Das Band - mit . mischen Partizipation 37 40 44 - BVKM
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Das Band www.bvkm.de 1/2021 Zeitschrift des Bundesverbandes für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e. V. Inklusiver 37 Kinder- und Jugendhilfe Langer Weg COVID-19-Impfung 40 mit . mischen Expertenanhörung Vereinbarkeit von Pflege und Beruf 44 Partizipation
» i n h a lt Impresssum Meldungen xx DAS BAND Zeitschrift des Bundesverbandes für körper- und mehrfachbehinderte 2 Panorama Menschen e. V. 4 BVKM-Pinnwand 52. Jahrgang Verantwortlich Helga Kiel (Hrsg.) Thema Redaktion Stephanie Wilken-Dapper (v.i.S.d.P.) Tel. (02 11) 6 40 04 -14, 6 MEHR MITBESTIMMUNG IST NÖTIG UND MÖGLICH Fax (02 11) 6 40 04 -20 stephanie.wilken-dapper@bvkm.de – KATRIN GRÜBER / STEPHANIE CZEDik Redaktionsanschrift Bundesverband für körper- 10 Selbst entscheiden und dazugehören und mehrfachbehinderte Menschen e. V. – Peggy Glaschke Redaktion DAS BAND Brehmstraße 5–7, 40239 Düsseldorf 14 Was haben wir zu verlieren? dasband@bvkm.de | www.bvkm.de Abonnement und – Christina Bark Adressverwaltung Markus Kosciow 16 „Ich wünsche mir ...“ Tel. (02 11) 6 40 04-26 Fax (02 11) 6 40 04-20 – Cordula Birngruber markus.kosciow@bvkm.de Bankverbindung 20 mitreden, mitentscheiden, mitgestalten Bank für Sozialwirtschaft (BfS) IBAN DE53 3702 0500 0007 0342 00 – Anne Willeke BIC BFSW DE33 XXX Titel und Realisation 24 Teilhabekiste und Unterstützte Kommunikation Detlef Grove – Nele Diercks /Lars Tiedemann Fotovorlage Titel Fabian Helmich (www.fabian-hel- mich.de) für Helfende Hände e. V. 28 DIe qual der Wahl (www.helfende-haende.org) – Nora Peters Druck reha gmbh Saarbrücken 32 Gesundheitsvorsorge mit eigener Stimme Auflagenhöhe – Kerrin Stumpf 20.000 Exemplare Anzeigenverwaltung reha gmbh Tel. 0681 93621-173 Forum konstanzepfuell@rehagmbh.de Mediadaten auch unter 37 Die Kinder- und Jugendhilfe wird inklusiver bvkm.de/ueber-uns/unsere- magazine/ – Norbert Müller-Fehling DAS BAND erscheint 2021 viermal. Für Mitglieder des Bundesverbands 40 Der lange Weg zur Covid-19-Impfung für körper- und mehrfachbehin- derte Menschen e. V. ist der Bezug – Janina JÄnsch der Zeitschrift im Mitgliedsbeitrag erhalten. Das Jahresabonnement für Einzelbezieher kostet € 25,00. 42 Rechtsprechung zur Impfpriorisierung Die Lieferung erfolgt automatisch für ein weiteres Jahr, wenn nicht bis – Sebastian Tenbergen zum 30. September eine schriftliche Kündigung erfolgt. Beiträge sind urheberrechlich geschützt. Ratgeber Bei namentlich gekennzeichne- ten Beiträgen sind die Verfasser 44 Recht und Praxis verantwortlich. Expertenanhörung beim unabhängigen Beirat für ISSN 01 70-902 X die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf – Katja Kruse 46 Steuermerkblatt 43 Tipps & Termine Das Band
Auftakt 1|21 Liebe Leserin und lieber Leser, Mitmischen – alle? – ja klar! Bedeutet Mitmischen das, was im Bundesteilhabegesetz (BTHG) gleich im § 1 als Anspruch und Ziel formuliert ist, nämlich eine „volle, wirksame und gleichberechtigte Teilha- be am Leben in der Gesellschaft“? Was ist das genau und wie geht das? Immer, wenn das Wort Teilhabe fällt, wird an Inklusion, Dabeisein, Selbstbestimmung, Partizipation, Gestalten und Entscheiden gedacht. Zusammengefasst: mitmischen. Es be- deutet, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, gehört zu Mitmischenlassen ist eine Verpflichtung, nicht nur für den werden, Wünsche zu äußern, wählen zu können, Ideen zu Gesetzgeber, der die Forderungen der UN-BRK umsetzen entwickeln, auszuprobieren und Nein zu sagen. Also auch, muss, sondern für alle Menschen. Der Gesetzgeber muss Fehler zu machen, falsche Entscheidungen zu treffen, Kon- die finanziellen Mittel bereitstellen, die Qualifikationen der sequenzen und Gefahren zu unterschätzen und unglücklich UnterstützerInnen sicherstellen und die Anstrengungen zur zu sein. Wie können wir das sortieren und zu einer Bereiche- Umsetzung einfordern. Für alle anderen heißt Mitmischen: rung für alle Menschen werden lassen? mitzuwirken, zu verändern, sich nichts gefallen zu lassen, selbst zu entscheiden und gleichberechtigt zu sein. Einig sind sich alle Beteiligten darin, dass es Mut, Zeit, Entde- cken und Unterstützung benötigt und alles andere als einfach Lesen Sie in dieser Ausgabe von DAS BAND von vielen po- ist. Mut braucht es am meisten von den Menschen selber, sitiven Erfahrungen mit Beteiligungsprozessen, dem neuen die ihre Wünsche erforschen und einfordern können, Vor- Miteinander, der Achtung und Wertschätzung der Men- stellungen eigenverantwortlich umsetzen und dann auch er- schen. Es gibt Beispiele für die Gestaltung von Prozessen, leben werden – mit allen Höhen und Tiefen. Es braucht Mut Vorschläge zur Anwendung von Instrumenten, Erfahrungen von allen, die daneben- und dabeistehen, dies zuzulassen, aus gelungenem Mitmischen und von Mutmachern für alle zu ermöglichen, verlässlich zu sein und Vertrauen zu haben. Beteiligten. Es werden auch Schwierigkeiten identifiziert und Anforderungen aufgezählt. Zeit ist der knappste Faktor in dem Unterfangen, Teilhabe zu ermöglichen. Es braucht Zeit zu verstehen, zu fragen, Ant- Von allein geschieht nichts, Anstrengungen kostet es auf je- worten zu finden, Alternativen auszuloten, zu entdecken den Fall, Ressourcen sogar in großem Umfang. Wagen wir und zu entscheiden. Es braucht die Chancen der Bildung im es, motivieren wir alle: die Menschen mit Behinderung, die umfassenden Sinne, nämlich Erfahrungen zu machen und Eltern und Betreuerinnen und Betreuer, die gesamte Mitarbei- Erkenntnisse zu gewinnen. terschaft in den Einrichtungen und Diensten, die Akteure im Sozialraum, alle. Es kann zwar mühevoll und unbequem, aber Entdeckt werden müssen die eigenen Wünsche, es müssen letztlich nur gut, bereichernd und glückbringend werden. eine eigene Lebensplanung entwickelt, neue Ziele formu- liert, andere Wege gegangen und eigene Meinungen gebil- Machen Sie mit, ermöglichen Sie mit all Ihrer Kraft Teilhabe, det werden. Hier braucht es Prozesse, Kreativität und Aus- damit alle Menschen mitmischen können und unsere Gesell- probieren. schaft reich wird. Unterstützung von allen für diesen revolutionär neuen Und: Bleiben Sie gesund! Weg ist unumgänglich. Es kann nur funktionieren, wenn Verfahren und Instrumente angewandt werden, die helfen zu verstehen und sich zu äußern. Selbstbestimmung zu er- möglichen kann lästig sein und sehr herausfordernd. Ge- duld, Phantasie und Empathie können beflügeln und sind so wichtige Gelingensfaktoren. Ihre Helga Kiel, Vorsitzende des bvkm Ausgabe 1/2021 1
BVKM »panor ama Wichtig! DAS BAND als PDF Über 620 Organisationen Die in den Texten verarbeiteten Links können Sie schnell und unkompliziert nutzen, wenn Sie unterzeichnen Erklärung für sich die jeweils aktuelle Ausgabe von DAS BAND auch kostenlos als PDF herunterladen. Menschlichkeit und Vielfalt https://bvkm.de/ueber-uns/unsere-magazine/ im Superwahljahr 2021 Boccia – Eine Sportart für Alle! – Neuer Film „Menschen mit Behinderung Spannung, Dynamik und Zielvermögen: All das verspricht die Sportart Boccia. Sie bietet insbesondere brauchen die Befähigung und Menschen, die in ihrer Mobilität stark eingeschränkt sind, die Möglichkeit, sich sportlich zu betätigen. den Mut, die Ressourcen im Interessierte können die Sportart nun durch unseren neuen Film „Boccia – Eine Sportart für Alle!“ ken- Sozialraum für sich zu nut- nenlernen und sich faszinieren lassen. https://www.youtube.com/watch?v=Nc2RZLvWV_0&t=4s zen. Dafür ist ein offenes und zugewandtes gesellschaftliches Tagung zum Muttertag 2021 Klima wichtig. Als größter Online-Tagung zum Muttertag // 14. und 15. Mai 2021: Die Bundesfrauenvertretung des bvkm lädt ein Selbsthilfe- und Fachverband zur Online-Tagung „Wege zur Gesundheit – In guter Gesellschaft oder mutterseelenallein?“. Die Teilneh- für körper- und mehrfachbehin- merinnen erwartet ein vielfältiges Programm: Prof.’in Dr. Christa Büker wird Einblick in ihre Forschung zur derte Menschen in Deutschland Gesundheit pflegender Mütter geben, ein breites Workshop-Angebot bewegt sich von Yoga über Trom- sieht der bvkm sich und uns alle meln bis hin zum Umgang mit herausforderndem Verhalten und auch der Austausch mit anderen Frauen aufgefordert, hierfür im Wahljahr mit besonderen Herausforderungen wird nicht zu kurz kommen. Seien Sie noch kurzentschlossen dabei. 2021 bewusst einzutreten.“ Informationen finden Sie hier: www.bvkm.de (Über uns/Veranstaltungen bvkm) oder unter dem Link: https://bvkm.de/veranstaltung/wege-zur-gesundheit-in-guter-gesellschaft-oder-mutterseelenallein-copy/ Helga Kiel, Vorsitzende des Bundesverbands für körper- und Pflegereform 2021 – Entwurf sorgt für Verärgerung! mehrfachbehinderte Menschen Der Mitte März bekannt gewordene Arbeitsentwurf aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) zum e. V. (bvkm), zur Erklärung für Pflegereformgesetz stößt bei den Fachverbänden für Menschen mit Behinderung, zu denen auch der bvkm Menschlichkeit und Vielfalt. gehört, auf große Verärgerung. Vorgesehen ist darin eine Regelung, mit der die derzeitigen Mittel für den stundenweisen Einsatz von Verhinderungspflege künftig um fast 50 Prozent gekürzt werden sollen. Mit der gemeinsamen Erklärung „Das ist ein Schlag ins Gesicht für Eltern behinderter Kinder“, so Helga Kiel, Vorsitzende des bvkm. zeigen zum Auftakt des Wahl- https://bvkm.de/ratgeber/verhinderungspflege/ jahres 620 Verbände, Initiativen und Einrichtungen aus dem Be- bvkm zeichnet Memorandum mit reich der Behindertenhilfe und der Mit dem Memorandum „Pakt für Inklusion 2021 – Inklusive Bildung und Digitalisierung zusammen denken“ Sozialen Psychiatrie gemeinsam setzen sich der bvkm und die unterzeichnenden Fach- und Elternverbände für das uneingeschränkte Recht klare Haltung gegen Rassismus auf inklusive Bildung für alle Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen bei zunehmender und Rechtsextremismus und war- Digitalisierung ein. Lesen Sie hier weiter: nen vor Hetze und Stimmungs- www.bvkm.de (Unsere Themen/Förderung und Bildung) oder über den Link: mache rechter Akteur*innen wie https://bvkm.de/unsere-themen/foerderung-und-bildung/ der AfD und ähnlicher Bewe- gungen. Mit Sorge beobachten mit.machen: Eure Ideen für freie Zeit die Verbände, wie versucht wird, „mit.machen: Eure Ideen für freie Zeit“. Das Leben läuft durch Corona gerade anders als gewohnt. Gemein- eine Stimmung zu erzeugen, die sam mit euch und Ihnen möchte der bvkm das Beste daraus machen. Hass und Gewalt nicht nur gegen Auf der Website www.bvkm.de/mitmachen stellen wir seit Anfang des Jahres Ideen vor, die einfach Menschen mit Behinderung, psy- nachzumachen sind. Es darf alles sein: Kreatives, Bewegung, Handwerk, Technik, Entspannung, Ernährung chischer oder physischer Krankheit oder Tipps, was man am Computer / Tablet / Smartphone machen kann. Es sind bereits tolle Ideen und schürt, sondern gegen alle, die Anregungen auf der neuen Plattform zu finden. Weitere Vorschläge können an den bvkm geschickt werden. sich für eine offene und vielfäl- Kontakt und Information: freizeit@bvkm.de tige Gesellschaft engagieren. Barrierefreiheitsgesetz – Stellungnahme des bvkm „Wir treten ein für Menschlichkeit Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat einen Referentenentwurf für ein Barrierefrei- und Vielfalt. Und wir sind nicht heitsgesetz (BFG) veröffentlicht. Es sieht Regelungen für die Barrierefreiheit von Produkten und Dienst- alleine: Wir stehen für Millio- leistungen vor. Mit dem BFG soll die Umsetzung des „European Accessibility Act“ bis zum 28. Juni 2022 nen Menschen in Deutschland, in deutsches Recht erfolgen. Die Stellungnahme des bvkm zum Gesetzesentwurf finden Sie hier: die das Auftreten und die Ziele https://bvkm.de/ratgeber/barrierefreiheitsgesetz-stellungnahme-des-bvkm/ von Parteien wie der Alternative für Deutschland und anderer Versicherungsmerkblatt neu aufgelegt! rechter Bewegungen entschie- Das Versicherungsmerkblatt des bvkm – entstanden in Kooperation mit der Union Versicherungs- den ablehnen“, heißt es in der dienst GmbH, Detmold – widmet sich dem Versicherungsschutz für Menschen mit Behinderungen. Erklärung. Die AfD habe vielfach Das Versicherungsmerkblatt gibt einen Überblick über die verschiedenen Versicherungsarten – von gezeigt, dass sie in ihren Reihen der privaten Unfallversicherung bis zur Reiseversicherung. Außerdem bezieht es den Versicherungs- Menschen- und Lebensfeindlich- schutz für Betreuerinnen und Betreuer mit ein. Das Versicherungsmerkblatt kann kostenlos als bar- keit dulde, sie fördere Nationa- rierearme PDF heruntergeladen werden. Die Druckversion erscheint im Laufe des Frühjahrs. lismus, Rechtspopulismus und www.bvkm.de (Recht und Ratgeber/ Rechtsratgeber/Versicherungsmerkblatt) oder über den direkten Link: Rechtsextremismus. Heute sei https://bvkm.de/ratgeber/versicherungsmerkblatt/ 2 Das Band
daher plötzlich „wieder an der Tagesordnung, was in Deutsch- land lange als überwunden galt“, warnen die Unterzeichnenden. Die Mitzeichnenden, die von Organisationen der Selbsthilfe über Förder- und Inklusions- organisationen bis zu Spitzen- verbänden der Freien Wohl- fahrtspflege reichen, zeigen sich entschlossen, Hass und Hetze entgegenzutreten: „Wir lassen nicht zu, dass in Deutschland eine Stimmung erzeugt wird, Über 400 Organisationen unterzeichnen Erklärung für Menschlichkeit und Vielfalt im die unsere Gesellschaft spal- tet“, heißt es in der Erklärung. Superwahljahr 2021 Eintreten Mit für Menschlichkeit der gemeinsamen und Erklärung zeigen zumVielfalt! Auftakt des Wahljahres 435 Verbände, Durch Aufklärung, Beratung und Initiativen und Einrichtungen aus dem Bereich der Behindertenhilfe und der Sozialen öffentlichkeitswirksame Aktionen Psychiatrie gemeinsam klare Haltung gegen Rassismus und Rechtsextremismus und soll durch verschiedenste Aktivi- Als Initiativen, Einrichtungen und Verbände,rechter die sichAkteur*innen für Inklusion und Teilhabe von ähnlicher Menschen täten der Unterzeichnenden „für warnen vor Hetze und Stimmungsmache wie der AfD und mit Behinderung oder psychischer Beeinträchtigung einsetzen, wenden wir uns gegen jegliche eine menschliche und lebenswerte Bewegungen. Mit Sorge beobachten die Verbände, wie versucht wird, eine Stimmung zu Form von Ausgrenzung und Diskriminierung. Wir treten ein für Menschlichkeit und Vielfalt. erzeugen, die Hass und Gewalt nicht nur gegen Menschen mit Behinderung, psychischer Foto: Tobias Regesch Zukunft für uns alle“ gewor- ben werden. Ziel der Mitzeich- oder physischer Krankheit schürt, sondern gegen alle, die sich für eine offene und vielfältige Und wir sind nicht alleine: Wir stehen für Millionen Menschen in Deutschland, die das nenden ist es, im Superwahljahr Gesellschaft Auftreten undengagieren. die Ziele von Parteien wie der Alternative für Deutschland (AfD) und anderer ein Zeichen für Demokratie zu rechter „Wir Bewegungen treten entschieden und ein für Menschlichkeit ablehnen. Vielfalt.Die UndAfD wirhat vielfach sind gezeigt,Wir nicht alleine: dass sie infür stehen ihren setzen. Sie betonen, es komme Reihen Menschen- und Lebensfeindlichkeit duldet. Sie fördert Nationalismus, Rechtspopulis- auf jede Stimme an und for- Millionen Menschen in Deutschland, die das Auftreten und die Ziele von Parteien wie der mus und Rechtsextremismus. dern auf, zur Wahl zu gehen. Alternative für Deutschland und anderer rechter Bewegungen entschieden ablehnen“, heißt es in der Erklärung. Die AfD habe vielfach gezeigt, dass sie in ihren Reihen Menschen- und Diese Entwicklung macht uns große Sorgen. Denn heute ist wieder an der Tagesordnung, was Unterzeichnet wurde die Lebensfeindlichkeit dulde, sie fördere Nationalismus, Rechtspopulismus und in Deutschland lange als überwunden galt: Hass und Gewalt gegen Menschen aufgrund von Erklärung unter anderem vom Rechtsextremismus. Heute seiphysischer daher plötzlich „wieder an deroder Tagesordnung, was in Behinderung, psychischer und Krankheit, Religion Weltanschauung, sozialer Sozialverband VdK Deutschland, Deutschland lange als überwunden galt“, warnen die Unterzeichnenden. oder ethnischer Herkunft, Alter, sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität sowie dem Arbeiter-Samariter-Bund nichtMitzeichnenden, zuletzt gegen Personen, die von die sich für eine offene und vielfältige über Gesellschaft Förder- undengagieren. Deutschland, den Fachverbänden Die Organisationen der Selbsthilfe für Menschen mit Behinderung, Inklusionsorganisationen bis zu Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege reichen, dem Paritätischen Gesamtverband Das ist nicht hinnehmbar und muss aufhören! Wir sagen NEIN zu jeglicher Ideologie der zeigen sich entschlossen, Hass und Hetze entgegenzutreten: „Wir lassen nicht zu, dass in und der Deutschen Gesell- Ungleichwertigkeit von Menschen. Die Würde des Menschen ist unantastbar! Deutschland eine Stimmung erzeugt wird, die unsere Gesellschaft spaltet“, heißt es in der schaft für Soziale Psychiatrie. Erklärung. Wir setzen uns deshalb dafür ein, dass: Bislang wird die Erklärung Durch Aufklärung, Beratung und öffentlichkeitswirksame Aktionen soll durch verschiedenste bundesweit von weit mehr als sich der Aktivitäten Hass und Gewalt nicht weiter Unterzeichnenden ausbreiten „für eine können, menschliche und lebenswerte Zukunft für uns 620 Verbänden, Initiativen und alle“ geworben werden. Ziel der Mitzeichnenden ist es,Behinderungen niemand das Recht auf Leben von Menschen mit im Superwahljahr ein Zeichen für Einrichtungen mitgetragen. in Frage Demokratie stellen darf zu setzen. Sie und betonen, es komme auf jede Stimme an und fordern auf, zur Wahl Menschen nicht ausgegrenzt, benachteiligt und diskriminiert werden. zu gehen. Der bvkm hat an der Erklärung für Menschlichkeit und Vielfalt Wir lassen nicht Unterzeichnet zu,die wurde dass in Deutschland Erklärung eine vom unter anderem Stimmung erzeugtVdK Sozialverband wird, die unsere Deutschland, maßgeblich mitgearbeitet. Zu Gesellschaft dem spaltet. Wir setzen Arbeiter-Samariter-Bund uns ein fürden Deutschland, eineFachverbänden menschliche und lebenswerte für Menschen mitZukunft den Unterzeichnenden gehören für uns alle! dem Paritätischen Gesamtverband und der Deutschen Gesellschaft für Soziale Behinderung, auch zahlreiche Mitglieds Psychiatrie. Bislang wird die Erklärung bundesweit von weit mehr als 400 Verbänden, organisationen des bvkm. Initiativen und Einrichtungen mitgetragen. Wenn auch Ihre Organisation die www.wir-fmv.org Der gesamte Erklärungstext #wfmv2021 und die Liste der Mitzeichnungen ist online unter www.wir- Erklärung mitzeichnen möchte, fmv.org abrufbar. melden Sie sich unter kontakt@ wir-fmv.org. Die Erklärung – Stand 18. Februar 2021 auch in Leichter Sprache –, alle Informationen zu den Inhal- ten, Materialien und Stimmen zur Erklärung finden Sie auf www.wir-fmv.org Ausgabe 1/2021 3
BVKM » p i n n wa n d Hamburg Wechsel an der Spitze von Leben mit Behinderung Hier könnte auch eine Meldung über Ihren Verein stehen. Schicken Sie Foto Ralph Grevel, bisher Bereichsleiter Wirtschaft s und IT und stellvertretender Geschäftsführer, und kleine Texte. Schreiben Sie uns unte r ist seit dem 1. Februar 2021 Geschäftsführer E-Mail: dasband@bvkm.de von Leben mit Behinderung Hamburg Sozial einrichtungen gGmbH. Bereits 2019 hatte sich der Vorstand von Leben mit Behinderung Hamburg Elternverein e.V. als Gesellschafter für Ralph Grevel als Nachfolger von Stephan Berlin Flucht, Migration, Behinderung – Projekt Peiffer entschieden. Stephan Peiffer ist zum 31. Januar 2021 in den Ruhestand gegangen. Gemeinsam mit Kerrin Stumpf, Geschäfts Stephan Peiffer Ehrenamt in Vielfalt geht in das zweite Jahr führerin des Elternvereins, wird Ralph Was brauchen Menschen mit Migrations- und/oder Fluchterfahrung und Grevel zukünftig die Organisation steuern. Behinderung? Welche rechtlichen Besonderheiten gibt es an der Schnittstel Mit Ralph Grevel (49) rückt ein bekanntes le Flucht, Migration und Behinderung? Wie können Angebote zur Selbsthil Gesicht an die Spitze von Leben mit Be fe und zur Beratung gestaltet werden, um Menschen mit Fluchterfahrung hinderung Hamburg. Eingestellt wurde der zu erreichen? Um diese Fragen und Themen u. a. ging es 2020 bei den Controller aus dem Ruhrgebiet 2001. Mit der bundeweiten, mehrtägigen Online-Workshops „Wege zu Teilhabe und En Zeit übernahm Ralph Grevel mehr Aufgaben. gagement“. Die Teilnehmenden kamen aus den Bereichen der Behinderten- Von 2009 an war er als Bereichsleitung Wirt und Geflüchtetenhilfe sowie aus Migrantenorganisationen und Verwaltung. schaft und IT u. a. für das Controlling und Die interaktiven, kreativen und partizipativen Workshops ermöglichten ei die Finanzbuchhaltung verantwortlich. Im nen Wissenstransfer und einen intensiven Austausch zwischen den Teilneh April 2018 übernahm er zusätzlich die stell menden und den ReferentInnen. MINA Leben in Vielfalt e.V. bietet auch Ralph Grevel vertretende Geschäftsführung. Ralph Grevel 2021 wieder interaktive und kostenlose Workshops an. Die mehrtägigen ist Wirtschafts-Diplom Betriebswirt und Präsenz-Workshops „Flucht, Migration und Behinderung – Wege zu Teil studierte danach Soziale Arbeit. Auch dieses Hamburg nachhaltig verändert und durch die habe und Engagement“ werden fortgesetzt und finden in Erfurt(online!), Studium schloss er mit einem Diplom ab. von ihm initiierten Haus- und Wohngemein Hannover und Potsdam statt. Neu ist eine Online-Workshop-Reihe ab Ralph Grevel war in den vergangenen schaften wurden Nachbarschaften inklusiver. April 2021 zum Thema „Inklusion für alle? Teilhabeperspektiven an der Jahren dafür zuständig, die Organisation Er hinterlässt große Fußstapfen, aber ich Schnittstelle Flucht & Behinderung“ sowie zwei Online-Workshops im Mai auch wirtschaftlich gut aufzustellen. Er freue mich auf die Herausforderung.“ und September für Ehrenamtliche und MentorInnen zum Thema „Barrieren verhandelte mit der Sozialbehörde das Fachlich will Ralph Grevel den von Stephan und Teilhabeperspektiven von geflüchteten Menschen mit Behinderung“. Trägerbudget und im vergangenen Jahr Peiffer eingeschlagenen Weg mit eigenen dessen Erhöhung. Diese war nötig geworden, Akzenten weiterentwickeln: „In der Weitere Informationen zu den Angeboten: weil Leben mit Behinderung Hamburg zum Personenzentrierung der KlientInnen will https://mina-vielfalt.de/workshops 1. Januar 2021 einen Tarifvertrag eingeführt ich unseren Kurs fortsetzen und stärken. Informationen zum Projekt: www.mina-vielfalt.de hat und die steigenden Gehälter der gut Dafür müssen wir Arbeitsbedingungen 1000 Mitarbeitenden refinanziert werden festigen, denn nur so können die Mitar mussten. Die Zusammenarbeit mit seinem beitenden die KlientInnen wirksam dabei Esslingen Vorgänger Stephan Peiffer war für Ralph unterstützen, ihre eigenen Lebensperspek Grevel prägend: „Stephan Peiffer hat viel für tiven zu entwickeln und umzusetzen.“ 15. Pack-Aktion musste ausfallen die Menschen mit Behinderung getan. Sein Steckenpferd, die inklusive Stadtplanung, hat www.lmbhh.de Aufgrund der Corona-Beschränkungen konnte 2020 die 15. Geschenke- Verpack-Aktion des Esslinger Vereins „Rückenwind“ in der Vorweih nachtszeit im Einkaufscenter DAS ES nicht stattfinden. Aber: Auch wenn die Geschenke nicht verpackt werden konnten, konnten Interessierte selbstge Fotos: Leben mit Behinderung Hamburg, www.lmbhh.de machte Frucht aufstriche und handgefertigte Seifen direkt bei Rückenwind e. V. gegen eine Spende erwerben. Verschiedenste Seifen (Lavendel, Rose, Zitrone , Melisse) weckten Erinnerungen an den Sommer. Fruchtaufstriche wie z. B. Brombeere, Holunderblüten- und Rosenblütengelee, rote Mirabelle, Esslinge r Schecken- Kirsche, Zwetschgen- und Quittenmus versüßten den KäuferI nnen die Zeit im Lockdown und füllten die Kasse von Rückenwind e. V. mit Spende ngeldern für die Pflegeauszeit-Wochenenden für Mütter von Kindern mit Behinderung. www.rueckenwind-es.de 4 Das Band
Weitere Informationen unter www.bvkm.de Wört / Ostalbkreis Digitaler Kochabend – Zusammen is(s)t man weniger allein enttäuschend. Eine Lösung musste her und wir überlegten, dass gemeinsam Kochen doch auch in Zeiten von Corona geht – digital eben.“ Neun BewohnerInnen des Begleiteten Woh nens, die die Freizeitangebote des FuD gern nutzen, wagten den Versuch und nahmen am digitalen Kochabend teil. „Durch die Nutzung des Videochats in der schul.cloud konnten wir die Bedienung ganz einfach halten. Die TeilnehmerInnen mussten lediglich einen Link anklicken, um der Videokonferenz beizutreten. und bei den meisten auch das Avocado-Mousse Ohne weitere Anmeldung.“, berichtet Julia mit Mango dann doch fertig auf den Tisch. Der Familienunterstützende Dienst (FuD) der Seubert. Eine einfache Bedienung sei für Men Julia Seubert: „Natürlich steckt teilweise mehr Reha-Südwest Ostwürttemberg-Hohenlohe schen mit Behinderung wichtig, weil sie mit der Organisation hinter solch einem digitalen Event, gGmbH startet mit dem Digitalen Kochabend Technik oft noch nicht vertraut seien, bestätigt doch die überwältigende Rückmeldung hat ein neues Angebot, das Menschen mit und Sybille Dittrich-Ihlenfeld, die eine WG in Crails gezeigt, dass es sich lohnt!“ „Unsere Bewoh ohne Behinderung nicht nur in Coronazeiten heim betreut und den Kochabend mitgestaltet. nerInnen haben mit den Kontaktbeschrän zusammenbringt. Damit alle genug Zeit für den Einkauf hatten kungen, Abstandsregeln und Ausgangssperren und sich schon im Vorfeld mit den Gerichten natürlich zu kämpfen“, berichtet Peter Hirsch. Neun TeilnehmerInnen blicken Julia Seubert, vertraut machen konnten, wurden die Rezepte „Eine Bewohnerin verbringt den Abend sonst Ansprechpartnerin des FuD, aus vier bereits eine Woche vorher verschickt. Mit dem beispielsweise oft mit den BewohnerInnen aus verschiedenen Kameras entgegen und sind Thema „Vegan Kochen“ wurde an diesem der anderen WG im Ort. Jetzt ist das nicht genau wie die VeranstalterInnen gespannt, was Abend außerdem ein Trendthema aufgegriffen. mehr möglich. Ich habe gemerkt, wie sehr ihr sie an diesem Abend erwartet. „Und was Während alle hinter der Kamera mit Schneiden der gemeinsame Kochabend geholfen hat. machen wir damit?“, fragt die Pädagogische beschäftigt waren, wurden immer wieder auch Im digitalen Umfeld ist sie sogar mehr als Begleitung ein wenig scherzhaft, hält die Fragen gestellt. „Es ist nicht einfach, alles im sonst aus sich herausgekommen.“ Werden Avocado in die Kamera und sorgt damit für Blick zu behalten, während man selbst beim die digitalen Angebote auch nach Corona Lacher bei den Beteiligten. Schneiden und Erklären ist“, stellt Julia Seubert bestehen bleiben? „Wir werden die digitalen fest und weist darauf hin, dass es sinnvoll ist, Veranstaltungen beibehalten, weil wir gemerkt Mitten im zweiten Lockdown fiel der Start für einen virtuellen Kochabend genug Personal haben, dass diese vor allem für Menschen mit schuss zum ersten Digitalen Kochabend mit den und Zeit einzuplanen. Spätestens als es an die Behinderung eine flexible und ortsunabhängige BewohnerInnen aus dem Begleiteten Wohnen Zubereitung der Nachspeise geht, wird klar, dass Freizeitgestaltung bieten“, sagt Julia Seubert. der Reha-Südwest Ostwürttemberg-Hohenlohe nicht bei allen am Ende dasselbe herauskommt. Saskia Schachner gGmbH. Organisiert wurde der Abend vom „Aber ich habe gar nichts mehr eingekauft,“ Familienunterstützendenden Dienst (FuD) der stellt eine Teilnehmerin fest. „Nächstes Mal Kontakt: Reha-Südwest Ostwürtt Einrichtung. „Aufgrund von Corona bieten müssen wir vielleicht darauf hinweisen, dass emberg-Hohenlohe gGmbH wir derzeit keine Freizeitaktivitäten an. Für die das Rezept noch eine zweite Seite hat. Nach Saskia Schachner, saskia.schachner@reha- regelmäßigen TeilnehmerInnen ist das natürlich zwei Stunden kamen die Gemüse-Bolognese suedwest.de, www.reha-suedwest.de/owh Diese Idee für einen digtalen Koch Fotos: Reha-Südwest Ostwürttemberg-Hohenlohe gGmbH abend finden Interessierte auch auf der neuen bvkm-Plattform „mit. machen – Eure Ideen für freie Zeit“: https://bvkm.de/mitmachen/to pics/zusammen-isst-man-weniger- allein-digitaler-kochabend/ Projektseite: https://bvkm.de/mitmachen/ Ausgabe 1/2021 5
THEMA Mehr Mitbestimmung ist nötig und möglich Katrin Grüber // Stephanie Czedik Das Motto der Behindertenbewegung „Nichts über uns ohne uns“ ist nach wie vor hochaktu- ell. Die UN-BRK, die deutlich macht, dass Partizipation eine Verpflichtung ist, hat entscheidend dazu beigetragen, dass es mehr Orte und Möglichkeiten für Menschen mit Behinderung gibt, an denen sie mitwirken oder mitbestimmen können. N ach wie vor ist die Beteiligung von Men- und von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. schen mit Behinderung aber nicht selbstver- In einem partizipativen Prozess wurde die Fragen- ständlich. Dieser Beitrag nennt Gründe bzw. sammlung „Mitbestimmen“ erarbeitet. Ihr Grundprin- Begründungen und zeigt Wege zu mehr Par- zip: Menschen werden durch Fragen im gemeinsamen tizipation und Gelingensfaktoren für Partizipation ins- Gespräch angeregt, sich vertieft mit der Situation besondere in Organisationen der Eingliederungshilfe vor Ort zu befassen, diese einzuschätzen, Verbesse- auf. Dies erfolgt auf der Grundlage der jahrelangen rungsbedarf zu identifizieren und Vereinbarungen Erfahrung der Begleitung von Einrichtungen der Ein- über Veränderungen zu treffen. Sie eignet sich für gliederungshilfe und anderen Organisationen bei der alle Organisationen, unabhängig davon, ob sie schon Erstellung und Umsetzung von Aktionsplänen und auf eine Beteiligungskultur haben, ob Partizipation eher den Erfahrungen im Rahmen des Projektes „Index für ein Fremdwort ist oder ob sie bereits einiges unter Partizipation“. nommen haben. Das zentrale Projektziel: Die Verbesserung der Mit- Unter Partizipation wird dabei verstanden, „sich wirkungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten insbe- aktiv in Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse ein- sondere von Menschen mit Lernschwierigkeiten, von zubringen und von anderen einbezogen zu werden. Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung Einfluss nehmen kann dabei Unterschiedliches be- deuten: Mitmachen, mitwirken oder (mit-)entschei- den. Partizipation ist in diesem Sinne Entscheidungs- Einfache Sprache teilhabe oder auch Entscheidungsmacht.“1 Es gibt unterschiedliche Gründe für die mangelnde In diesem Text geht es um Mit-Bestimmung. Das schwere Wort ist oder nicht ausreichende Beteiligung von Menschen mit Partizipation. Menschen mit Behinderung sollen mehr mit-bestim- Behinderung in Organisationen der Eingliederungshil- men. Menschen mit Behinderung sollen sagen, was sie möchten fe. Ein Grund kann sein, dass manche Leitungskräfte es ausreichend finden, sich einmal im Jahr mit der Be- und was ihnen wichtig ist. Menschen mit Behinderung sollen selbst wohnerInnenvertretung zu treffen und keinen Bedarf entscheiden. Das ist sogar in einem Gesetz geregelt. Den Text ha- und keine Notwendigkeit dafür sehen, mehr zu tun. ben Frau Grüber und Frau Czedik geschrieben. Sie kennen sich gut Wenn Mitarbeitende anderer Meinung sind, so liefert mit dem Thema Mit-Bestimmung aus. Frau Grüber und Frau C zedik die Fragensammlung Argumente, um Leitungen zu überzeugen. Denn die Erfahrung zeigt: ohne eine Un- schreiben, was Menschen mit Behinderung brauchen, damit sie selbst terstützung der Leitungsebene sind Veränderungspro- gut entscheiden können. Dafür gibt es eine Fragen-Sammlung in zesse fast nicht möglich. Leichter Sprache. Diese Fragen sollen dabei helfen, dass die Personen gut entscheiden können. ■ 6 Das Band
Zwischen- tagung des Projektes Ende 2019 mit vielen Beteiligten. © Foto: Bundesverband evangelische Behindertenhilfe (beb). Anfangen und sich trauen weiter, überfordern sich nicht und sind offen für neue Erfahrungen. Dann stellen sie fest: Beteiligung funkti- Nach wie vor gibt es Mitarbeitende, die davon aus- oniert und bietet Vorteile, beispielsweise durch inte- gehen, BewohnerInnen bzw. KlientInnen wollten oder ressante und hilfreiche Anregungen für Mitarbeitende. könnten sich nicht beteiligen. Dies gilt insbesondere „Ich genieße den FuB-Beirat3 sehr, auch die Unter- Vor-Wort für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. An- dere stehen dem Thema grundsätzlich offen gegen- stützung bei Vorstellungsgesprächen und bei anderen Themen.“4 über, sind allerdings unsicher, d. h. sie wissen nicht, was sie anders/mehr machen sollen. Um Fehler zu vermeiden, fangen sie erst gar nicht an, Verände- Die Beteiligten verändern Mit-Bestimmung ist wichtig. rungsprozesse einzuleiten. Genau deshalb haben wir sich in diesem Prozess im Rahmen des Projektes „Index für Inklusion“ Praxis Mit-Bestimmung heißt: beispiele gesucht und unter anderem gefragt: „Was Nach der anfänglichen Überra- Alle können Sie anderen als Tipps gehören geben, dazu. die Menschen mit schung wird die Beteiligung selbst- Lernschwierigkeiten beteiligen wollen?“ Eine typische verständlicher, oft intensiver und Antwort auf diese Frage Jedegab BorisMeinung ist des Kuhn, Leiter wichtig. die Themen breiter. Es gibt mehr Koordinierungsbüros der Landeshauptstadt München Gespräche auf gleicher Augenhö- zur Umsetzung der UN-BRK: Jeder soll seine Meinung sagenMenschen he zwischen können.mit und ohne Behinderung – nicht nur im „Ich empfehle, anzufangenAndere und sich zu sollen trauen. die Wir Meinung Rahmen ernst nehmen. des Beteiligungsprozesses, sondern auch im Sprache“, Bundesverband evangelische Behindertenhilfe. © Lebenshilfe für Menschen mit gei- Die Abbildungen stammen aus der Broschüre: „Mit-Bestimmen! Fragen-Sammlung in Leichter haben jedenfalls festgestellt, es ist gar nicht schwierig, Alltag. Die Beteiligten verändern sich in diesem Pro- stiger Behinderung Bremen e. V., Illustrator: Stefan Albers, Atelier Fleetinsel, 2013-2018. Jeder zu Menschen mit Lernschwierigkeiten soll mit-entscheiden beteiligen. Sie können.mit Behinderung gewinnen mehr zess. Menschen haben ein großes Interesse daran, gefragt zu werden Selbstbewusstsein und treten selbstbewusster auf. Es und ihre Meinung zu sagen. WennMan mussjederundmit-bestimmen kann kann, wird selbstverständlicher, für ihre und die Interessen dann versuchen, leicht zu sprechen, auchkönnen wenn manwir vieleanderer es vor- Dinge ändern. einzutreten. her noch nicht so gemacht hat. Und man kann üben. Wichtig ist, immer wieder die Rückmeldung einzuho- „Ich bin viel selbstbewusster geworden. Ich kann len und die Menschen zu fragen, wie sie es fanden. mitbestimmen bei vielen Dingen, war in mehreren Menschen mit Mittlerweile fragt bei uns keiner mehr, ob Menschen Behinderung haben die gleichen Diskussionen zum BTHG mit Politikern dabei und mit Lernschwierigkeiten inRechte wiesich der Lage sind, Menschen zu be- ohne habe dieBehinderung. Forderungen von Menschen mit Behinde- Auch ein Recht auf Mit-Bestimmung.Dabei steht mir eine Assistenz teiligen, denn es ist bekannt, dass es geht.“ 2 rungen eingebracht. zur Verfügung.“5 Die Erfahrungen in München Die sindRechte müssen ernst genommen nicht außergewöhn- lich. Andere machen ähnliche Erfahrungen. Menschen Die Arbeit mit der Fragensammlung macht deutlich, werden. mit und ohne Behinderung gehen Schritt für Schritt dass auch die Mitarbeitenden bei der Erarbeitung Menschen sollen Unterstützung bekommen Ausgabe 1/2021 für Mit-Bestimmung. 7
THEMA mung im Alltag partizipativer Beteiligung Unter- stützung brauchen. Eine mögliche Unterstützung kann durch Exper- tInnen in eigener Sache erfolgen. Tag. Ein Beispiel dafür bietet der Ex- pertenbeirat an der Evangelischen Fachschule für Heilerziehungspfle- ge in Schwäbisch Hall. Menschen mit Unterstützungsbedarf gestalten als ExpertInnen die Ausbildung von Fachkräften mit. Die zukünftigen Mitarbeitenden der Eingliederungshilfe erweitern da- durch ihre Kompetenzen und ihre Haltung gegenüber © Foto: Bundesverband evangelische Behindertenhilfe (beb). Menschen mit Behinderungen. Fragensammlung hilft weiter Für eine erfolgreiche Partizipation ist es wichtig zu fragen, in welchen Bereichen Veränderungen notwen- dig sind. In Anlehnung an den „Index für Inklusion“ sieht die Fragensammlung drei Bereiche: Haltung, Re- geln und Alltag. Wie die folgende Abbildung deutlich mt macht, gibt es Überschneidungen. Es gibt aber auch ProjektteilnehmerInnen berichten über ihre Erfahrungen. Wechselwirkungen. Das alltägliche Handeln kann eine Wirkung von Haltung sein, aber gleichzeitig auch eine cetten der Partizipation, die bei der konkreten Arbeit in g. Voraussetzung. So kann das fehlende Zutrauen in Organisationen und der Kommune weiterhelfen kön- die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderung eine nen. Die Themenpalette reicht von Selbstvertretungs- Barriere sein. Umgekehrt kann aber positive Erfah- organisationen über gesetzliche Regelungen bis hin zu rung mit Beteiligungsprozessen Haltung verändern. Nachrichten und Medienangeboten. Ein Schwerpunkt Genau das spricht dafür, anzufangen, und sei es mit ist die Barrierefreiheit als wichtige Bedingung für Par- kleinen Schritten – und dann am Ball zu bleiben. Ge- tizipation. Außerdem werden praktische Hinweise für spräche der Einrichtungsleitung, die einmal im Jahr mit inklusive Sitzungen und Veranstaltungen gegeben. dem Bewohnerbeirat geführt werden, erfüllen diesen Zweck nicht. Beteiligung benötigt Zeit! Beteiligungsprozesse sind keine Selbstläufer. Sie kön- Haltung nen wieder zum Erliegen kommen und die Beteiligten in die alten Routinen zurückfallen. Alle 35 Praxisbei- spiele berichten von Schwierigkeiten oder Herausfor- derungen. Ihr Weg zum Erfolg: Sie haben die Pro- Alltag Regeln bleme erkannt und haben Wege gefunden, sie zu überwinden. Sie haben sich nicht entmutigen lassen, ja, sind sogar „ins Gelingen verliebt“6, sind kreativ und geduldig. Wenn die prinzipielle Entscheidung für einen Verän- Eine der fortwährenden Herausforderung sind Zeit derungsprozess gefallen ist, gibt es möglicherweise und personelle Ressourcen. Beteiligung benötigt Zeit. Unsicherheiten über das konkrete Vorgehen. Auch Manche Veränderungen stellen sich unter Umständen hier bietet die Fragensammlung Hinweise. Ein Werk- erst im Laufe der Zeit ein und sind kaum wahrnehmbar. zeugkoffer enthält Prüflisten, Arbeitsblätter und Ar- Veränderungsprozesse sind zeitintensiv. Menschen mit beitshilfen in Leichter Sprache. Die Publikation „Infor- Behinderung benötigen unter Umständen Assistenz, mationen für mehr Mitbestimmung“ enthält Hinweise d. h. personelle Ressourcen. Insbesondere in Auf- auf Websites und Publikationen zu verschiedenen Fa bauphasen. In den meisten der Praxisbeispiele wurde 8 Das Band
Kennen Sie schon die Fragensammlung „Mitbestimmen!“? Wollen Sie mehr darüber wissen? zum Austausch und zur Vernetzung. Sie Sie können sich informieren auf der können uns aber auch einladen zu einem Website: www.beb-mitbestimmen.de virtuellen Workshop. In zwei Stunden erfahren Sie, wie man gut mit der Fra- Hier finden Sie: die Fragensammlung gensammlung arbeiten kann, welche Mitbestimmen! in Leichter und in Schwe- Materialien es dafür gibt und was Sie tun Mit-Bestimmen! Fragen-Sammlung in Leichter Sprache rer Sprache zum Download, zur Be- können, damit es in Ihrer Organisation stellung und als Online-Version sowie und in der Kommune mehr Mitbestim- zusätzliche Arbeitsmaterialien, wie eine mung gibt. Wir bieten den Workshop in Broschüre „Zusätzliche Informationen für schwerer und in einfacher Sprache an. Mitbestimmung“, einen „Werkzeugkof- fer“ mit Prüflisten, Arbeitsblättern und Dr. Katrin Grüber, Leiterin des IMEW, Vorträge. B.11 Arbeitshilfen sowie mehrere Filme und Jörg Markowski, Mitarbeiter des BeB, Yvonne Dörschel, Mitarbeiterin des Computer und Handys helfen In Kürze erscheinen dort auch zahlreiche Praxisbeispiele aus ganz Deutschland und IMEW, Schreiben Sie uns eine E-Mail: grueber@imew.de und markowski@ bei der Mit-Bestimmung eine aktualisierte Netzwerk-Landkarte beb-ev.de die unternehmerische Entscheidung getroffen, diese änderungen ermöglichen. Dabei personellen Ressourcen Computer zur Verfügungund Handys zu stellen. könnensie Ressourcen und Zeit. So benötigen bei der hat die Lebenshilfe Ostholstein seitMit-Bestimmung Mitte 2016 einen Wenn helfen. Menschen mit Behinde- Beauftragten für Empowerment (Selbstbefähigung). rungen als ExpertInnen in eigener Zum Beispiel: Mit dieser Stelle werden die Beiräte (Werkstattrat und Sache zu Wort kommen, können Bewohnerbeirat) kontinuierlich unterstützt, damit sie dadurch nachhaltige partizipative • Viele bessere Möglichkeiten haben, sichMenschen an Entscheidungs-können mit entstehen. Strukturen E-Mails Denn mehr Infos bekommen. und Selbstbestimmungsprozessen zu beteiligen. Ein Mitbestimmung ist nicht nur nötig, anderes Beispiel bietet die Gründung eines Inklusions- sie ist auch möglich! • Jemand schafft den Weg zu dem Treffen beirats der Stadt Schwäbisch Gmünd. Der Beirat wird hauptamtlich vom Amt fürnicht. Familie und Soziales unter- 1. Denninger u. a. 2019, S. 15. Dann sich stützt. In dem Beirat engagieren kann er mitmitdem Menschen Video-Telefon 2. Zitat im aus dem Praxisbeispiel „Beteiligung von Menschen mit Lernbehinderung, mit psychischen Belastungen, mit Lernschwierigkeiten bei der Aufstellung des 2. Aktionsplans der Lan- Computer körperlichen Beeinträchtigungen sowie mit bei Treffen Seh- dabei deshauptstadt und 3. Der sein. München“ (in Druck). FuB-Beirat ist ein Beirat für Menschen aus den Förder- und • Jemand Hörbehinderung. Sie lernen, findet politisch zu den arbeiten undWeg zu Treffen nicht gut. Beschäftigungsbereichen der GWW-Gemeinnützige Werkstätten & Wohnstätten GmbH. sich kommunal zu beteiligen. 4. Zitat aus dem Praxisbeispiel „FuB – Im Beirat in Förder-und Be- Dann hilft das Handy.treuungsbereichen für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf mitbestimmen“ (in Druck). 5. Zitat aus dem Praxisbeispiel „Politischer Stammtisch Bielefeld / Ausblick Mit den Fragen können Sie Bethel.regional“ (in Druck). 6. Zitat aus dem Praxisbeispiel „Wählen kann man lernen – die Wahl darüber nachdenken. zum Bewohnerbeirat“ (in Druck) Der Artikel möchte dazu beitragen, dass möglichst Das Projekt „Index für Partizipation“ wird vom Bundesverband der viele Einrichtungen und Organisationen die Beteili- evangelischen Behindertenhilfe (BeB) gemeinsam mit dem Institut gungsmöglichkeiten der BewohnerInnen bzw. Klien- Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW) durchgeführt. Gefördert 11.1 wird das Projekt durch Aktion Mensch Stiftung, Ecclesia Versiche- tInnen verbessern – in einem gemeinsamen Prozess. rungsdienst GmbH, EB Consult Partner der Sozialwirtschaft und Gibt es als Wichtig ist, dass die Partizipation Computer für alle entscheidendes CURACONMenschen mit Behinderung? Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Thema angenommen Wenn wird undMenschen mit Behinderung wollen, dass die entspre- chenden Schritte gegangen werden. Sowohl Mitarbei- können sie mit dem Computer Dr. Katrin Grüberarbeiten? leitet das Institut Mensch, Ethik tende als auch Menschen mit Behinderungen müssen und Wissenschaft (IMEW), Stephanie Czedik ist Mitar- sich trauen, gemeinsam Prozesse anzuregen, die Ver- beiterin am IMEW. Können sie damit • das Internet benutzen Ausgabe 1/2021 • E-Mails schreiben und lesen? 9
THEMA Selbst entscheiden und dazugehören Peggy Glaschke Das Hollerhaus in Ingolstadt (Verein für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e. V.) en- gagiert sich seit vielen Jahren dafür, dass Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf befähigt werden, im Alltag möglichst viel Selbstbestimmung und Teilhabe zu erfahren. 2019 hat es sich am Projekt „Selbstbestimmung, Teilhabe und Partizipation im Alltag von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf“ des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW)1 beteiligt. Wilken-Dapper: Wie kam es zu diesem Projekt? schwersten Behinderungen u. a. ein Zuhause und eine Glaschke: Der Wunsch einer Zusammenarbeit zwi- Tagesstruktur bietet, kritisiert, dass der erhöhte Un- schen dem IMEW und dem Hollerhaus bestand bereits terstützungsbedarf und somit die Notwendigkeit der länger und als Dr. Katrin Grüber mich in den Beirat Finanzierung von mehr Ressourcen, wie Zeit und Mit- des Projektes berief, wurde der Wunsch wahr. Unser arbeitern, beispielsweise vom Gesetzgeber nicht ge- Geschäftsführer, Roman Schiele, willigte sofort ein, als sehen werden – auch unter BTHG-Bedingungen nicht ich ihn fragte, ob wir als Hollerhaus an dem Projekt (bezogen auf unsere Klientel). Durch die Teilnahme am teilnehmen wollen. Mit „Hollerhaus“ meine ich übri- Projekt hatte das Hollerhaus die Chance, darauf hin- gens immer alle KlientInnen und Mitarbeitenden. zuweisen und aktiv etwas zu tun. Im Zuge der ersten Beiratssitzung im März 2019 legten wir fest, dass das Wilken-Dapper: Mit welcher Ausgangsfrage sind Sie IMEW gemeinsam mit dem Hollerhaus einen Work- gestartet? shop gestalten wird, in dem erarbeitet wird, ob und Glaschke: Es waren eher Motivationen als eine Aus- wie wir unsere Klienten befähigen, um selbstbestimmt gangsfrage. Jahrelang haben wir als Einrichtung der in ihrem Alltag Teilhabe und Partizipation einzufordern Eingliederungshilfe, die Menschen mit schweren und und erleben zu können. Wilken-Dapper: Wie läuft das Projekt im Hollerhaus Ingolstadt ab? Einfache Sprache Glaschke: Ich stelle hier exemplarisch zwei Beispiele vor: Ein Klient, der bereits seit vielen Jahren im Hol- lerhaus lebte, erfuhr, dass in Münchsmünster der Hol- Selbst entscheiden und selbst bestimmen. Das ist gar-nicht so leicht. lerhof gebaut und 2020 in Betrieb genommen werden Das kann man lernen. Die Bewohnerinnen und die Bewohner des sollte. Er äußerte frühzeitig den Wunsch, umziehen Hollerhauses in der Stadt Ingolstadt haben dazu an einem Projekt zu wollen und richtete sich damit an die Mitarbeiter seiner Wohngruppe und schließlich auch an den Be- teil-genommen. In diesem Projekt sollte das Selbst-Entscheiden und reichsleiter des Wohnens. Sein Wunsch wurde mit ihm das Mit-Bestimmen geübt werden. Die Bewohner des Hollerhauses besprochen und er wurde als Interessent in die Pla- haben in dem Projekt gelernt, eigene Wünsche herauszufinden. Bei- nung aufgenommen. Mit ihm gemeinsam wurde der spiel: Eine Person möchte selber fest-legen, wo sie spazieren geht. Umzug geplant und schließlich auch durchgeführt. Doch innerhalb dieser drei Jahre mussten unterschied- Eine andere Person möchte in eine andere Wohn-Gruppe ziehen. Ein © Hollerhaus, Ingolstadt lichste „Tiefschläge“ des Lebens, einschließlich Coro- andere Person hat geübt zu entscheiden, was sie essen möchte. Jede na, von ihm verarbeitet und bewältigt werden. Wenn Person hatte ganz eigene Wünsche. Jede Person hat gelernt, dass sie kurz ein Zweifel an seiner Entscheidung aufkam, er- selbst bestimmen kann. ■ mutigten ihn die Mitarbeiter, weiterzumachen und sei- 10 Das Band
nen Wunsch wahrwerden zu lassen. Seit Ende 2020 kataloges auf die Vorträge vor. Einer der Beiden war wohnt er auf dem Hollerhof. der oben beschriebene Klient, der begeistert von sei- Eine weitere Klientin fühlte sich in ihrer Wohngruppe nem Wunsch sprach, auf den Hollerhof ziehen zu wol- nicht mehr wohl und richtete sich selbstbestimmt mit len und wie auf seinen Wunsch reagiert wurde und an dem Satz: „Ich will umziehen!“ an die Wohnheimlei- welchem Punkt „sein“ Projekt nun steht. tung. Diese Klientin hatte zuvor nie „ihre Stimme ge- nutzt“, somit waren alle sehr positiv überrascht. Sie Wilken-Dapper: Welche Unterstützung war notwendig? hatte sich zuvor an die WG-Mitarbeiter ihres Vertrau- Glaschke: Personelle Assistenz, div. Hilfsmittel, ein Fra- ens gerichtet und ihr Problem geschildert. Diese haben genkatalog als Hilfestellung zur Vorbereitung auf den sie ermutigt, sich an die Wohnheimleitung zu richten. Impulsvortrag, Erklärung der Begrifflichkeiten in Leich- Auch hier wurde alles auf Augenhöhe besprochen und ter Sprache, Zeit und Aktives Zuhören. die Klientin äußerte ganz klar, in welche WG sie um- ziehen möchte. Da in dieser zu diesem Zeitpunkt ein Wilken-Dapper: Wo gab es die meisten Fragen oder Platz frei war, konnte sie innerhalb des Hollerhaus um- Hürden? ziehen. Glaschke: Eine wesentliche Hürde stellt, bezogen auf den oben beschriebenen Klienten, die momentane Co- Wilken-Dapper: Wie haben Sie sich dem Thema genä- rona-Situation dar. Er ist ein sehr aktiver und geselliger hert und Interesse für das Thema geweckt? Mensch und wäre gern in die Gemeinde eingebunden. Glaschke: Interesse war und ist im Hollerhaus immer Leider ist dies aktuell nicht möglich, da keine Veran- da. Wir verstehen die Thematik als „Einstellung“. staltungen o. ä. stattfinden. Somit lebt er nun zwar Folglich mussten wir uns dem Thema nicht explizit auf dem Hollerhof und geht in der dortigen Förder- „nähern“. Den teilnehmenden Klienten wurde im stätte seinen Beschäftigungen nach, aber eine inklusi- Zuge der Vorbereitung des Workshops in persönlichen ve Einbettung in die Gemeinde war leider bisher nicht Gesprächen und ggf. in Leichter Sprache erklärt, wo- möglich. Weiterhin stellte der Umzug sowohl für ihn rum es gehen wird und ob sie Lust haben, an die- als auch für seine Mitbewohner und Mitarbeiter der sem Projekt teilzunehmen. Zwei der teilnehmenden „alten“ WG durch seine jahrelange WG-Zugehörigkeit Klienten wurden gefragt, ob sie einen Impulsvortrag ein Ablöseprozess dar. zum Thema „Selbstbefähigung im Holleraus“ halten Im Generellen ist jedoch auch wichtig festzuhalten, möchten. Beide nahmen diese Idee begeistert an und dass im Hollerhaus Menschen mit zum Teil schwersten bereiteten sich mit Hilfe eines exemplarischen Fragen- geistigen Behinderungen leben. Hier bestehen für die Die TeilnehmerInnen und Teilnehmer des Workshops. Ausgabe 1/2021 11
it-bestimmen THEMA Die Abbildung stammt aus der Broschüre: „Mit-Bestimmen! Fragen-Sammlung in Leichter Sprache“, Bundes- verband evangelische Behindertenhilfe. © Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung Bremen e. V., massive Gefahr und es müssen Kompromisse gefun- den werden, die für die Außenwelt u. U. wie Fremd- bestimmung aussehen. „Selbstbefähigung“ kann auf jeder Ebene stattfinden und muss auf jeder Ebene gesehen werden: „Trau dich, zu zeigen, wohin du spazieren gehen möchtest.“ Oder „Trau dich, laut zu sagen, dass du ausschließlich von Mitarbeiter XY gepflegt werden möchtest, weil er das gleiche Geschlecht hat, wie du und die Schamgrenze Illustrator: Stefan Albers, Atelier Fleetinsel, 2013-2018. so ein wenig niedriger ist.“ Oder „Trau dich, zu sagen, dass du anders leben möchtest.“ Und „Mitarbeiter, hör mir zu!“. Wilken-Dapper: Welche Erfahrungen/Erkenntnisse waren besonders wichtig und fließen nun verstärkt in den Alltag ein? Glaschke: Bezüglich unserer Klienten: Die wirkliche ht wichtig? Erkenntnis, gehört zu werden und aktiv mitgestalten zu können – sei es, das eigene Leben oder, im Rah- . men der strukturellen Voraussetzungen, das Leben Thematik „Empowerment für die Selbstbestimmung, innerhalb des Hollerhaus. Bezüglich der Mitarbeiten- Teilhabe und Partizipation im Alltag von Menschen mit den: Das wir bereits gute Arbeit leisten. Es ist jedoch hohem Unterstützungsbedarf“ Prioritätsänderungen. wichtig, dass wir uns in unserem Denken und Handeln Die Selbstbefähigung findet hier oft auf einer sehr all- immer wieder reflektieren und auch konstruktiv und täglichen Ebene statt. Zum Beispiel, wenn Mitarbei- ehrlich kritisieren können, wenn z. B. eine Berufsblind- tende den Klienten dahingehend unterstützen, dass er heit einsetzt. Wichtig war auch, dass wir im Workshop lernt, durch das Deuten auf ein von zwei Getränken zu gelernt haben, diese „blinden Flecken“ wieder zu se- bestimmen, was er trinken möchte. hen und die Erkenntnis, dass es ganz normal ist, dass ng. Wilken-Dapper: Was haben alle Beteiligten aus dem diese entstehen. Projekt mitgenommen? Wilken-Dapper: Welche Faktoren erschweren Men- wichtig. Glaschke: Die Klienten. Sie haben eine eigene Stimme schen mit Behinderung häufig die aktive Beteiligung? und es ist wichtig und auch gewollt, diese zu nutzen Welche Faktoren begünstigen das Gelingen? und klar für sich einzutreten. Es ist okay zu sagen, Glaschke: Erschwerend sind alle Barrieren, die denkbar wenn etwas nicht gefällt. Aber: Nicht alle Wünsche sind, doch am meisten die Barrieren in den Köpfen. können erfüllt werden – das zu lernen und auch zu ler- Menschen mit schweren Behinderungen, unabhängig, nen, damit umzugehen (Empowerment) gehört auch ob körperlich oder geistig, wird oft die Fähigkeit des zum alltäglichen Leben. eigenständigen Denkens von Vornherein abgespro- Die Mitarbeitenden: Sie machen bereits eine gute chen. Ein Teilnehmer mit einer ausgeprägten Tetra stimmung Arbeit und verstehen sich als AssistentInnen der Kli- spastik, der an unserem Workshop teilnahm, berichte- enten, nicht als deren „Fürsorger“. Soweit möglich, te, wie Menschen auf ihn reagieren, wenn sie ihn das befähigen sie die Klienten darin, ihre Stimme zu fin- erste Mal treffen. Oftmals wird er wir ein Kleinkind den und zu nutzen, ihre alltäglichen und unalltäglichen behandelt oder es wird erst garnicht „mit“ ihm son- Wünsche, Kritiken und Bedürfnisse zu kommunizieren. dern in seiner Anwesenheit „über“ ihn gesprochen. Es Bei unserer Klientel sind dem Ganzen aber auch liegt dann an ihm, sich das Recht, zu sprechen, einzu- Grenzen gesetzt. Manchmal müssen wir als „Fürsor- fordern und auch in seinen Wünschen nach Selbstbe- ger“ agieren, um die Klienten zu schützen. Exempla- stimmung, Teilhabe und Partizipation ernstgenommen risch kann man hier den Straßenverkehr nehmen: Ein zu werden. Günstige Faktoren: Ein empathisches, re- Mensch mit einem hohen Unterstützungsbedarf im flektiertes und aufgeklärtes Umfeld. kognitiven Bereich zeigt den Wunsch, nach draußen zu gehen. Aufgrund der Schwere seiner kognitiven Wilken-Dapper: Wo sehen Sie Möglichkeiten für Men- Einschränkungen ist es jedoch nicht möglich, ihn da- schen mit Behinderung, sich stärker einzubringen? hingehend zu befähigen, das Verhalten im Straßenver- Glaschke: An jeder Stelle, die sie interessiert und die kehr zu erlernen und anzuwenden. Somit droht ihm für sie wichtig zu sein scheint. Für manche ist es die 12 Das Band
Sie können auch lesen