Inklusion im Erwachsenenbereich - Partizipatives Forschungsprojekt im Bereich Körperbehinderung - Shop

 
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Inklusion im Erwachsenenbereich - Partizipatives Forschungsprojekt im Bereich Körperbehinderung - Shop
EDITION                                      N r. 1
SZH/CSPS                                     2020

     Inklusion im
     Erwachsenenbereich
       Partizipatives Forschungsprojekt im
     Bereich Körperbehinderung
Inhalt
Barbara Egloff
Editorial                                                                     1

Rundschau                                                                     2

SCHWERPUNKT

Alan Canonica
Gewünscht wird «Normalität»
Befragung von Menschen mit Behinderung zu den Bereichen Wohnen und
Tagesstruktur im Kanton Zug                                                   6

Adelheid Arndt, André Ettl und Jennifer Zuber
Leben wie du und ich im KULTURPARK
Ein Modell zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in der Schweiz   14

Daniel Schaufelberger
Im Kleinen für eine grosse Sache
Selbstbestimmtes Wohnen mit dem Pilotprojekt Luniq                           22

François Muheim
Die Arche Gemeinschaften von Jean Vanier
Gelebte Deinstitutionalisierung                                              25

Carmen Mekouar, Florian Scherrer und Anina Rütsche
Workaut: Lebens- und Arbeitsbegleitung für Menschen mit Autismus
Ein Fallbeispiel                                                             33

Hendrik Trescher und Teresa Hauck
Zwischen Teilhabe und Ausschluss
Eltern und ihre erwachsenen Kinder mit geistiger Behinderung                 37

Dokumentation zum Schwerpunkt                                                44

WEITERES THEMA

Susanne Schriber, Carlo Wolfisberg, Mariama Kaba und Viviane Blatter
Zwischen Anerkennung und Missachtung
Sozialisationserfahrungen von Menschen mit Körperbehinderungen
in Institutionen der Körperbehindertenpädagogik                              46

Impressum                                                                    13

Bücher / Behinderung im Film / Politik / Agenda                              54

Inserate                                                                     62

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
EDITORIAL                          1

Barbara Egloff

Mit viel Engagement zu einer inklusiven Gesellschaft

Spätestens mit der Ratifizierung der UN-BRK      wägung der Konsequenzen von Entschei-
im Jahr 2014 hat sich Inklusion zu einem         dungen – und demzufolge ein entsprechen-
Prinzip entwickelt, an dem sich eine Gesell-     des Angebot. Es ist wie beim selbstständi-
schaft orientieren sollte. Das Prinzip wird      gen Wohnen. Das ist auch bloss möglich,
gestärkt durch das Recht auf Einbeziehung        wenn passende Wohnangebote und ent-
und das Recht auf Unterschiedlichkeit, wie       sprechende Finanzierungsmodelle vorhan-
in Artikel 3 der allgemeinen Grundsätze der      den sind. Ebenso verhält es sich bei der Er-
UN-BRK definiert. Teilhabe und Vielfalt sind     werbstätigkeit, der Kultur, der Sexualität,
somit zwei zentrale Werte von Inklusion.         der Politik etc. Sämtliche Lebensbereiche
                                                                                                 Dr. phil.
     Beim Begriff Inklusion denkt man meist      sollten in einer inklusiven Gesellschaft al-
                                                                                                 Barbara Egloff
zuerst an die Schule, ans Dazugehören zu         len, die teilhaben möchten, zugänglich sein.
                                                                                                 Wissenschaftliche
den Regelklassen. Oder allenfalls noch an              Noch befindet sich die Schweiz erst auf
                                                                                                 Mitarbeiterin
die Freizeitaktivitäten für Kinder, die inklu-   dem Weg hin zu einer inklusiven Gesell-
                                                                                                 SZH / CSPS
siv gestaltet sind. Und das ist auch gut so,     schaft. Zwar wird dieser Weg immer stärker
                                                                                                 barbara.egloff@
denn Inklusion geschieht nicht einfach so.       auch von der Gesetzgebung geebnet. Doch
                                                                                                 szh.ch
Sie beginnt bei der Einstellung gegenüber        in vielen Lebensbereichen ist es weiterhin
der Vielfalt der Menschheit. Und deshalb ist     das Engagement einzelner Personen oder
es auch so wichtig, dass Kinder bereits im       kleiner Gruppen, das zählt. Sie ermöglichen
frühen Alter alltägliche Erfahrungen mit         es Menschen mit Behinderung, teilzuha-
Verschiedenheit machen. Aus diesem Grund         ben. Gute Beispiele dafür finden sich im Ar-
ist die inklusive Schule ein grosses Thema       tikel zum Verein leben wie du und ich, zum
für die Sonderpädagogik.                         Projekt luniq oder zum Beratungsangebot
     Betrachtet man die Inklusion im Er-         Workaut. Ihr Engagement und dasjenige
wachsenenbereich, öffnet sich allerdings ei-     vieler anderer sind für die Erreichung einer
ne ganze Palette an weiteren Themen. Denn        inklusiven Gesellschaft von grossem Wert!
Inklusion heisst, dass alle gesellschaftlichen
Aktivitäten so gestaltet sind, dass jeder
Mensch, sofern er das möchte, daran teilha-
ben kann. Es bedeutet beispielsweise auch,
dass Menschen mit einer kognitiven Beein-                                                        Anne-Sophie Fraser
trächtigung bei ihrer medizinischen Versor-      Übrigens:                                       Grafische
gung wichtige Entscheide selber treffen          Unsere neue Grafikerin Anne-Sophie Fraser       Mitarbeiterin
dürfen. Damit diese Entscheidungsfreiheit        hat sichtbare Spuren hinterlassen. Es freut     SZH / CSPS
genutzt werden kann, braucht es Unterstüt-       uns, Ihnen unsere Zeitschrift in einem farbi-   anne-sophie.fraser@
zung bezüglich der Aufklärung und der Ab-        geren Kleid präsentieren zu können.             szh.ch

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020www.szh-csps.ch/z2020-01-00
2   RUNDSCHAU

    Rundschau
    INTERNATIONAL                                        freundliche Version der Kinderrechtskonven-
                                                         tion vorliegt.
    UNO-Ausschuss hat die «List of                       Weitere Informationen:
    Issues» zur UN-BRK publiziert                        www.netzwerk-kinderrechte.ch
    Das Verfahren zur Überprüfung der Umset-
    zung der UN-Behindertenrechtskonvention
    (UN-BRK) in der Schweiz wurde eröffnet:              NATIONAL
    Der zuständige UN-Ausschuss in Genf hat
    die sogenannte List of Issues publiziert. Da-        Statistik der Sonderpädagogik:
    rin werden diejenigen Fragen formuliert, die         Schuljahr 2017/18
    der Bund und die Kantone bis Herbst 2020             Lernende mit besonderem Bildungsbedarf
    in Ergänzung des Staatenberichtes von 2016           haben in den vergangenen Jahren vermehrt
    beantworten müssen. Gestützt auf diese               in den Regelklassen eine sonderpädagogi-
    Antworten, den Staatenbericht, den Schat-            sche Unterstützung erhalten. Über die Hälf-
    tenbericht sowie Anhörungen von Staat und            te (53 %) der Lernenden mit einer verstärk-
    NGOs wird der UN-Ausschuss im Herbst                 ten Massnahme ist in eine Regelklasse inte-
    2020 Schlussempfehlungen zuhanden der                griert, sechs Prozent erhalten eine besonde-
    Schweiz («Concluding Observations») ver-             re Fördermassnahme in einer Sonderklasse
    abschieden. Darin wird festgehalten, inwie-          und 41 Prozent in einer Sonderschule. Bei
    fern und in welchen Bereichen die UN-BRK             4,3 % der Lernenden wurden Lernziele an-
    in der Schweiz umgesetzt ist und wo sie              gepasst. Dies kann in einem Fach bzw. zwei
    Massnahmen zu ergreifen hat.                         oder mehreren Fächern der Fall sein. Dies
    Weitere Informationen:                               sind die ersten Ergebnisse der neu konzipier-
    www.inclusion-handicap.ch ➝ Themen ➝                 ten Statistik der Sonderpädagogik des Bun-
    UN-BRK ➝ Prüfverfahren                               desamtes für Statistik (BFS). Die moderni-
                                                         sierte Statistik der Sonderpädagogik liefert
    Kinderfreundliche Version der Kon­                   viele neue Einblicke in die Verbesserung der
    vention über die Rechte des Kindes                   schulischen Integration in der Schweiz. Für
    Anlässlich des 30-jährigen Bestehens der             immer mehr Schülerinnen und Schüler mit
    UN-Kinderrechtskonvention hat das Kinder-            besonderem Bildungsbedarf wird die «Schu-
    hilfswerk UNICEF im Rahmen einer Partner-            le für alle» zum Alltag. Die Ende Oktober pu-
    schaft mit Child Rights Connect eine kinder-         blizierten Daten werden im kommenden
    freundliche Version entwickelt. Ein von Child        Jahr mit kantonalen Analysen erweitert.
    Rights Connect einberufenes Children’s Ad-           Weitere Informationen: www.bfs.admin.ch
    visory Team hat bei der Ausgestaltung der            ➝ Medienmitteilung vom 29.10.2019 &
    kinderfreundlichen Kinderrechtskonvention            https://edudoc.ch/record/207098
    mitgeholfen. So wurden Kinder in den Aus-
    arbeitungsprozess des Textes und der Sym-            Meilenstein bei der Umsetzung
    bol-Gestaltung der kinderfreundlichen Ver-           der Digitalisierungsstrategie der EDK
    sion einbezogen. Es ist das erste Mal, dass          An ihrer Jahresversammlung haben die kan-
    eine offizielle, global erarbeitete und kinder-      tonalen Erziehungsdirektorinnen und Erzie-

                                                      Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
RUNDSCHAU        3

hungsdirektoren (EDK) der Errichtung von                         Ein kürzlich publiziertes Merkblatt enthält
Edulog zugestimmt. EDK-Präsidentin Silvia                        allgemeine Informationen über Schülerin-
Steiner spricht von einem Meilenstein bei                        nen und Schüler mit einer kognitiven Beein-
der Umsetzung der Digitalisierungsstrate-                        trächtigung und deren Folgen. Es schlägt
gie der EDK. Edulog wird Kindern und Ju-                         Massnahmen für eine differenzierte Päda-
gendlichen im Bildungssystem Schweiz ei-                         gogik und zum Ausgleich von Benachteili-
nen sicheren und vereinfachten Zugriff auf                       gungen vor.
Online-Dienste, die im schulischen Kontext                       Zu den Informationsblättern: www.szh.ch/
verwendet werden, ermöglichen.                                   informationsblaetter-fuer-lehrpersonen
Weitere Informationen: www.edk.ch
➝ Medienmitteilung vom 31.10.2019 &
www.edulog.ch                                                    KANTONAL / REGIONAL

Hochschulstudium trotz                                           ZG: Die Regelschule und die Inte­
Beeinträchtigung                                                 gration ausländischer Kinder
Keine Person darf wegen einer körperlichen                       Das Bundesgericht kommt in zwei Urteils-
oder psychischen Beeinträchtigung, Behinde-                      sprüchen zum Schluss, dass ausländische
rung oder chronischen Erkrankung diskrimi-                       Kinder mit mangelnder schulischer Vorbil-
niert werden. Die Gleichstellung von Men-                        dung und geringen Deutschkenntnissen
schen mit Beeinträchtigungen im Bildungs-                        nicht über längere Zeit in segregierten Klas-
wesen ist gesetzlich verankert. Menschen mit                     sen oder nur in einzelnen Fächern unterrich-
Beeinträchtigungen sollen gleichberechtigten                     tet werden dürfen. Es wies beide Fälle aus
Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung er-                       dem Kanton Zug zur verfassungsmässigen
halten. Die Website swissuniability.ch infor-                    Neubeurteilung an die verantwortliche Be-
miert ausführlich über das Thema «Studium                        hörde zurück. Das Bundesgericht bestätigt
mit Behinderung» und zeigt konkrete Hand-                        darüber hinaus, dass analog zur Schulung
lungsmöglichkeiten seitens der Studierenden,                     von Kindern mit einer Behinderung auch für
aber auch seitens der Hochschulen auf.                           jene, welche verspätet und ohne die in der
Weitere Informationen: www.swissuniability.ch                    Schweiz gängige Vorbildung eingeschult
                                                                 werden, grundsätzlich die Integration in die
Informationsblätter für                                          Regelschule angestrebt werden soll. Dies
Lehrpersonen                                                     nicht nur, um die schulische Gleichbehand-
Die Kantone haben in den letzten Jahren                          lung zu garantieren, sondern auch, um die
den Informationsbedarf der Regelklassen-                         Integration in die hiesige Gesellschaft zu
Lehrpersonen, die Lernende mit verschiede-                       fördern und Diskriminierung zu verhindern.
nen Störungen und Beeinträchtigungen be-                         Weitere Informationen: www.humanrights.ch
gleiten, erkannt. Die Erziehungsdirektoren-                      ➝ Meldung vom 23.09.2019
Konferenz der Westschweiz und des Kan-
tons Tessin hat darum das SZH im Jahr 2013                       AG/SO: Partizipative
beauftragt, Informationsblätter für die Be-                      Forschungs­methode für
gleitung dieser Kinder in Regelklassen zu                        die Organisationsentwicklung
erarbeiten. Bis jetzt wurden neun Informa-                       In einer Einrichtung für Menschen mit einer
tionsblätter (nur auf frz.) herausgegeben.                       psychischen Beeinträchtigung im Kanton

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
4   RUNDSCHAU

    Aargau hat die Hochschule für Soziale Ar-           teten Objekten aufgebaut, damit künstliche
    beit FHNW eine neue Methode der Organi-             Intelligenzsysteme zur Personalisierung von
    sationsentwicklung getestet. Sie heisst Pho-        Objekterkennung trainiert werden können.
    tovoice und entstammt der qualitativen Ak-          Bei dieser technischen Entwicklung werden
    tionsforschung. Anhand von Fotografien              Menschen, die blind sind oder eine Seh­
    werden Leitsätze formuliert und bereichsspe-        beeinträchtigung haben, einbezogen. Das
    zifische Massnahmen ergriffen. Peter Zängl          Forschungsteam untersucht, wie blinde
    von der FHNW sieht in Photovoice ein erheb-         Nutzerinnen und Nutzer ein persönliches
    liches Potenzial für organisationsspezifische       Objekt fotografieren, damit es aus verschie-
    Fragestellungen, bei denen die Partizipation        denen Blickwinkeln und in unterschiedli-
    der Teilnehmenden eine zentrale Rolle spielt.       chen Kontexten erkannt werden kann.
    Quelle: Curaviva, 11, 2019, 44–45                   Quelle: www.city.ac.uk
                                                        ➝ Mitteilung vom 31.10.2019
                                                        Weitere Informationen:
    VARIA                                               https://orbit.city.ac.uk

    Wegweiser für inklusive                             Plakat-Kampagne
    Veranstaltungen der Performing                      «Ungehindert behindert»
    Arts (Theater, Tanz und Musik)                      Im vergangenen Oktober lancierte Pro Infir-
    Viele der rund 1,8 Millionen Menschen mit Be-       mis die Plakat-Kampagne «Ungehindert be-
    hinderungen in der Schweiz (ca. 20 % der Ge-        hindert». Dabei übernahm die Organisation
    samtbevölkerung) interessieren sich für Kul-        bekannte Werbesujets von Schweizer Fir-
    tur. Bisher konnten sich Kulturanbieter aber        men und besetzte diese neu. Ziel war es, da-
    kaum informieren, wie sie ihre Dienstleistun-       rauf aufmerksam zu machen, dass Men-
    gen dieser Kundengruppe zugänglich machen           schen mit Behinderung in der Werbung feh-
    können. Diese Lücke schliesst nun der Kultur-       len und dass auch diese in die Werbung ge-
    wegweiser. Er zeigt praxisnah auf, wie Kultur-      hören – wie alle anderen auch. Schliesslich
    institutionen der Performing Arts ihre Ange-        ist Werbung nicht einfach nur Reklame, son-
    bote für alle kulturinteressierten Besuchenden      dern auch ein Abbild unserer Gesellschaft,
    öffnen und hindernisfrei zugänglich machen          in der Menschen mit Behinderung als
    können. Der Kulturwegweiser steht online            selbstverständlicher Teil angesehen werden
    und kostenlos zur Verfügung. Gemeinsam ha-          sollen. Nun zeigt die Kampagne ihre Wir-
    ben die Fachstelle Kultur inklusiv von Pro In-      kung: Im Online-Magazin der Swisscom
    firmis, Migros-Kulturprozent und Sensabili-         wird an prominenter Stelle eine Person mit
    ty den neuen Wegweiser erarbeitet.                  Behinderung gezeigt. Die Swisscom hat
    Weitere Informationen:                              kurzerhand ihr Sujet angepasst und lässt
    www.sensability.ch/kultur                           auf der animierten Grafik neu eine Frau in
                                                        einem Rollstuhl ins Bild fahren.
    Künstliche Intelligenz für                          Weitere Informationen: www.proinfirmis.ch
    Menschen mit Sehbehinderung                         ➝ Aktuelles vom 06.11.2019
    Im Rahmen des ORBIT-Projekts (Object Re-
    cognition for Blind Image Training) wird ein
    grosser Datensatz von Bildern mit beschrif-

                                                     Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
THEMENSCHWERPUNKTE 2020                         5

Themenschwerpunkte 2020
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik

 Nr.        Thema                   Mögliche Stichworte / Unterthemen                  Anmeldetermin   Einsendeschluss

 1          Inklusion im            • Subjektfinanzierung                             10.08.2019      10.10.2019
            Erwachsenen­            • Inklusives Wohnen
            bereich                 • Inklusive Arbeitsformen

 2          Einstellungen,          • Perspektive der Schulleitungen                  10.09.2019      10.10.2019
            Haltungen               • Perspektive der Eltern
            zur Inklusion           • Perspektive der Betroffenen

 3          Frühe Bildung           • Prävention in verschiedenen Berufsgruppen       10.09.2019      10.11.2019
                                    • Best-Practice-Beispiele

 4          Behinderung             • Historische Perspektive                         10.10.2019      10.12.2019
            in den Medien           • Instrumentalisierung von Behinderung
                                       zu Werbezwecken
                                    • Begrifflichkeiten

 5–6        Mehrfach­               • Kommunikation                                   10.11.2019      10.01.2020
            behinderung             • Medizinische Betreuung, Multiprofessionalität
                                    • Teilhabe

 7– 8       Nachteils­              • Umsetzung                                       10.01.2020      10.03.2020
            ausgleich               • Erfahrungsberichte
                                    • Probleme in der Praxis

 9          Lebensende              • Auseinandersetzung mit dem Tod                  10.03.2020      10.05.2020
                                    • Ethische Fragen
                                    • Demenz

 10         Universal               • Lehrmittel                                      10.04.2020      10.06.2020
            Design                  • Architektur
                                    • Öffentlicher Verkehr
                                    • Barrierefreiheit in der Kultur, Arbeitswelt

 11 – 12 Humor                      • Humor als Intervention                          10.05.2020      10.07.2020
                                    • Humor zur Psychohygiene

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
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Alan Canonica

Gewünscht wird «Normalität»
Befragung von Menschen mit Behinderung zu den Bereichen Wohnen
und Tagesstruktur im Kanton Zug

Zusammenfassung
Der Kanton Zug hat im Jahr 2017 das Projekt «InBeZug» lanciert. Ziel des Projekts ist, das bisherige institutionenbe-
zogene Vorgehen in den Bereichen Wohnen und Tagesstruktur durch einen personenzentrierten Ansatz zu ersetzen.
Das Finanzierungssystem soll sich zukünftig am individuellen Bedarf von Menschen mit Behinderung ausrichten. Um
diesen Bedarf zu ermitteln, hat der Kanton Zug das Departement Soziale Arbeit der Hochschule Luzern beauftragt, ei-
ne Befragung bei Menschen mit Behinderung durchzuführen. In diesem Beitrag werden ausgewählte Ergebnisse der
Erhebung vorgestellt. In einem nächsten Schritt wird erläutert, wie die Resultate für das Projekt «InBeZug» sowie die
kantonale Angebotsplanung in den Bereichen Wohnen und Tagesstruktur genutzt werden.

Résumé
Le canton de Zoug a lancé en 2017 le projet « InBeZug ». Ce projet a pour objectif de remplacer, pour les domaines
de l’habitat et des structures d’accueil de jour, le processus qui était jusqu’alors basé sur les institutions par une ap-
proche centrée sur la personne. Le système de financement doit à l’avenir être dicté par les besoins individuels des
personnes en situation de handicap. Pour déterminer ces besoins, le canton de Zoug a mandaté le Département Tra-
vail social de la Haute-école de Lucerne pour réaliser un sondage auprès de personnes concernées. Cet article pré-
sente des résultats ciblés de cette enquête. Dans un second temps, elle décrit comment ces résultats sont exploités
pour le projet «InBeZug» ainsi que pour la planification cantonale d’offres dans les domaines de l’habitat et des struc-
tures d’accueil de jour.

Permalink: www.szh-csps.ch/z2020-01-01

                         Die (Mit-)Verantwortung der Kantone für                       zur Verfügung steht, das ihren Bedürfnissen
                         eine adäquate Umsetzung der Postulate der                     in angemessener Weise entspricht» (IFEG,
                         UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)                       Art. 2).
                         ist klar geregelt (Art. 4, Abs. 5). Im Zuge der                    Der Kanton Zug will die Selbstbestim-
                         Neugestaltung des Finanzausgleichs und der                    mung von Menschen mit Behinderung stär-
                         Aufgabenteilung zwischen Bund und Kanto-                      ken. Im Vordergrund steht darum die Perso-
                         nen (NFA) von 2008 wurde die Zuständigkeit                    nenzentrierung: Angebote sollen bestmög-
                         für die Finanzierung von Einrichtungen für                    lich an der Nachfrage der Klientinnen und
                         Menschen mit Behinderung vom Bund an die                      Klienten ausgerichtet werden. Für den Kan-
                         Kantone übertragen. Gemäss Bundesgesetz                       ton Zug ist diese Aufgabe mit Herausforde-
                         über die Institutionen zur Förderung der Ein-                 rungen verbunden, die sich darauf zurück-
                         gliederung von invaliden Personen (IFEG)                      führen lassen, dass das bisherige Unterstüt-
                         von 2006 gewährleistet jeder Kanton, «dass                    zungssystem auf den stationären Bereich
                         invaliden Personen, die Wohnsitz in seinem                    fokussiert. Die UN-BRK bestimmt in Arti-
                         Gebiet haben, ein Angebot an Institutionen                    kel 19, dass Menschen mit Behinderung frei

                                                                                    Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
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wählen dürfen, wo und mit wem sie leben                          Autonomes Wohnen und
möchten – und vor allem dürfen sie nicht                         entlohnte Arbeit
dazu verpflichtet werden, in besonderen Le-                      Der Kanton Zug wollte die Nachfrage genau
bensformen zu wohnen. Heute ist es aller-                        kennen: Für die Angebotsplanung 2020 bis
dings eher so, dass sich die Handhabung an                       2022 für erwachsene Menschen mit Behin-
den Organisationen bzw. Einrichtungen                            derung in den Bereichen Wohnen und Ta-
ausrichtet und nicht umgekehrt (Früchtel,                        gesstruktur wurde das Departement Soziale
o. J., S. 12). In diesem Beitrag wird eine Be-                   Arbeit der Hochschule Luzern beauftragt,
fragung von Menschen mit Behinderung im                          eine Befragung bei Zugerinnen und Zugern
Kanton Zug vorgestellt, mit der der Bedarf                       mit Behinderung durchzuführen. Eine sol-
der Nutzerinnen und Nutzer in den Berei-                         che Vorgehensweise hat schweizweit Pio-
chen Wohnen und Tagesgestaltung (Arbeit,                         niercharakter. Die Kantone sind verpflich-
Ausbildung, Freizeit) erfasst wurde. Nebst                       tet, periodische Bedarfsanalysen durchzu-
ausgewählten Ergebnissen wird ausge-                             führen und eine Planung des Angebots zu
führt, wie die erhobenen Daten für die kan-                      erstellen (IFEG, Art. 10). Bisher beschränk-
tonale Angebotsplanung 2020 bis 2022 so-                         ten sich die Bedarfsanalysen auf die Ein-
wie das Projekt «InBeZug», das noch näher                        schätzung von Fachexpertinnen und -ex-
beschrieben wird, genutzt werden.                                perten. Primär entsprach der errechnete Be-

Tabelle 1: Stichprobenstruktur der 251 befragten Personen*

  Merkmal                      Kategorie                                         Anzahl               in Prozent

  Geschlecht                   männlich                                          114                  45
                               weiblich                                          126                  50
                               anderes                                           11                   4

  Alter                        15–20 Jahre                                       43                   17
                               21–35 Jahre                                       49                   20
                               36–50 Jahre                                       56                   22
                               51+ Jahre                                         51                   20
                               keine Angabe                                      52                   21

  Wohnort                      Kanton Zug                                        211                  84
                               anderer Kanton                                    26                   10
                               keine Angabe                                      14                   6

  Behinderungsart              körperliche Behinderung                           56                   22
  (Mehrfachnen-                psychische Behinderung                            88                   35
  nung n > 251)**              kognitive Behinderung                             119                  47
                               Sinnesbehinderung                                 29                   12
                               anderes                                           5                    2
                               keine Behinderung                                 28                   11
                               weiss nicht/keine Angabe                          33                   13

* Rundungsdifferenzen von + / – 1 Prozent bei einem Total von 100 Prozent möglich
** Selbstdeklaration

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                            darf einer Prognose über benötigte Plätze,                            Sprache übersetzt. Die Befragung zeigt
                            um Menschen mit Behinderung in instituti-                             deutlich, dass Menschen mit Behinderung
                            onellen Settings unterzubringen. Der Kan-                             zuallererst nach «Normalität» streben: Sie
                            ton Zug bezieht nun erstmals die Perspekti-                           wünschen sich, ein Leben wie Menschen
                            ve der Nutzerinnen und Nutzer ein und er-                             ohne Behinderung zu führen.
                            kundigt sich im Rahmen der Angebotspla-                                    Unabhängig von der Wohnform äus-
                            nung direkt bei den Leistungs­empfäng­er­-                            sern sich die befragten Personen positiv zur
                            innen und -empfängern über ihre Erwartun-                             bestehenden Wohnform. Insgesamt geben
                            gen und Wünsche.                                                      86 Prozent an, dass sie ganz oder ziemlich
                                 Für die Studie wurden im Frühling und                            zufrieden mit der aktuellen Wohnsituation
                            Sommer 2018 251 Jugendliche (ab 15 Jah-                               sind. Dennoch bedeutet dieses Ergebnis
                            ren) und Erwachsene mit Behinderung zu                                nicht, dass die aktuelle Wohnform der zu-
                            ihrer aktuellen Situation und zu den zukünf-                          künftig gewünschten entspricht. Das Woh-
                            tigen Wünschen in den Bereichen Wohnen                                nen in sozialen Einrichtungen und bei Ange-
                            und Tagesgestaltung (inklusive Arbeit) be-                            hörigen wird für die Zukunft deutlich weni-
                            fragt (für die Stichprobe siehe Tab. 1). Es                           ger gewünscht, während autonome Lebens-
                            wurden standardisierte Fragen mit einem                               formen (alleine, mit Partner oder Par­tnerin,
                            Fragebogen je nach kognitiven Fähigkeiten                             mit eigener Familie, auf einem Bauernhof,
                            entweder schriftlich oder mündlich gestellt.                          seltener in einer privaten Wohngemein-
                            Der Fragebogen wurde auch in Leichte                                  schaft) bevorzugt werden (Abb. 1). Autono-

    40

    35         –19.7

    30
                                                                         + 20.2
    25                                          – 8.5        +4.6
    20

    15
                                                                                           + 5.5            –1.2
    10
                                 – 3.9
     5                                                                                                                                       + 3.4
                                                                                                                             – 0.4
     0
               m

                                 e

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                                                                                                                                             f
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                                                                                                                                           ho
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                                                                                      am

                                                                                                        ch

                                                                                                                        m
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                                                                                 ei
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                                                                                             oh
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                                                                                                                             fe
                                                                             m
                                                            be

                                                                                                            G
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                                                                                                                            au
                                                            Le
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                                                        m

         in Zukunft gewünschte Wohnform                                  Zunahme zur aktuellen Wohnsituation
         Abnahme von der aktuellen Wohnsituation

Abbildung 1: Veränderungsbedürfnisse bei der Wohnform (Mehrfachnennung; Prozentangaben
bzgl. Anzahl Nennungen*)
* Nennungen bereinigt nach der Antwortkategorie «anderes» und «keine Antwort»

                                                                                             Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
I N K L U S I O N I M E R WA C H S E N E N B E R E I C H           9

    40

    35                                               – 7.3

    30                       + 23.8                                              –16.9
    25

    20                                                                                                     + 1.4
                                                                                                                                  –1.0
    15

    10

     5

     0
                             kt

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                                                                                 hn

                                                                                                        ng

                                                                                                                                  g
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                                                                                                                             ld
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                                                                                                 sg
                                            ur

                                                                                                                        /A
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                                                          Ta

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                                                                                   in

             in Zukunft gewünschte Tagesgestaltung                            Zunahme zur aktuellen Tagesgestaltung
             Abnahme von der aktuellen Tagesgestaltung

Abbildung 2: Veränderungsbedürfnisse bei der Tagesstruktur (Mehrfachnennung; Prozentangaben
bzgl. Anzahl Nennungen*)
* Nennungen bereinigt nach der Antwortkategorie «anderes» und «keine Antwort»

me Wohnformen werden als Wunsch für die                          befragten Personen an, dass sie sehr oder
Zukunft mit einer Häufigkeit von 69 Prozent                      ziemlich zufrieden mit der aktuellen Situa-
genannt. Aktuell beziehen sich hingegen                          tion ist (79 Prozent). Bei diesem Thema
nur 36 Prozent der Angaben auf eine solche                       zeigt sich ebenso der Wunsch nach «Nor-
Lebensform. Besonders deutlich zeigt sich                        malität». Viele der befragten Personen
dieser Sachverhalt bei den sozialen Einrich-                     wünschen sich, eine wertschöpfende Ar-
tungen: Diese werden als zukünftig ge-                           beit zu verrichten, die mit einem Lohn ho-
wünschte Wohnform im Vergleich zur heu-                          noriert wird. Dass die Entlohnung für Men-
tigen Situation um beinahe 20 Prozent we-                        schen mit Behinderung eine hohe Bedeu-
niger häufig genannt. Das Ergebnis spricht                       tung hat, zeigt sich wiederholt in Befragun-
für eine stärkere Angebotsdiversifikation:                       gen und drückt sich in einer im Vergleich zu
Neben stationären sollen vermehrt auch                           anderen Themen tendenziell eher niedrige-
ambulante Dienstleistungen geschaffen                            ren Zufriedenheit aus, weil sie als zu gering
und finanziert werden. Dank diesen können                        eingeschätzt wird (Statistisches Amt Kan-
Menschen mit Behinderung, die in be-                             ton Zürich, 2018, S. 4). Als zukünftig ge-
stimmten Lebensbereichen auf Unterstüt-                          wünschte Arbeitsbereiche werden vor al-
zung angewiesen sind, eine eigene Woh-                           lem der erste Arbeitsmarkt und Tagesstruk-
nung beziehen.                                                   turen mit Lohn genannt (Abb. 2). Während
     Auch im Bereich Arbeit und Tagesge-                         aktuell 5 Prozent angeben, auf dem ersten
staltung gibt eine deutliche Mehrheit der                        Arbeitsmarkt tätig zu sein, wünschen es

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               sich 28 Prozent für die Zukunft. Im Ver-                      Nutzerinnen und Nutzer ausrichtet. Das
               gleich zur gegenwärtigen Situation etwas                      Projekt ist auf drei Jahre angelegt und fin-
               weniger häufig wurde ein geschützter Ar-                      det 2019 seinen Abschluss. Im ersten Jahr
               beitsplatz mit Lohn genannt (34 vs. 27                        wurde eine Analyse und Evaluation der na-
               Prozent). Deutlich weniger häufig wurde                       tional und international bestehenden Fi-
               der Bereich Tagesstruktur ohne Lohn ge-                       nanzierungssysteme und der Situation im
               wünscht (29 vs. 12 Prozent). Dies verdeut-                    Kanton Zug durchgeführt. Im zweiten Jahr
               licht, dass viele Personen, die gegenwärtig                   wurden mögliche Lösungen für den Kanton
               einer Beschäftigung in einer Tagesstruktur                    erarbeitet und geprüft. Im dritten Jahr wird
               nachgehen, gerne einen Arbeitsplatz hät-                      das Projekt mit einer ausgearbeiteten Ge-
               ten, bei dem sie für ihre dargebotene Leis-                   setzesvorlage beendet. Entsprechend ar-
               tung eine Entschädigung erhalten.                             beitet das Kantonale Sozialamt aktuell die
                                                                             Vorlage für eine Revision des Gesetzes über
                                                                             soziale Einrichtungen (SEG) des Kantons
Eines der zentralen Anliegen des Projekts                                    Zug aus. Mit dem neuen Gesetz soll unter
«InBeZug» lautet, Menschen mit                                               anderem die Finanzierung von ambulanten
Behinderung Wahlfreiheit beim Wohnen                                         Wohnangeboten festgelegt werden. Eines
zu ermöglichen.                                                              der zentralen Anliegen des Projekts «InBe-
                                                                             Zug» lautet, Menschen mit Behinderung
                                                                             Wahlfreiheit beim Wohnen zu ermöglichen.
               Das Projekt «InBeZug»: ambulant                               Sie sollen selbstständig entscheiden dür-
               vor stationär                                                 fen, ob sie in eine eigene Wohnung oder in
               Der Kanton Zug nimmt die Anliegen der                         eine soziale Einrichtung einziehen möch-
               Nutzerinnen und Nutzer ernst und reagiert                     ten. Für die Bedarfsermittlung plant der
               auf die geäusserten Wünsche und Erwar-                        Kanton die Einführung der personenzent-
               tungen. Im Auftrag der Regierung wurde                        rierten individuellen Hilfeplanung2 (Rohr-
               2017 das Projekt «InBeZug»1 lanciert (Kan-                    mann & Schädler, 2006).
               tonales Sozialamt Zug, 2017), das vom                              Inklusion hat bereits in der Projektpha-
               Kantonalen Sozialamt durchgeführt wird.                       se hohe Bedeutung: Menschen mit Behin-
               «InBeZug» steht für «Individuelle und be-                     derung, soziale Einrichtungen und Organi-
               darfsabhängige Unterstützung für Zugerin-                     sationen aus dem Behindertenbereich wer-
               nen und Zuger mit Behinderung». Anstelle                      den in die Arbeit einbezogen. Dank der Be-
               des bisherigen institutionenbezogenen                         fragung von Menschen mit Behinderung
               Vorgehens soll ein personenzentrierter An-                    konnte zudem empirisch belegt werden,
               satz eingeführt werden. Nach dem Grund-                       dass das Vorgehen des Kantons einer beste-
               satz «ambulant vor stationär» soll das ge-                    henden Nachfrage entspricht. Die Ergebnis-
               genwärtige kantonale Modell mit pauscha-
               len Einrichtungsfinanzierungen durch ein                      2
                                                                                 Die Methode rückt die Ziele und Wünsche der Kli-
               Finanzierungssystem ersetzt werden, das                           entinnen und Klienten in den Mittelpunkt und fo-
               sich am individuellen Angebotsbedarf der                          kussiert auf die Stärken, Fähigkeiten und persön-
                                                                                 lichen Ressourcen. Mittels individuellem Hilfeplan
                                                                                 (IHP) wird der individuelle Unterstützungsbedarf
                                                                                 des Menschen mit Behinderung erfasst, um die
               1   www.zg.ch/inbezug.                                            formulierten Ziele zu verwirklichen.

                                                                          Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
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se der Studie haben aber auch bereits direk-                     Herkunftsfamilie zwischen aktueller Situati-
te Wirkung erzielt: Auf Basis der im gelten-                     on und zukünftigem Wunsch illustrieren,
den Gesetz über soziale Einrichtungen im                         dass die gegenwärtig hohe Zufriedenheit
Grundsatz vorhandenen Finanzierungs-                             nicht zwingend bedeuten muss, dass Men-
möglichkeit für ambulante Lösungen hat                           schen mit Behinderung keine Veränderung
der Regierungsrat für die Angebotsplanung                        wünschen. Das heisst, dass Fragen mit Blick
der Periode 2020 bis 2022 einem Ausbau                           auf die Zukunft gestellt werden müssen, bei
der ambulanten Angebote zugestimmt. Die                          denen diese als ein offenes Feld von poten-
Hälfte der 30 in der kommenden Planungs-                         ziellen Möglichkeiten skizziert wird. Wenn
periode neu zu schaffenden Plätze wird als                       nicht konkret nach Alternativen gefragt
unterstütztes Wohnen in den eigenen vier                         wird, dann erhält man den (in manchen Fäl-
Wänden finanziert (Faessler, 2019). Diese                        len irrtümlichen) Eindruck, dass Personen,
erfreuliche Entwicklung soll mit der vorge-                      die seit Jahren in einer bestimmten Wohn-
sehenen Revision des Gesetzes über soziale                       form leben, bleiben wollen, wo sie sind.
Einrichtungen in Zukunft weiter gefestigt
werden.
                                                                 Wird nicht konkret nach Alternativen
Menschen mit Behinderung                                         gefragt, entsteht der Eindruck,
zur eigenen Zukunftsplanung                                      dass Personen in der Wohnform bleiben
befähigen                                                        wollen, in der sie sind.
Ausschlaggebend für die Befragung war die
Zukunftsgerichtetheit der Fragen. Das Er-
kenntnisinteresse bei den üblichen Zufrie-                       Besonders Menschen mit kognitiven Beein-
denheitsbefragungen in sozialen Einrich-                         trächtigungen wird häufig nicht zugetraut,
tungen fokussiert primär die Entwicklung                         dass sie sich zu ihrer Zukunft und ihren dies-
und Optimierung der institutionellen Be-                         bezüglichen Wünschen zu äussern vermö-
treuungsangebote. In der Regel erzielen                          gen. Menschen mit Behinderung sollten da-
Fragen nach der Zufriedenheit in solchen Er-                     zu befähigt werden, ihre Lebenssituation zu
hebungen hohe Werte. Dieses Ergebnis                             reflektieren und – mit der notwendigen Un-
zeigt sich auch in der hier vorgestellten Stu-                   terstützung – eigene Pläne für die Zukunft
die: Es besteht bei allen Wohnformen eine                        zu schmieden. Erst dank dieser Befähigung
hohe Zufriedenheit. Es lässt sich zudem im                       kann in Erfahrung gebracht werden, welche
Allgemeinen feststellen, dass die Zufrieden-                     Lebensgestaltung ihren eigenen Vorstellun-
heitswerte zunehmen, je länger jemand in                         gen am besten entspricht. Fachpersonen
einer bestimmten Wohnform lebt. Die Dau-                         sollten die Fähigkeit von Menschen mit Be-
er des Aufenthalts spielt vor allem bei den                      hinderung, das eigene Leben zu reflektieren
sozialen Einrichtungen eine wichtige Rolle:                      und zu planen, mit personenzentrierten An-
Personen, die null bis zwei Jahre in einer                       sätzen (Becker, 2014) systematisch fördern.
Einrichtung zuhause sind, sind signifikant                       Viele der befragten Personen haben bereits
weniger zufrieden als Personen, die länger                       bemerkenswert konkrete und auf realisti-
als zwei Jahre in einer solchen Wohnform                         schen (Selbst-)Einschätzungen basierende
leben. Die zuvor besprochenen Abweichun-                         Vorstellungen zu ihren Lebenszielen. Wie
gen bei den Wohnformen Wohnheim und                              sich aus den mündlichen Reaktionen man-

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               cher Personen schliessen lässt, wurden sie                    Literatur
               schlicht noch nie danach gefragt. So hatten                   Becker, H. (2014). Sozialraumorientierung –
               mehrere Befragte Hemmungen zu sagen,                              personenzentriert: Inklusion auch für Men-
               was sie sich wirklich wünschten – etwa,                           schen mit schwersten Behinderungen. Ge-
               weil sie zu wissen glaubten oder vermute-                         sprächspsychotherapie und Personenzent-
               ten, dass ihre Angehörigen die geäusserten                        rierte Beratung, 4, 208–215.
               Wünsche nicht gutheissen würden.                              Bundesgesetz über die Institutionen zur För-
                                                                                 derung der Eingliederung von invaliden
                                                                                 Personen (IFEG) vom 6. Oktober 2006
Der Kanton Zug möchte die Angebote                                               (Stand am 1. Januar 2017), SR 831.26.
systematisch an der Nachfrage                                                Faessler, A. (2019, 29. März). Vorbildliche Pi-

der Nutzerinnen und Nutzer ausrichten.                                           onierarbeit. Zuger Zeitung, 27.
                                                                             Früchtel, F. (o. J.). Theorie und Methodik der
                                                                                 Sozialraumorientierung. Potsdam. insos.
               Periodische Erhebung des Bedarfs                                  ch/assets/Downloads/Artikel-Fruechtel-IN-
               Die durchgeführte Befragung war ein erster                        SOS-Kongress.pdf [Zugriff am 09.10.2019].
               Schritt, der noch von vielen Fragezeichen be-                 Gesetz über die sozialen Einrichtungen im
               gleitet wurde. Es sind bei der Durchführung                       Kanton Zug (SEG) vom 26. August 2010
               der Befragung verschiedene Schwierigkeiten                        (Stand 1. Januar 2011), BGS 861.5.
               und Hindernisse aufgetreten, die auch im                      Kantonales Sozialamt Zug (2017). Projekt In-
               Fachdiskurs regelmässig thematisiert wer-                         BeZug (Projektbeschrieb). Zug. zg.ch/be-
               den. Dies betrifft unter anderem die barrie-                      hoerden/direktion-des-innern/kantona-
               refreie Befragung von Menschen mit schwe-                         les-sozialamt /abteilung-soziale -
               reren Beeinträchtigungen (Schröttle & Horn-                       einrichtungen/8-projekt-inbezug [Zugriff
               berg, 2014, S. 81f.) sowie die Validität der                      am 09.10.2019].
               gegebenen Antworten aufgrund von kom-                         Moisl, D. (2017). Methoden zur Befragung
               munikativen Schwierigkeiten (Moisl, 2017,                         von Menschen mit geistiger Behinderung.
               S. 322). Der Kanton Zug möchte das Verfah-                        Public Health Forum, 25 (4), 321–323.
               ren aber weiter anwenden und aufgrund der                     Rohrmann, A. & Schädler, J. (2006). Individu-
               gewonnenen Erfahrungen kontinuierlich op-                         elle Hilfeplanung und Unterstützungsma-
               timieren, um den Bedarf von Menschen mit                          nagement. In G. Theunissen & K. Schirbort
               Behinderung periodisch erheben zu können                          (Hrsg.), Inklusion von Menschen mit geis-
               und die Angebote systematisch an der Nach-                        tiger Behinderung. Zeitgemässe Wohnfor-
               frage der Nutzerinnen und Nutzer auszurich-                       men – Soziale Netze – Unterstützungsan-
               ten. So will der Kanton einen Beitrag zur                         gebote (S. 230–247). Stuttgart: Kohlham-
               Selbstbestimmung von Menschen mit Behin-                          mer.
               derung und zu einer inklusiven Gesellschaft                   Schröttle, M. & Hornberg, C. (2014). Vorstudie
               leisten.                                                          für eine Repräsentativbefragung zur Teilha-
                                                                                 be von Menschen mit Behinderung(en).
                                                                                 Nürnberg. bmas.de/SharedDocs/Down-
                                                                                 loads/DE/PDF-Publikationen/forschungs-
                                                                                 bericht-vorstudie-repraesentativbefra-
                                                                                 gung-zur-teilhabe-von-menschen-mit-be-

                                                                          Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
I N K L U S I O N I M E R WA C H S E N E N B E R E I C H                     13

    hinderung.pdf?_ _blob=publicationFile
    [Zugriff am 09.10.2019].
                                                                                                Impressum
Statistisches Amt Kanton Zürich (2018). Zu-
                                                                                                Schweizerische Zeitschrift für
    friedenheitsbefragung der betreuten Per-                                                    Heilpädagogik, 26. Jahrgang, 1/ 2020
                                                                                                ISSN 1420-1607
    sonen 2018. Benchmarking der Institutio-
    nen für Menschen mit Behinderung. Zü-                                                       Herausgeber
                                                                                                Stiftung Schweizer Zentrum
    rich: Statistisches Amt Kanton Zürich.                                                      für Heil- und Sonderpädagogik (SZH)
Übereinkommen über die Rechte von Men-                                                          Haus der Kantone
                                                                                                Speichergasse 6, Postfach, CH-3001 Bern
    schen mit Behinderungen (UN-Behinder-                                                       Tel. +41 31 320 16 60, Fax +41 31 320 16 61
    tenrechtskonvention,            UN-BRK),        vom                                         szh@szh.ch, www.szh.ch

    13. Dezember 2006, durch die Schweiz ra-                                                    Redaktion und Herstellung
    tifiziert am 15. April 2014, in Kraft seit                                                  Kontakt: redaktion@szh.ch
                                                                                                Verantwortlich: Romain Lanners
    dem 15. Mai 2014, SR 0.109.                                                                 Redaktion: Silvia Brunner Amoser,
                                                                                                Silvia Schnyder, Daniel Stalder
                                                                                                Rundschau und Dokumentation: Thomas Wetter
                                                                                                Inserate: Remo Lizzi
                                                                                                Layout: Anne-Sophie Fraser

                                                                                                Erscheinungsweise
                                                                                                9 Ausgaben pro Jahr, jeweils in der Monatsmitte

                                                                                                Inserate
                                                                                                inserate@szh.ch
                                                                                                Annahmeschluss: 10. des Vormonats;
                                                                                                Preise: ab CHF 220.– exkl. MwSt.;
                                                                                                Mediadaten unter www.szh.ch ➝ Zeitschrift

                                                                                                Auflage
                                                                                                2247 Exemplare (WEMF / SW-beglaubigt)

                                                                                                Druck
Dr. des. Alan Canonica                                                                          Ediprim AG, Biel
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
                                                                                                Jahresabonnement
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                                                                                                Print-Abo   CHF 79.90
Institut Sozialmanagement, Sozialpolitik
                                                                                                Kombi-Abo CHF 89.90
und Prävention
                                                                                                Einzelausgabe
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6002 Luzern                                                                                     Digital CHF 7.90 (inkl. MwSt.)

alan.canonica@hslu.ch                                                                           Abdruck
                                                                                                erwünscht, bei redaktionellen Bei­trägen
                                                                                                jedoch nur mit ausdrücklicher Genehmigung
                                                                                                der Redaktion.

                                                                                                Hinweise
                                                                                                Der Inhalt der veröffentlichten Beiträge von
                                                                                                Autorinnen und Autoren muss nicht mit
                                                                                                der Auffassung der Redaktion übereinstimmen.

                                                                                                Weitere Informationen erhalten Sie auf
                                                                                                unserer Website www.szh.ch

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
14                      I N K L U S I O N I M E R WA C H S E N E N B E R E I C H

Adelheid Arndt, André Ettl und Jennifer Zuber

Leben wie du und ich im KULTURPARK
Ein Modell zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
in der Schweiz

Zusammenfassung
Im Beitrag wird die Entwicklung vom Assistenzbudget zum Assistenzbeitrag erläutert. Probleme, die sich insbesonde-
re aufgrund der noch nicht definitiv geklärten Finanzierung ergeben, werden angesprochen. Anhand des Modellpro-
jekts «leben wie du und ich im KULTURPARK» wird schliesslich gezeigt, wie es auch Menschen mit schwerer und / oder
komplexer Behinderung möglich ist, selbstbestimmt leben und arbeiten zu können, wie es die UN-BRK vorsieht.

Résumé
La présente contribution décrit l’évolution du budget d’assistance vers la contribution d’assistance. Elle aborde des
problèmes qui découlent notamment du fait que le financement ne soit pas encore clarifié. Elle montre enfin, en s’ap-
puyant sur le projet pilote « leben wie du und ich im KULTURPARK » (Vivre comme toi et moi au KULTURPARK), com-
ment des personnes présentant un handicap lourd et/ou complexe parviennent elles aussi à vivre et à travailler en au-
tonomie, comme le prévoit la CDPH.

Permalink: www.szh-csps.ch/z2020-01-02

                        Was ist Assistenz?                                            Hindernisse für Menschen mit Behinderung
                        Mithilfe von Assistenz können Menschen mit                   zu beheben, sie gegen Diskriminierung zu
                        Behinderung ein selbstbestimmtes Leben in                     schützen und ihre Inklusion und Gleichstel-
                        einer eigenen Wohnung führen. Sie können                    lung in der Gesellschaft zu fördern. Die
                        die Menschen, die ihnen assistieren sollen,                   Schweiz hat sich mit der UN-Behinderten-
                        selbst auswählen und mit einem ihnen direkt                  rechtskonvention zur freien Wahl der Wohn-
                        zugesprochenen Budget bezahlen: Sie selbst                    form verpflichtet.
                        bestimmen, wer ihnen wobei, wann, wo und
                        wie hilft; bei der Arbeit, in der Schule, in der              Assistenzbudget und Assistenz­
                        Pflege, in der Freizeit oder auf Reisen.                      beitrag
                                                                                      In den Jahren von 2006 bis 2012 gab es eine
                        Die gesellschaftspolitische                                   schweizweite Pilotphase zum «Assistenzbud-
                        Ausgangslage                                                  get». Dieses Budget, welches auf einer Selbst-
                        Übereinkommen über die Rechte                                 deklaration und ärztlichen Gutachten basier-
                        von Menschen mit Behinderungen                                te, wurde an Menschen mit einer Behinderung
                        Im Jahr 2014 hat die Schweiz die UN-Behin-                    ausgerichtet, damit diese Personen anstellen
                        dertenrechtskonvention unterzeichnet: das                     konnten, die sie in der Alltagsbewältigung un-
                        erste internationale Übereinkommen für die                  terstützten. Der Schlussbericht des Pilotpro-
                        Rechte von Menschen mit Behinderung. Mit                      jekts fiel positiv aus: «Die Teilstudie zeigt,
                        ihrem Beitritt verpflichtet sich die Schweiz,                 dass der Nutzen des Assistenzbudgets in Form

                                                                                   Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
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einer Verbesserung der Lebensqualität für die                  auch «Pflege und Betreuung zu Hause» – be-
Teilnehmenden hoch ist, insbesondere durch                       teiligen. Diese Leistungen können für Men-
mehr Selbstständigkeit, mehr soziale Kontak-                    schen mit Hilflosigkeit «leichten» Grades bis
te und grösseren finanziellen Handlungsspiel-                   zu 25 000 Franken pro Jahr betragen, für
raum. Vor allem die Gruppe der meist schwer                      Hilflosigkeit «mittelschweren» Grades bis zu
körperlich behinderten Erwachsenen profi-                       60 000 Franken und für Hilflosigkeit «schwe-
tiert stark» (BSV, 2007, Vorwort). Es wird aber                  ren» Grades bis zu 90 000 Franken. Für die
auch ausgeführt, dass insgesamt nur «eine                       Dauer der schweizweiten Pilotphase von
sehr geringe Kostenentlastung» für die Allge-                   2006 bis 2012 war der Zugang zu diesen Gel-
meinheit stattgefunden habe und ein kosten-                      dern gewährleistet. Da in der Pilotphase
neutraler Umbau in Zukunft nicht möglich sei                    auch das IV-Budget höher war, wurden die
(BSV, 2007, Vorwort). Dass der Umbau eines                       subsidiären Leistungen des Kantons jedoch
Sozialsystems mit einem bedeutenden Para-                        nur selten in Anspruch genommen.1
digmenwechsel bis zur Einführung eines neu-                            Die Krankenkasse beteiligt sich am
en Gesetzes nicht kostenneutral sein kann,                       Budget in Form von Grund- und Behand-
scheint offensichtlich. Ausserdem beweisen                       lungspflege, die über Mitarbeitende der Spi-
Studien aus dem Ausland, dass das Leben mit                      tex geleistet werden muss. Die Krankenkas-
Assistenz nicht teurer ist als stationäre Ange-                  senleistungen werden vom IV-Assistenzbei-
bote (zum Beispiel in Schweden, laut der Stu-                    trag abgezogen.
die von Westberg [2010]).                                              Alle drei Kostenträger sind unterschied-
      Daraufhin wurde 2012 mit der 6. IV-Re-                     lich in Bezug auf Abklärungsprozesse, Ab­
vision eine finanziell stark gekürzte Version                   rechnungsmodalitäten und auch Stun­den­
des «Assistenzbudgets» gesetzlich einge­                         ansätze. Daraus ergibt sich ein hoher admi-
führt: der sogenannte «Assistenzbeitrag».                       nistrativer und organisatorischer Aufwand
Der Assistenzbeitrag setzt sich aus vier Leis-                   für Menschen, die mit Assistenz leben.
tungen von drei Kostenträgern zusammen:
      Die Invalidenversicherung (IV) bezahlt
die Hilflosenentschädigung und den Assis-
tenzbeitrag. Dabei ist zu beachten, dass die                     1   In Zürich wurde die Praxis hinsichtlich der Kosten-
Hilflosenentschädigung in Assistenzstun-                            beteiligung nach Einführung des Assistenzbei-
                                                                     trags 2012 und nach einer achtmonatigen Be-
den umgerechnet und vom IV-Assistenz­                                denkzeit völlig unerwartet geändert und man
beitrag abgezogen wird. Dadurch steht für                           lehnte sich nun an die IV-Abklärung an. Dies ist
behinderungsbedingte Mehrkosten wie As-                              jedoch problematisch, weil die IV-Abklärung den
                                                                     Bedarf eines Menschen mit schwerer Behinde-
sistenz beim Reisen oder im Kino kein Bei-
                                                                     rung nicht erfassen kann, da das Instrument nach
trag mehr zur Verfügung. Der Assistenzbei-                          oben gedeckelt ist (es handelt sich neu um einen
trag ist somit gedeckelt, wodurch der ef-                            nach oben begrenzten Assistenzbeitrag). Der
fektive Bedarf von Menschen mit schwerer                             Kanton Zürich gewährt seit 2013 die subsidiären
                                                                     Beiträge nicht mehr. Dagegen wurden von Pro-
Behinderung nicht ermittelt und damit                                jektteilnehmenden Klagen eingereicht. Erste Ur-
nicht erfüllt werden kann.                                           teile vom September 2018 haben ergeben, dass
      Der Kanton oder die Stadt (in Zürich ist                      die rechtliche Grundlage der Verfügungen vom
                                                                     Frühjahr 2016 nicht ausreichend war und das Amt
es das Amt für Zusatzleistungen) sollte sich
                                                                     für Zusatzleistungen eine Neuberechnung ma-
subsidiär an den krankheits- und behinde-                           chen muss. Zum heutigen Zeitpunkt (November
rungsbedingten Kosten – darunter fallen                              2019) liegen noch keine neuen Berechnungen vor.

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                     Ausgerichtet wird der «Assistenzbeitrag»                      Wohnen im Heim – nicht anerkannt und
                     nach einem neuen Abklärungsinstru­ment                       werden nicht finanziert.
                     der IV, genannt FAKT 2, das in allen Lebens-                       Weiter sind die Beiträge der Kantone
                     bereichen nach oben gedeckelt ist. Ausser-                    zur Lebensalternative Assistenz rechtlich
                     dem berücksichtigt es Bereiche wie zum                        noch nicht festgelegt und von Kanton zu
                     Beispiel die Unterstützte Kommunikation                      Kanton unterschiedlich. Das gegenseitige
                     (Dolmetschen), die gesellschaftliche Teilha-                  Zuschieben der Verantwortung von Bund,
                     be, Assistenz bei der Arbeit und vor allem                    Kantonen und Gemeinden wird auf dem
                     die gesamte Organisation und das Manage-                      Rücken der Menschen mit Behinderung aus-
                     ment eines Lebens mit Assistenz kaum oder                     getragen: Der IV-Assistenzbeitrag des Bun-
                     gar nicht.                                                    des ist gedeckelt und die Beiträge der meis-
                          Zum einen kann also so der reale Assis-                  ten Kantone sind nicht geregelt. Dies führt
                     tenzbedarf bei Menschen mit Behinderung                       zu einer gravierenden Unterfinanzierung
                     nicht erfasst und damit nicht erfüllt werden.                 des Assistenzbudgets.
                     Zum anderen werden mit dem Beitrag not-
                     wendige Leistungen nicht finanziert: Denn                     Assistenzbeitrag und Menschen mit
                     Menschen, die mit Persönlicher Assistenz                     schwerer Behinderung
                     leben wollen, werden zu eigentlichen Ge­                      Der hohe Anteil an Menschen mit schwerer
                     schäftsführenden einer kleinen Unterneh-                    Behinderung während der Pilotphase zum
                     mung und stehen damit vor enormen admi-                       Assistenzbudget 2006 bis 2012 macht deut-
                     nistrativen, organisatorischen und mensch-                    lich, dass diese offensichtlich in ihrer Le­
                     lichen Herausforderungen. Unterstützungs­                    bensqualität in einer Institution am meisten
                     leistungen, die sie bei diesen Aufgaben                       eingeschränkt werden und darum ein Leben
                     brauchen, sind bisher – anders als beim                       mit Asssistenz ein grosses Bedürfnis dar-

                                                                                Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
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stellt. Denn aufgrund des Personalschlüssels                    rung die Lebensqualität enorm erhöht (BSV,
fehlt in Institutionen oft die individuelle Be-                  2017, Das Wichtigste in Kürze III).
gleitung ausser Haus für Weiterbildung,
Schule, Sport, Familienbesuche, Freizeit oder                    Das Modellprojekt «leben wie du
Arztbesuche. Auch innerhalb der Institution                      und ich» im KULTURPARK
ist eine individuelle Lebensgestaltung nur                       Der Verein leben wie du und ich wurde im
schwer umsetzbar.                                                Jahr 2012 mit der Intention gegründet,
      Die offiziellen Evaluationen des BASS                      Menschen mit Behinderung, die mit Per­
(Büro für Arbeits- und sozialpolitische Studi-                 sönlicher Assistenz leben wollen, finanziell
en BASS AG) zeigen auf, dass die Anzahl Per-                     und ideell zu unterstützen. Gleichzeitig soll
sonen mit schwerer Behinderung in der An-                        die Thematik so in das Bewusstsein der
fangsphase 2012 noch 50 Prozent betrug,                          Öffentlichkeit gerückt werden.
während es 2018 nur noch 30 Prozent waren.                            Aufgrund der oben beschriebenen
Ein Grund für diese Entwicklung könnte sein,                   Notlage für Menschen mit schwerer Be-
dass der Assistenzbeitrag für Menschen mit                      hinderung hat der Verein leben wie du und
schwerer Behinderung nicht alle notwendi-                        ich ein Modellprojekt aufgegleist, das im
gen Leistungen abdeckt. Gleichzeitig wurde                       Gemeinschaftsprojekt KULTURPARK mit-
im Schlussbericht des Pilotprojekts sehr                         ten in Zürich umgesetzt wird. Mit dem
deutlich, dass ein Assistenzbudget insbeson-                     Projekt soll modellhaft aufgezeigt wer-
dere für Menschen mit schwerer Behinde-                         den, was Menschen mit schwerer Behin-

                                                                                                                                  © NIK SPOERRI

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                     derung brauchen, um mit Assistenz zu le-                          arbeiten gemeinsam, sowohl im Kompe-
                     ben und zu arbeiten.                                              tenzzentrum wie im Arbeitsatelier. Für
                          Folgende Ziele werden mit dem Pilot-                         Menschen mit Behinderung entstehen
                     projekt «leben wie du und ich im KULTUR-                          Arbeitsplätze, die ihren Fähigkeiten und
                     PARK» verfolgt:                                                   ihrer Qualifikation entsprechen.
                     • Aufgrund der zähen Verhandlungen                            •   Durch künstlerische Projekte öffnet sich
                        mit und der rechtlichen Beschwerden                            die Gesellschaft gegenüber den Fähig­
                        gegen die staatlichen Träger (Bund,                           keiten und Ressourcen ihrer Mitglieder
                        Kanton, Gemeinde) setzt sich der Ver-                          mit Behinderung und wird dadurch be-
                        ein für ein bedarfsgerechtes Budget so-                       reichert.
                        wie ein unabhängiges Abklärungsinst-                       •   Auf individueller Ebene wird den Projekt-
                        rument ein.                                                    teilnehmenden durch einen ressourcenori-
                     • Durch das Konzept, den Aufbau und                               entierten Zugang Selbstbestimmung und
                        die mehrjährige Praxis des Mobilen                             Eigenverantwortung ermöglicht.
                        Kompetenzzentrums liefert der Verein                       •   Durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit kennt
                        eine praktische Vorlage für neue, am-                          die Schweizer Bevölkerung das Modell der
                        bulante und individuellere Unterstüt-                          Assistenz und den Gedanken eines inklu-
                        zungsdienste.                                                  siven, selbstbestimmten Lebens.
                     • Menschen mit einer Behinderung ha-                          •   Das Inklusionsprojekt wird schweizweit
                        ben die reale Wahl zwischen den Le-                            wahrgenommen. Das Handbuch und die
                        bensformen Institution und Assistenz.                          öffentliche Tagung geben Anregungen
                        Sie können selbst entscheiden, wo und                         zur Umsetzung ähnlicher Projekte.
                        mit wem sie leben wollen.                                  •   Durch das im Herbst 2019 veröffentlichte
                     • Menschen mit und ohne Behinderung                               E-Handbuch können auch andere Grup­

                                                                                Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
I N K L U S I O N I M E R WA C H S E N E N B E R E I C H   19

    pen von Menschen, wie zum Beispiel Se-                       tenzbudgets begleitet. Denn die Teilneh-
    niorinnen und Senioren, das Projekt                          menden werden beim Leben mit Assistenz
    nachahmen. Die Initiierung weiterer Pro-                     zu Geschäftsführenden eines kleinen Un-
    jekte wird dadurch unterstützt und ver-                     ternehmens mit allen dazugehörigen Auf-
    einfacht.                                                    gaben, wie zum Beispiel der Verwaltung
                                                                 des Gesamtbudgets, Arbeitsplanung, Be-
Das Modell des Pilotprojekts besteht aus                         werbungsverfahren, Verkehr mit Ämtern
drei Teilen: dem Wohnen, dem Mobilen                             oder Lohnbuchhaltung.
Kompetenzzentrum und dem Arbeitsatelier.                               Im Kompetenzzentrum wird zusam-
                                                                 men mit den Menschen mit Behinderung
«leben wie du und ich im                                         der individuelle Assistenzbedarf für diese
KULTURPARK» – das Wohnen                                         Aufgaben eruiert und es werden Unter­
Für Menschen mit einer Behinderung ist es                       stützungs­pakete erstellt, die auf die indivi-
in einer Stadt wie Zürich kaum möglich, be-                    duellen Mö­glich­keiten und Bedürfnisse zu-
zahlbaren Wohnraum zu mieten und so ak-                          geschnitten sind. Das Kompetenzzentrum
tiv am gesellschaftlichen Leben teilzuneh-                       bietet ein gezieltes Unterstützungsangebot
men. In einem Gemeinschaftsprojekt oder                          in den Bereichen Management, Adminis­
einer Genossenschaft kann Inklusion von                          tration, Be­ratung, Supervision und Kon-
Menschen mit Behinderung besser gelin-                           fliktmanagement.
gen, da von Beginn an eine grössere Offen-                             Im Kompetenzzentrum sind fünf Per-
heit als in einem «normalen» Mietshaus                           sonen in Teilzeit angestellt, zwei davon mit
oder einer «normalen» Überbauung da ist.                         einer Behinderung. Diese Peer-to-Peer-Be-
Der Kulturpark mitten in Zürich bietet «ei-                     ratung wird sehr geschätzt.
nen interkulturellen, vernetzten, urbanen
Lebensraum, wo Arbeiten und Wohnen, Bil-
dung und Kultur zusammenfinden» (www.                            In einem Gemeinschaftsprojekt kann
kulturpark.ch).                                                  Inklusion besser gelingen, da von Beginn
      Am 1. Oktober 2015 haben mit Unter­                        an eine grössere Offenheit als in
stützung des Vereins fünf Menschen mit                         einem «normalen» Mietshaus da ist.
Behinderung zwischen 27 und 40 Jahren
ihre ersten eigenen Wohnungen im Kultur-
park bezogen. Sie leben zusammen mit                             «leben wie du und ich im
drei Menschen ohne Behinderung über den                         KULTURPARK» – das Arbeitsatelier
Wohnkomplex verteilt in ihrer selbst ge­                         Menschen mit komplexer Behinderung fal-
wählten Wohnform – als Paar, als Single                         len sozusagen zwischen Stuhl und Bank:
oder in einer WG.                                                Sie haben zum Beispiel sehr schwere Kör-
                                                                 per- und Sprachbehinderungen, jedoch
«leben wie du und ich im                                         keine kognitive Beeinträchtigung. Unter
KULTURPARK» – das Mobile                                         diesen Voraussetzungen werden sie weder
Kompetenz­zentrum                                                in Werkstätten für Menschen mit Körper-
Alle Projektteilnehmenden werden vom                             behinderung aufgenommen, noch finden
Verein bei der komplexen und äusserst                           sie in Tagesstrukturen für Menschen mit
bürokratischen Beschaffung ihres Assis-                         kognitiver Beeinträchtigung eine ihren Fä-

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 1 / 2020
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