Inklusion im Erwachsenenbereich - Partizipatives Forschungsprojekt im Bereich Körperbehinderung - Shop
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EDITION N r. 1 SZH/CSPS 2020 Inklusion im Erwachsenenbereich Partizipatives Forschungsprojekt im Bereich Körperbehinderung
Inhalt Barbara Egloff Editorial 1 Rundschau 2 SCHWERPUNKT Alan Canonica Gewünscht wird «Normalität» Befragung von Menschen mit Behinderung zu den Bereichen Wohnen und Tagesstruktur im Kanton Zug 6 Adelheid Arndt, André Ettl und Jennifer Zuber Leben wie du und ich im KULTURPARK Ein Modell zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in der Schweiz 14 Daniel Schaufelberger Im Kleinen für eine grosse Sache Selbstbestimmtes Wohnen mit dem Pilotprojekt Luniq 22 François Muheim Die Arche Gemeinschaften von Jean Vanier Gelebte Deinstitutionalisierung 25 Carmen Mekouar, Florian Scherrer und Anina Rütsche Workaut: Lebens- und Arbeitsbegleitung für Menschen mit Autismus Ein Fallbeispiel 33 Hendrik Trescher und Teresa Hauck Zwischen Teilhabe und Ausschluss Eltern und ihre erwachsenen Kinder mit geistiger Behinderung 37 Dokumentation zum Schwerpunkt 44 WEITERES THEMA Susanne Schriber, Carlo Wolfisberg, Mariama Kaba und Viviane Blatter Zwischen Anerkennung und Missachtung Sozialisationserfahrungen von Menschen mit Körperbehinderungen in Institutionen der Körperbehindertenpädagogik 46 Impressum 13 Bücher / Behinderung im Film / Politik / Agenda 54 Inserate 62 Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
EDITORIAL 1 Barbara Egloff Mit viel Engagement zu einer inklusiven Gesellschaft Spätestens mit der Ratifizierung der UN-BRK wägung der Konsequenzen von Entschei- im Jahr 2014 hat sich Inklusion zu einem dungen – und demzufolge ein entsprechen- Prinzip entwickelt, an dem sich eine Gesell- des Angebot. Es ist wie beim selbstständi- schaft orientieren sollte. Das Prinzip wird gen Wohnen. Das ist auch bloss möglich, gestärkt durch das Recht auf Einbeziehung wenn passende Wohnangebote und ent- und das Recht auf Unterschiedlichkeit, wie sprechende Finanzierungsmodelle vorhan- in Artikel 3 der allgemeinen Grundsätze der den sind. Ebenso verhält es sich bei der Er- UN-BRK definiert. Teilhabe und Vielfalt sind werbstätigkeit, der Kultur, der Sexualität, somit zwei zentrale Werte von Inklusion. der Politik etc. Sämtliche Lebensbereiche Dr. phil. Beim Begriff Inklusion denkt man meist sollten in einer inklusiven Gesellschaft al- Barbara Egloff zuerst an die Schule, ans Dazugehören zu len, die teilhaben möchten, zugänglich sein. Wissenschaftliche den Regelklassen. Oder allenfalls noch an Noch befindet sich die Schweiz erst auf Mitarbeiterin die Freizeitaktivitäten für Kinder, die inklu- dem Weg hin zu einer inklusiven Gesell- SZH / CSPS siv gestaltet sind. Und das ist auch gut so, schaft. Zwar wird dieser Weg immer stärker barbara.egloff@ denn Inklusion geschieht nicht einfach so. auch von der Gesetzgebung geebnet. Doch szh.ch Sie beginnt bei der Einstellung gegenüber in vielen Lebensbereichen ist es weiterhin der Vielfalt der Menschheit. Und deshalb ist das Engagement einzelner Personen oder es auch so wichtig, dass Kinder bereits im kleiner Gruppen, das zählt. Sie ermöglichen frühen Alter alltägliche Erfahrungen mit es Menschen mit Behinderung, teilzuha- Verschiedenheit machen. Aus diesem Grund ben. Gute Beispiele dafür finden sich im Ar- ist die inklusive Schule ein grosses Thema tikel zum Verein leben wie du und ich, zum für die Sonderpädagogik. Projekt luniq oder zum Beratungsangebot Betrachtet man die Inklusion im Er- Workaut. Ihr Engagement und dasjenige wachsenenbereich, öffnet sich allerdings ei- vieler anderer sind für die Erreichung einer ne ganze Palette an weiteren Themen. Denn inklusiven Gesellschaft von grossem Wert! Inklusion heisst, dass alle gesellschaftlichen Aktivitäten so gestaltet sind, dass jeder Mensch, sofern er das möchte, daran teilha- ben kann. Es bedeutet beispielsweise auch, dass Menschen mit einer kognitiven Beein- Anne-Sophie Fraser trächtigung bei ihrer medizinischen Versor- Übrigens: Grafische gung wichtige Entscheide selber treffen Unsere neue Grafikerin Anne-Sophie Fraser Mitarbeiterin dürfen. Damit diese Entscheidungsfreiheit hat sichtbare Spuren hinterlassen. Es freut SZH / CSPS genutzt werden kann, braucht es Unterstüt- uns, Ihnen unsere Zeitschrift in einem farbi- anne-sophie.fraser@ zung bezüglich der Aufklärung und der Ab- geren Kleid präsentieren zu können. szh.ch Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020www.szh-csps.ch/z2020-01-00
2 RUNDSCHAU Rundschau INTERNATIONAL freundliche Version der Kinderrechtskonven- tion vorliegt. UNO-Ausschuss hat die «List of Weitere Informationen: Issues» zur UN-BRK publiziert www.netzwerk-kinderrechte.ch Das Verfahren zur Überprüfung der Umset- zung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in der Schweiz wurde eröffnet: NATIONAL Der zuständige UN-Ausschuss in Genf hat die sogenannte List of Issues publiziert. Da- Statistik der Sonderpädagogik: rin werden diejenigen Fragen formuliert, die Schuljahr 2017/18 der Bund und die Kantone bis Herbst 2020 Lernende mit besonderem Bildungsbedarf in Ergänzung des Staatenberichtes von 2016 haben in den vergangenen Jahren vermehrt beantworten müssen. Gestützt auf diese in den Regelklassen eine sonderpädagogi- Antworten, den Staatenbericht, den Schat- sche Unterstützung erhalten. Über die Hälf- tenbericht sowie Anhörungen von Staat und te (53 %) der Lernenden mit einer verstärk- NGOs wird der UN-Ausschuss im Herbst ten Massnahme ist in eine Regelklasse inte- 2020 Schlussempfehlungen zuhanden der griert, sechs Prozent erhalten eine besonde- Schweiz («Concluding Observations») ver- re Fördermassnahme in einer Sonderklasse abschieden. Darin wird festgehalten, inwie- und 41 Prozent in einer Sonderschule. Bei fern und in welchen Bereichen die UN-BRK 4,3 % der Lernenden wurden Lernziele an- in der Schweiz umgesetzt ist und wo sie gepasst. Dies kann in einem Fach bzw. zwei Massnahmen zu ergreifen hat. oder mehreren Fächern der Fall sein. Dies Weitere Informationen: sind die ersten Ergebnisse der neu konzipier- www.inclusion-handicap.ch ➝ Themen ➝ ten Statistik der Sonderpädagogik des Bun- UN-BRK ➝ Prüfverfahren desamtes für Statistik (BFS). Die moderni- sierte Statistik der Sonderpädagogik liefert Kinderfreundliche Version der Kon viele neue Einblicke in die Verbesserung der vention über die Rechte des Kindes schulischen Integration in der Schweiz. Für Anlässlich des 30-jährigen Bestehens der immer mehr Schülerinnen und Schüler mit UN-Kinderrechtskonvention hat das Kinder- besonderem Bildungsbedarf wird die «Schu- hilfswerk UNICEF im Rahmen einer Partner- le für alle» zum Alltag. Die Ende Oktober pu- schaft mit Child Rights Connect eine kinder- blizierten Daten werden im kommenden freundliche Version entwickelt. Ein von Child Jahr mit kantonalen Analysen erweitert. Rights Connect einberufenes Children’s Ad- Weitere Informationen: www.bfs.admin.ch visory Team hat bei der Ausgestaltung der ➝ Medienmitteilung vom 29.10.2019 & kinderfreundlichen Kinderrechtskonvention https://edudoc.ch/record/207098 mitgeholfen. So wurden Kinder in den Aus- arbeitungsprozess des Textes und der Sym- Meilenstein bei der Umsetzung bol-Gestaltung der kinderfreundlichen Ver- der Digitalisierungsstrategie der EDK sion einbezogen. Es ist das erste Mal, dass An ihrer Jahresversammlung haben die kan- eine offizielle, global erarbeitete und kinder- tonalen Erziehungsdirektorinnen und Erzie- Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
RUNDSCHAU 3 hungsdirektoren (EDK) der Errichtung von Ein kürzlich publiziertes Merkblatt enthält Edulog zugestimmt. EDK-Präsidentin Silvia allgemeine Informationen über Schülerin- Steiner spricht von einem Meilenstein bei nen und Schüler mit einer kognitiven Beein- der Umsetzung der Digitalisierungsstrate- trächtigung und deren Folgen. Es schlägt gie der EDK. Edulog wird Kindern und Ju- Massnahmen für eine differenzierte Päda- gendlichen im Bildungssystem Schweiz ei- gogik und zum Ausgleich von Benachteili- nen sicheren und vereinfachten Zugriff auf gungen vor. Online-Dienste, die im schulischen Kontext Zu den Informationsblättern: www.szh.ch/ verwendet werden, ermöglichen. informationsblaetter-fuer-lehrpersonen Weitere Informationen: www.edk.ch ➝ Medienmitteilung vom 31.10.2019 & www.edulog.ch KANTONAL / REGIONAL Hochschulstudium trotz ZG: Die Regelschule und die Inte Beeinträchtigung gration ausländischer Kinder Keine Person darf wegen einer körperlichen Das Bundesgericht kommt in zwei Urteils- oder psychischen Beeinträchtigung, Behinde- sprüchen zum Schluss, dass ausländische rung oder chronischen Erkrankung diskrimi- Kinder mit mangelnder schulischer Vorbil- niert werden. Die Gleichstellung von Men- dung und geringen Deutschkenntnissen schen mit Beeinträchtigungen im Bildungs- nicht über längere Zeit in segregierten Klas- wesen ist gesetzlich verankert. Menschen mit sen oder nur in einzelnen Fächern unterrich- Beeinträchtigungen sollen gleichberechtigten tet werden dürfen. Es wies beide Fälle aus Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung er- dem Kanton Zug zur verfassungsmässigen halten. Die Website swissuniability.ch infor- Neubeurteilung an die verantwortliche Be- miert ausführlich über das Thema «Studium hörde zurück. Das Bundesgericht bestätigt mit Behinderung» und zeigt konkrete Hand- darüber hinaus, dass analog zur Schulung lungsmöglichkeiten seitens der Studierenden, von Kindern mit einer Behinderung auch für aber auch seitens der Hochschulen auf. jene, welche verspätet und ohne die in der Weitere Informationen: www.swissuniability.ch Schweiz gängige Vorbildung eingeschult werden, grundsätzlich die Integration in die Informationsblätter für Regelschule angestrebt werden soll. Dies Lehrpersonen nicht nur, um die schulische Gleichbehand- Die Kantone haben in den letzten Jahren lung zu garantieren, sondern auch, um die den Informationsbedarf der Regelklassen- Integration in die hiesige Gesellschaft zu Lehrpersonen, die Lernende mit verschiede- fördern und Diskriminierung zu verhindern. nen Störungen und Beeinträchtigungen be- Weitere Informationen: www.humanrights.ch gleiten, erkannt. Die Erziehungsdirektoren- ➝ Meldung vom 23.09.2019 Konferenz der Westschweiz und des Kan- tons Tessin hat darum das SZH im Jahr 2013 AG/SO: Partizipative beauftragt, Informationsblätter für die Be- Forschungsmethode für gleitung dieser Kinder in Regelklassen zu die Organisationsentwicklung erarbeiten. Bis jetzt wurden neun Informa- In einer Einrichtung für Menschen mit einer tionsblätter (nur auf frz.) herausgegeben. psychischen Beeinträchtigung im Kanton Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
4 RUNDSCHAU Aargau hat die Hochschule für Soziale Ar- teten Objekten aufgebaut, damit künstliche beit FHNW eine neue Methode der Organi- Intelligenzsysteme zur Personalisierung von sationsentwicklung getestet. Sie heisst Pho- Objekterkennung trainiert werden können. tovoice und entstammt der qualitativen Ak- Bei dieser technischen Entwicklung werden tionsforschung. Anhand von Fotografien Menschen, die blind sind oder eine Seh werden Leitsätze formuliert und bereichsspe- beeinträchtigung haben, einbezogen. Das zifische Massnahmen ergriffen. Peter Zängl Forschungsteam untersucht, wie blinde von der FHNW sieht in Photovoice ein erheb- Nutzerinnen und Nutzer ein persönliches liches Potenzial für organisationsspezifische Objekt fotografieren, damit es aus verschie- Fragestellungen, bei denen die Partizipation denen Blickwinkeln und in unterschiedli- der Teilnehmenden eine zentrale Rolle spielt. chen Kontexten erkannt werden kann. Quelle: Curaviva, 11, 2019, 44–45 Quelle: www.city.ac.uk ➝ Mitteilung vom 31.10.2019 Weitere Informationen: VARIA https://orbit.city.ac.uk Wegweiser für inklusive Plakat-Kampagne Veranstaltungen der Performing «Ungehindert behindert» Arts (Theater, Tanz und Musik) Im vergangenen Oktober lancierte Pro Infir- Viele der rund 1,8 Millionen Menschen mit Be- mis die Plakat-Kampagne «Ungehindert be- hinderungen in der Schweiz (ca. 20 % der Ge- hindert». Dabei übernahm die Organisation samtbevölkerung) interessieren sich für Kul- bekannte Werbesujets von Schweizer Fir- tur. Bisher konnten sich Kulturanbieter aber men und besetzte diese neu. Ziel war es, da- kaum informieren, wie sie ihre Dienstleistun- rauf aufmerksam zu machen, dass Men- gen dieser Kundengruppe zugänglich machen schen mit Behinderung in der Werbung feh- können. Diese Lücke schliesst nun der Kultur- len und dass auch diese in die Werbung ge- wegweiser. Er zeigt praxisnah auf, wie Kultur- hören – wie alle anderen auch. Schliesslich institutionen der Performing Arts ihre Ange- ist Werbung nicht einfach nur Reklame, son- bote für alle kulturinteressierten Besuchenden dern auch ein Abbild unserer Gesellschaft, öffnen und hindernisfrei zugänglich machen in der Menschen mit Behinderung als können. Der Kulturwegweiser steht online selbstverständlicher Teil angesehen werden und kostenlos zur Verfügung. Gemeinsam ha- sollen. Nun zeigt die Kampagne ihre Wir- ben die Fachstelle Kultur inklusiv von Pro In- kung: Im Online-Magazin der Swisscom firmis, Migros-Kulturprozent und Sensabili- wird an prominenter Stelle eine Person mit ty den neuen Wegweiser erarbeitet. Behinderung gezeigt. Die Swisscom hat Weitere Informationen: kurzerhand ihr Sujet angepasst und lässt www.sensability.ch/kultur auf der animierten Grafik neu eine Frau in einem Rollstuhl ins Bild fahren. Künstliche Intelligenz für Weitere Informationen: www.proinfirmis.ch Menschen mit Sehbehinderung ➝ Aktuelles vom 06.11.2019 Im Rahmen des ORBIT-Projekts (Object Re- cognition for Blind Image Training) wird ein grosser Datensatz von Bildern mit beschrif- Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
THEMENSCHWERPUNKTE 2020 5 Themenschwerpunkte 2020 Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik Nr. Thema Mögliche Stichworte / Unterthemen Anmeldetermin Einsendeschluss 1 Inklusion im • Subjektfinanzierung 10.08.2019 10.10.2019 Erwachsenen • Inklusives Wohnen bereich • Inklusive Arbeitsformen 2 Einstellungen, • Perspektive der Schulleitungen 10.09.2019 10.10.2019 Haltungen • Perspektive der Eltern zur Inklusion • Perspektive der Betroffenen 3 Frühe Bildung • Prävention in verschiedenen Berufsgruppen 10.09.2019 10.11.2019 • Best-Practice-Beispiele 4 Behinderung • Historische Perspektive 10.10.2019 10.12.2019 in den Medien • Instrumentalisierung von Behinderung zu Werbezwecken • Begrifflichkeiten 5–6 Mehrfach • Kommunikation 10.11.2019 10.01.2020 behinderung • Medizinische Betreuung, Multiprofessionalität • Teilhabe 7– 8 Nachteils • Umsetzung 10.01.2020 10.03.2020 ausgleich • Erfahrungsberichte • Probleme in der Praxis 9 Lebensende • Auseinandersetzung mit dem Tod 10.03.2020 10.05.2020 • Ethische Fragen • Demenz 10 Universal • Lehrmittel 10.04.2020 10.06.2020 Design • Architektur • Öffentlicher Verkehr • Barrierefreiheit in der Kultur, Arbeitswelt 11 – 12 Humor • Humor als Intervention 10.05.2020 10.07.2020 • Humor zur Psychohygiene Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
6 I N K L U S I O N I M E R WA C H S E N E N B E R E I C H Alan Canonica Gewünscht wird «Normalität» Befragung von Menschen mit Behinderung zu den Bereichen Wohnen und Tagesstruktur im Kanton Zug Zusammenfassung Der Kanton Zug hat im Jahr 2017 das Projekt «InBeZug» lanciert. Ziel des Projekts ist, das bisherige institutionenbe- zogene Vorgehen in den Bereichen Wohnen und Tagesstruktur durch einen personenzentrierten Ansatz zu ersetzen. Das Finanzierungssystem soll sich zukünftig am individuellen Bedarf von Menschen mit Behinderung ausrichten. Um diesen Bedarf zu ermitteln, hat der Kanton Zug das Departement Soziale Arbeit der Hochschule Luzern beauftragt, ei- ne Befragung bei Menschen mit Behinderung durchzuführen. In diesem Beitrag werden ausgewählte Ergebnisse der Erhebung vorgestellt. In einem nächsten Schritt wird erläutert, wie die Resultate für das Projekt «InBeZug» sowie die kantonale Angebotsplanung in den Bereichen Wohnen und Tagesstruktur genutzt werden. Résumé Le canton de Zoug a lancé en 2017 le projet « InBeZug ». Ce projet a pour objectif de remplacer, pour les domaines de l’habitat et des structures d’accueil de jour, le processus qui était jusqu’alors basé sur les institutions par une ap- proche centrée sur la personne. Le système de financement doit à l’avenir être dicté par les besoins individuels des personnes en situation de handicap. Pour déterminer ces besoins, le canton de Zoug a mandaté le Département Tra- vail social de la Haute-école de Lucerne pour réaliser un sondage auprès de personnes concernées. Cet article pré- sente des résultats ciblés de cette enquête. Dans un second temps, elle décrit comment ces résultats sont exploités pour le projet «InBeZug» ainsi que pour la planification cantonale d’offres dans les domaines de l’habitat et des struc- tures d’accueil de jour. Permalink: www.szh-csps.ch/z2020-01-01 Die (Mit-)Verantwortung der Kantone für zur Verfügung steht, das ihren Bedürfnissen eine adäquate Umsetzung der Postulate der in angemessener Weise entspricht» (IFEG, UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) Art. 2). ist klar geregelt (Art. 4, Abs. 5). Im Zuge der Der Kanton Zug will die Selbstbestim- Neugestaltung des Finanzausgleichs und der mung von Menschen mit Behinderung stär- Aufgabenteilung zwischen Bund und Kanto- ken. Im Vordergrund steht darum die Perso- nen (NFA) von 2008 wurde die Zuständigkeit nenzentrierung: Angebote sollen bestmög- für die Finanzierung von Einrichtungen für lich an der Nachfrage der Klientinnen und Menschen mit Behinderung vom Bund an die Klienten ausgerichtet werden. Für den Kan- Kantone übertragen. Gemäss Bundesgesetz ton Zug ist diese Aufgabe mit Herausforde- über die Institutionen zur Förderung der Ein- rungen verbunden, die sich darauf zurück- gliederung von invaliden Personen (IFEG) führen lassen, dass das bisherige Unterstüt- von 2006 gewährleistet jeder Kanton, «dass zungssystem auf den stationären Bereich invaliden Personen, die Wohnsitz in seinem fokussiert. Die UN-BRK bestimmt in Arti- Gebiet haben, ein Angebot an Institutionen kel 19, dass Menschen mit Behinderung frei Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
I N K L U S I O N I M E R WA C H S E N E N B E R E I C H 7 wählen dürfen, wo und mit wem sie leben Autonomes Wohnen und möchten – und vor allem dürfen sie nicht entlohnte Arbeit dazu verpflichtet werden, in besonderen Le- Der Kanton Zug wollte die Nachfrage genau bensformen zu wohnen. Heute ist es aller- kennen: Für die Angebotsplanung 2020 bis dings eher so, dass sich die Handhabung an 2022 für erwachsene Menschen mit Behin- den Organisationen bzw. Einrichtungen derung in den Bereichen Wohnen und Ta- ausrichtet und nicht umgekehrt (Früchtel, gesstruktur wurde das Departement Soziale o. J., S. 12). In diesem Beitrag wird eine Be- Arbeit der Hochschule Luzern beauftragt, fragung von Menschen mit Behinderung im eine Befragung bei Zugerinnen und Zugern Kanton Zug vorgestellt, mit der der Bedarf mit Behinderung durchzuführen. Eine sol- der Nutzerinnen und Nutzer in den Berei- che Vorgehensweise hat schweizweit Pio- chen Wohnen und Tagesgestaltung (Arbeit, niercharakter. Die Kantone sind verpflich- Ausbildung, Freizeit) erfasst wurde. Nebst tet, periodische Bedarfsanalysen durchzu- ausgewählten Ergebnissen wird ausge- führen und eine Planung des Angebots zu führt, wie die erhobenen Daten für die kan- erstellen (IFEG, Art. 10). Bisher beschränk- tonale Angebotsplanung 2020 bis 2022 so- ten sich die Bedarfsanalysen auf die Ein- wie das Projekt «InBeZug», das noch näher schätzung von Fachexpertinnen und -ex- beschrieben wird, genutzt werden. perten. Primär entsprach der errechnete Be- Tabelle 1: Stichprobenstruktur der 251 befragten Personen* Merkmal Kategorie Anzahl in Prozent Geschlecht männlich 114 45 weiblich 126 50 anderes 11 4 Alter 15–20 Jahre 43 17 21–35 Jahre 49 20 36–50 Jahre 56 22 51+ Jahre 51 20 keine Angabe 52 21 Wohnort Kanton Zug 211 84 anderer Kanton 26 10 keine Angabe 14 6 Behinderungsart körperliche Behinderung 56 22 (Mehrfachnen- psychische Behinderung 88 35 nung n > 251)** kognitive Behinderung 119 47 Sinnesbehinderung 29 12 anderes 5 2 keine Behinderung 28 11 weiss nicht/keine Angabe 33 13 * Rundungsdifferenzen von + / – 1 Prozent bei einem Total von 100 Prozent möglich ** Selbstdeklaration Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
8 I N K L U S I O N I M E R WA C H S E N E N B E R E I C H darf einer Prognose über benötigte Plätze, Sprache übersetzt. Die Befragung zeigt um Menschen mit Behinderung in instituti- deutlich, dass Menschen mit Behinderung onellen Settings unterzubringen. Der Kan- zuallererst nach «Normalität» streben: Sie ton Zug bezieht nun erstmals die Perspekti- wünschen sich, ein Leben wie Menschen ve der Nutzerinnen und Nutzer ein und er- ohne Behinderung zu führen. kundigt sich im Rahmen der Angebotspla- Unabhängig von der Wohnform äus- nung direkt bei den Leistungsempfänger- sern sich die befragten Personen positiv zur innen und -empfängern über ihre Erwartun- bestehenden Wohnform. Insgesamt geben gen und Wünsche. 86 Prozent an, dass sie ganz oder ziemlich Für die Studie wurden im Frühling und zufrieden mit der aktuellen Wohnsituation Sommer 2018 251 Jugendliche (ab 15 Jah- sind. Dennoch bedeutet dieses Ergebnis ren) und Erwachsene mit Behinderung zu nicht, dass die aktuelle Wohnform der zu- ihrer aktuellen Situation und zu den zukünf- künftig gewünschten entspricht. Das Woh- tigen Wünschen in den Bereichen Wohnen nen in sozialen Einrichtungen und bei Ange- und Tagesgestaltung (inklusive Arbeit) be- hörigen wird für die Zukunft deutlich weni- fragt (für die Stichprobe siehe Tab. 1). Es ger gewünscht, während autonome Lebens- wurden standardisierte Fragen mit einem formen (alleine, mit Partner oder Partnerin, Fragebogen je nach kognitiven Fähigkeiten mit eigener Familie, auf einem Bauernhof, entweder schriftlich oder mündlich gestellt. seltener in einer privaten Wohngemein- Der Fragebogen wurde auch in Leichte schaft) bevorzugt werden (Abb. 1). Autono- 40 35 –19.7 30 + 20.2 25 – 8.5 +4.6 20 15 + 5.5 –1.2 10 – 3.9 5 + 3.4 – 0.4 0 m e ilie e /in ilie t ilie f af ho pp in ei er m am ch m le rn nh ru rtn fa al fa ns ue ng rF oh fts ge pa ei Ba ne oh W em un le he ge Pf w em rk ng -/E t-/ en ei He in oh ns as ss it fe m be G Au W au Le it m in Zukunft gewünschte Wohnform Zunahme zur aktuellen Wohnsituation Abnahme von der aktuellen Wohnsituation Abbildung 1: Veränderungsbedürfnisse bei der Wohnform (Mehrfachnennung; Prozentangaben bzgl. Anzahl Nennungen*) * Nennungen bereinigt nach der Antwortkategorie «anderes» und «keine Antwort» Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
I N K L U S I O N I M E R WA C H S E N E N B E R E I C H 9 40 35 – 7.3 30 + 23.8 –16.9 25 20 + 1.4 –1.0 15 10 5 0 kt hn hn ng g un ar Lo Lo ltu m ld ta it ne bi its m es us be oh sg ur /A Ar ur ge kt le kt er tru Ta hu tru st ss lle er Sc ge ss ue ge Ta vid Ta di in in Zukunft gewünschte Tagesgestaltung Zunahme zur aktuellen Tagesgestaltung Abnahme von der aktuellen Tagesgestaltung Abbildung 2: Veränderungsbedürfnisse bei der Tagesstruktur (Mehrfachnennung; Prozentangaben bzgl. Anzahl Nennungen*) * Nennungen bereinigt nach der Antwortkategorie «anderes» und «keine Antwort» me Wohnformen werden als Wunsch für die befragten Personen an, dass sie sehr oder Zukunft mit einer Häufigkeit von 69 Prozent ziemlich zufrieden mit der aktuellen Situa- genannt. Aktuell beziehen sich hingegen tion ist (79 Prozent). Bei diesem Thema nur 36 Prozent der Angaben auf eine solche zeigt sich ebenso der Wunsch nach «Nor- Lebensform. Besonders deutlich zeigt sich malität». Viele der befragten Personen dieser Sachverhalt bei den sozialen Einrich- wünschen sich, eine wertschöpfende Ar- tungen: Diese werden als zukünftig ge- beit zu verrichten, die mit einem Lohn ho- wünschte Wohnform im Vergleich zur heu- noriert wird. Dass die Entlohnung für Men- tigen Situation um beinahe 20 Prozent we- schen mit Behinderung eine hohe Bedeu- niger häufig genannt. Das Ergebnis spricht tung hat, zeigt sich wiederholt in Befragun- für eine stärkere Angebotsdiversifikation: gen und drückt sich in einer im Vergleich zu Neben stationären sollen vermehrt auch anderen Themen tendenziell eher niedrige- ambulante Dienstleistungen geschaffen ren Zufriedenheit aus, weil sie als zu gering und finanziert werden. Dank diesen können eingeschätzt wird (Statistisches Amt Kan- Menschen mit Behinderung, die in be- ton Zürich, 2018, S. 4). Als zukünftig ge- stimmten Lebensbereichen auf Unterstüt- wünschte Arbeitsbereiche werden vor al- zung angewiesen sind, eine eigene Woh- lem der erste Arbeitsmarkt und Tagesstruk- nung beziehen. turen mit Lohn genannt (Abb. 2). Während Auch im Bereich Arbeit und Tagesge- aktuell 5 Prozent angeben, auf dem ersten staltung gibt eine deutliche Mehrheit der Arbeitsmarkt tätig zu sein, wünschen es Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
10 I N K L U S I O N I M E R WA C H S E N E N B E R E I C H sich 28 Prozent für die Zukunft. Im Ver- Nutzerinnen und Nutzer ausrichtet. Das gleich zur gegenwärtigen Situation etwas Projekt ist auf drei Jahre angelegt und fin- weniger häufig wurde ein geschützter Ar- det 2019 seinen Abschluss. Im ersten Jahr beitsplatz mit Lohn genannt (34 vs. 27 wurde eine Analyse und Evaluation der na- Prozent). Deutlich weniger häufig wurde tional und international bestehenden Fi- der Bereich Tagesstruktur ohne Lohn ge- nanzierungssysteme und der Situation im wünscht (29 vs. 12 Prozent). Dies verdeut- Kanton Zug durchgeführt. Im zweiten Jahr licht, dass viele Personen, die gegenwärtig wurden mögliche Lösungen für den Kanton einer Beschäftigung in einer Tagesstruktur erarbeitet und geprüft. Im dritten Jahr wird nachgehen, gerne einen Arbeitsplatz hät- das Projekt mit einer ausgearbeiteten Ge- ten, bei dem sie für ihre dargebotene Leis- setzesvorlage beendet. Entsprechend ar- tung eine Entschädigung erhalten. beitet das Kantonale Sozialamt aktuell die Vorlage für eine Revision des Gesetzes über soziale Einrichtungen (SEG) des Kantons Eines der zentralen Anliegen des Projekts Zug aus. Mit dem neuen Gesetz soll unter «InBeZug» lautet, Menschen mit anderem die Finanzierung von ambulanten Behinderung Wahlfreiheit beim Wohnen Wohnangeboten festgelegt werden. Eines zu ermöglichen. der zentralen Anliegen des Projekts «InBe- Zug» lautet, Menschen mit Behinderung Wahlfreiheit beim Wohnen zu ermöglichen. Das Projekt «InBeZug»: ambulant Sie sollen selbstständig entscheiden dür- vor stationär fen, ob sie in eine eigene Wohnung oder in Der Kanton Zug nimmt die Anliegen der eine soziale Einrichtung einziehen möch- Nutzerinnen und Nutzer ernst und reagiert ten. Für die Bedarfsermittlung plant der auf die geäusserten Wünsche und Erwar- Kanton die Einführung der personenzent- tungen. Im Auftrag der Regierung wurde rierten individuellen Hilfeplanung2 (Rohr- 2017 das Projekt «InBeZug»1 lanciert (Kan- mann & Schädler, 2006). tonales Sozialamt Zug, 2017), das vom Inklusion hat bereits in der Projektpha- Kantonalen Sozialamt durchgeführt wird. se hohe Bedeutung: Menschen mit Behin- «InBeZug» steht für «Individuelle und be- derung, soziale Einrichtungen und Organi- darfsabhängige Unterstützung für Zugerin- sationen aus dem Behindertenbereich wer- nen und Zuger mit Behinderung». Anstelle den in die Arbeit einbezogen. Dank der Be- des bisherigen institutionenbezogenen fragung von Menschen mit Behinderung Vorgehens soll ein personenzentrierter An- konnte zudem empirisch belegt werden, satz eingeführt werden. Nach dem Grund- dass das Vorgehen des Kantons einer beste- satz «ambulant vor stationär» soll das ge- henden Nachfrage entspricht. Die Ergebnis- genwärtige kantonale Modell mit pauscha- len Einrichtungsfinanzierungen durch ein 2 Die Methode rückt die Ziele und Wünsche der Kli- Finanzierungssystem ersetzt werden, das entinnen und Klienten in den Mittelpunkt und fo- sich am individuellen Angebotsbedarf der kussiert auf die Stärken, Fähigkeiten und persön- lichen Ressourcen. Mittels individuellem Hilfeplan (IHP) wird der individuelle Unterstützungsbedarf des Menschen mit Behinderung erfasst, um die 1 www.zg.ch/inbezug. formulierten Ziele zu verwirklichen. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
I N K L U S I O N I M E R WA C H S E N E N B E R E I C H 11 se der Studie haben aber auch bereits direk- Herkunftsfamilie zwischen aktueller Situati- te Wirkung erzielt: Auf Basis der im gelten- on und zukünftigem Wunsch illustrieren, den Gesetz über soziale Einrichtungen im dass die gegenwärtig hohe Zufriedenheit Grundsatz vorhandenen Finanzierungs- nicht zwingend bedeuten muss, dass Men- möglichkeit für ambulante Lösungen hat schen mit Behinderung keine Veränderung der Regierungsrat für die Angebotsplanung wünschen. Das heisst, dass Fragen mit Blick der Periode 2020 bis 2022 einem Ausbau auf die Zukunft gestellt werden müssen, bei der ambulanten Angebote zugestimmt. Die denen diese als ein offenes Feld von poten- Hälfte der 30 in der kommenden Planungs- ziellen Möglichkeiten skizziert wird. Wenn periode neu zu schaffenden Plätze wird als nicht konkret nach Alternativen gefragt unterstütztes Wohnen in den eigenen vier wird, dann erhält man den (in manchen Fäl- Wänden finanziert (Faessler, 2019). Diese len irrtümlichen) Eindruck, dass Personen, erfreuliche Entwicklung soll mit der vorge- die seit Jahren in einer bestimmten Wohn- sehenen Revision des Gesetzes über soziale form leben, bleiben wollen, wo sie sind. Einrichtungen in Zukunft weiter gefestigt werden. Wird nicht konkret nach Alternativen Menschen mit Behinderung gefragt, entsteht der Eindruck, zur eigenen Zukunftsplanung dass Personen in der Wohnform bleiben befähigen wollen, in der sie sind. Ausschlaggebend für die Befragung war die Zukunftsgerichtetheit der Fragen. Das Er- kenntnisinteresse bei den üblichen Zufrie- Besonders Menschen mit kognitiven Beein- denheitsbefragungen in sozialen Einrich- trächtigungen wird häufig nicht zugetraut, tungen fokussiert primär die Entwicklung dass sie sich zu ihrer Zukunft und ihren dies- und Optimierung der institutionellen Be- bezüglichen Wünschen zu äussern vermö- treuungsangebote. In der Regel erzielen gen. Menschen mit Behinderung sollten da- Fragen nach der Zufriedenheit in solchen Er- zu befähigt werden, ihre Lebenssituation zu hebungen hohe Werte. Dieses Ergebnis reflektieren und – mit der notwendigen Un- zeigt sich auch in der hier vorgestellten Stu- terstützung – eigene Pläne für die Zukunft die: Es besteht bei allen Wohnformen eine zu schmieden. Erst dank dieser Befähigung hohe Zufriedenheit. Es lässt sich zudem im kann in Erfahrung gebracht werden, welche Allgemeinen feststellen, dass die Zufrieden- Lebensgestaltung ihren eigenen Vorstellun- heitswerte zunehmen, je länger jemand in gen am besten entspricht. Fachpersonen einer bestimmten Wohnform lebt. Die Dau- sollten die Fähigkeit von Menschen mit Be- er des Aufenthalts spielt vor allem bei den hinderung, das eigene Leben zu reflektieren sozialen Einrichtungen eine wichtige Rolle: und zu planen, mit personenzentrierten An- Personen, die null bis zwei Jahre in einer sätzen (Becker, 2014) systematisch fördern. Einrichtung zuhause sind, sind signifikant Viele der befragten Personen haben bereits weniger zufrieden als Personen, die länger bemerkenswert konkrete und auf realisti- als zwei Jahre in einer solchen Wohnform schen (Selbst-)Einschätzungen basierende leben. Die zuvor besprochenen Abweichun- Vorstellungen zu ihren Lebenszielen. Wie gen bei den Wohnformen Wohnheim und sich aus den mündlichen Reaktionen man- Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
12 I N K L U S I O N I M E R WA C H S E N E N B E R E I C H cher Personen schliessen lässt, wurden sie Literatur schlicht noch nie danach gefragt. So hatten Becker, H. (2014). Sozialraumorientierung – mehrere Befragte Hemmungen zu sagen, personenzentriert: Inklusion auch für Men- was sie sich wirklich wünschten – etwa, schen mit schwersten Behinderungen. Ge- weil sie zu wissen glaubten oder vermute- sprächspsychotherapie und Personenzent- ten, dass ihre Angehörigen die geäusserten rierte Beratung, 4, 208–215. Wünsche nicht gutheissen würden. Bundesgesetz über die Institutionen zur För- derung der Eingliederung von invaliden Personen (IFEG) vom 6. Oktober 2006 Der Kanton Zug möchte die Angebote (Stand am 1. Januar 2017), SR 831.26. systematisch an der Nachfrage Faessler, A. (2019, 29. März). Vorbildliche Pi- der Nutzerinnen und Nutzer ausrichten. onierarbeit. Zuger Zeitung, 27. Früchtel, F. (o. J.). Theorie und Methodik der Sozialraumorientierung. Potsdam. insos. Periodische Erhebung des Bedarfs ch/assets/Downloads/Artikel-Fruechtel-IN- Die durchgeführte Befragung war ein erster SOS-Kongress.pdf [Zugriff am 09.10.2019]. Schritt, der noch von vielen Fragezeichen be- Gesetz über die sozialen Einrichtungen im gleitet wurde. Es sind bei der Durchführung Kanton Zug (SEG) vom 26. August 2010 der Befragung verschiedene Schwierigkeiten (Stand 1. Januar 2011), BGS 861.5. und Hindernisse aufgetreten, die auch im Kantonales Sozialamt Zug (2017). Projekt In- Fachdiskurs regelmässig thematisiert wer- BeZug (Projektbeschrieb). Zug. zg.ch/be- den. Dies betrifft unter anderem die barrie- hoerden/direktion-des-innern/kantona- refreie Befragung von Menschen mit schwe- les-sozialamt /abteilung-soziale - reren Beeinträchtigungen (Schröttle & Horn- einrichtungen/8-projekt-inbezug [Zugriff berg, 2014, S. 81f.) sowie die Validität der am 09.10.2019]. gegebenen Antworten aufgrund von kom- Moisl, D. (2017). Methoden zur Befragung munikativen Schwierigkeiten (Moisl, 2017, von Menschen mit geistiger Behinderung. S. 322). Der Kanton Zug möchte das Verfah- Public Health Forum, 25 (4), 321–323. ren aber weiter anwenden und aufgrund der Rohrmann, A. & Schädler, J. (2006). Individu- gewonnenen Erfahrungen kontinuierlich op- elle Hilfeplanung und Unterstützungsma- timieren, um den Bedarf von Menschen mit nagement. In G. Theunissen & K. Schirbort Behinderung periodisch erheben zu können (Hrsg.), Inklusion von Menschen mit geis- und die Angebote systematisch an der Nach- tiger Behinderung. Zeitgemässe Wohnfor- frage der Nutzerinnen und Nutzer auszurich- men – Soziale Netze – Unterstützungsan- ten. So will der Kanton einen Beitrag zur gebote (S. 230–247). Stuttgart: Kohlham- Selbstbestimmung von Menschen mit Behin- mer. derung und zu einer inklusiven Gesellschaft Schröttle, M. & Hornberg, C. (2014). Vorstudie leisten. für eine Repräsentativbefragung zur Teilha- be von Menschen mit Behinderung(en). Nürnberg. bmas.de/SharedDocs/Down- loads/DE/PDF-Publikationen/forschungs- bericht-vorstudie-repraesentativbefra- gung-zur-teilhabe-von-menschen-mit-be- Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
I N K L U S I O N I M E R WA C H S E N E N B E R E I C H 13 hinderung.pdf?_ _blob=publicationFile [Zugriff am 09.10.2019]. Impressum Statistisches Amt Kanton Zürich (2018). Zu- Schweizerische Zeitschrift für friedenheitsbefragung der betreuten Per- Heilpädagogik, 26. Jahrgang, 1/ 2020 ISSN 1420-1607 sonen 2018. Benchmarking der Institutio- nen für Menschen mit Behinderung. Zü- Herausgeber Stiftung Schweizer Zentrum rich: Statistisches Amt Kanton Zürich. für Heil- und Sonderpädagogik (SZH) Übereinkommen über die Rechte von Men- Haus der Kantone Speichergasse 6, Postfach, CH-3001 Bern schen mit Behinderungen (UN-Behinder- Tel. +41 31 320 16 60, Fax +41 31 320 16 61 tenrechtskonvention, UN-BRK), vom szh@szh.ch, www.szh.ch 13. Dezember 2006, durch die Schweiz ra- Redaktion und Herstellung tifiziert am 15. April 2014, in Kraft seit Kontakt: redaktion@szh.ch Verantwortlich: Romain Lanners dem 15. Mai 2014, SR 0.109. Redaktion: Silvia Brunner Amoser, Silvia Schnyder, Daniel Stalder Rundschau und Dokumentation: Thomas Wetter Inserate: Remo Lizzi Layout: Anne-Sophie Fraser Erscheinungsweise 9 Ausgaben pro Jahr, jeweils in der Monatsmitte Inserate inserate@szh.ch Annahmeschluss: 10. des Vormonats; Preise: ab CHF 220.– exkl. MwSt.; Mediadaten unter www.szh.ch ➝ Zeitschrift Auflage 2247 Exemplare (WEMF / SW-beglaubigt) Druck Dr. des. Alan Canonica Ediprim AG, Biel Wissenschaftlicher Mitarbeiter Jahresabonnement Hochschule Luzern – Soziale Arbeit Digital-Abo CHF 69.90 Print-Abo CHF 79.90 Institut Sozialmanagement, Sozialpolitik Kombi-Abo CHF 89.90 und Prävention Einzelausgabe Werftestrasse 1 Print CHF 9.90 (inkl. MwSt.), plus Porto 6002 Luzern Digital CHF 7.90 (inkl. MwSt.) alan.canonica@hslu.ch Abdruck erwünscht, bei redaktionellen Beiträgen jedoch nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Hinweise Der Inhalt der veröffentlichten Beiträge von Autorinnen und Autoren muss nicht mit der Auffassung der Redaktion übereinstimmen. Weitere Informationen erhalten Sie auf unserer Website www.szh.ch Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
14 I N K L U S I O N I M E R WA C H S E N E N B E R E I C H Adelheid Arndt, André Ettl und Jennifer Zuber Leben wie du und ich im KULTURPARK Ein Modell zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in der Schweiz Zusammenfassung Im Beitrag wird die Entwicklung vom Assistenzbudget zum Assistenzbeitrag erläutert. Probleme, die sich insbesonde- re aufgrund der noch nicht definitiv geklärten Finanzierung ergeben, werden angesprochen. Anhand des Modellpro- jekts «leben wie du und ich im KULTURPARK» wird schliesslich gezeigt, wie es auch Menschen mit schwerer und / oder komplexer Behinderung möglich ist, selbstbestimmt leben und arbeiten zu können, wie es die UN-BRK vorsieht. Résumé La présente contribution décrit l’évolution du budget d’assistance vers la contribution d’assistance. Elle aborde des problèmes qui découlent notamment du fait que le financement ne soit pas encore clarifié. Elle montre enfin, en s’ap- puyant sur le projet pilote « leben wie du und ich im KULTURPARK » (Vivre comme toi et moi au KULTURPARK), com- ment des personnes présentant un handicap lourd et/ou complexe parviennent elles aussi à vivre et à travailler en au- tonomie, comme le prévoit la CDPH. Permalink: www.szh-csps.ch/z2020-01-02 Was ist Assistenz? Hindernisse für Menschen mit Behinderung Mithilfe von Assistenz können Menschen mit zu beheben, sie gegen Diskriminierung zu Behinderung ein selbstbestimmtes Leben in schützen und ihre Inklusion und Gleichstel- einer eigenen Wohnung führen. Sie können lung in der Gesellschaft zu fördern. Die die Menschen, die ihnen assistieren sollen, Schweiz hat sich mit der UN-Behinderten- selbst auswählen und mit einem ihnen direkt rechtskonvention zur freien Wahl der Wohn- zugesprochenen Budget bezahlen: Sie selbst form verpflichtet. bestimmen, wer ihnen wobei, wann, wo und wie hilft; bei der Arbeit, in der Schule, in der Assistenzbudget und Assistenz Pflege, in der Freizeit oder auf Reisen. beitrag In den Jahren von 2006 bis 2012 gab es eine Die gesellschaftspolitische schweizweite Pilotphase zum «Assistenzbud- Ausgangslage get». Dieses Budget, welches auf einer Selbst- Übereinkommen über die Rechte deklaration und ärztlichen Gutachten basier- von Menschen mit Behinderungen te, wurde an Menschen mit einer Behinderung Im Jahr 2014 hat die Schweiz die UN-Behin- ausgerichtet, damit diese Personen anstellen dertenrechtskonvention unterzeichnet: das konnten, die sie in der Alltagsbewältigung un- erste internationale Übereinkommen für die terstützten. Der Schlussbericht des Pilotpro- Rechte von Menschen mit Behinderung. Mit jekts fiel positiv aus: «Die Teilstudie zeigt, ihrem Beitritt verpflichtet sich die Schweiz, dass der Nutzen des Assistenzbudgets in Form Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
I N K L U S I O N I M E R WA C H S E N E N B E R E I C H 15 einer Verbesserung der Lebensqualität für die auch «Pflege und Betreuung zu Hause» – be- Teilnehmenden hoch ist, insbesondere durch teiligen. Diese Leistungen können für Men- mehr Selbstständigkeit, mehr soziale Kontak- schen mit Hilflosigkeit «leichten» Grades bis te und grösseren finanziellen Handlungsspiel- zu 25 000 Franken pro Jahr betragen, für raum. Vor allem die Gruppe der meist schwer Hilflosigkeit «mittelschweren» Grades bis zu körperlich behinderten Erwachsenen profi- 60 000 Franken und für Hilflosigkeit «schwe- tiert stark» (BSV, 2007, Vorwort). Es wird aber ren» Grades bis zu 90 000 Franken. Für die auch ausgeführt, dass insgesamt nur «eine Dauer der schweizweiten Pilotphase von sehr geringe Kostenentlastung» für die Allge- 2006 bis 2012 war der Zugang zu diesen Gel- meinheit stattgefunden habe und ein kosten- dern gewährleistet. Da in der Pilotphase neutraler Umbau in Zukunft nicht möglich sei auch das IV-Budget höher war, wurden die (BSV, 2007, Vorwort). Dass der Umbau eines subsidiären Leistungen des Kantons jedoch Sozialsystems mit einem bedeutenden Para- nur selten in Anspruch genommen.1 digmenwechsel bis zur Einführung eines neu- Die Krankenkasse beteiligt sich am en Gesetzes nicht kostenneutral sein kann, Budget in Form von Grund- und Behand- scheint offensichtlich. Ausserdem beweisen lungspflege, die über Mitarbeitende der Spi- Studien aus dem Ausland, dass das Leben mit tex geleistet werden muss. Die Krankenkas- Assistenz nicht teurer ist als stationäre Ange- senleistungen werden vom IV-Assistenzbei- bote (zum Beispiel in Schweden, laut der Stu- trag abgezogen. die von Westberg [2010]). Alle drei Kostenträger sind unterschied- Daraufhin wurde 2012 mit der 6. IV-Re- lich in Bezug auf Abklärungsprozesse, Ab vision eine finanziell stark gekürzte Version rechnungsmodalitäten und auch Stunden des «Assistenzbudgets» gesetzlich einge ansätze. Daraus ergibt sich ein hoher admi- führt: der sogenannte «Assistenzbeitrag». nistrativer und organisatorischer Aufwand Der Assistenzbeitrag setzt sich aus vier Leis- für Menschen, die mit Assistenz leben. tungen von drei Kostenträgern zusammen: Die Invalidenversicherung (IV) bezahlt die Hilflosenentschädigung und den Assis- tenzbeitrag. Dabei ist zu beachten, dass die 1 In Zürich wurde die Praxis hinsichtlich der Kosten- Hilflosenentschädigung in Assistenzstun- beteiligung nach Einführung des Assistenzbei- trags 2012 und nach einer achtmonatigen Be- den umgerechnet und vom IV-Assistenz denkzeit völlig unerwartet geändert und man beitrag abgezogen wird. Dadurch steht für lehnte sich nun an die IV-Abklärung an. Dies ist behinderungsbedingte Mehrkosten wie As- jedoch problematisch, weil die IV-Abklärung den Bedarf eines Menschen mit schwerer Behinde- sistenz beim Reisen oder im Kino kein Bei- rung nicht erfassen kann, da das Instrument nach trag mehr zur Verfügung. Der Assistenzbei- oben gedeckelt ist (es handelt sich neu um einen trag ist somit gedeckelt, wodurch der ef- nach oben begrenzten Assistenzbeitrag). Der fektive Bedarf von Menschen mit schwerer Kanton Zürich gewährt seit 2013 die subsidiären Beiträge nicht mehr. Dagegen wurden von Pro- Behinderung nicht ermittelt und damit jektteilnehmenden Klagen eingereicht. Erste Ur- nicht erfüllt werden kann. teile vom September 2018 haben ergeben, dass Der Kanton oder die Stadt (in Zürich ist die rechtliche Grundlage der Verfügungen vom Frühjahr 2016 nicht ausreichend war und das Amt es das Amt für Zusatzleistungen) sollte sich für Zusatzleistungen eine Neuberechnung ma- subsidiär an den krankheits- und behinde- chen muss. Zum heutigen Zeitpunkt (November rungsbedingten Kosten – darunter fallen 2019) liegen noch keine neuen Berechnungen vor. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
16 I N K L U S I O N I M E R WA C H S E N E N B E R E I C H © NIK SPOERRI Ausgerichtet wird der «Assistenzbeitrag» Wohnen im Heim – nicht anerkannt und nach einem neuen Abklärungsinstrument werden nicht finanziert. der IV, genannt FAKT 2, das in allen Lebens- Weiter sind die Beiträge der Kantone bereichen nach oben gedeckelt ist. Ausser- zur Lebensalternative Assistenz rechtlich dem berücksichtigt es Bereiche wie zum noch nicht festgelegt und von Kanton zu Beispiel die Unterstützte Kommunikation Kanton unterschiedlich. Das gegenseitige (Dolmetschen), die gesellschaftliche Teilha- Zuschieben der Verantwortung von Bund, be, Assistenz bei der Arbeit und vor allem Kantonen und Gemeinden wird auf dem die gesamte Organisation und das Manage- Rücken der Menschen mit Behinderung aus- ment eines Lebens mit Assistenz kaum oder getragen: Der IV-Assistenzbeitrag des Bun- gar nicht. des ist gedeckelt und die Beiträge der meis- Zum einen kann also so der reale Assis- ten Kantone sind nicht geregelt. Dies führt tenzbedarf bei Menschen mit Behinderung zu einer gravierenden Unterfinanzierung nicht erfasst und damit nicht erfüllt werden. des Assistenzbudgets. Zum anderen werden mit dem Beitrag not- wendige Leistungen nicht finanziert: Denn Assistenzbeitrag und Menschen mit Menschen, die mit Persönlicher Assistenz schwerer Behinderung leben wollen, werden zu eigentlichen Ge Der hohe Anteil an Menschen mit schwerer schäftsführenden einer kleinen Unterneh- Behinderung während der Pilotphase zum mung und stehen damit vor enormen admi- Assistenzbudget 2006 bis 2012 macht deut- nistrativen, organisatorischen und mensch- lich, dass diese offensichtlich in ihrer Le lichen Herausforderungen. Unterstützungs bensqualität in einer Institution am meisten leistungen, die sie bei diesen Aufgaben eingeschränkt werden und darum ein Leben brauchen, sind bisher – anders als beim mit Asssistenz ein grosses Bedürfnis dar- Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
I N K L U S I O N I M E R WA C H S E N E N B E R E I C H 17 stellt. Denn aufgrund des Personalschlüssels rung die Lebensqualität enorm erhöht (BSV, fehlt in Institutionen oft die individuelle Be- 2017, Das Wichtigste in Kürze III). gleitung ausser Haus für Weiterbildung, Schule, Sport, Familienbesuche, Freizeit oder Das Modellprojekt «leben wie du Arztbesuche. Auch innerhalb der Institution und ich» im KULTURPARK ist eine individuelle Lebensgestaltung nur Der Verein leben wie du und ich wurde im schwer umsetzbar. Jahr 2012 mit der Intention gegründet, Die offiziellen Evaluationen des BASS Menschen mit Behinderung, die mit Per (Büro für Arbeits- und sozialpolitische Studi- sönlicher Assistenz leben wollen, finanziell en BASS AG) zeigen auf, dass die Anzahl Per- und ideell zu unterstützen. Gleichzeitig soll sonen mit schwerer Behinderung in der An- die Thematik so in das Bewusstsein der fangsphase 2012 noch 50 Prozent betrug, Öffentlichkeit gerückt werden. während es 2018 nur noch 30 Prozent waren. Aufgrund der oben beschriebenen Ein Grund für diese Entwicklung könnte sein, Notlage für Menschen mit schwerer Be- dass der Assistenzbeitrag für Menschen mit hinderung hat der Verein leben wie du und schwerer Behinderung nicht alle notwendi- ich ein Modellprojekt aufgegleist, das im gen Leistungen abdeckt. Gleichzeitig wurde Gemeinschaftsprojekt KULTURPARK mit- im Schlussbericht des Pilotprojekts sehr ten in Zürich umgesetzt wird. Mit dem deutlich, dass ein Assistenzbudget insbeson- Projekt soll modellhaft aufgezeigt wer- dere für Menschen mit schwerer Behinde- den, was Menschen mit schwerer Behin- © NIK SPOERRI Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
18 I N K L U S I O N I M E R WA C H S E N E N B E R E I C H © NIK SPOERRI derung brauchen, um mit Assistenz zu le- arbeiten gemeinsam, sowohl im Kompe- ben und zu arbeiten. tenzzentrum wie im Arbeitsatelier. Für Folgende Ziele werden mit dem Pilot- Menschen mit Behinderung entstehen projekt «leben wie du und ich im KULTUR- Arbeitsplätze, die ihren Fähigkeiten und PARK» verfolgt: ihrer Qualifikation entsprechen. • Aufgrund der zähen Verhandlungen • Durch künstlerische Projekte öffnet sich mit und der rechtlichen Beschwerden die Gesellschaft gegenüber den Fähig gegen die staatlichen Träger (Bund, keiten und Ressourcen ihrer Mitglieder Kanton, Gemeinde) setzt sich der Ver- mit Behinderung und wird dadurch be- ein für ein bedarfsgerechtes Budget so- reichert. wie ein unabhängiges Abklärungsinst- • Auf individueller Ebene wird den Projekt- rument ein. teilnehmenden durch einen ressourcenori- • Durch das Konzept, den Aufbau und entierten Zugang Selbstbestimmung und die mehrjährige Praxis des Mobilen Eigenverantwortung ermöglicht. Kompetenzzentrums liefert der Verein • Durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit kennt eine praktische Vorlage für neue, am- die Schweizer Bevölkerung das Modell der bulante und individuellere Unterstüt- Assistenz und den Gedanken eines inklu- zungsdienste. siven, selbstbestimmten Lebens. • Menschen mit einer Behinderung ha- • Das Inklusionsprojekt wird schweizweit ben die reale Wahl zwischen den Le- wahrgenommen. Das Handbuch und die bensformen Institution und Assistenz. öffentliche Tagung geben Anregungen Sie können selbst entscheiden, wo und zur Umsetzung ähnlicher Projekte. mit wem sie leben wollen. • Durch das im Herbst 2019 veröffentlichte • Menschen mit und ohne Behinderung E-Handbuch können auch andere Grup Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
I N K L U S I O N I M E R WA C H S E N E N B E R E I C H 19 pen von Menschen, wie zum Beispiel Se- tenzbudgets begleitet. Denn die Teilneh- niorinnen und Senioren, das Projekt menden werden beim Leben mit Assistenz nachahmen. Die Initiierung weiterer Pro- zu Geschäftsführenden eines kleinen Un- jekte wird dadurch unterstützt und ver- ternehmens mit allen dazugehörigen Auf- einfacht. gaben, wie zum Beispiel der Verwaltung des Gesamtbudgets, Arbeitsplanung, Be- Das Modell des Pilotprojekts besteht aus werbungsverfahren, Verkehr mit Ämtern drei Teilen: dem Wohnen, dem Mobilen oder Lohnbuchhaltung. Kompetenzzentrum und dem Arbeitsatelier. Im Kompetenzzentrum wird zusam- men mit den Menschen mit Behinderung «leben wie du und ich im der individuelle Assistenzbedarf für diese KULTURPARK» – das Wohnen Aufgaben eruiert und es werden Unter Für Menschen mit einer Behinderung ist es stützungspakete erstellt, die auf die indivi- in einer Stadt wie Zürich kaum möglich, be- duellen Möglichkeiten und Bedürfnisse zu- zahlbaren Wohnraum zu mieten und so ak- geschnitten sind. Das Kompetenzzentrum tiv am gesellschaftlichen Leben teilzuneh- bietet ein gezieltes Unterstützungsangebot men. In einem Gemeinschaftsprojekt oder in den Bereichen Management, Adminis einer Genossenschaft kann Inklusion von tration, Beratung, Supervision und Kon- Menschen mit Behinderung besser gelin- fliktmanagement. gen, da von Beginn an eine grössere Offen- Im Kompetenzzentrum sind fünf Per- heit als in einem «normalen» Mietshaus sonen in Teilzeit angestellt, zwei davon mit oder einer «normalen» Überbauung da ist. einer Behinderung. Diese Peer-to-Peer-Be- Der Kulturpark mitten in Zürich bietet «ei- ratung wird sehr geschätzt. nen interkulturellen, vernetzten, urbanen Lebensraum, wo Arbeiten und Wohnen, Bil- dung und Kultur zusammenfinden» (www. In einem Gemeinschaftsprojekt kann kulturpark.ch). Inklusion besser gelingen, da von Beginn Am 1. Oktober 2015 haben mit Unter an eine grössere Offenheit als in stützung des Vereins fünf Menschen mit einem «normalen» Mietshaus da ist. Behinderung zwischen 27 und 40 Jahren ihre ersten eigenen Wohnungen im Kultur- park bezogen. Sie leben zusammen mit «leben wie du und ich im drei Menschen ohne Behinderung über den KULTURPARK» – das Arbeitsatelier Wohnkomplex verteilt in ihrer selbst ge Menschen mit komplexer Behinderung fal- wählten Wohnform – als Paar, als Single len sozusagen zwischen Stuhl und Bank: oder in einer WG. Sie haben zum Beispiel sehr schwere Kör- per- und Sprachbehinderungen, jedoch «leben wie du und ich im keine kognitive Beeinträchtigung. Unter KULTURPARK» – das Mobile diesen Voraussetzungen werden sie weder Kompetenzzentrum in Werkstätten für Menschen mit Körper- Alle Projektteilnehmenden werden vom behinderung aufgenommen, noch finden Verein bei der komplexen und äusserst sie in Tagesstrukturen für Menschen mit bürokratischen Beschaffung ihres Assis- kognitiver Beeinträchtigung eine ihren Fä- Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
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