Das Gespräch unter Kolleginnen und Kollegen - Eine Praxishilfe für die Suchtarbeit im Betrieb - Deutsche ...

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Das Gespräch unter Kolleginnen und Kollegen - Eine Praxishilfe für die Suchtarbeit im Betrieb - Deutsche ...
Das Gespräch unter
Kolleginnen und Kollegen
Eine Praxishilfe für
die Suchtarbeit im Betrieb
Frauen und Männer sollen sich von unseren Veröffentlichungen gleichermaßen
angesprochen fühlen. In Texten der DHS werden die weibliche und die männliche
Sprachform verwendet. Zugunsten besserer Lesbarkeit kann abweichend nur
eine Sprachform verwendet werden.
Wir danken für Ihr Verständnis.
Das Gespräch unter
Kolleginnen und Kollegen
Eine Praxishilfe für
die Suchtarbeit im Betrieb

                             1
Inhalt

    Einführung                                                         4

1   Gute Gründe, tätig zu werden                                       8

    Miteinander, nicht übereinander sprechen                          10

    Risiken des Gesprächs                                             10

2   Mitbetroffenheit von Kolleginnen und Kollegen                     14

    Die Bedeutung früher Ansprache                                    15

3   Wie könnte Hilfe für auffällige Beschäftigte aussehen?            18

    Hilfe im frühen Stadium (Beeinträchtigung von Befindlichkeiten)   19

    Hilfe, wenn Befindensstörungen auftreten                          20

    Hilfe bei Funktionseinschränkungen und Funktionsstörungen         22

4   Das kollegiale Gespräch mit Betroffenen                           26

    Grundlegende Hinweise zur Kommunikation                           27

    Das kollegiale Gespräch vorbereiten und gestalten                 31

    Ziele für das Gespräch formulieren                                32

    Realistische Gesprächsziele setzen                                33

    Mögliche Einstiegssätze für das kollegiale Gespräch               35

    Zusammenfassung                                                   37

5   Mögliche Reaktionen der Betroffenen                               40

    Der schematische Ablauf eines Veränderungsprozesses               42

    Der Veränderungsprozess bei einer Suchtproblematik                43

    Zusammenfassung                                                   45

2
6   Die Dynamik im Team                                                      48

7   Gibt es eine Verpflichtung zu handeln?                                   52

    „Aktiv werden“ ist gut und richtig                                       52

    Fürsorgepflicht                                                          54

    Verantwortliche im Betrieb                                               54

8   Günstige Strukturen im Betrieb                                           56

9   Interne und externe Anlaufstellen                                        60

    Anhang                                                                   64

    Auffälligkeiten belasteter Beschäftigter                                 64

    Auffälligkeiten bei möglichem riskantem oder schädlichem Alkoholkonsum   65

    Auffälligkeiten bei möglichem Medikamentenmissbrauch                     67

    Gesprächsmöglichkeiten der Führungskraft bei Auffälligkeiten             68

    Literatur                                                                70

    Information, Rat & Hilfe                                                 73

    Die DHS                                                                  77

    Die BZgA                                                                 78

    Impressum                                                                80

                                                                              3
Einführung

Unternehmen sind im Rahmen der ge-             auffälligen Beschäftigten. Ziel des Textes
setzlichen Vorgaben und einer modernen         ist es, Unterstützung für die Kontaktauf-
Personalpolitik dazu angehalten, sich um       nahme zu auffälligen Beschäftigten und
die Suchtprävention bei den Mitarbeite-        die Gespräche mit ihnen zu geben.
rinnen oder Mitarbeitern zu kümmern.
In größeren Unternehmen ist die Sucht-
                                               Noch immer ist Alkohol der größte The-
hilfe im Bereich der Gesundheitsförde-
                                               menbereich der substanzbedingten Stö-
rung und Sozialförderung angesiedelt. Die
                                               rungen. Doch daneben spielt auch der
„Qualitätsstandards in der betrieblichen
                                               Missbrauch von Medikamenten und ille-
Suchtprävention und Suchthilfe der Deut-
                                               galen Drogen (Cannabis, Ecstasy, Kokain,
schen Hauptstelle für Suchtfragen“, die im
                                               Methamphetamin, Amphetamine) je nach
Internet kostenlos zur Verfügung stehen,
                                               Branche eine bedeutende Rolle. Substanz-
dienen als Leitfaden zur Einrichtung eines
                                               unabhängige Störungen wie pathologi-
wirksamen betrieblichen Suchtberatungs-
                                               sches Glücksspiel können sich ebenfalls
systems. In diesen Standards steckt die
                                               negativ auf die Arbeitsleistung und das
Aufforderung zur frühzeitigen Intervention
                                               Betriebsklima auswirken. Grundsätzlich
bei ersten Auffälligkeiten am Arbeitsplatz.
                                               gelten die Informationen dieser Broschü-
Um dieser Anforderung gerecht werden
                                               re für alle substanzbedingten Störungen.
zu können, orientiert sich die vorliegende
                                               Die Beispiele sind aufgrund der Häufig-
Broschüre an den genannten Qualitäts-
                                               keit vor allem für den Konsum von Alkohol
standards und bietet praktische Hilfe für
                                               gewählt. Wenn Sie sich zu den Wirkwei-
nebenamtliche und hauptamtliche be-
                                               sen und Risiken der anderen Substanzen
triebliche Ansprechpartnerinnen und An-
                                               weiter informieren möchten, so empfehlen
sprechpartner, interne und externe Fach-
                                               wir Ihnen die Faltblatt-Reihe „Die Sucht
kräfte der betrieblichen Suchtprävention
                                               und ihre Stoffe“ der Deutschen Hauptstel-
und Suchthilfe, Interessenvertretungen in
                                               le für Suchtfragen (siehe Anhang, Litera-
Verwaltungen und Betrieben und für
                                               tur, S. 70).
Multiplikatoren im Bereich „substanzbe-
dingt Störungen am Arbeitsplatz“ („Sub-
stanzbedingt“ oder im weiteren Verlauf         Der Aufbau der Broschüre führt vorbei an
„Substanzkonsum“ bezieht sich auf:             allen relevanten Themen und Fragen, die
Alkohol, psychisch wirksame Medikamente        Sie als Kollege oder Kollegin eines in ir-
und illegale Substanzen wie Cannabis,          gendeiner Weise auffälligen Beschäftigten
Ecstasy, Kokain und Methamphetamin).           betreffen. Daher wird zu Beginn die Hilfe
Sie ist auch gedacht als vertiefende Lektüre   für Betroffene bei „ersten Auffälligkeiten“
für Kolleginnen und Kollegen von               dargestellt und setzt sich fort mit der In-

4
tervention bei „substanzbedingten              Verfahren im Umgang mit substanz-
Auffälligkeiten“. Diese feine Unterscheidung   bedingt auffälligen Beschäftigten? Sind die
öffnet die Möglichkeit, bereits dort mit       Vorgehensweisen bekannt? Ein Konzept,
Hilfeangeboten einzusteigen, wo sich erste     das den Beschäftigten geläufig ist und ak-
Veränderungen über einen längeren              tiv im Unternehmen gelebt wird, erleich-
Zeitraum mit unklarem Hintergrund              tert den Kolleginnen oder den Kollegen
zeigen.                                        den Umgang mit betroffenen Personen.
                                               Im Anhang finden sich nützliche Infor-
                                               mationen zu den nach außen sichtbaren
Die Einflussmöglichkeiten des kollegialen
                                               Auffälligkeiten betroffener Personen, Ge-
Umfeldes werden aufgezeigt und sollen
                                               sprächsmöglichkeiten für Führungskräfte
Mut machen für das Gespräch mit Auffäl-
                                               und weiterführende Adressen, Links und
ligen. Konkrete Tipps und Gesprächsein-
                                               Literaturempfehlungen.
stiege sowie mögliche Reaktionen der
Angesprochenen unterstützen einzelne
oder mehrere Personen aus dem Team,            Sollte Ihnen diese Broschüre gefallen,
die sich einbringen möchten.                   dann empfehlen Sie sie bitte weiter. Wenn
In Kapitel 7 (Gibt es eine Verpflichtung zu    Sie Anregungen zur Verbesserung haben,
handeln? S. 52) werden die Verantwort-         dann freuen wir uns über Ihre Rückmel-
lichkeiten behandelt: Wer ist verpflichtet     dung.
zur Intervention und wer übernimmt frei-
willig Verantwortung? Vorab sei erwähnt,
dass es für Kollegen keine rechtliche
Verpflichtung gibt, das Gespräch mit dem
auffälligen Kollegen zu suchen. Diese
Form der Intervention zielt auf freiwilliger
Basis auf den frühzeitigen persönlichen
Kontakt, um die Verschlechterung des
Zustandes zu vermeiden. Vorgesetzte bzw.
der Arbeitgeber hingegen sind, wenn die
Arbeitsleistung nachlässt bzw. aufgrund
ihrer Fürsorgepflicht dazu verpflichtet, an-
gemessene Maßnahmen zu ergreifen. Am
Ende der Ausführungen richtet sich der
Blick auf die Strukturen im Betrieb. Gibt
es im Unternehmen ein abgestimmtes

                                                                                        5
1
7
1. Gute Gründe, tätig zu werden

Wenn Kolleginnen und Kollegen etwas          Kollegen zutreffend ist, setzt das in aller
„Auffälliges“ zu bemerken glauben, stellt    Regel den Betroffenen unter Druck, das
sich für sie immer die Frage, wie am bes-    eigene Verhalten jetzt stärker kaschie-
ten damit umgegangen werden soll. Die        ren zu müssen. Dieser Prozess kann die
Bezeichnung „auffällig“ wirkt vielleicht     betroffene Person veranlassen, über eine
schwammig, aber die Erfahrung zeigt,         Veränderung nachzudenken. Die authen-
dass das Verhalten der Person in deren       tisch vorgetragene Sorge z. B. durch eine
Umfeld tatsächlich „auffällt“. Manche        gute Kollegin kann im frühen Stadium ei-
Situationen werden gemieden, andere          nes negativen Entwicklungsprozesses die
gesucht. Reaktionen oder das Verhalten       betroffene Person berühren und „wach-
sind verändert und dadurch im Kontext        rütteln“.
mit dem bisherigen Umgang auffallend         Die Chance, frühzeitige Veränderungen
anders. Das Verantwortungsgefühl für         wahrzunehmen, haben Kolleginnen und
die betroffene Kollegin oder den betroffe-   Kollegen, die im engen Kontakt sind. Sie
nen Kollegen ist unter anderem abhän-        merken als Erste, wenn sich der/die Be-
gig vom persönlichen Verhältnis, von der     troffene zurückzieht, kleine Fehler macht,
Teamdynamik, von der Hierarchie, dem         unter Stimmungsschwankungen leidet,
Betriebsklima und nicht zuletzt von der      auf andere im Team oder auf Kunden ge-
eigenen Courage. Es ist wichtig, hervor-     reizt reagiert, auf dem Weg ist, das Inter-
zuheben, dass Gespräche von Einzelper-       esse an der Arbeit zu verlieren, oder sich
sonen mit dem betroffenen Mitarbeiter        dauerhaft über die Arbeit und/oder über
Veränderungsprozesse in Gang setzen          die Führung beschwert. Die ersten Anzei-
können. Nicht selten bewirkt die Rückmel-    chen einer „inneren Kündigung“ zeigen
dung einer Person aus dem nahen Umfeld       sich in der täglichen Begegnung.
eine erhöhte Achtsamkeit. Der Mitarbei-      In der darauffolgenden frühen Interven-
ter bekommt vielleicht zum ersten Mal die    tion ist ein Gespräch im gegenseitigen
Rückmeldung, dass das eigene Verhalten       Verständnis möglich, denn es handelt sich
als „auffällig“ wahrgenommen wird und        noch nicht um eine Person, die durch eine
der bisherige Schutz im Team wegfal-         lange „Suchtkarriere“ erfolgreiche Strate-
len könnte. Wenn die Beurteilung der         gien der Abwehr entwickelt hat.

8
Wie wenig Alkohol ist risikoarm, wie viel ist riskant?
Risikoarm und riskant bezieht sich in diesem Zusammenhang immer auf das gesund-
heitliche Risiko, nicht auf die Wahrscheinlichkeit, alkoholabhängig zu werden. Ab welcher
Menge eine Abhängigkeitserkrankung eintreten wird, kann nicht pauschal gesagt werden
und ist individuell sehr verschieden. Für gesunde Menschen mittleren Alters wurden je-
doch Grenzwerte festgesetzt, unterhalb deren der Konsum von Alkohol sehr wahrschein-
lich nicht mit negativen Folgen für die Gesundheit verbunden ist.
Diese Grenzen sind
– für Frauen täglich höchstens ein Standardglas. Diese Menge enthält ungefähr 10
  Gramm reinen Alkohol (etwa 0,25 l Bier oder 0,1 l Wein);
– für Männer täglich nicht mehr als zwei kleine Gläser Alkohol. Diese Menge entspricht
  dem Wert von etwa 20 Gramm reinen Alkohol pro Tag.

Verschiedene Gläser alkoholischer Getränke
und ihr Alkoholgehalt in Gramm:

      Bier              Wein              Sherry             Likör           Whisky
      0,3 l             0,2 l             0,1 l              0,02 l          0,02 l
      13 g              16 g              16 g               5g              7g

Riskanter Alkoholkonsum findet statt:
·	wenn über die körperlich verträgliche Grenze von 12 g Reinalkohol für Frauen und
   24 g Reinalkohol für Männer pro Tag hinaus konsumiert wird
· bei Veränderungen der psychischen und/oder physischen Funktionen
· bei Konsum zu unpassenden Gelegenheiten, z. B. im Straßenverkehr, bei der Arbeit
· bei täglichem Konsum
· bei gezieltem Trinken zum Abbau von Spannungen, Ängsten und Stress
Bei regelmäßigen Überschreitungen der genannten risikoarmen Alkoholmengen werden
nach heutiger medizinischer Sicht gesundheitliche Risiken angenommen (Übergewicht,
Bluthochdruck, Herzmuskelerkrankungen, Gastritis (Entzündung der Magenschleimhaut),
Pankreatitis (Entzündung der Bauchspeicheldrüse), Impotenz, Krebserkrankungen des
Verdauungstraktes (Mundhöhle, Rachenraum, Speiseröhre und Enddarm) sowie der Leber
der weiblichen Brustdrüse, Schädigung des Gehirns mit den Auffälligkeiten Konzentra-
tions- und Gedächtnisstörungen bis hin zur Intelligenzminderung, Fettleber, Leberzirrhose).

                                                                                          9
Miteinander, nicht übereinander sprechen      Ein wichtiger Grund für ein Einschreiten
Menschen mit Suchtproblemen, die im           mit dem Ziel, einen Veränderungsprozess
Nachhinein noch einmal reflektieren, wie      in Gang zu setzen, ist die Weiterentwick-
lange sie sich selber und andere täuschen     lung des Teams. Wenn es durch kollegiale
konnten, bedauern häufig, dass damals         Interventionen gelingt, ein Teammitglied
zwar „über sie“, aber „nicht mit ihnen“ ge-   durch eine Krise zu begleiten und eine po-
sprochen wurde. Ehemals Betroffene for-       sitive Entwicklung herbeizuführen, dann
dern die frühzeitige Ansprache der Auffäl-    stärkt das den Zusammenhalt im Team.
ligkeiten durch Kolleginnen oder Kollegen.    Teams, die sich in der Bewältigung einer
Sie betonen, dass Rückmeldungen aus           Krise bewährt haben, entwickeln Stolz und
dem Team eine große Bedeutung gehabt          Selbstbewusstsein.
hätten. Gleichzeitig gestehen sie ein, dass
nicht sicher ist, dass sie im Moment der      Risiken des Gesprächs
Ansprache dankbar gewesen wären oder          Die frühe Ansprache birgt auch Risiken.
gar einsichtig reagiert hätten (vergleiche    Da ist die Gefahr, die Situation falsch ein-
S. 15).                                       zuschätzen und den Betroffenen fälsch-
                                              licherweise zu „verdächtigen“. Andere
Eine andere Motivation, das Gespräch zu       Teammitglieder erleben das Verhalten
suchen, wäre die Belastung, die durch die     möglicherweise anders und/oder kommen
zu leistende Mehrarbeit entstanden ist.       zu einer anderen Bewertung. Sie sehen
Die Kolleginnen und Kollegen, die län-        unter Umständen keine Dringlichkeit für
gerfristig darunter leiden, werden in der     eine Rückmeldung. Im schlechtesten Fall
Regel durch ihr Verhalten (den Kontakt        wird es erst zu einer gemeinsamen Stra-
meiden, Fehler der Betroffenen zuordnen,      tegie des Vorgehens kommen, wenn es
sich über sie lustig machen etc.) ihre zu-    keine Zweifel mehr gibt, dass der Mitar-
nehmende Ablehnung zeigen. Genau diese        beiter ein Problem hat und ein Einschrei-
Überlastungssituation in Zusammenhang         ten richtig ist. Dann handelt es sich jedoch
mit dem subjektiv empfundenen Grund           nicht mehr um frühzeitige, sondern um
anzusprechen, wäre eine Chance für die        späte Intervention. Die gesprächsbereite
betroffene Person, etwas zu verändern.        Person gerät daher möglicherweise in ein
Ohne Rückmeldung hat sie nur ihre eigene      Spannungsfeld: Ein Kollege sieht bereits
Interpretation des Geschehens.                ein ernstes Problem, aber andere im Team
                                              werten das Verhalten noch als „normal“
                                              und raten zum Abwarten. Da dem ge-
                                              sprächsbereiten Teammitglied die Ak-
                                              zeptanz seines Handelns durch das Team
                                              auch wichtig ist, gerät es eventuell in ein
                                              Dilemma.

10
Sich für „Nichtstun und Abwarten“ zu entscheiden, kann verstärkt werden
durch weitere Argumente wie:
·	Ich möchte der betroffenen Person nicht zusätzliche Schwierigkeiten machen, es
    geht ihr schon so schlecht und meine Rückmeldungen könnten den Zustand eher
    verschlechtern.
·	Ich möchte kein Denunziant sein. Wenn ich das Problem sichtbar werden lasse,
   dann trage ich die Schuld, wenn es von Seiten des Arbeitgebers zu Sanktionen
   kommt.
·	Ich habe Sorge, dass andere im Team mich als Nestbeschmutzer sehen.
·	Ich würde eigentlich gerne, aber ich weiß nicht, wie ich es anfangen soll. Mich
   treibt auch die Angst vor der Reaktion der betroffenen Person um.
·	Eigentlich geht mich das Ganze nichts an; jeder ist seines eigenen Glückes
   Schmied!
·	…

Dem entgegen stehen folgende Argumente:
·	Das Aufdecken und nicht mehr Vertuschen von Fehlern und damit das Problem sicht-
   bar werden lassen könnte Hilfe für Betroffene sein.
·	Menschen mit Suchtproblemen begehen letztendlich einen „Suizid auf Raten“. Nicht
   der Kollege mit seiner Rückmeldung schadet ihnen, sondern die Betroffenen verstär-
   ken ihr Leiden selbst.
·	Verantwortung zu übernehmen, bedeutet auch schon mal, „gegen den Strom zu
   schwimmen“. Verantwortung übernehmen heißt, Mut zu haben.

Es handelt sich hier um einen Ambiva-
lenz-Konflikt: Gründe für und gegen das
Handeln halten sich mehr oder weniger
die Waage. Interne betriebliche Mitarbei-
terberatung, die auch von Kolleginnen
oder Kollegen der auffälligen Person in
Anspruch genommen werden kann, wäre
eine fachliche Unterstützung bei der Auf-
lösung dieser Ambivalenz.

                                                                                     11
2
13
2. Mitbetroffenheit von Kolleginnen und Kollegen

Der Mensch ist als soziales Wesen und          Diese Bezeichnung ist aus mehreren
eingebunden in eine Gesellschaft immer         Gründen nicht hilfreich und sollte nicht
beeinflusst von den Geschehnissen, die         verwendet werden. Zum einen sind die
um ihn herum passieren. Suchtkranke, die       Kollegen und Kolleginnen selbst nicht
ihre Abhängigkeit bearbeitet haben, be-        abhängigkeitserkrankt und auch nicht
richten jedoch im Nachhinein, dass ihnen       verantwortlich für die Situation des Be-
der Konsum ihres Suchtmittels wichtiger        troffenen, wie es der Begriff „Co-Abhän-
war als Beziehungen und gute Arbeits-          gigkeit“ impliziert. Zum anderen wird die
leistungen. Das Suchtmittel bestimmte ihr      Bezeichnung gelegentlich als Vorwurf und
Leben, auch am Arbeitsplatz. Mit zuneh-        Stigmatisierung verwendet, so dass die
mendem Konsum und Abhängigkeitspro-            Hilfe anbietenden Kollegen in die Rolle von
zess entwickelte sich ein Konsummuster,        Beschuldigten rutschen und aufgrund des
das das gesamte Verhalten bestimmte.           Drucks aus dem Umfeld ihr unterstützen-
Mit nachlassender Suchtmittelwirkung           des Verhalten einstellen. Deshalb forderte
veränderte sich die Stimmung, ließ die Ar-     die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen
beitsleistung nach. Diesem suchtmittelbe-      in ihrem Memorandum 2013, „Angehöri-
stimmten Verhalten sind in Arbeitsprozes-      ge in der Sucht-Selbsthilfe“, den Begriff
sen in starkem Maße die Kolleginnen und        „Mitbetroffenheit“ zu verwenden. Mitbe-
Kollegen unterworfen. Sie sind vom Sucht-      troffen sind am Arbeitsplatz die Kollegin-
problem mitbetroffen. Sie erleben ihren        nen und Kollegen. Sie sind diejenigen, die
Arbeitsalltag zusätzlich belastet, z. B.       durch die direkte Interaktion mit dem Be-
durch Zusatzarbeit oder dadurch, Fehler        troffenen unter den Auswirkungen seines
korrigieren oder den Betroffenen decken        Verhaltens leiden. Dieses Verhalten gilt
zu müssen. Sie erfahren Kränkungen und         es anzusprechen. Doch welches Teammit-
Zurückweisungen und oft gleichzeitig das       glied möchte sich schon als „co-abhängig“
Gefühl, gebraucht zu werden und hilfreich      definieren lassen, weil es sich vermeint-
sein zu können.                                lich kollegial gegenüber einer auffälligen
Im Arbeitsfeld „Gesundheitsförderung am        Person verhält? Wer lässt sich gerne in
Arbeitsplatz“ hat sich – nicht zuletzt durch   die Rolle des Denunzianten bringen und
Fachpublikationen aufgegriffen – die Zu-       gleichzeitig noch abwerten für das eigene
schreibung „Co-Abhängigkeit“ festgesetzt,      vermeintlich fehlerhafte Verhalten? Da
um das Beziehungsgeflecht zwischen             scheint es sich eher anzubieten, bewusst
einem Suchtkranken und seinem Umfeld           „nichts“ wahrzunehmen und zu schwei-
auszudrücken.                                  gen. Vorsichtig lässt sich postulieren, dass
                                               die Etikettierung mit diesen Begriffen dem
                                               „Zuschauen, Abwarten und Nichtstun“ so-
                                               gar Vorschub leistet!

14
Die Bedeutung früher Ansprache
Eine Grundaussage der „Qualitätsstan-        Ähnliches gilt für den Begriff „konstruk-
dards in der betrieblichen Suchtprävention   tiver Druck“, der sich tatsächlich als we-
und Suchthilfe der Deutschen Haupt-          nig konstruktiv erwiesen hat. Wer sieht
stelle für Suchtfragen“, (Wienemann,         „Druck ausüben“ als geeignetes Mittel im
Schumann, 2011) zur frühzeitigen An-         Umgang mit einem Kollegen an? Lösungs-
sprache zeigt ein anderes Verständnis        orientierter und tatsächlich konstruktiv ist
von Intervention: Danach könnte es sogar     ein konsequentes Verhalten in Arbeitsbe-
„lebensrettend“ sein, wenn ein Mitarbeiter   ziehungen und -prozessen. Der betroffene
/ eine Mitarbeiterin in eine Krise rutscht   Arbeitskollege / die betroffene Arbeitskol-
und der Kollege/die Kollegin deren Arbeit    legin ist für seine/ihre Arbeitsleistung und
zum Teil mit übernimmt, ein offenes Ohr      Gesundheit selbst verantwortlich. Kolle-
leiht für den privaten Kummer und ihn/       gen und Kolleginnen können helfen, die
sie abschirmt vor kritischen Blicken Drit-   Funktionen und Aufgaben am Arbeitsplatz
ter. Als frühe Intervention ist das durch-   transparent zu halten. Es ist nicht ihre
aus wünschenswert (vergleiche Seite 10).     Aufgabe, die Verantwortung für betroffene
Erst wenn damit keine Besserung erfolgt,     Arbeitskollegen und -kolleginnen zu über-
bietet sich die Frage an: „Macht es Sinn,    nehmen.
immer mehr von der gleichen Form der
Unterstützung anzubieten? Muss ich als
Kollegin eventuell umdenken und nach
anderen Möglichkeiten der Hilfe suchen?“
Kolleginnen und Kollegen reagieren dann
aufgeschlossen, wenn ihr bisheriges Han-
deln wertgeschätzt wird. Sie lassen sich
im Weiteren auf die Frage ein: „Wie hilf-
reich war dein Handeln bislang? Macht es
Sinn, über alternatives Handeln nachzu-
denken? Wie soll es jetzt weitergehen?“
Die Verhaltensänderung im Umgang mit
der betroffenen Person formuliert sie/er
selber. Und diese eigene Entscheidung ist
so wichtig, weil sie für die Kollegen auch
lebbar sein muss. Eine aufgezwungene
Verhaltensänderung hat dagegen kaum
eine Chance.

                                                                                      15
3
17
3. Wie könnte Hilfe für auffällige Beschäftigte aussehen?

In welcher Form und in welchem Umfang         Mögliche Entwicklungsschritte zwischen
Hilfe angeboten werden kann und sollte,       „gesund“ und „krank“ sehen folgender-
ist von verschiedenen Faktoren abhängig.      maßen aus:
Ein wichtiger Aspekt ist die Frage, ob es         Gesundheit im Sinne von Wohlbefinden
sich um eine beginnende Beeinträchti-             ·	Zufriedenheit
gung handelt oder ob die Problemsituati-          ·	Stabilität
on sich schon manifestiert hat. Inwieweit
                                                  Befindlichkeiten als frühzeitige
die Hilfe vom Betroffenen angenommen
                                                  Beeinträchtigung
wird, ist abhängig von der Bereitschaft der
                                                  ·	Unwohlsein
betroffenen Person, eine andere Wahr-
                                                  ·	Gereiztheit und Frust
nehmung (Fremdwahrnehmung) als die
                                                  ·	Erhöhter Konsum von Alkohol,
eigene (Selbstwahrnehmung) zuzulassen.
                                                     Zigaretten …
Auch der Charakter und Vorerfahrun-
gen mit „Kritik“ an der eigenen Person            Befindensstörung
                                                  ·	Dauerstress

3
spielen eine Rolle. Menschen sind nicht
heute noch gesund und morgen plötzlich            ·	Erschöpfungszustände
krank. Zwischen diesen beiden Polen gibt          ·	Anfälligkeit für Infekte
es verschiedene Entwicklungsschritte, die         ·	Verspannungen, Kopfschmerz
je nach Substanz, körperlicher und see-           ·	Konsum von Substanzen zur
lischer Konstitution und Konsummenge                 Stressbewältigung
unterschiedlich lange dauern (von Wochen          Funktionseinschränkungen
oder Monaten bis zu Jahren) und in denen          ·	Rücken-, Herz-, Kreislaufbeschwerden
der Betroffene unterschiedlich zugänglich         ·	Psychosomatische Beschwerden
für Hilfeangebote ist.                            ·	Innere Kündigung
                                                  ·	Riskanter Konsum von Substanzen
                                                  Funktionsstörung im Sinne von Krankheit
                                                  ·	Angsterkrankungen, Abhängig-
                                                     keitserkrankungen
                                                  ·	Burnout, Depression
                                                  ·	Muskel-Skelett-, Rücken-
                                                     erkrankungen
                                                  ·	Herz-Kreislauf-Erkrankungen,
                                                     Magen-Darm-Erkrankungen
                                                  ·	Schädlicher Substanzkonsum

                                              Elisabeth Wienemann: Moderne Suchtarbeit – Neue
                                              Entwicklungen und Herausforderungen in der betriebli-
                                              chen Suchthilfe, 53. Fachkonferenz der DHS „Sucht und
                                              Arbeit“, Essen 2013

18
Hilfe im frühen Stadium (Beeinträchti-
                                                gung von Befindlichkeiten)
                                                Befindlichkeitsstörungen treten in einem
                                                frühen Stadium individuell unterschied-
                                                lich auf. Hier könnte es noch hilfreich
Im Sinne der „Qualitätsstandards in der         sein, der Kollegin / dem Kollegen „das
betrieblichen Suchtprävention und Sucht-        Ohr zu leihen“, dabei Empathie zu zeigen
hilfe“ geht es am Arbeitsplatz um eine          und – wenn möglich – Entlastung oder
frühzeitige Intervention. Folgt man der         Vorschläge zum Erreichen von Entlastung
oben genannten schematischen Dar-               anzubieten. Der positive Einfluss von Un-
stellung, dann wird deutlich, dass ers-         terstützung im kollegialen Umfeld ist nicht
te Auffälligkeiten im engen kollegialen         zu unterschätzen. Schließlich verbringt
Kontakt schon im Stadium der „Befind-           man an der Arbeitsstätte häufig viel Zeit
lichkeiten“ erlebt werden können. Hier          miteinander und steht auch betriebliche
sind die Kolleginnen und Kollegen den           Schwierigkeiten (z. B. komplizierte Projek-
Stimmungsschwankungen ausgesetzt. Es            te, Schwierigkeiten mit Kollegen, betrieb-
wird vielleicht sogar der riskante Konsum       liche Veränderungen und vieles mehr)
von Alkohol oder Schlafmitteln oder ein         miteinander durch. In eine Krisensituation
unübersehbarer Tabakkonsum von der              geraten Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
betroffenen Person selber thematisiert          ter mehr als einmal in ihrem Berufsle-
mit der Begründung, dass es zurzeit nicht       ben. Da ist es wichtig, zu wissen, dass ein
anders auszuhalten sei. Hier tritt die Frus-    Team hilfreich zur Seite steht. Sofern die
tration vielleicht offen zutage und im Team     betroffene Person von riskantem Alkohol-,
bekommt es jemand zu hören, der völlig          Medikamenten- oder Tabakkonsum oder
unbeteiligt ist. Vielleicht wird die Gereizt-   Ähnlichem berichtet, kann die hilfsbereite
heit nach außen getragen, vielleicht richtet    Person ihre eigene Einschätzung vorbrin-
die betroffene Person diese auch gegen          gen, für wie sinnvoll oder hilfreich sie die-
sich selbst oder zieht sich zurück und wird     se Lösungsstrategie hält. Drohgebärden
auffällig unauffällig.                          und panische Reaktionen wie „Du wirst
                                                abhängig“ sind nicht angebracht und füh-
                                                ren meist nur zu verharmlosendem Ver-
                                                halten oder Rückzug der betroffenen Per-
                                                son. Sehr viel besser ist die Ermutigung,
                                                nach anderen und gesunden Stressbewäl-
                                                tigungsmustern zu suchen. Begleitung zu
                                                Beratungsdiensten oder nur ein Mitneh-
                                                men zu einer Freizeitaktivität kann – wenn
                                                sie gewünscht wird – in dieser frühen Pha-
                                                se noch angemessene Unterstützung sein.

                                                                                          19
Hilfe, wenn Befindensstörungen auftreten    Arbeitssicherheitsfragen berührt sind.
Wenn bereits „Befindensstörungen“ bei       Denn es geht dann nicht mehr nur um den
der betroffenen Person eingetreten sind,    Betroffenen selbst, sondern auch um eine
dann werden Kolleginnen und Kollegen        Gefährdung von Kolleginnen und Kollegen
gar nicht umhinkönnen, etwas zu bemer-      und/oder Kunden. Wenn die betroffene
ken. Sie werden mit den Auswirkungen        Person mit dem privaten PKW zur Arbeit
von Dauerstress des betroffenen Teammit-    kommt, machen sich Kollegen auch Ge-
glieds konfrontiert:                        danken über deren Fahrtüchtigkeit.

· Rückstände in der Arbeitserledigung
· Ärger mit Kunden, Schuldabwehr
                                            Die Ursachen für die Beeinträchtigung des
·	Konflikte suchend oder im Gegenteil      Befindens sind den Kolleginnen oder Kol-
   meidend                                  legen nicht unbedingt eindeutig klar. Hier
·	Krankschreibungen aufgrund einer ho-     gibt es ein Spektrum von Gründen:
   hen Infektanfälligkeit
· Rückzug in die totale Isolation           >   Persönliche Lebenskrise
·	Kolleginnen und Kollegen haben das       >	
                                              Gesundheitliche Probleme
   Gefühl, nicht mehr zur betroffenen         (ggf. auch im persönlichen Umfeld)
   Person durchzudringen
                                            >	
                                              Soziale Probleme
Hier könnte der riskante Konsum von Al-       (ggf. auch im sozialen Umfeld)
kohol zur Stressbewältigung am „Feier-
                                            >	
                                              Psychische Probleme
abend“ dann als Restalkohol in Form einer
Fahne morgens bei Arbeitsbeginn auf-        >	
                                              Negative Einstellung zur Arbeit
tauchen. Der Medikamentenkonsum, ggf.       >   Konflikte am Arbeitsplatz
legitimiert über ärztliche Verschreibung,   >	
                                              Riskanter Substanzkonsum oder nicht
macht dem kollegialen Umfeld (sofern er       stoffgebundenes Problemverhalten
bemerkt wird) vor allem dann Sorge, wenn      (pathologisches Glücksspielen, prob-
                                              lematischer Mediengebrauch, Essstö-
                                              rungen)

20
Das beste Vorgehen setzt sich in die-         Egal welche Art der Intervention in der
ser Situation aus „verstehen wollen und       jeweiligen Situation möglich oder sinnvoll
empathisch sein“ sowie „Grenzen der           ist, so ist es grundsätzlich wichtig, die
Akzeptanz des Verhaltens aufzeigen“ und       Grenzen der eigenen Belastbarkeit aufzu-
„Hilfeangebote anbieten“ zusammen. Die-       zeigen und die Bereitschaft der betroffe-
se Mischung hinzubekommen, ist sicher-        nen Person zur Veränderung zu fördern,
lich nicht immer leicht. Doch in der Regel    ohne konfrontativ vorzugehen!
setzt sich auch ein Team aus unterschied-
lichen Charakteren zusammen, und so           Mit der betroffenen Person reden, nicht
können die Positionen aufgeteilt werden.      nur über sie – dieses Motto sollten sich
Diejenigen im Team, die erfahren möch-        alle Beteiligten zu Herzen nehmen. Doch
ten, was die betroffene Person so handeln     manchmal ist auch das „Über-die-Per-
lässt, können mit diesem Engagement           son-Reden“ notwendig, um die eigene
der betroffenen Person vermitteln, dass       Wahrnehmung mit der der anderen abzu-
es immer noch Zugewandte im Team gibt.        gleichen und das Vorgehen zu diskutieren.
Andere können sagen: „Du musst etwas          Allerdings sollte es nicht zum Selbstzweck
ändern!“ Beide Seiten können dann ange-       werden, denn dann wird die betroffene
messene Hilfeangebote von innerbetrieb-       Person zu eigenen Unterhaltungszwecken
licher oder externer Beratung anbieten        missbraucht. Ohne konkrete Rückmeldung
und den Weg dahin ebnen – sofern ihnen        spürt sie nur eine veränderte Stimmung
das erlaubt wird. Vielleicht wird die In-     ohne diese angemessen einordnen zu
tervention nicht unbedingt beim ersten        können. Dieses Gefühl kann die negati-
Versuch erfolgreich sein. Häufig braucht      ve Gefühlslage weiter verschlimmern, die
es die Wiederholung der Kollegen, um          Isolation und Abgrenzung fördern und das
dem betroffenen Teammitglied „den Spie-       problematische Verhalten festigen.
gel vorzuhalten“. Da die Last der Ver-
antwortung auf diese Weise auf mehrere
Schultern verteilt wird, ist die unangeneh-
me Situation leichter zu bewerkstelligen.
Gleichzeitig erlebt die betroffene Person,
dass Einigkeit im Team herrscht. Anderer-
seits muss vermieden werden, dass sich
der Betroffene in die Ecke gedrängt fühlt
durch die „Übermacht“ des Teams, das
offenbar zu wissen glaubt, wie die eigenen
Probleme gelöst werden sollten. Daher
kann auch die Kontaktaufnahme durch ein
einzelnes Teammitglied Vorteile haben.
Allerdings braucht auch dieser Kollege
den Rückhalt durch die Gruppe. Ansonsten
ist die Belastung für den Einzelnen meist
zu groß.

                                                                                      21
Hilfe bei Funktionseinschränkungen und
Funktionsstörungen
In dieser Phase zeigen sich die Auffällig-    empfohlen werden. Ob die betroffene Per-
keiten einer Beeinträchtigung der seeli-      son diese oder andere Ratschläge befolgt,
schen und körperlichen Gesundheit sehr        bleibt aber allein ihr überlassen und sollte
deutlich und werden klar nach außen hin       von der persönlichen Ebene getrennt wer-
sichtbar. Sowohl Fehler in den Arbeitspro-    den. Die betroffene Person in eine ganz
zessen als auch Krankschreibungen häu-        bestimmte Hilfeeinrichtung zu drängen,
fen sich. Nicht selten stören die Betroffe-   ist nicht erlaubt. Sie hat das Recht, selbst
nen jetzt auch den Betriebsfrieden, weil es   und frei zu entscheiden, was für sie gut
ihnen ausgesprochen schlecht geht. Die        ist. Dieses Recht verdient, respektiert zu
Person braucht qualifizierte professionelle   werden. Selbstverständlich ist es geboten,
Hilfe. Das Vorgehen der Kolleginnen und       dem Betroffenen zuzuhören, wenn er von
Kollegen ist in den Stadien der „Funkti-      den einzelnen Schritten der Therapie oder
onseinschränkungen“ und der „Funkti-          dem Umgang damit erzählen möchte.
onsstörungen“ dasselbe. Kollegen sollten      Ansonsten ist es weiterhin angebracht,
keine medizinischen Tipps geben. In die       dem Betroffenen den Spiegel vorzuhalten,
ärztliche Behandlung, die eventuell bereits   indem nach außen sichtbare Auswirkun-
von der betroffenen Person in Anspruch        gen des Konsums (Alkohol, Medikamente,
genommen wird, darf von außen nicht           Drogen etc.) aufgezeigt werden. Gleichzei-
eingriffen werden. Änderungen in der Be-      tig sollte der Blick nicht nur auf die noch
handlung klärt der Patient direkt mit sei-    nicht gegangenen Schritte fallen, sondern
nem behandelnden Arzt. Sich eine zweite       positive Entwicklungen sollten gelobt und
Arztmeinung einzuholen, kann dagegen          verstärkt werden.

Wenn die Situation in irgendeiner Weise für die beteiligten Kollegen zu belastend wird,
muss in Erwägung gezogen werden, die Führungskraft einzubeziehen. Hierfür gibt es
wichtige Gründe, die nichts mit „im Stich lassen“ zu tun haben:
·	Kollegen haben offiziell keine Möglichkeit zu agieren. Dies kann nur über den Vor-
   gesetzten erfolgen aufgrund nicht oder mangelhaft erbrachter Arbeitsleistung. Oder
   wenn der Vorgesetzte seiner Fürsorgepflicht nachkommt.
·	Möglicherweise geht von der Person inzwischen eine konkrete Gefahr für Dritte aus.
·	Die Belastungsgrenze der Kollegen ist erreicht bzw. die erfolgten Interventionen zei-
   gen keine Wirkung. Sie müssen durch die Personalführung verstärkt werden (siehe
   auch S. 52).
· Die Person braucht dringend Hilfe.

22
Nicht selten wird für den Umgang mit Be-       Diese Aussage trifft auf keinen Fall zu!
troffenen noch immer propagiert: „Hilfe        Erstens gibt es unterschiedliche Phasen
ist, nicht zu helfen.“ Nicht zu helfen, wird   der Beeinträchtigung, die ein differenzier-
gleichgesetzt mit „fallen lassen.“ Hinter-     tes Vorgehen verlangen. Und zweitens gibt
grund dieser Empfehlung ist der – inzwi-       es betroffene Personen, die ihren per-
schen überholte – Glaubenssatz, dass           sönlichen Punkt, an dem für sie Verände-
der Suchtkranke scheitern muss, damit          rungsdruck entsteht, unterschiedlich früh
er zum Umdenken gezwungen wird. Das            oder spät in ihrem individuellen Entwick-
„Nicht-Helfen“ wird zum Dogma. Für eini-       lungsprozess erreichen.
ge wenige Betroffene mag diese Empfeh-         Daraus folgt, dass es kein allgemeingülti-
lung hilfreich sein, aber sie zu genera-       ges Konzept von Hilfe gibt.
lisieren, würde bedeuten, dass es keine        Zudem überfordert die oben genannte
Vorstufen zur Krankheit gibt, sondern nur      Empfehlung auch etliche Kolleginnen und
„den Suchtkranken“, der eine solche star-      Kollegen, die unterstützend eingreifen
ke Intervention braucht.                       möchten, weil sie die betroffene Person
                                               schätzen und mögen.

                                                                                       23
4
25
4. Das kollegiale Gespräch mit Betroffenen

Das betriebliche Umfeld bietet einen Rah-    nen lastet. Gleichzeitig birgt es die Gefahr,
men, in dem verschiedene Personen in         sich selbst verhältnismäßig leicht aus der
unterschiedlichen Funktionen mit der auf-    Verantwortung, selbst zu handeln, zu ent-
fälligen Person sprechen könnten. Das hat    lassen. Daher ist es wichtig, dass die Rol-
den Vorteil, dass die Last der Problematik   len klar abgegrenzt und verteilt sind.
nicht nur auf den Schultern eines Einzel-

Rollenklarheit als Voraussetzung für das Handeln: Wer spricht mit der Person?

                                  Vorgesetzte/-r
                                                       Mitarbeiter/-in der Personalabteilung
Fachkraft für Arbeitssicherheit

                                                    Kollegin / Kollege
      Gleichstellungsbeauftragte/-r

                                      Auffällige
                                                        Ansprechpartner/-in für Suchtfragen/
Betriebsrat/Personalrat                Person
                                                        Suchtberatung

             Vertrauensperson der
             Schwerbehinderten               Mitarbeiter/-in des Arbeitsmedizinischen
                                             Dienstes

Jede Person, die Kontakt aufnehmen will, muss zuerst die eigene Motivation in dem Pro-
zess für sich klären. Anschließend sollte eine Abstimmung mit den anderen Kollegen
oder beteiligten Personen erfolgen, um die Zielsetzung und die Aufträge an die einzelnen
Beteiligten abzustimmen.

In allen Kontaktaufnahmen und im Gesprächsprozess mit der betroffenen Person gilt es,
das eigene Rollenverständnis zu festigen, um sowohl in den gesagten Botschaften (der
Wortwahl), der räumlichen Umgebung für das Gespräch und den Zielsetzungen eine kla-
re Linie zu verfolgen.

26
Grundlegende Hinweise zur Kommunikation
Anhand des Kommunikationsmodells               Nach Schulz von Thun hat jede Botschaft
von Schulz von Thun (2014), eines bekann-      vier Aspekte; er spricht von den vier Seiten
ten Psychologen und Kommunikations-            einer Nachricht – ein Modellstück der zwi-
wissenschaftlers, wird deutlich, welche        schenmenschlichen Kommunikation.
Bedingungen erfüllt sein müssen, damit
sich die Gesprächspartner angemessen
und möglichst unmissverständlich begeg-
nen können.

  Der Sender gibt etwas von sich (die Anatomie einer Nachricht):
  1.	Sachinhalt oder: Wie kann ich das, worüber ich informiere, klar und verständlich
      mitteilen?
  2.	Selbstoffenbarung oder: Wenn einer etwas von sich gibt, gibt er auch etwas von
      SICH – dieser Umstand macht jede Nachricht zu einer kleinen Kostprobe der Per-
      sönlichkeit.
  3.	Beziehung oder: Wie behandle ich meinen Mitmenschen durch die Art meiner Kom-
      munikation? Je nachdem, wie ich ihn anspreche, bringe ich meine Meinung über ihn
      zum Ausdruck; entsprechend fühlt sich der andere entweder akzeptiert und voll-
      wertig behandelt oder aber herabgesetzt, bevormundet, nicht ernst genommen.
  4.	Appell oder: Wenn einer etwas von sich gibt, will er in der Regel auch etwas bewir-
      ken und auf den Empfänger Einfluss nehmen.

                                            Sachinhalt

          Selbst-
                                                                              Appell
       offenbarung
                                            Nachricht

                                            Beziehung

                                                                                         27
Der Empfänger der Nachricht nimmt, entsprechend zu den vier Botschaften
einer Nachricht, andere Dinge wahr. Man könnte sagen, es gibt vier Ohren, auf denen
der Empfänger hört.

                         · Was ist das für einer? Was ist mit ihm?
                         · Wie ist der Sachverhalt zu verstehen?
                         ·	
                           Was soll ich tun, denken, fühlen aufgrund seiner Nachricht?
                         ·	
                           Wie redet der eigentlich mit mir? Wen glaubt er vor sich zu haben?

                                                     Schulz von Thun „Der vierohrige Empfänger“

Die zwischenmenschliche Kommunikati-         anderen Ohr. Da kann der Sender noch so
on wird dadurch so kompliziert, dass nicht   oft behaupten, er habe doch „nur“ einen
der Sender bestimmt, was gehört wird,        Sachinhalt verkündet – wenn der Empfän-
sondern der Empfänger. Daher kann beim       ger den Appell heraushört oder die Bezie-
Empfänger etwas anderes ankommen             hung zueinander ins Spiel kommt, wird die
als das, was man sagen wollte. Abhängig      Antwort oder Handlung anders aussehen,
davon, wie das grundsätzliche Verhältnis     als der Sender es erwartet hat. In Wirk-
der Kommunikationspartner im Moment          lichkeit kommt es oft zu Überschneidun-
zueinander ist, hört der Empfänger mal       gen des Hörens. Ganz eindeutig werden
mehr auf dem einen, mal stärker auf dem      sich Antworten selten zuordnen lassen.

28
Ein Beispiel kann verdeutlichen, wie das vorher Gesagte zu verstehen ist:
Der Vorgesetzte sagt in einem Arbeitsgespräch zum Mitarbeiter:
„Sie werden die Veränderung in den Arbeitsabläufen sicher bald umgesetzt haben.
Und ich gehe davon aus, dass Sie die Vorteile bald zu schätzen wissen!“

Der Mitarbeiter kann auf den Sachinhalt reagieren, dann antwortet er:
„Klar, die Umstellung ist kein Problem. Gibt es noch etwas, was ich dabei beachten sollte?“

Der Mitarbeiter kann auf die Selbstoffenbarung seines Gegenübers hören und antworten:
„Stehen Sie unter Zeitdruck mit dem Veränderungsprozess?“ oder „Sie hoffen auf meine
Unterstützung und vertrauen darauf, dass ich die Vorteile sehe. Sie fürchten eine Zeitver-
zögerung?“

Der Mitarbeiter kann auf die Beziehungsseite reagieren:
„Ich erfahre ja gerade erst von der Umstellung. Was veranlasst Sie, zu glauben, dass ich
das jetzt sofort umsetze. Den anderen Beschäftigten haben Sie doch auch mehr Zeit ein-
geräumt!“ Oder: „Ob ich das jetzt gut finde oder nicht, wird sich noch zeigen! Ich lasse
mir von Ihnen doch nicht meine Haltung zu den Veränderungsprozessen vorschreiben!“

Der Mitarbeiter kann auf den Appell anspringen und sagen:
„Ich mache mich sofort an die Änderung der Arbeitsabläufe! Ich gebe Ihnen umgehend
Bescheid, wenn ich alles angepasst habe!“

Das Wissen um Kommunikationsprozes-            gemobbt werden! Auf mir hacken immer
se kann in der Vorbereitung für das Ge-        alle herum! Hätte ein anderes Teammit-
spräch mit der auffälligen Kollegin oder       glied sich so verhalten, hättest du nichts
dem auffälligen Kollegen von Nutzen sein.      bekrittelt.“
Zum Beispiel kann ein Satzanfang lauten:
„Wenn ich das jetzt kritisiere, dann rich-     Menschen, die psychisch beeinträchtigt
tet sich meine Kritik nicht gegen dich als     sind, hören überdurchschnittlich oft auf
ganze Person, sondern bezieht sich nur         dem Beziehungsohr. Vor allem wenn Kritik
auf dein Handeln in diesem speziellen          an ihnen geübt wird, können sie zwischen
Zusammenhang.“ Die Gefahr, ausschließ-         sachlicher Kritik und persönlicher Kritik
lich das Beziehungsohr zu bedienen, wird       nicht mehr unterscheiden. In der Regel
durch die Klarstellung eingeengt. Eine         wird die Kritik immer als gegen ihre Per-
Gewähr, das Hören in die richtige Richtung     son gerichtet gewertet. Sie fühlen sich in
gelenkt zu haben, gibt es jedoch nicht!        Frage gestellt. Dieses „übergroße Ohr“ in
Wenn die betroffene Person für sich die        Richtung Beziehung macht die Kommu-
Opferrolle gewählt hat, dann wird – trotz      nikation mit ihnen anstrengend und nicht
aller Klarstellungen – die Beziehung im        selten wird diesen Gesprächen am liebs-
Vordergrund stehen und die Antwort so          ten ganz ausgewichen.
oder ähnlich lauten: „Ich soll hier wohl

                                                                                            29
Ich-Botschaften nutzen
In dem Manual für die Beratung am Tele-              fahr ist groß, dass die Beziehung zum Ge-
fon, das von der DHS für die „Sucht und              sprächspartner bzw. zur Gesprächspart-
Drogen Hotline“ 2013 veröffentlicht ist,             nerin und das gesamte Gesprächsklima
heißt es:                                            durch Du-Botschaften weiter verschlech-
„Es ist oft schwierig, klare und unmiss-             tert werden. Die meisten Menschen hören
verständliche Botschaften auszusenden.               einen Vorwurf, eine Herabsetzung oder
Wir Menschen verstecken gerne unsere                 Ablehnung in der Du-Botschaft, und das
Empfindungen und Gedanken hinter einem               provoziert in erster Linie Widerstand.“
,Man‘ oder einem ,Du‘, was nicht selten in           Aus diesem Grund sollten – eigentlich
anklagender Form geäußert wird …                     grundsätzlich, besonders aber in potentiell
Besonders häufig tauchen Du-Botschaf-                schwierigen Gesprächen – vorwiegend
ten in schwierigen oder konflikthaften Ge-           Ich-Botschaften ausgesendet werden. Das
sprächssituationen auf. Es entsteht dann             Umdenken fällt spontan manchmal nicht
schnell eine Negativ-Spirale, denn die Ge-           leicht.

Diese Beispiele sollen zeigen, wie aus einer Du- eine Ich-Botschaft wird:

Du-Botschaften vermeiden                Effekt               Ich-Botschaft nutzen

„Wenn Sie so weitermachen …“            Drohung              „Ich sehe Veränderungsbedarf.“

„Sie sollten besser …“                  Belehrung            „Ich würde mir wünschen, dass …“

„Da sind Sie schlecht informiert.“      Bewertung            „Mich interessiert, was Sie wissen.“

„Sie wissen doch ganz genau …“          Unterstellung        „Ich möchte Sie informieren über ...“

„Ich kann Ihnen nur raten …“            Anweisung            „Mir wäre zukünftig wichtig, dass …“

„Mit einer Ich-Botschaft treffen Sie Aussagen über Ihre eigenen Ziele, Bedürfnisse und
Emotionen und können Ihrem Gesprächspartner bzw. Ihrer Gesprächspartnerin die Kon-
sequenzen bestimmter Verhaltensweisen aufzeigen. Sie begegnen sich auf Augenhöhe
und ohne den Anspruch, Ihre Sicht der Dinge durchzusetzen. Die Kommunikation verläuft
offen, direkt und ehrlich. Ich-Botschaften werden im Wesentlichen als angriffsfreie Bot-
schaften von Ihrem Gesprächspartner bzw. Ihrer Gesprächspartnerin aufgenommen.“
                               Quelle: DHS: „Sucht und Drogen Hotline“ – Manual für die Beratung am Telefon

30
Das kollegiale Gespräch vorbereiten
und gestalten
Eine „gute Gesprächsatmosphäre“ zu
schaffen, ist nicht so banal, wie es klingt.
Denn was als „gute Atmosphäre“ empfun-
den wird, kann sehr unterschiedlich sein.

Als Anregung könnten folgende Hinwei-          ·	Es ist sinnvoller, keinen Überra-
se dienen, die sich in der Praxis bewährt          schungsangriff zwischen „Tür und An-
haben:                                             gel“ zu starten, weil es sich gerade so
·	Sie sind der Initiator für das Gespräch.        günstig ergibt. Kollegiale Gespräche
   Da es sich u. U. um eine schwierige Ge-         sollten kurzfristig angekündigt werden:
   sprächssituation handelt, die Sie leiten        „Hast du nachher noch mal eine Viertel-
   und aushalten müssen, ist es legitim,           stunde (oder 20 Minuten oder eine hal-
   sich zu überlegen, wie es für Sie selber        be Stunde) Zeit? Ich würde gerne was
   angenehm ist. Wenn Sie etwas beim               mit dir besprechen!“
   Gespräch trinken möchten, dann bieten       ·	Machen Sie kein langes „Warming-up“,
   Sie etwas an. Wenn Sie eine „gemütli-           d. h., reden Sie nicht erst lange über
   che Sitzposition“ brauchen, dann wäh-           das Wetter, über Urlaube oder über
   len Sie für beide einen solchen Rahmen.         Kinder. Wenn Sie Ihr Hauptanliegen
   Was hier deutlich werden soll: Wenn             nach einer solchen „Aufwärmphase“
   Sie die Rahmenbedingungen für das               thematisieren, fühlen sich die Ange-
   Gespräch so gestalten, dass es für Sie          sprochenen getäuscht. Es macht eher
   gut ist, dann sind Sie in der Gesprächs-        Sinn, eventuell die gemeinsame Zeit
   führung sicherer. Es geht also nicht in         der Zusammenarbeit an den Anfang
   erster Linie darum, was mein Gegen-             des Gesprächs zu stellen und davon –
   über braucht, sondern darum, was ich            sofern es wahr ist – eine positive Bilanz
   brauche. Sorgen Sie gut für sich selbst,        zu ziehen. Dieser Einstieg bereitet das
   damit das Gespräch gelingen kann.               dann Folgende – die jetzige Verände-
·	Sorgen Sie bei der Auswahl des Rau-            rung der kollegialen Zusammenarbeit –
    mes am Arbeitsplatz dafür, dass es             vor. Sie können das Gespräch aber auch
    möglichst keine Störungen durch ande-          direkt mit Ihrem Anliegen beginnen
    re Kolleginnen oder Kollegen gibt, die         (Gesprächseinstiege ab S. 36).
    in den Raum kommen. Auch Unterbre-         ·	Überlegen Sie im Vorfeld gut, ob Sie das
    chungen durch Telefonate, E-Mails oder        Gespräch mit der betroffenen Kollegin /
    Ähnliches sollten vermieden werden.           dem betroffenen Kollegen alleine oder
·	Ein großes Risiko ist die Verlegung des        zusammen mit einer weiteren Person
   Gesprächs in Privaträume. Die Situation        aus dem Team führen wollen. Für Sie
   schmälert die erforderliche Distanz zwi-       selber bedeutet ein zweites Teammit-
   schen den Beteiligten, und eine Person         glied Verstärkung und Unterstützung.
   hat den Heimvorteil.                           Ein weiteres Teammitglied, das nicht

                                                                                         31
in einer „Statistenrolle“ bleibt, sondern     eine Zeit des Nachdenkens einräumen
     auch Rückmeldungen zum Verhalten              möchten. Versuchen Sie einen Abbruch
     der betroffenen Person gibt, könnte von       so zu gestalten, dass „die Tür noch ei-
     dieser als „Doppelangriff“ erlebt wer-        nen Spalt offen bleibt“.
     den (siehe Kapitel “Mögliche Reakti-
     onen der Betroffenen,“ S. 40). Gerade       Ziele für das Gespräch formulieren
     wenn es das erste Gespräch mit der
                                                 Bei der Zielformulierung für ein Gespräch
     auffälligen Person ist, sollte die Atmo-
                                                 gilt ein wichtiger Grundsatz: Die Formu-
     sphäre nicht durch unnötiges Ungleich-
                                                 lierung eines Zieles sollte auf das eigene
     gewicht gefährdet werden.
                                                 Handeln bezogen sein! Wenn ich das Ziel

4
·	Es geht um eine gute Balance zwischen        auf mein Handeln beziehe, dann kann ich
    Distanz und Nähe bzw. zwischen Ver-          mir Kriterien suchen, die mir helfen zu
    ständnis und Grenzziehung. Versuchen         beurteilen, ob ich mein Ziel erreicht habe.
    Sie sich in der Vorbereitung auf Ihr Ge-     Ich erspare mir eventuell Enttäuschungen,
    genüber und dessen Verhaltensmuster          weil ich selber die Umsetzung in der Hand
    einzustellen und halten Sie die Stim-        habe.
    mung aufrecht, auch wenn Ihr Gegen-          Nicht selten wird als Ziel für das Gespräch
    über versucht, die Atmosphäre negativ        gesetzt: „Er/sie soll einsehen, dass er/sie
    zu beeinflussen. Es ist auch Ihr gutes       Hilfe braucht!“ oder „Der Angesproche-
    Recht, ein Gespräch abzubrechen, wenn        ne soll erkennen, dass ich es gut mit ihm
    Sie keinen Sinn in der Fortführung           meine!“ In diesen Sätzen ist die Erfüllung
    sehen oder wenn Sie dem Gegenüber            des Zieles jedoch vom Gegenüber abhän-
                                                 gig, das möglicherweise bewusst ein ganz
                                                 anderes Ziel verfolgt oder in seiner Situa-
                                                 tion nicht (mehr) erkennen kann, dass die
                                                 Unterstützung gut gemeint ist bzw. dass
                                                 ggf. eine behandlungsbedürftige Krankheit
                                                 vorliegt. Im Kapitel „Mögliche Reaktio-
                                                 nen der Betroffenen“ (S. 40) wird deutlich,
                                                 dass der Betroffene die Situation anders
                                                 wahrnimmt und daher auch Abwehrver-
                                                 halten zeigt. Wenn ich das Ziel auf die Ein-
                                                 sicht von Betroffenen hin formuliere und
                                                 diese mit Vehemenz ein Problem leugnen,
                                                 ist meine Enttäuschung vorprogrammiert.
                                                 Übrig bleibt nur Resignation: „Ob ich mit
                                                 der rede oder es sein lasse, bleibt sich
                                                 gleich.“ Mit dieser Haltung wird kein wei-
                                                 teres Gespräch gesucht. Dabei hätte allein

32
eine realistischere Zielsetzung die Er-         Situationsbezogen bedeutet, zu beurtei-
wartungshaltung reduziert. Das Gespräch         len, wieweit eine Kollegin oder ein Kollege
wäre im Nachgang vielleicht sogar als           beeinträchtigt ist. Besteht bei den erlebten
nützlich und gut bewertet worden.               Auffälligkeiten bereits ein Zusammenhang
                                                mit Substanzkonsum oder problemati-
Realistische Gesprächsziele setzen              schem nicht stoffgebundenem Verhalten?
Hier folgen einige Vorschläge für eine er-
folgversprechendere Formulierung von
Zielen. Sie können einzeln oder auch in
Kombination gewählt werden. Die Liste
ist nicht vollständig. Sie dient nur zur An-
regung und sollte mit eigener Fantasie
personen- und situationsbezogen ergänzt
werden.

Zielformulierung für frühe Gespräche bei ersten Beeinträchtigungen
ohne klare Hintergrundproblematik
(siehe „Wie könnte Hilfe für auffällige Beschäftigte aussehen?“, S. 17)
·	Das Ziel ist, Unterstützung anzubieten:
     Ich würde dir gerne helfen. Was kann ich für dich tun, damit es dir wieder besser geht?
·	Das Ziel ist, Hintergründe zu erfragen:
    Mich beunruhigt dein selbst gewählter Rückzug. Was ist los? Was belastet dich?
    Es wäre gut zu wissen, was der Grund für deine Veränderung ist.
·	Das Ziel ist die Spiegelung der eigenen Wahrnehmung:
    Ich erlebe dich verändert und ich zeige dir an Beispielen auf, woran mir etwas
    aufgefallen ist. Ich würde gerne verstehen, was passiert ist.
·	Das Ziel ist Verstärkung des Veränderungswunsches:
    Ich bin froh, dass du merkst, wie nötig du Unterstützung brauchst. Ich sehe, es geht
    dir nicht gut, und ich bin froh, dass du dich mir anvertraust.

                                                                                           33
Bei den frühen Interventionen liegt die       Hilfe. Und selbst wenn es diese Irritation
große Chance in der ehrlichen Begegnung       nicht geben sollte, leuchtet es doch ein,
zweier Kolleginnen oder Kollegen auf          dass ein Moment des Nachdenkens er-
Augenhöhe. Eine Chronifizierung der ne-       laubt sein muss, und zwar darüber: „Wie
gativen Entwicklung kann durch die frühe      ausführlich will ich meinem/r Kollegen/
Intervention vermieden werden. Eventuell      Kollegin meine Krisensituation darstel-
öffnet sich die angesprochene Person und      len?“, „Was von meinem privaten Dilem-
gewährt Einblick in ihre derzeitige Krise.    ma geht mein Arbeitsumfeld an?“, „Wenn
Vielleicht nimmt sie sogar die angebotene     ich etwas erzähle, wie schnell macht das
Unterstützung an. Möglich ist aber auch,      dann die Runde unter den Kollegen?“
dass die angesprochene Person sich nicht      Selbst wenn diese Befürchtungen jeder
erklären möchte. Es ist ihre Entscheidung.    Grundlage entbehren, so kann ich der
                                              angesprochenen Person ihre Ängste und
Nicht selten erlebt die angesproche Per-      Befürchtungen nicht verbieten. Es ist vor-
son das Gespräch auch als unangenehm          ausschauend, dieses Nachdenken einzu-
und fühlt sich bedrängt. In der Rückschau     kalkulieren und ein Angebot zur freiwilli-
über das Gesagte versteht sie das Ge-         gen Fortsetzung des Gesprächs auf einen
spräch eventuell auch als ein Angebot der     der nächsten Tage anzubieten.

Zielformulierung für das erste Gespräch bei vermutetem riskantem Substanzkonsum
oder nicht stoffgebundenem Problemverhalten (keine Überfrachtung!)
Wie an anderer Stelle bereits erwähnt, fordern ehemals betroffene Abhängige selbstkri-
tisch ein, nicht „über“, sondern „mit Auffälligen“ zu sprechen. Sowohl diesem Wunsch
entsprechend als auch der Notwendigkeit der Standards folgend, sind diese Ziele formu-
liert.
·	Ich möchte dem/der Auffälligen aus meiner Sicht als Kollege/Kollegin mitteilen, wie
    ich ihn/sie im Moment wahrnehme. Ich möchte ihm/ihr auch meine jetzige Interpre-
    tation (z. B. riskanter Alkoholkonsum, Medikamenteneinnahme oder Glücksspiele) für
    die Auffälligkeiten vorbringen.
·	Ich möchte meine Sicht auf die Situation neben die Sichtweise meines Gegenübers
    stellen. Dabei geht es mir nicht darum, zu diskutieren, wer Recht hat.
·	Ich möchte der auffälligen Person mitteilen, wie groß meine Sorge einerseits, aber
    auch mein Unbehagen andererseits ist.

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