kontext Bildungssystem spürbar (Maurer 2015). und auch im Hinblick auf Klassen, innerhalb des Bildungssystems gearbeitet. Für das Problemfeld der Die Statistik Austria zeigt auf, dass der Bildungsauf- Bildungsungleichheit sind beide Erklärungsansätze re- stieg in Österreich umso unwahrscheinlicher gelingt, je levant, weil sie unterschiedliche Aspekte und Momente niedriger das Bildungsniveau der Eltern ist. Daher ist beleuchten: Rational-Choice-Modelle wirken an den der Aufstieg von der Mittelschule in eine AHS (Sekun- Entscheidungspunkten in Bildungswegen, Bourdieus darstufe II) sehr selten (8,4%). Mit einem Abschluss eher strukturalistische Perspektive hingegen betrachtet der polytechnischen Schule liegt die Wahrscheinlichkeit Mechanismen für Selektion und Ausschluss an den bei 0,6 Prozent, dass im späteren Verlauf eine Universi- Institutionen (Erler 2007a:35). tät besucht wird. Hat die Person jedoch einen AHS- Abschluss, so liegt der Prozentsatz bei 64,7. Besonders In ihrer Untersuchung zu Studierendenkulturen und relevant für den Kontext des vorliegenden Projektes -habitus schreiben Bourdieu und Passeron (2007:29): ist auch, dass Schüler*innen mit deutscher Umgangs- „Die am meisten begünstigten Studenten verdanken sprache mit einem Anteil von 53,6 Prozent von der ihre Herkunft also nicht nur bestimmte Gewohnheiten, polytechnischen in die Berufsschule wechseln, während Eingeübtheiten und Einstellungen, die für das Studi- der Anteil bei nicht deutscher Umgangssprache bei nur um unmittelbar von Nutzen sind; ihnen werden auch 30,6 Prozent liegt (Statistik Austria 2017a/b). Wissen und Können, Neigung und »guter Geschmack« vermacht, die dem Studium indirekt zugutekommen.“ Es kann also gesagt werden, dass das Aufwachsen in Das bedeutet also, dass Gewohnheiten, Werte, Einstel- einer bestimmten Schicht die Werte und Prioritätenset- lungen und Erwartungen von der Herkunft und auch zung einer Person prägt. Die Muster werden von den der Erziehung abhängen. Auch individuelle Präferenzen wichtigsten Bezugspersonen von klein auf weiterge- eines Menschen sind damit also abhängig von seinem geben. Auch Freizeitaktivitäten korrelieren stark mit Umfeld. Mittels dieser Mechanismen reproduziert der sozialen Herkunft und sozialen Klasse. So gehen sich die soziale Herkunft eines Menschen auch über etwa Menschen, die der ‚oberen‘ Schicht angehören, die Generationen hinweg. Besonders deutlich zeigt öfter ins Theater oder Kino, bekunden dafür weniger sich dabei, dass der Ausschluss nicht unbedingt über Interesse an Sport, im Gegensatz zu den Interessen von vordergründige Selektionsmechanismen erfolgen muss Menschen, die der Arbeiterklasse angehören (Bourdieu - die unterschiedlichen Wertvorstellungen, die aus der 1998:42). Die Gesellschaft analysiert, bewertet und privilegierten beziehungsweise aus der subalternen reagiert aufgrund genau dieser Wahrnehmungs- und Position erwachsen, erledigen das effektiv von selbst Bewertungskategorien. Dieses Phänomen wird von Pi- (Bourdieu, Passeron 2007:40). Sichtbar wird dies durch erre Bourdieu auch Maxwellscher Dämon genannt. Ein den ,freiwilligen‘ Selbstausschluss, den Ausstieg aus Beispiel dafür stellen etwa Leistungsgruppen in Haupt- dem Bildungssystem. oder Mittelschulen dar. Die Schüler*innen werden nach 11 // COVID-19: Der soziale Ort Schule in der Krise // Aktion & Reflexion
ihrer Leistung und Begabung eingeteilt. Der Einfluss der Schichtzugehörigkeit und der unterschiedlichen sozialen Voraussetzungen auf den Bildungserfolg gerät damit jedoch aus dem Blick. „Begabungen” sind damit vielmehr auf gesellschaftliche und kulturelle Faktoren zurückzuführen. Herzog-Punzenberger (2007:237) schreibt, dass der soziale Status, festgemacht in ihrer Untersuchung an der Bildung der Eltern, einen sehr wichtigen Aspekt in der Schullaufbahn der Kinder und Jugendlichen darstellt. Eine abschließende Überlegung zur Bildungsungleich- heit ist schließlich, wie Lehrende (und auch Forschen- de) mit dieser umgehen sollen. Freire bezieht zu dieser normativen Frage Stellung: Nicht die bildungsferneren Schüler*innen sind das Problem, sind defizitär, und das Ziel emanzipatorischer Bildung kann nicht sein, sie an eine gegebene Realität (wie die in den obigen Ausfüh- rungen beschriebene) anzupassen. Der Gegenstand des Handelns ist eben diese Wirklichkeit (Freire 2017 [1970]:77). Ähnlich wie Bourdieu argumentiert Freire auch, dass das Problem der Bildungsungleichheit nicht durch formelle Chancengleichheit und zahlenmäßig stärkere Vertretung der sozial schwächeren Schichten in den Bildungseinrichtungen behoben werden kann - eine Chancengleichheit, die im Übrigen ohnehin dazu verdammt ist, eine Illusion zu bleiben (Erler 2007b). Es gelte nicht, die Unterdrückten besser an der Pädagogik der Privilegierten teilhaben zu lassen, sondern eine Pädagogik der Unterdrückten zu praktizieren (Freire 2017 [1970]). 12 // COVID-19: Der soziale Ort Schule in der Krise // Aktion & Reflexion
4. Projektbeschreibung Im Folgenden beschreiben wir unser Forschungspro- Die Vielfalt der Schüler*innen ist gleichzeitig die Stärke jekt, indem wir die Ausgangssituation darstellen und der Mittelschule Schopenhauerstraße, welche sie sich unsere Projektpartner*innen vorstellen. Im Anschluss „Identität – Interkulturalität - Integration” auf ihre erläutern wir unseren methodologischen Zugang zum Fahnen schreibt (Tiefenbacher o.J.). In ihrem Leitbild, Forschungsprojekt und die verwendeten Methoden. wofür die Schule 2010 mit dem 1. österreichischen Außerdem beschreiben wir den Ablauf des Forschungs- Integrationspreis ausgezeichnet wurde, schreiben sie prozesses, allem voran die Zusammenarbeit mit den vom „Selbstbewusstsein als ,Ausländerschule’” und Schüler*innen der Mittelschule Schopenhauerstraße setzten viele Ressourcen auf die Förderung von Mehr- und gehen auf das angewendete Auswertungsverfah- sprachigkeit, dem Potential der Vielfalt der unterschied- ren und unsere Prozessdokumentation ein. lichen Lebenswelten, Erfahrungen und Geschichten der Schüler*innen und dem Selbstverständnis sowie 4.1 Ausgangspunkt der Sichtbarmachung von Interkulturalität. Außerdem Um den Verlauf der gesamten Forschung nachvoll- werden jedes Schuljahr zahlreiche Projekte organisiert, ziehen zu können, ist zunächst zu sagen, dass dieses unter anderem in Zusammenarbeit mit verschiedenen Projekt innerhalb unseres Forschungsseminars im Rah- Hochschulen, mit Initiativen aus der Nachbarschaft, men des Masterstudiums Internationale Entwicklung weiteren Schulen, etc. (Tiefenbacher o.J.:2ff.). an der Universität Wien stattfand. Demzufolge waren Neben der Ausgangsthese, dass bereits von Bildungs- gewisse Rahmenbedingungen im Vorhinein vorge- benachteiligung betroffene Schüler*innen von den geben, wie das Thema Bildungsungleichheit und die Auswirkungen der COVID-19-Maßnahmen stärker be- Zusammenarbeit mit einer Schule, wobei uns mögliche troffen seien, war die Auswahl der Praxispartner*innen Projektpartner*innen, beziehungsweise die Schulen, in vor allem geleitet durch die Lehrerin Gerda Reißner, die denen sie tätig sind, vorgestellt wurden. Die Auswahl auch den Kontakt zwischen uns und den Schüler*innen der Praxispartner*innen erfolgte somit nach pragma- herstellte. tischen Kriterien der Verfügbarkeit. Im Zentrum der gesamten Forschung steht außerdem die der Entwick- 4.2 Forschungspartner*innen lungsforschung inhärente Transdisziplinarität sowie die Das Forschungsfeld bedingt, dass die wichtigsten Zielsetzung partizipativen Forschens. Partner*innen die Schüler*innen der 4b-Klasse der Mittelschule Schopenhauerstraße in Wien sind. Diese Zusammengearbeitet wurde mit der Klasse 4b der haben den Prozess durch ihre Ideen, Vorstellungen Mittelschule Schopenhauerstraße im 18. Wiener und ihre Interessen sowie Bedürfnisse mitgeformt und Gemeindebezirk. Diese Schule besteht (Stand 2017) gestaltet. Das Projekt richtet sich zum Großteil, wenn aus insgesamt 279 Schüler*innen, 139 Buben und 140 auch nicht zur Gänze, nach den Schüler*innen. In Be- Mädchen. 245 Schüler*innen wachsen mit nicht-deut- zug auf Forschungsfokus, verwendete Methoden sowie scher Muttersprache auf. 45 davon werden aufgrund Forschungsfragen waren die Weichen bereits gestellt, unzureichender Deutschkenntnisse, die mithilfe eines bevor die Zusammenarbeit mit den Schüler*innen be- MIKA-D Tests festgestellt werden, zudem lehrplanmä- gann. Auch eine große Rolle spielt wie erwähnt Gerda ßig „außerordentlich” geführt. Außerdem gibt es vier Reißner; Lehrerin und Hauptansprechperson für viele Integrationsklassen für Jugendliche mit Lernbehin- Schüler*innen und unsere engste Kooperationspartne- derungen. Zum sozioökonomischen Hintergrund der rin. Ein Kennenlernen erfolgte den Umständen entspre- Schüler*innen ist zu erwähnen, dass der größte Teil der chend zunächst digital durch einige Videokonferenzen Eltern der Arbeiter*innenschicht zugehörig ist, bezie- im Rahmen des Forschungsseminars. Das Konzept und hungsweise sind nicht wenige der Eltern von Arbeitslo- das Forschungsvorhaben wurden in enger Abstimmung sigkeit beziehungsweise Ausschluss vom Arbeitsmarkt mit ihr erarbeitet. Während des gesamten Prozesses (z.B. durch laufendes Asylverfahren) betroffen. Ferner fand eine enge Zusammenarbeit und ein reger Kom- gibt es auch Schüler*innen, die nicht bei ihren Fami- munikationsaustausch zwischen uns und Frau Reißner lien, sondern in Wohngemeinschaften leben. Damit statt. stammen viele Schüler*innen also aus sozioökono- misch benachteiligten Milieus (Tiefenbacher, Mikulovic Heidemarie Farokhnia ist ebenso Lehrerin der Mit- 2017:2). telschule Schopenhauerstraße. Sie führte seit Beginn 13 // COVID-19: Der soziale Ort Schule in der Krise // Aktion & Reflexion
des ersten Lockdowns im Frühling 2020 mit ihren 4.3 Methodologie Schüler*innen Tagebücher, die sie regelmäßig abgeben In diesem Kapitel der Projektbeschreibung widmen sollten. Diese Tagebücher erhielten wir vorab zur wir uns nach einer Darstellung des transdisziplinären Analyse. Aufgrund der für alle außergewöhnlichen Forschungszugangs den verwendeten Methoden - allen Lage, werden an vielen Schulen sogenannte Corona- voran der generativen Bildforschung. Tagebücher verfasst, damit die Schüler*innen die herausfordernde Zeit und das Erlebte besser Einen zentralen Aspekt des Forschungszugangs stellt verarbeiten (im Folgenden zitiert als TB). Auch ein die Transdisziplinarität dar. Der Begriff Transdisziplinari- weiterer Lehrer, Christoph Szerencsics ist als Kooperati- tät, so wie wir ihn verstehen, wurde erstmals 1970 vom onspartner zu erwähnen. Für unsere beiden Workshops, Physiker Erich Jantsch verwendet. Seinem Verständnis der erste in Präsenz vor Ort und der Zweite digital, nach kann unter dem Begriff ein „common-purpose“, stellte er seine Unterrichtsstunden zur Verfügung und also „gemeinsame Zwecke gerichtete Koordinati- ermöglichte den Schüler*innen damit die Teilnahme an on sämtlicher Disziplinen und Interdisziplinen eines unserem Forschungsprojekt. komplexen Wissenschaftssystems auf der Basis einer generalisierten Axiomatik als verbindendem Prinzip“ Innerhalb unseres Forscherinnenteams arbeiten wir verstanden werden (Jahn 2008:21). Gesellschaftliche vier von Beginn an auf Basis von Konsens und nach Herausforderungen können häufig nicht aus den tradi- basisdemokratischen Prinzipien. Zur internen Kommu- tionellen disziplinären Organisationsstrukturen be- nikation (Besprechungen, Reflexionen, Ausarbeitun- forscht werden, daher bedarf es neuer Wege, die über gen, etc.) zwischen uns vier Studentinnen nutzten wir die bestehenden Grenzen der Forschung hinausreichen. verschiedene Kanäle, vor allem Videokonferenz-Tools Aus diesem Grund hat sich in den 1990er-Jahren die und mobile Instant-Messenger-Dienste. Der Großteil transdisziplinäre Forschung gesellschaftlichen Pro- der Kommunikation fand online statt, persönliche blemstellungen zugewandt. Darunter wird auch die Treffen gab es nur sehr wenige, welche unter den „gesellschafts- oder lebensweltorientierte Forschung“ gängigen Sicherheitsvorkehrungen (Testen, Maske, verstanden. Ein wichtiger Bestandteil der Forschung ist Abstand) stattfinden mussten. Unabhängig voneinan- die Problemidentifikation. Weiters kann davon ausge- der und vorgegeben durch den Rahmen des Seminars gangen werden, dass aus disziplinären Einzelperspekti- führten wir von Beginn des Forschungsprojektes an ven komplexe Probleme nicht in vollem Umfang erfasst Forschungstagebücher. In diesen wurde nicht nur der werden können. Ein Vorteil der transdisziplinären Fortschritt dokumentiert, sie wurden vor allem zur Forschung ist, dass sie Unsicherheit und Unvollstän- Reflexion von Literatur, grundlegenden Theorien und digkeit anerkennt und berücksichtigt. Grenzen werden Methoden, unserem Rollenverständnis und Dynamiken geöffnet und Alltagswissen und Lebenswelten mitein- im Forschungsprozess genutzt. bezogen (Vilsmaier, Lang 2013:89f). Um alle Unterlagen von den Schüler*innen zu sammeln Das Ziel ist die Zusammenarbeit von Forscher*innen beziehungsweise Textentwürfe, Dokumentationen, No- und Alltagsexpert*innen in einem gemeinsamen tizen und Literaturrecherchen untereinander zugänglich transdisziplinären Prozess. In diesem transdisziplinären zu machen und um parallel an Verschriftlichungen Prozess und Setting sollen Schüler*innen nicht als Ob- arbeiten zu können, nutzten wir einen Cloudservice. jekte beforscht werden, sondern am Forschungsprozess Zur Kommunikation mit den Schüler*innen richteten partizipativ teilhaben. Das gemeinsame Forschen und wir einerseits eine E-Mail-Adresse ein, über welche sie Lernen soll allen an der Forschung beteiligten Personen uns beispielsweise ihre Fotos zukommen ließen, außer- nützen, und ihnen dabei helfen, ihre Lebenswelten und dem gründeten wir auch eine Messenger-Gruppe, um ihr Umfeld besser verstehen und nachvollziehen zu vor beziehungsweise während des Online-Workshops können. Im Falle des vorliegenden Projektes bedeutet rasch kommunizieren zu können. Mit Gerda Reißner dies, dass die Schüler*innen ebenso einen Nutzen dar- führten wir eine eigene Messenger-Gruppe, außerdem aus ziehen sollen. Nur mithilfe eines transdisziplinären, war sie gelegentlich bei Videokonferenzen dabei, je partizipativen Ansatzes kann herausgefunden wer- nach Zeitressourcen fanden auch vereinzelte Telefonate den, welche Wahrnehmung die Schüler*innen hatten, mit ihr beziehungsweise anderen Lehrpersonen der welche Bedürfnisse in der Corona-Zeit entstanden sind, Mittelschule Schopenhauerstraße statt. wie damit umgegangen wurde und wie ungenügend 14 // COVID-19: Der soziale Ort Schule in der Krise // Aktion & Reflexion
befriedigten Bedürfnissen in Zukunft besser entgegen- Zum einen stehen im Zentrum solcher Zugänge Tagebü- gewirkt werden kann. cher, die frei und unabhängig von dem Forschungsinter- esse entstanden sind, dass sie in regelmäßigen Abstän- Unser Forschungsprozess zog sich insgesamt über den verfasst werden und dadurch Veränderungs- und einen Zeitraum von einem knappen Jahr, ein Jahr wel- Entwicklungsprozesse über einen längeren Zeitraum ches geprägt war von sich stets ändernden rechtlichen darstellen (Kochinka 2008:13ff.). In diesem Verständ- Rahmenbedingungen und Anforderungen aufgrund der nis stellt Tagebuchforschung eine Prozessforschung COVID-19 Pandemie. Diese Diskontinuitäten bestimm- dar, welche den kleinteiligen Verlauf von Ereignissen ten maßgeblich auch methodologisch unsere Forschung beziehungsweise mit diesen im Zusammenhang ste- mit, indem neben dem ohnehin reflexiv und partizipativ henden Gefühlen, Gedanken, etc. der Verfasser*innen angelegten Forschungsfokus unser Forschungsvorha- untersuchen will (Landmann, Schmidt 2010:166). Es ben stets auch an diese sich rasch wandelnden Vor- ist somit zunächst wichtig, genauer zu definieren, was gaben angepasst werden musste, wobei phasenweise als Tagebuch verstanden wird und ab wann hier von große Unklarheiten und fehlende Planungssicherheit literaturwissenschaftlicher Perspektive von anderen vorherrschten. Neben der zentralen Methode unseres Textsorten gesprochen werden kann. Die von den Projekts, der Generativen Bildforschung (siehe Kapitel Schüler*innen der Schop 18 verfassten Tagebucheinträ- 3.3.2), bedienten wir uns auch weiterer Methoden der ge sind (teil)standardisiert und zum Teil unter Anleitun- qualitativen Sozialforschung beziehungsweise qualita- gen ihrer Lehrkräfte entstanden. Die Einträge sind vor tiven Entwicklungsforschung - zum Teil zusätzlich und Beginn unserer Zusammenarbeit mit den Schüler*innen zum Teil auch als Plan B, sollte die generative Bildfor- entstanden. Später sind einige weitere standardisierte schung aufgrund eingeschränkter Kontaktmöglichkei- Tagebucheinträge unter unserer Anleitung entstanden ten nicht umsetzbar sein. Zu erwähnen sind hierbei (siehe Kap. 4.4). Die Texte wurden unregelmäßig und unter anderem informelle Gespräche und Beobachtun- punktuell verfasst, stellen Momentaufnahmen dar und gen, welche sich im Rahmen der Workshops ergaben sind daher nicht eindeutig als Tagebuch im klassischen und mittels Notizen festgehalten wurden, oder die Verständnis zu sehen (wenn die Textsorte anhand der schriftlich ausgearbeitete Antworten auf Fragestel- Regelmäßigkeit der Einträge definiert wird, siehe etwa lungen, welche als eine Art von Interview verstanden Landmann, Schmidt 2010:165). Außerdem sind ein- werden können (Vgl. zu Methoden der qualitativen zelne Aspekte der Tagebucheinträge auch retrospektiv Entwicklungsforschung: Dannecker und Englert 2014a). entstanden und nicht im direkten zeitlichen Zusam- Außerdem stellten die erwähnten Corona-Tagebücher menhang mit den reflektierten Ereignissen, wodurch den eigentlichen Ausgangspunkt der Forschung dar. Für gewisse Erinnerungsfehler oder bereits im persönlichen diese Texte bedurfte es auch einer Form der qualitati- Reflexionsprozess veränderte Empfindungen und Ge- ven Inhaltsanalyse. danken Eingang gefunden haben können (Landmann, Schmidt 2010:169). Es befinden sich die Corona-Ta- Folglich stellen wir im weiteren Verlauf die Methode gebücher also an der Schnittstelle zu anderen Textsor- der generativen Bildarbeit vor. Danach wollen wir die ten, wie zum Beispiel dem Brief oder der Chronik, da Umsetzung unseres Forschungsprojektes, die Zu- sie (zumindest teilweise) für eine Leser*innenschaft sammenarbeit - allen voran die Workshops - mit den abseits der eigenen Person verfasst sind (Boerner, zit. n. Schüler*innen darstellen und schlussendlich unseren Kochinka 2008:17). Zugang zur Auswertung des gesamten gesammelten Materials. Ein weiterer Grund, warum wir nicht mit der klassi- schen Tagebuchforschung aus der Psychologie arbeiten 4.3.1 Analyse der Corona-Tagebücher ist, dass diese einen starken standardisierten und quan- Klassische Zugänge zur Tagebuchforschung, wie sie titativen Fokus auf die Datenauswertung legen (Nezlek beispielsweise in den Bereichen der (Entwicklungs-) 2012:50ff.), was für unser Forschungsinteresse unge- Psychologie, der Pädagogik oder im Rahmen histori- eignet ist. Für, unsere‘ Corona-Tagebücher verwenden scher Tagebuchforschung eingesetzt werden, sind für wir deswegen Methoden der qualitativen Sozialfor- unser Forschungsprojekt aus mehreren Gründen nicht schung, welche auch zur Auswertung von Interviews anwendbar. und Beobachtungen herangezogen werden können (Landmann, Schmidt 2010:171). 15 // COVID-19: Der soziale Ort Schule in der Krise // Aktion & Reflexion
Ein erster Schritt der Analyse der Tagebücher fand (,Mach ein Foto von deinem Lieblingsort’) können im Vorfeld der Planung des ersten Workshops statt. dabei hemmender sein als etwa andere Fotos, die als Der Hintergrund für den ersten, sehr frühen Auswer- Inspiration dienen können. tungsschritt ist, dass wir uns dadurch im Rahmen des Workshops auf die bereits gewonnenen Erkenntnisse Fotografieren: Die Teilnehmer*innen gehen mit dem beziehen können, wodurch schon erste Impulse für Impuls in ihre Lebenswelten und bringen ausgewählte das partizipative Projekt nahe an den Lebenswel- Fotografien wieder mit. Hier wären technische Einfüh- ten der Schüler*innen gesetzt werden können. Eine rungen zu Fotografie ein zusätzlicher Mehrwert. Für die Auseinandersetzung der Schüler*innen selbst mit den Wahl von analogen oder digitalen Technologien ist hier Corona-Tagebüchern sollte der Unterstützung des auch zu bedenken, dass die Auswahl der Motive zu un- Reflexionsprozesses dienen. Sie sollten - so der Plan - terschiedlichen Zeitpunkten im Prozess getroffen wird: Vergangenes und vor allem ihre Gefühle und Gedanken Bei den Letzteren passiert dies erst zu einem späteren zu der Zeit der ersten Schulschließung dadurch besser Zeitpunkt, an dem einige Bilder bewahrt und andere auf die Gegenwart beziehen können (siehe Kochinka gelöscht werden. 2008:204ff.). Diesen Plan mussten wir verwerfen, da zum einen ein neues Schuljahr begonnen hatte und Bilddialog: Das ‘Eigene’ wird dann mit dem ‘Ande- sich die Schüler*innen augenscheinlich nicht mehr mit ren’ in Verbindung gebracht, z.B. in einer Dialogrun- Dingen des letzten Jahres beschäftigen wollten, zum de. Das ist ein Moment der Selbstoffenbarung für anderen aber auch klar wurde, dass weder die Schul- die Teilnehmer*innen, ein Abgleich von Selbst- und schließungen noch die Themen unseres Forschungspro- Fremdwahrnehmung, wobei darauf zu achten ist, dass jektes der Vergangenheit angehörten. es nicht zu einer Gleichschaltung kommt (Brandner 2020:131). Lesearten können assoziativ, analytisch Die tatsächliche Analyse der Corona-Tagebücher und oder emotional sein. In der Praxis stellt sich die Frage Textaufgaben fand so erst im Rahmen der zusammen- nach der Raumgestaltung, die ebenso partizipativ ge- führenden Analyse des gesamten Materials statt. schehen sollte. Die Teilnehmer*innen sollten auch ihre Bilder im Raum ‘präsentieren’ können. Dann lassen sie 4.3.2 Generative Bildforschung alle Bilder auf sich wirken. Gedanken können auf Post Herzstück des Forschungsprojekts bildet die Metho- Its notiert und dazugeklebt werden. Dann sprechen in de der generativen Bildarbeit. Hier beziehen wir uns kleinen Dialogrunden zunächst die Anderen über ein in erster Linie auf Vera Brandner (2020), die diesen Bild. Erst dann kommt der/die Fotograf*in zum Spre- methodologischen Rahmen entwickelt hat. Sie wie- chen. derum führt als ihre Inspirationsquellen Paulo Freires generative Bildungspraxis an, Roland Barthes’ Umgang Mapping: Die Bilder werden zu einer Bilderlandkar- mit fotografischem und schriftlichem Material, Bour- te zusammengesetzt. Dabei sollen aus den Bildern dieus praxeologischer Dreischritt, und Homi Bhabhas und Themen, die ausgewählt werden, die für die Konzept der kulturellen Differenz (Brandner 2020:10- Teilnehmer*innen am meisten Bedeutung erlangt ha- 12). Ausgangspunkt ist dabei die Lebenswelt der ben, und so generative Themen benannt werden. Teilnehmer*innen. Die Schritte zwei und drei lassen sich beliebig oft wie- derholen, was Brandner als Rekurssionsschritte bezie- Generative Bildarbeit verläuft demzufolge in 4 Phasen: hungsweise als ‘Verschachtelung’ bezeichnet (Brandner 2020:120, vgl. auch grafische Darstellung bei Brandner, Impuls: Zuerst werden Teilnehmer*innen eingeladen, Vilsmaier 2014:206). einen Teil ihres Selbstbildes in den Prozess einzubrin- gen, z.B. über ,Lieblingsbilder’ oder ‘Alltagsgegenstän- Der transformative Anspruch, den wir an unsere Arbeit de’ als erster impulsgebender Rahmen. Die Impulsset- mit der Mittelschule Schopenhauerstraße stellen, ist in zung kann ähnlich einer Leitfrage in einem qualitativen die Methode der generativen Bildforschung sozusagen Interview gedacht werden - als „Balanceakt zwischen eingebaut: Das gemeinsame Arbeiten mit eigenen Offenheit und Steuerung” (Brandner 2020:122). Fotografien soll nach Brandner Momente erzeugen, „in Wichtig ist in jedem Fall, dass ein Prozess angestoßen denen das Eigene und das Fremde aufeinandertreffen wird. Die Zielsetzung des Impulses sollte sein, Möglich- und einander verunsichern” (Brandner 2020:240). keiten zu eröffnen. Als Anleitungen formulierte Impulse Im Bezug auf die generativen Themen oder das „the- 16 // COVID-19: Der soziale Ort Schule in der Krise // Aktion & Reflexion
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