Das Gespräch unter Kolleginnen und Kollegen - Eine Praxishilfe für die Suchtarbeit im Betrieb - Deutsche ...
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Frauen und Männer sollen sich von unseren Veröffentlichungen gleichermaßen angesprochen fühlen. In Texten der DHS werden die weibliche und die männliche Sprachform verwendet. Zugunsten besserer Lesbarkeit kann abweichend nur eine Sprachform verwendet werden. Wir danken für Ihr Verständnis.
Das Gespräch unter Kolleginnen und Kollegen Eine Praxishilfe für die Suchtarbeit im Betrieb 1
Inhalt Einführung 4 1 Gute Gründe, tätig zu werden 8 Miteinander, nicht übereinander sprechen 10 Risiken des Gesprächs 10 2 Mitbetroffenheit von Kolleginnen und Kollegen 14 Die Bedeutung früher Ansprache 15 3 Wie könnte Hilfe für auffällige Beschäftigte aussehen? 18 Hilfe im frühen Stadium (Beeinträchtigung von Befindlichkeiten) 19 Hilfe, wenn Befindensstörungen auftreten 20 Hilfe bei Funktionseinschränkungen und Funktionsstörungen 22 4 Das kollegiale Gespräch mit Betroffenen 26 Grundlegende Hinweise zur Kommunikation 27 Das kollegiale Gespräch vorbereiten und gestalten 31 Ziele für das Gespräch formulieren 32 Realistische Gesprächsziele setzen 33 Mögliche Einstiegssätze für das kollegiale Gespräch 35 Zusammenfassung 37 5 Mögliche Reaktionen der Betroffenen 40 Der schematische Ablauf eines Veränderungsprozesses 42 Der Veränderungsprozess bei einer Suchtproblematik 43 Zusammenfassung 45 2
6 Die Dynamik im Team 48 7 Gibt es eine Verpflichtung zu handeln? 52 „Aktiv werden“ ist gut und richtig 52 Fürsorgepflicht 54 Verantwortliche im Betrieb 54 8 Günstige Strukturen im Betrieb 56 9 Interne und externe Anlaufstellen 60 Anhang 64 Auffälligkeiten belasteter Beschäftigter 64 Auffälligkeiten bei möglichem riskantem oder schädlichem Alkoholkonsum 65 Auffälligkeiten bei möglichem Medikamentenmissbrauch 67 Gesprächsmöglichkeiten der Führungskraft bei Auffälligkeiten 68 Literatur 70 Information, Rat & Hilfe 73 Die DHS 77 Die BZgA 78 Impressum 80 3
Einführung Unternehmen sind im Rahmen der ge- auffälligen Beschäftigten. Ziel des Textes setzlichen Vorgaben und einer modernen ist es, Unterstützung für die Kontaktauf- Personalpolitik dazu angehalten, sich um nahme zu auffälligen Beschäftigten und die Suchtprävention bei den Mitarbeite- die Gespräche mit ihnen zu geben. rinnen oder Mitarbeitern zu kümmern. In größeren Unternehmen ist die Sucht- Noch immer ist Alkohol der größte The- hilfe im Bereich der Gesundheitsförde- menbereich der substanzbedingten Stö- rung und Sozialförderung angesiedelt. Die rungen. Doch daneben spielt auch der „Qualitätsstandards in der betrieblichen Missbrauch von Medikamenten und ille- Suchtprävention und Suchthilfe der Deut- galen Drogen (Cannabis, Ecstasy, Kokain, schen Hauptstelle für Suchtfragen“, die im Methamphetamin, Amphetamine) je nach Internet kostenlos zur Verfügung stehen, Branche eine bedeutende Rolle. Substanz- dienen als Leitfaden zur Einrichtung eines unabhängige Störungen wie pathologi- wirksamen betrieblichen Suchtberatungs- sches Glücksspiel können sich ebenfalls systems. In diesen Standards steckt die negativ auf die Arbeitsleistung und das Aufforderung zur frühzeitigen Intervention Betriebsklima auswirken. Grundsätzlich bei ersten Auffälligkeiten am Arbeitsplatz. gelten die Informationen dieser Broschü- Um dieser Anforderung gerecht werden re für alle substanzbedingten Störungen. zu können, orientiert sich die vorliegende Die Beispiele sind aufgrund der Häufig- Broschüre an den genannten Qualitäts- keit vor allem für den Konsum von Alkohol standards und bietet praktische Hilfe für gewählt. Wenn Sie sich zu den Wirkwei- nebenamtliche und hauptamtliche be- sen und Risiken der anderen Substanzen triebliche Ansprechpartnerinnen und An- weiter informieren möchten, so empfehlen sprechpartner, interne und externe Fach- wir Ihnen die Faltblatt-Reihe „Die Sucht kräfte der betrieblichen Suchtprävention und ihre Stoffe“ der Deutschen Hauptstel- und Suchthilfe, Interessenvertretungen in le für Suchtfragen (siehe Anhang, Litera- Verwaltungen und Betrieben und für tur, S. 70). Multiplikatoren im Bereich „substanzbe- dingt Störungen am Arbeitsplatz“ („Sub- stanzbedingt“ oder im weiteren Verlauf Der Aufbau der Broschüre führt vorbei an „Substanzkonsum“ bezieht sich auf: allen relevanten Themen und Fragen, die Alkohol, psychisch wirksame Medikamente Sie als Kollege oder Kollegin eines in ir- und illegale Substanzen wie Cannabis, gendeiner Weise auffälligen Beschäftigten Ecstasy, Kokain und Methamphetamin). betreffen. Daher wird zu Beginn die Hilfe Sie ist auch gedacht als vertiefende Lektüre für Betroffene bei „ersten Auffälligkeiten“ für Kolleginnen und Kollegen von dargestellt und setzt sich fort mit der In- 4
tervention bei „substanzbedingten Verfahren im Umgang mit substanz- Auffälligkeiten“. Diese feine Unterscheidung bedingt auffälligen Beschäftigten? Sind die öffnet die Möglichkeit, bereits dort mit Vorgehensweisen bekannt? Ein Konzept, Hilfeangeboten einzusteigen, wo sich erste das den Beschäftigten geläufig ist und ak- Veränderungen über einen längeren tiv im Unternehmen gelebt wird, erleich- Zeitraum mit unklarem Hintergrund tert den Kolleginnen oder den Kollegen zeigen. den Umgang mit betroffenen Personen. Im Anhang finden sich nützliche Infor- mationen zu den nach außen sichtbaren Die Einflussmöglichkeiten des kollegialen Auffälligkeiten betroffener Personen, Ge- Umfeldes werden aufgezeigt und sollen sprächsmöglichkeiten für Führungskräfte Mut machen für das Gespräch mit Auffäl- und weiterführende Adressen, Links und ligen. Konkrete Tipps und Gesprächsein- Literaturempfehlungen. stiege sowie mögliche Reaktionen der Angesprochenen unterstützen einzelne oder mehrere Personen aus dem Team, Sollte Ihnen diese Broschüre gefallen, die sich einbringen möchten. dann empfehlen Sie sie bitte weiter. Wenn In Kapitel 7 (Gibt es eine Verpflichtung zu Sie Anregungen zur Verbesserung haben, handeln? S. 52) werden die Verantwort- dann freuen wir uns über Ihre Rückmel- lichkeiten behandelt: Wer ist verpflichtet dung. zur Intervention und wer übernimmt frei- willig Verantwortung? Vorab sei erwähnt, dass es für Kollegen keine rechtliche Verpflichtung gibt, das Gespräch mit dem auffälligen Kollegen zu suchen. Diese Form der Intervention zielt auf freiwilliger Basis auf den frühzeitigen persönlichen Kontakt, um die Verschlechterung des Zustandes zu vermeiden. Vorgesetzte bzw. der Arbeitgeber hingegen sind, wenn die Arbeitsleistung nachlässt bzw. aufgrund ihrer Fürsorgepflicht dazu verpflichtet, an- gemessene Maßnahmen zu ergreifen. Am Ende der Ausführungen richtet sich der Blick auf die Strukturen im Betrieb. Gibt es im Unternehmen ein abgestimmtes 5
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1. Gute Gründe, tätig zu werden Wenn Kolleginnen und Kollegen etwas Kollegen zutreffend ist, setzt das in aller „Auffälliges“ zu bemerken glauben, stellt Regel den Betroffenen unter Druck, das sich für sie immer die Frage, wie am bes- eigene Verhalten jetzt stärker kaschie- ten damit umgegangen werden soll. Die ren zu müssen. Dieser Prozess kann die Bezeichnung „auffällig“ wirkt vielleicht betroffene Person veranlassen, über eine schwammig, aber die Erfahrung zeigt, Veränderung nachzudenken. Die authen- dass das Verhalten der Person in deren tisch vorgetragene Sorge z. B. durch eine Umfeld tatsächlich „auffällt“. Manche gute Kollegin kann im frühen Stadium ei- Situationen werden gemieden, andere nes negativen Entwicklungsprozesses die gesucht. Reaktionen oder das Verhalten betroffene Person berühren und „wach- sind verändert und dadurch im Kontext rütteln“. mit dem bisherigen Umgang auffallend Die Chance, frühzeitige Veränderungen anders. Das Verantwortungsgefühl für wahrzunehmen, haben Kolleginnen und die betroffene Kollegin oder den betroffe- Kollegen, die im engen Kontakt sind. Sie nen Kollegen ist unter anderem abhän- merken als Erste, wenn sich der/die Be- gig vom persönlichen Verhältnis, von der troffene zurückzieht, kleine Fehler macht, Teamdynamik, von der Hierarchie, dem unter Stimmungsschwankungen leidet, Betriebsklima und nicht zuletzt von der auf andere im Team oder auf Kunden ge- eigenen Courage. Es ist wichtig, hervor- reizt reagiert, auf dem Weg ist, das Inter- zuheben, dass Gespräche von Einzelper- esse an der Arbeit zu verlieren, oder sich sonen mit dem betroffenen Mitarbeiter dauerhaft über die Arbeit und/oder über Veränderungsprozesse in Gang setzen die Führung beschwert. Die ersten Anzei- können. Nicht selten bewirkt die Rückmel- chen einer „inneren Kündigung“ zeigen dung einer Person aus dem nahen Umfeld sich in der täglichen Begegnung. eine erhöhte Achtsamkeit. Der Mitarbei- In der darauffolgenden frühen Interven- ter bekommt vielleicht zum ersten Mal die tion ist ein Gespräch im gegenseitigen Rückmeldung, dass das eigene Verhalten Verständnis möglich, denn es handelt sich als „auffällig“ wahrgenommen wird und noch nicht um eine Person, die durch eine der bisherige Schutz im Team wegfal- lange „Suchtkarriere“ erfolgreiche Strate- len könnte. Wenn die Beurteilung der gien der Abwehr entwickelt hat. 8
Wie wenig Alkohol ist risikoarm, wie viel ist riskant? Risikoarm und riskant bezieht sich in diesem Zusammenhang immer auf das gesund- heitliche Risiko, nicht auf die Wahrscheinlichkeit, alkoholabhängig zu werden. Ab welcher Menge eine Abhängigkeitserkrankung eintreten wird, kann nicht pauschal gesagt werden und ist individuell sehr verschieden. Für gesunde Menschen mittleren Alters wurden je- doch Grenzwerte festgesetzt, unterhalb deren der Konsum von Alkohol sehr wahrschein- lich nicht mit negativen Folgen für die Gesundheit verbunden ist. Diese Grenzen sind – für Frauen täglich höchstens ein Standardglas. Diese Menge enthält ungefähr 10 Gramm reinen Alkohol (etwa 0,25 l Bier oder 0,1 l Wein); – für Männer täglich nicht mehr als zwei kleine Gläser Alkohol. Diese Menge entspricht dem Wert von etwa 20 Gramm reinen Alkohol pro Tag. Verschiedene Gläser alkoholischer Getränke und ihr Alkoholgehalt in Gramm: Bier Wein Sherry Likör Whisky 0,3 l 0,2 l 0,1 l 0,02 l 0,02 l 13 g 16 g 16 g 5g 7g Riskanter Alkoholkonsum findet statt: · wenn über die körperlich verträgliche Grenze von 12 g Reinalkohol für Frauen und 24 g Reinalkohol für Männer pro Tag hinaus konsumiert wird · bei Veränderungen der psychischen und/oder physischen Funktionen · bei Konsum zu unpassenden Gelegenheiten, z. B. im Straßenverkehr, bei der Arbeit · bei täglichem Konsum · bei gezieltem Trinken zum Abbau von Spannungen, Ängsten und Stress Bei regelmäßigen Überschreitungen der genannten risikoarmen Alkoholmengen werden nach heutiger medizinischer Sicht gesundheitliche Risiken angenommen (Übergewicht, Bluthochdruck, Herzmuskelerkrankungen, Gastritis (Entzündung der Magenschleimhaut), Pankreatitis (Entzündung der Bauchspeicheldrüse), Impotenz, Krebserkrankungen des Verdauungstraktes (Mundhöhle, Rachenraum, Speiseröhre und Enddarm) sowie der Leber der weiblichen Brustdrüse, Schädigung des Gehirns mit den Auffälligkeiten Konzentra- tions- und Gedächtnisstörungen bis hin zur Intelligenzminderung, Fettleber, Leberzirrhose). 9
Miteinander, nicht übereinander sprechen Ein wichtiger Grund für ein Einschreiten Menschen mit Suchtproblemen, die im mit dem Ziel, einen Veränderungsprozess Nachhinein noch einmal reflektieren, wie in Gang zu setzen, ist die Weiterentwick- lange sie sich selber und andere täuschen lung des Teams. Wenn es durch kollegiale konnten, bedauern häufig, dass damals Interventionen gelingt, ein Teammitglied zwar „über sie“, aber „nicht mit ihnen“ ge- durch eine Krise zu begleiten und eine po- sprochen wurde. Ehemals Betroffene for- sitive Entwicklung herbeizuführen, dann dern die frühzeitige Ansprache der Auffäl- stärkt das den Zusammenhalt im Team. ligkeiten durch Kolleginnen oder Kollegen. Teams, die sich in der Bewältigung einer Sie betonen, dass Rückmeldungen aus Krise bewährt haben, entwickeln Stolz und dem Team eine große Bedeutung gehabt Selbstbewusstsein. hätten. Gleichzeitig gestehen sie ein, dass nicht sicher ist, dass sie im Moment der Risiken des Gesprächs Ansprache dankbar gewesen wären oder Die frühe Ansprache birgt auch Risiken. gar einsichtig reagiert hätten (vergleiche Da ist die Gefahr, die Situation falsch ein- S. 15). zuschätzen und den Betroffenen fälsch- licherweise zu „verdächtigen“. Andere Eine andere Motivation, das Gespräch zu Teammitglieder erleben das Verhalten suchen, wäre die Belastung, die durch die möglicherweise anders und/oder kommen zu leistende Mehrarbeit entstanden ist. zu einer anderen Bewertung. Sie sehen Die Kolleginnen und Kollegen, die län- unter Umständen keine Dringlichkeit für gerfristig darunter leiden, werden in der eine Rückmeldung. Im schlechtesten Fall Regel durch ihr Verhalten (den Kontakt wird es erst zu einer gemeinsamen Stra- meiden, Fehler der Betroffenen zuordnen, tegie des Vorgehens kommen, wenn es sich über sie lustig machen etc.) ihre zu- keine Zweifel mehr gibt, dass der Mitar- nehmende Ablehnung zeigen. Genau diese beiter ein Problem hat und ein Einschrei- Überlastungssituation in Zusammenhang ten richtig ist. Dann handelt es sich jedoch mit dem subjektiv empfundenen Grund nicht mehr um frühzeitige, sondern um anzusprechen, wäre eine Chance für die späte Intervention. Die gesprächsbereite betroffene Person, etwas zu verändern. Person gerät daher möglicherweise in ein Ohne Rückmeldung hat sie nur ihre eigene Spannungsfeld: Ein Kollege sieht bereits Interpretation des Geschehens. ein ernstes Problem, aber andere im Team werten das Verhalten noch als „normal“ und raten zum Abwarten. Da dem ge- sprächsbereiten Teammitglied die Ak- zeptanz seines Handelns durch das Team auch wichtig ist, gerät es eventuell in ein Dilemma. 10
Sich für „Nichtstun und Abwarten“ zu entscheiden, kann verstärkt werden durch weitere Argumente wie: · Ich möchte der betroffenen Person nicht zusätzliche Schwierigkeiten machen, es geht ihr schon so schlecht und meine Rückmeldungen könnten den Zustand eher verschlechtern. · Ich möchte kein Denunziant sein. Wenn ich das Problem sichtbar werden lasse, dann trage ich die Schuld, wenn es von Seiten des Arbeitgebers zu Sanktionen kommt. · Ich habe Sorge, dass andere im Team mich als Nestbeschmutzer sehen. · Ich würde eigentlich gerne, aber ich weiß nicht, wie ich es anfangen soll. Mich treibt auch die Angst vor der Reaktion der betroffenen Person um. · Eigentlich geht mich das Ganze nichts an; jeder ist seines eigenen Glückes Schmied! · … Dem entgegen stehen folgende Argumente: · Das Aufdecken und nicht mehr Vertuschen von Fehlern und damit das Problem sicht- bar werden lassen könnte Hilfe für Betroffene sein. · Menschen mit Suchtproblemen begehen letztendlich einen „Suizid auf Raten“. Nicht der Kollege mit seiner Rückmeldung schadet ihnen, sondern die Betroffenen verstär- ken ihr Leiden selbst. · Verantwortung zu übernehmen, bedeutet auch schon mal, „gegen den Strom zu schwimmen“. Verantwortung übernehmen heißt, Mut zu haben. Es handelt sich hier um einen Ambiva- lenz-Konflikt: Gründe für und gegen das Handeln halten sich mehr oder weniger die Waage. Interne betriebliche Mitarbei- terberatung, die auch von Kolleginnen oder Kollegen der auffälligen Person in Anspruch genommen werden kann, wäre eine fachliche Unterstützung bei der Auf- lösung dieser Ambivalenz. 11
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2. Mitbetroffenheit von Kolleginnen und Kollegen Der Mensch ist als soziales Wesen und Diese Bezeichnung ist aus mehreren eingebunden in eine Gesellschaft immer Gründen nicht hilfreich und sollte nicht beeinflusst von den Geschehnissen, die verwendet werden. Zum einen sind die um ihn herum passieren. Suchtkranke, die Kollegen und Kolleginnen selbst nicht ihre Abhängigkeit bearbeitet haben, be- abhängigkeitserkrankt und auch nicht richten jedoch im Nachhinein, dass ihnen verantwortlich für die Situation des Be- der Konsum ihres Suchtmittels wichtiger troffenen, wie es der Begriff „Co-Abhän- war als Beziehungen und gute Arbeits- gigkeit“ impliziert. Zum anderen wird die leistungen. Das Suchtmittel bestimmte ihr Bezeichnung gelegentlich als Vorwurf und Leben, auch am Arbeitsplatz. Mit zuneh- Stigmatisierung verwendet, so dass die mendem Konsum und Abhängigkeitspro- Hilfe anbietenden Kollegen in die Rolle von zess entwickelte sich ein Konsummuster, Beschuldigten rutschen und aufgrund des das das gesamte Verhalten bestimmte. Drucks aus dem Umfeld ihr unterstützen- Mit nachlassender Suchtmittelwirkung des Verhalten einstellen. Deshalb forderte veränderte sich die Stimmung, ließ die Ar- die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen beitsleistung nach. Diesem suchtmittelbe- in ihrem Memorandum 2013, „Angehöri- stimmten Verhalten sind in Arbeitsprozes- ge in der Sucht-Selbsthilfe“, den Begriff sen in starkem Maße die Kolleginnen und „Mitbetroffenheit“ zu verwenden. Mitbe- Kollegen unterworfen. Sie sind vom Sucht- troffen sind am Arbeitsplatz die Kollegin- problem mitbetroffen. Sie erleben ihren nen und Kollegen. Sie sind diejenigen, die Arbeitsalltag zusätzlich belastet, z. B. durch die direkte Interaktion mit dem Be- durch Zusatzarbeit oder dadurch, Fehler troffenen unter den Auswirkungen seines korrigieren oder den Betroffenen decken Verhaltens leiden. Dieses Verhalten gilt zu müssen. Sie erfahren Kränkungen und es anzusprechen. Doch welches Teammit- Zurückweisungen und oft gleichzeitig das glied möchte sich schon als „co-abhängig“ Gefühl, gebraucht zu werden und hilfreich definieren lassen, weil es sich vermeint- sein zu können. lich kollegial gegenüber einer auffälligen Im Arbeitsfeld „Gesundheitsförderung am Person verhält? Wer lässt sich gerne in Arbeitsplatz“ hat sich – nicht zuletzt durch die Rolle des Denunzianten bringen und Fachpublikationen aufgegriffen – die Zu- gleichzeitig noch abwerten für das eigene schreibung „Co-Abhängigkeit“ festgesetzt, vermeintlich fehlerhafte Verhalten? Da um das Beziehungsgeflecht zwischen scheint es sich eher anzubieten, bewusst einem Suchtkranken und seinem Umfeld „nichts“ wahrzunehmen und zu schwei- auszudrücken. gen. Vorsichtig lässt sich postulieren, dass die Etikettierung mit diesen Begriffen dem „Zuschauen, Abwarten und Nichtstun“ so- gar Vorschub leistet! 14
Die Bedeutung früher Ansprache Eine Grundaussage der „Qualitätsstan- Ähnliches gilt für den Begriff „konstruk- dards in der betrieblichen Suchtprävention tiver Druck“, der sich tatsächlich als we- und Suchthilfe der Deutschen Haupt- nig konstruktiv erwiesen hat. Wer sieht stelle für Suchtfragen“, (Wienemann, „Druck ausüben“ als geeignetes Mittel im Schumann, 2011) zur frühzeitigen An- Umgang mit einem Kollegen an? Lösungs- sprache zeigt ein anderes Verständnis orientierter und tatsächlich konstruktiv ist von Intervention: Danach könnte es sogar ein konsequentes Verhalten in Arbeitsbe- „lebensrettend“ sein, wenn ein Mitarbeiter ziehungen und -prozessen. Der betroffene / eine Mitarbeiterin in eine Krise rutscht Arbeitskollege / die betroffene Arbeitskol- und der Kollege/die Kollegin deren Arbeit legin ist für seine/ihre Arbeitsleistung und zum Teil mit übernimmt, ein offenes Ohr Gesundheit selbst verantwortlich. Kolle- leiht für den privaten Kummer und ihn/ gen und Kolleginnen können helfen, die sie abschirmt vor kritischen Blicken Drit- Funktionen und Aufgaben am Arbeitsplatz ter. Als frühe Intervention ist das durch- transparent zu halten. Es ist nicht ihre aus wünschenswert (vergleiche Seite 10). Aufgabe, die Verantwortung für betroffene Erst wenn damit keine Besserung erfolgt, Arbeitskollegen und -kolleginnen zu über- bietet sich die Frage an: „Macht es Sinn, nehmen. immer mehr von der gleichen Form der Unterstützung anzubieten? Muss ich als Kollegin eventuell umdenken und nach anderen Möglichkeiten der Hilfe suchen?“ Kolleginnen und Kollegen reagieren dann aufgeschlossen, wenn ihr bisheriges Han- deln wertgeschätzt wird. Sie lassen sich im Weiteren auf die Frage ein: „Wie hilf- reich war dein Handeln bislang? Macht es Sinn, über alternatives Handeln nachzu- denken? Wie soll es jetzt weitergehen?“ Die Verhaltensänderung im Umgang mit der betroffenen Person formuliert sie/er selber. Und diese eigene Entscheidung ist so wichtig, weil sie für die Kollegen auch lebbar sein muss. Eine aufgezwungene Verhaltensänderung hat dagegen kaum eine Chance. 15
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3. Wie könnte Hilfe für auffällige Beschäftigte aussehen? In welcher Form und in welchem Umfang Mögliche Entwicklungsschritte zwischen Hilfe angeboten werden kann und sollte, „gesund“ und „krank“ sehen folgender- ist von verschiedenen Faktoren abhängig. maßen aus: Ein wichtiger Aspekt ist die Frage, ob es Gesundheit im Sinne von Wohlbefinden sich um eine beginnende Beeinträchti- · Zufriedenheit gung handelt oder ob die Problemsituati- · Stabilität on sich schon manifestiert hat. Inwieweit Befindlichkeiten als frühzeitige die Hilfe vom Betroffenen angenommen Beeinträchtigung wird, ist abhängig von der Bereitschaft der · Unwohlsein betroffenen Person, eine andere Wahr- · Gereiztheit und Frust nehmung (Fremdwahrnehmung) als die · Erhöhter Konsum von Alkohol, eigene (Selbstwahrnehmung) zuzulassen. Zigaretten … Auch der Charakter und Vorerfahrun- gen mit „Kritik“ an der eigenen Person Befindensstörung · Dauerstress 3 spielen eine Rolle. Menschen sind nicht heute noch gesund und morgen plötzlich · Erschöpfungszustände krank. Zwischen diesen beiden Polen gibt · Anfälligkeit für Infekte es verschiedene Entwicklungsschritte, die · Verspannungen, Kopfschmerz je nach Substanz, körperlicher und see- · Konsum von Substanzen zur lischer Konstitution und Konsummenge Stressbewältigung unterschiedlich lange dauern (von Wochen Funktionseinschränkungen oder Monaten bis zu Jahren) und in denen · Rücken-, Herz-, Kreislaufbeschwerden der Betroffene unterschiedlich zugänglich · Psychosomatische Beschwerden für Hilfeangebote ist. · Innere Kündigung · Riskanter Konsum von Substanzen Funktionsstörung im Sinne von Krankheit · Angsterkrankungen, Abhängig- keitserkrankungen · Burnout, Depression · Muskel-Skelett-, Rücken- erkrankungen · Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magen-Darm-Erkrankungen · Schädlicher Substanzkonsum Elisabeth Wienemann: Moderne Suchtarbeit – Neue Entwicklungen und Herausforderungen in der betriebli- chen Suchthilfe, 53. Fachkonferenz der DHS „Sucht und Arbeit“, Essen 2013 18
Hilfe im frühen Stadium (Beeinträchti- gung von Befindlichkeiten) Befindlichkeitsstörungen treten in einem frühen Stadium individuell unterschied- lich auf. Hier könnte es noch hilfreich Im Sinne der „Qualitätsstandards in der sein, der Kollegin / dem Kollegen „das betrieblichen Suchtprävention und Sucht- Ohr zu leihen“, dabei Empathie zu zeigen hilfe“ geht es am Arbeitsplatz um eine und – wenn möglich – Entlastung oder frühzeitige Intervention. Folgt man der Vorschläge zum Erreichen von Entlastung oben genannten schematischen Dar- anzubieten. Der positive Einfluss von Un- stellung, dann wird deutlich, dass ers- terstützung im kollegialen Umfeld ist nicht te Auffälligkeiten im engen kollegialen zu unterschätzen. Schließlich verbringt Kontakt schon im Stadium der „Befind- man an der Arbeitsstätte häufig viel Zeit lichkeiten“ erlebt werden können. Hier miteinander und steht auch betriebliche sind die Kolleginnen und Kollegen den Schwierigkeiten (z. B. komplizierte Projek- Stimmungsschwankungen ausgesetzt. Es te, Schwierigkeiten mit Kollegen, betrieb- wird vielleicht sogar der riskante Konsum liche Veränderungen und vieles mehr) von Alkohol oder Schlafmitteln oder ein miteinander durch. In eine Krisensituation unübersehbarer Tabakkonsum von der geraten Mitarbeiterinnen und Mitarbei- betroffenen Person selber thematisiert ter mehr als einmal in ihrem Berufsle- mit der Begründung, dass es zurzeit nicht ben. Da ist es wichtig, zu wissen, dass ein anders auszuhalten sei. Hier tritt die Frus- Team hilfreich zur Seite steht. Sofern die tration vielleicht offen zutage und im Team betroffene Person von riskantem Alkohol-, bekommt es jemand zu hören, der völlig Medikamenten- oder Tabakkonsum oder unbeteiligt ist. Vielleicht wird die Gereizt- Ähnlichem berichtet, kann die hilfsbereite heit nach außen getragen, vielleicht richtet Person ihre eigene Einschätzung vorbrin- die betroffene Person diese auch gegen gen, für wie sinnvoll oder hilfreich sie die- sich selbst oder zieht sich zurück und wird se Lösungsstrategie hält. Drohgebärden auffällig unauffällig. und panische Reaktionen wie „Du wirst abhängig“ sind nicht angebracht und füh- ren meist nur zu verharmlosendem Ver- halten oder Rückzug der betroffenen Per- son. Sehr viel besser ist die Ermutigung, nach anderen und gesunden Stressbewäl- tigungsmustern zu suchen. Begleitung zu Beratungsdiensten oder nur ein Mitneh- men zu einer Freizeitaktivität kann – wenn sie gewünscht wird – in dieser frühen Pha- se noch angemessene Unterstützung sein. 19
Hilfe, wenn Befindensstörungen auftreten Arbeitssicherheitsfragen berührt sind. Wenn bereits „Befindensstörungen“ bei Denn es geht dann nicht mehr nur um den der betroffenen Person eingetreten sind, Betroffenen selbst, sondern auch um eine dann werden Kolleginnen und Kollegen Gefährdung von Kolleginnen und Kollegen gar nicht umhinkönnen, etwas zu bemer- und/oder Kunden. Wenn die betroffene ken. Sie werden mit den Auswirkungen Person mit dem privaten PKW zur Arbeit von Dauerstress des betroffenen Teammit- kommt, machen sich Kollegen auch Ge- glieds konfrontiert: danken über deren Fahrtüchtigkeit. · Rückstände in der Arbeitserledigung · Ärger mit Kunden, Schuldabwehr Die Ursachen für die Beeinträchtigung des · Konflikte suchend oder im Gegenteil Befindens sind den Kolleginnen oder Kol- meidend legen nicht unbedingt eindeutig klar. Hier · Krankschreibungen aufgrund einer ho- gibt es ein Spektrum von Gründen: hen Infektanfälligkeit · Rückzug in die totale Isolation > Persönliche Lebenskrise · Kolleginnen und Kollegen haben das > Gesundheitliche Probleme Gefühl, nicht mehr zur betroffenen (ggf. auch im persönlichen Umfeld) Person durchzudringen > Soziale Probleme Hier könnte der riskante Konsum von Al- (ggf. auch im sozialen Umfeld) kohol zur Stressbewältigung am „Feier- > Psychische Probleme abend“ dann als Restalkohol in Form einer Fahne morgens bei Arbeitsbeginn auf- > Negative Einstellung zur Arbeit tauchen. Der Medikamentenkonsum, ggf. > Konflikte am Arbeitsplatz legitimiert über ärztliche Verschreibung, > Riskanter Substanzkonsum oder nicht macht dem kollegialen Umfeld (sofern er stoffgebundenes Problemverhalten bemerkt wird) vor allem dann Sorge, wenn (pathologisches Glücksspielen, prob- lematischer Mediengebrauch, Essstö- rungen) 20
Das beste Vorgehen setzt sich in die- Egal welche Art der Intervention in der ser Situation aus „verstehen wollen und jeweiligen Situation möglich oder sinnvoll empathisch sein“ sowie „Grenzen der ist, so ist es grundsätzlich wichtig, die Akzeptanz des Verhaltens aufzeigen“ und Grenzen der eigenen Belastbarkeit aufzu- „Hilfeangebote anbieten“ zusammen. Die- zeigen und die Bereitschaft der betroffe- se Mischung hinzubekommen, ist sicher- nen Person zur Veränderung zu fördern, lich nicht immer leicht. Doch in der Regel ohne konfrontativ vorzugehen! setzt sich auch ein Team aus unterschied- lichen Charakteren zusammen, und so Mit der betroffenen Person reden, nicht können die Positionen aufgeteilt werden. nur über sie – dieses Motto sollten sich Diejenigen im Team, die erfahren möch- alle Beteiligten zu Herzen nehmen. Doch ten, was die betroffene Person so handeln manchmal ist auch das „Über-die-Per- lässt, können mit diesem Engagement son-Reden“ notwendig, um die eigene der betroffenen Person vermitteln, dass Wahrnehmung mit der der anderen abzu- es immer noch Zugewandte im Team gibt. gleichen und das Vorgehen zu diskutieren. Andere können sagen: „Du musst etwas Allerdings sollte es nicht zum Selbstzweck ändern!“ Beide Seiten können dann ange- werden, denn dann wird die betroffene messene Hilfeangebote von innerbetrieb- Person zu eigenen Unterhaltungszwecken licher oder externer Beratung anbieten missbraucht. Ohne konkrete Rückmeldung und den Weg dahin ebnen – sofern ihnen spürt sie nur eine veränderte Stimmung das erlaubt wird. Vielleicht wird die In- ohne diese angemessen einordnen zu tervention nicht unbedingt beim ersten können. Dieses Gefühl kann die negati- Versuch erfolgreich sein. Häufig braucht ve Gefühlslage weiter verschlimmern, die es die Wiederholung der Kollegen, um Isolation und Abgrenzung fördern und das dem betroffenen Teammitglied „den Spie- problematische Verhalten festigen. gel vorzuhalten“. Da die Last der Ver- antwortung auf diese Weise auf mehrere Schultern verteilt wird, ist die unangeneh- me Situation leichter zu bewerkstelligen. Gleichzeitig erlebt die betroffene Person, dass Einigkeit im Team herrscht. Anderer- seits muss vermieden werden, dass sich der Betroffene in die Ecke gedrängt fühlt durch die „Übermacht“ des Teams, das offenbar zu wissen glaubt, wie die eigenen Probleme gelöst werden sollten. Daher kann auch die Kontaktaufnahme durch ein einzelnes Teammitglied Vorteile haben. Allerdings braucht auch dieser Kollege den Rückhalt durch die Gruppe. Ansonsten ist die Belastung für den Einzelnen meist zu groß. 21
Hilfe bei Funktionseinschränkungen und Funktionsstörungen In dieser Phase zeigen sich die Auffällig- empfohlen werden. Ob die betroffene Per- keiten einer Beeinträchtigung der seeli- son diese oder andere Ratschläge befolgt, schen und körperlichen Gesundheit sehr bleibt aber allein ihr überlassen und sollte deutlich und werden klar nach außen hin von der persönlichen Ebene getrennt wer- sichtbar. Sowohl Fehler in den Arbeitspro- den. Die betroffene Person in eine ganz zessen als auch Krankschreibungen häu- bestimmte Hilfeeinrichtung zu drängen, fen sich. Nicht selten stören die Betroffe- ist nicht erlaubt. Sie hat das Recht, selbst nen jetzt auch den Betriebsfrieden, weil es und frei zu entscheiden, was für sie gut ihnen ausgesprochen schlecht geht. Die ist. Dieses Recht verdient, respektiert zu Person braucht qualifizierte professionelle werden. Selbstverständlich ist es geboten, Hilfe. Das Vorgehen der Kolleginnen und dem Betroffenen zuzuhören, wenn er von Kollegen ist in den Stadien der „Funkti- den einzelnen Schritten der Therapie oder onseinschränkungen“ und der „Funkti- dem Umgang damit erzählen möchte. onsstörungen“ dasselbe. Kollegen sollten Ansonsten ist es weiterhin angebracht, keine medizinischen Tipps geben. In die dem Betroffenen den Spiegel vorzuhalten, ärztliche Behandlung, die eventuell bereits indem nach außen sichtbare Auswirkun- von der betroffenen Person in Anspruch gen des Konsums (Alkohol, Medikamente, genommen wird, darf von außen nicht Drogen etc.) aufgezeigt werden. Gleichzei- eingriffen werden. Änderungen in der Be- tig sollte der Blick nicht nur auf die noch handlung klärt der Patient direkt mit sei- nicht gegangenen Schritte fallen, sondern nem behandelnden Arzt. Sich eine zweite positive Entwicklungen sollten gelobt und Arztmeinung einzuholen, kann dagegen verstärkt werden. Wenn die Situation in irgendeiner Weise für die beteiligten Kollegen zu belastend wird, muss in Erwägung gezogen werden, die Führungskraft einzubeziehen. Hierfür gibt es wichtige Gründe, die nichts mit „im Stich lassen“ zu tun haben: · Kollegen haben offiziell keine Möglichkeit zu agieren. Dies kann nur über den Vor- gesetzten erfolgen aufgrund nicht oder mangelhaft erbrachter Arbeitsleistung. Oder wenn der Vorgesetzte seiner Fürsorgepflicht nachkommt. · Möglicherweise geht von der Person inzwischen eine konkrete Gefahr für Dritte aus. · Die Belastungsgrenze der Kollegen ist erreicht bzw. die erfolgten Interventionen zei- gen keine Wirkung. Sie müssen durch die Personalführung verstärkt werden (siehe auch S. 52). · Die Person braucht dringend Hilfe. 22
Nicht selten wird für den Umgang mit Be- Diese Aussage trifft auf keinen Fall zu! troffenen noch immer propagiert: „Hilfe Erstens gibt es unterschiedliche Phasen ist, nicht zu helfen.“ Nicht zu helfen, wird der Beeinträchtigung, die ein differenzier- gleichgesetzt mit „fallen lassen.“ Hinter- tes Vorgehen verlangen. Und zweitens gibt grund dieser Empfehlung ist der – inzwi- es betroffene Personen, die ihren per- schen überholte – Glaubenssatz, dass sönlichen Punkt, an dem für sie Verände- der Suchtkranke scheitern muss, damit rungsdruck entsteht, unterschiedlich früh er zum Umdenken gezwungen wird. Das oder spät in ihrem individuellen Entwick- „Nicht-Helfen“ wird zum Dogma. Für eini- lungsprozess erreichen. ge wenige Betroffene mag diese Empfeh- Daraus folgt, dass es kein allgemeingülti- lung hilfreich sein, aber sie zu genera- ges Konzept von Hilfe gibt. lisieren, würde bedeuten, dass es keine Zudem überfordert die oben genannte Vorstufen zur Krankheit gibt, sondern nur Empfehlung auch etliche Kolleginnen und „den Suchtkranken“, der eine solche star- Kollegen, die unterstützend eingreifen ke Intervention braucht. möchten, weil sie die betroffene Person schätzen und mögen. 23
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4. Das kollegiale Gespräch mit Betroffenen Das betriebliche Umfeld bietet einen Rah- nen lastet. Gleichzeitig birgt es die Gefahr, men, in dem verschiedene Personen in sich selbst verhältnismäßig leicht aus der unterschiedlichen Funktionen mit der auf- Verantwortung, selbst zu handeln, zu ent- fälligen Person sprechen könnten. Das hat lassen. Daher ist es wichtig, dass die Rol- den Vorteil, dass die Last der Problematik len klar abgegrenzt und verteilt sind. nicht nur auf den Schultern eines Einzel- Rollenklarheit als Voraussetzung für das Handeln: Wer spricht mit der Person? Vorgesetzte/-r Mitarbeiter/-in der Personalabteilung Fachkraft für Arbeitssicherheit Kollegin / Kollege Gleichstellungsbeauftragte/-r Auffällige Ansprechpartner/-in für Suchtfragen/ Betriebsrat/Personalrat Person Suchtberatung Vertrauensperson der Schwerbehinderten Mitarbeiter/-in des Arbeitsmedizinischen Dienstes Jede Person, die Kontakt aufnehmen will, muss zuerst die eigene Motivation in dem Pro- zess für sich klären. Anschließend sollte eine Abstimmung mit den anderen Kollegen oder beteiligten Personen erfolgen, um die Zielsetzung und die Aufträge an die einzelnen Beteiligten abzustimmen. In allen Kontaktaufnahmen und im Gesprächsprozess mit der betroffenen Person gilt es, das eigene Rollenverständnis zu festigen, um sowohl in den gesagten Botschaften (der Wortwahl), der räumlichen Umgebung für das Gespräch und den Zielsetzungen eine kla- re Linie zu verfolgen. 26
Grundlegende Hinweise zur Kommunikation Anhand des Kommunikationsmodells Nach Schulz von Thun hat jede Botschaft von Schulz von Thun (2014), eines bekann- vier Aspekte; er spricht von den vier Seiten ten Psychologen und Kommunikations- einer Nachricht – ein Modellstück der zwi- wissenschaftlers, wird deutlich, welche schenmenschlichen Kommunikation. Bedingungen erfüllt sein müssen, damit sich die Gesprächspartner angemessen und möglichst unmissverständlich begeg- nen können. Der Sender gibt etwas von sich (die Anatomie einer Nachricht): 1. Sachinhalt oder: Wie kann ich das, worüber ich informiere, klar und verständlich mitteilen? 2. Selbstoffenbarung oder: Wenn einer etwas von sich gibt, gibt er auch etwas von SICH – dieser Umstand macht jede Nachricht zu einer kleinen Kostprobe der Per- sönlichkeit. 3. Beziehung oder: Wie behandle ich meinen Mitmenschen durch die Art meiner Kom- munikation? Je nachdem, wie ich ihn anspreche, bringe ich meine Meinung über ihn zum Ausdruck; entsprechend fühlt sich der andere entweder akzeptiert und voll- wertig behandelt oder aber herabgesetzt, bevormundet, nicht ernst genommen. 4. Appell oder: Wenn einer etwas von sich gibt, will er in der Regel auch etwas bewir- ken und auf den Empfänger Einfluss nehmen. Sachinhalt Selbst- Appell offenbarung Nachricht Beziehung 27
Der Empfänger der Nachricht nimmt, entsprechend zu den vier Botschaften einer Nachricht, andere Dinge wahr. Man könnte sagen, es gibt vier Ohren, auf denen der Empfänger hört. · Was ist das für einer? Was ist mit ihm? · Wie ist der Sachverhalt zu verstehen? · Was soll ich tun, denken, fühlen aufgrund seiner Nachricht? · Wie redet der eigentlich mit mir? Wen glaubt er vor sich zu haben? Schulz von Thun „Der vierohrige Empfänger“ Die zwischenmenschliche Kommunikati- anderen Ohr. Da kann der Sender noch so on wird dadurch so kompliziert, dass nicht oft behaupten, er habe doch „nur“ einen der Sender bestimmt, was gehört wird, Sachinhalt verkündet – wenn der Empfän- sondern der Empfänger. Daher kann beim ger den Appell heraushört oder die Bezie- Empfänger etwas anderes ankommen hung zueinander ins Spiel kommt, wird die als das, was man sagen wollte. Abhängig Antwort oder Handlung anders aussehen, davon, wie das grundsätzliche Verhältnis als der Sender es erwartet hat. In Wirk- der Kommunikationspartner im Moment lichkeit kommt es oft zu Überschneidun- zueinander ist, hört der Empfänger mal gen des Hörens. Ganz eindeutig werden mehr auf dem einen, mal stärker auf dem sich Antworten selten zuordnen lassen. 28
Ein Beispiel kann verdeutlichen, wie das vorher Gesagte zu verstehen ist: Der Vorgesetzte sagt in einem Arbeitsgespräch zum Mitarbeiter: „Sie werden die Veränderung in den Arbeitsabläufen sicher bald umgesetzt haben. Und ich gehe davon aus, dass Sie die Vorteile bald zu schätzen wissen!“ Der Mitarbeiter kann auf den Sachinhalt reagieren, dann antwortet er: „Klar, die Umstellung ist kein Problem. Gibt es noch etwas, was ich dabei beachten sollte?“ Der Mitarbeiter kann auf die Selbstoffenbarung seines Gegenübers hören und antworten: „Stehen Sie unter Zeitdruck mit dem Veränderungsprozess?“ oder „Sie hoffen auf meine Unterstützung und vertrauen darauf, dass ich die Vorteile sehe. Sie fürchten eine Zeitver- zögerung?“ Der Mitarbeiter kann auf die Beziehungsseite reagieren: „Ich erfahre ja gerade erst von der Umstellung. Was veranlasst Sie, zu glauben, dass ich das jetzt sofort umsetze. Den anderen Beschäftigten haben Sie doch auch mehr Zeit ein- geräumt!“ Oder: „Ob ich das jetzt gut finde oder nicht, wird sich noch zeigen! Ich lasse mir von Ihnen doch nicht meine Haltung zu den Veränderungsprozessen vorschreiben!“ Der Mitarbeiter kann auf den Appell anspringen und sagen: „Ich mache mich sofort an die Änderung der Arbeitsabläufe! Ich gebe Ihnen umgehend Bescheid, wenn ich alles angepasst habe!“ Das Wissen um Kommunikationsprozes- gemobbt werden! Auf mir hacken immer se kann in der Vorbereitung für das Ge- alle herum! Hätte ein anderes Teammit- spräch mit der auffälligen Kollegin oder glied sich so verhalten, hättest du nichts dem auffälligen Kollegen von Nutzen sein. bekrittelt.“ Zum Beispiel kann ein Satzanfang lauten: „Wenn ich das jetzt kritisiere, dann rich- Menschen, die psychisch beeinträchtigt tet sich meine Kritik nicht gegen dich als sind, hören überdurchschnittlich oft auf ganze Person, sondern bezieht sich nur dem Beziehungsohr. Vor allem wenn Kritik auf dein Handeln in diesem speziellen an ihnen geübt wird, können sie zwischen Zusammenhang.“ Die Gefahr, ausschließ- sachlicher Kritik und persönlicher Kritik lich das Beziehungsohr zu bedienen, wird nicht mehr unterscheiden. In der Regel durch die Klarstellung eingeengt. Eine wird die Kritik immer als gegen ihre Per- Gewähr, das Hören in die richtige Richtung son gerichtet gewertet. Sie fühlen sich in gelenkt zu haben, gibt es jedoch nicht! Frage gestellt. Dieses „übergroße Ohr“ in Wenn die betroffene Person für sich die Richtung Beziehung macht die Kommu- Opferrolle gewählt hat, dann wird – trotz nikation mit ihnen anstrengend und nicht aller Klarstellungen – die Beziehung im selten wird diesen Gesprächen am liebs- Vordergrund stehen und die Antwort so ten ganz ausgewichen. oder ähnlich lauten: „Ich soll hier wohl 29
Ich-Botschaften nutzen In dem Manual für die Beratung am Tele- fahr ist groß, dass die Beziehung zum Ge- fon, das von der DHS für die „Sucht und sprächspartner bzw. zur Gesprächspart- Drogen Hotline“ 2013 veröffentlicht ist, nerin und das gesamte Gesprächsklima heißt es: durch Du-Botschaften weiter verschlech- „Es ist oft schwierig, klare und unmiss- tert werden. Die meisten Menschen hören verständliche Botschaften auszusenden. einen Vorwurf, eine Herabsetzung oder Wir Menschen verstecken gerne unsere Ablehnung in der Du-Botschaft, und das Empfindungen und Gedanken hinter einem provoziert in erster Linie Widerstand.“ ,Man‘ oder einem ,Du‘, was nicht selten in Aus diesem Grund sollten – eigentlich anklagender Form geäußert wird … grundsätzlich, besonders aber in potentiell Besonders häufig tauchen Du-Botschaf- schwierigen Gesprächen – vorwiegend ten in schwierigen oder konflikthaften Ge- Ich-Botschaften ausgesendet werden. Das sprächssituationen auf. Es entsteht dann Umdenken fällt spontan manchmal nicht schnell eine Negativ-Spirale, denn die Ge- leicht. Diese Beispiele sollen zeigen, wie aus einer Du- eine Ich-Botschaft wird: Du-Botschaften vermeiden Effekt Ich-Botschaft nutzen „Wenn Sie so weitermachen …“ Drohung „Ich sehe Veränderungsbedarf.“ „Sie sollten besser …“ Belehrung „Ich würde mir wünschen, dass …“ „Da sind Sie schlecht informiert.“ Bewertung „Mich interessiert, was Sie wissen.“ „Sie wissen doch ganz genau …“ Unterstellung „Ich möchte Sie informieren über ...“ „Ich kann Ihnen nur raten …“ Anweisung „Mir wäre zukünftig wichtig, dass …“ „Mit einer Ich-Botschaft treffen Sie Aussagen über Ihre eigenen Ziele, Bedürfnisse und Emotionen und können Ihrem Gesprächspartner bzw. Ihrer Gesprächspartnerin die Kon- sequenzen bestimmter Verhaltensweisen aufzeigen. Sie begegnen sich auf Augenhöhe und ohne den Anspruch, Ihre Sicht der Dinge durchzusetzen. Die Kommunikation verläuft offen, direkt und ehrlich. Ich-Botschaften werden im Wesentlichen als angriffsfreie Bot- schaften von Ihrem Gesprächspartner bzw. Ihrer Gesprächspartnerin aufgenommen.“ Quelle: DHS: „Sucht und Drogen Hotline“ – Manual für die Beratung am Telefon 30
Das kollegiale Gespräch vorbereiten und gestalten Eine „gute Gesprächsatmosphäre“ zu schaffen, ist nicht so banal, wie es klingt. Denn was als „gute Atmosphäre“ empfun- den wird, kann sehr unterschiedlich sein. Als Anregung könnten folgende Hinwei- · Es ist sinnvoller, keinen Überra- se dienen, die sich in der Praxis bewährt schungsangriff zwischen „Tür und An- haben: gel“ zu starten, weil es sich gerade so · Sie sind der Initiator für das Gespräch. günstig ergibt. Kollegiale Gespräche Da es sich u. U. um eine schwierige Ge- sollten kurzfristig angekündigt werden: sprächssituation handelt, die Sie leiten „Hast du nachher noch mal eine Viertel- und aushalten müssen, ist es legitim, stunde (oder 20 Minuten oder eine hal- sich zu überlegen, wie es für Sie selber be Stunde) Zeit? Ich würde gerne was angenehm ist. Wenn Sie etwas beim mit dir besprechen!“ Gespräch trinken möchten, dann bieten · Machen Sie kein langes „Warming-up“, Sie etwas an. Wenn Sie eine „gemütli- d. h., reden Sie nicht erst lange über che Sitzposition“ brauchen, dann wäh- das Wetter, über Urlaube oder über len Sie für beide einen solchen Rahmen. Kinder. Wenn Sie Ihr Hauptanliegen Was hier deutlich werden soll: Wenn nach einer solchen „Aufwärmphase“ Sie die Rahmenbedingungen für das thematisieren, fühlen sich die Ange- Gespräch so gestalten, dass es für Sie sprochenen getäuscht. Es macht eher gut ist, dann sind Sie in der Gesprächs- Sinn, eventuell die gemeinsame Zeit führung sicherer. Es geht also nicht in der Zusammenarbeit an den Anfang erster Linie darum, was mein Gegen- des Gesprächs zu stellen und davon – über braucht, sondern darum, was ich sofern es wahr ist – eine positive Bilanz brauche. Sorgen Sie gut für sich selbst, zu ziehen. Dieser Einstieg bereitet das damit das Gespräch gelingen kann. dann Folgende – die jetzige Verände- · Sorgen Sie bei der Auswahl des Rau- rung der kollegialen Zusammenarbeit – mes am Arbeitsplatz dafür, dass es vor. Sie können das Gespräch aber auch möglichst keine Störungen durch ande- direkt mit Ihrem Anliegen beginnen re Kolleginnen oder Kollegen gibt, die (Gesprächseinstiege ab S. 36). in den Raum kommen. Auch Unterbre- · Überlegen Sie im Vorfeld gut, ob Sie das chungen durch Telefonate, E-Mails oder Gespräch mit der betroffenen Kollegin / Ähnliches sollten vermieden werden. dem betroffenen Kollegen alleine oder · Ein großes Risiko ist die Verlegung des zusammen mit einer weiteren Person Gesprächs in Privaträume. Die Situation aus dem Team führen wollen. Für Sie schmälert die erforderliche Distanz zwi- selber bedeutet ein zweites Teammit- schen den Beteiligten, und eine Person glied Verstärkung und Unterstützung. hat den Heimvorteil. Ein weiteres Teammitglied, das nicht 31
in einer „Statistenrolle“ bleibt, sondern eine Zeit des Nachdenkens einräumen auch Rückmeldungen zum Verhalten möchten. Versuchen Sie einen Abbruch der betroffenen Person gibt, könnte von so zu gestalten, dass „die Tür noch ei- dieser als „Doppelangriff“ erlebt wer- nen Spalt offen bleibt“. den (siehe Kapitel “Mögliche Reakti- onen der Betroffenen,“ S. 40). Gerade Ziele für das Gespräch formulieren wenn es das erste Gespräch mit der Bei der Zielformulierung für ein Gespräch auffälligen Person ist, sollte die Atmo- gilt ein wichtiger Grundsatz: Die Formu- sphäre nicht durch unnötiges Ungleich- lierung eines Zieles sollte auf das eigene gewicht gefährdet werden. Handeln bezogen sein! Wenn ich das Ziel 4 · Es geht um eine gute Balance zwischen auf mein Handeln beziehe, dann kann ich Distanz und Nähe bzw. zwischen Ver- mir Kriterien suchen, die mir helfen zu ständnis und Grenzziehung. Versuchen beurteilen, ob ich mein Ziel erreicht habe. Sie sich in der Vorbereitung auf Ihr Ge- Ich erspare mir eventuell Enttäuschungen, genüber und dessen Verhaltensmuster weil ich selber die Umsetzung in der Hand einzustellen und halten Sie die Stim- habe. mung aufrecht, auch wenn Ihr Gegen- Nicht selten wird als Ziel für das Gespräch über versucht, die Atmosphäre negativ gesetzt: „Er/sie soll einsehen, dass er/sie zu beeinflussen. Es ist auch Ihr gutes Hilfe braucht!“ oder „Der Angesproche- Recht, ein Gespräch abzubrechen, wenn ne soll erkennen, dass ich es gut mit ihm Sie keinen Sinn in der Fortführung meine!“ In diesen Sätzen ist die Erfüllung sehen oder wenn Sie dem Gegenüber des Zieles jedoch vom Gegenüber abhän- gig, das möglicherweise bewusst ein ganz anderes Ziel verfolgt oder in seiner Situa- tion nicht (mehr) erkennen kann, dass die Unterstützung gut gemeint ist bzw. dass ggf. eine behandlungsbedürftige Krankheit vorliegt. Im Kapitel „Mögliche Reaktio- nen der Betroffenen“ (S. 40) wird deutlich, dass der Betroffene die Situation anders wahrnimmt und daher auch Abwehrver- halten zeigt. Wenn ich das Ziel auf die Ein- sicht von Betroffenen hin formuliere und diese mit Vehemenz ein Problem leugnen, ist meine Enttäuschung vorprogrammiert. Übrig bleibt nur Resignation: „Ob ich mit der rede oder es sein lasse, bleibt sich gleich.“ Mit dieser Haltung wird kein wei- teres Gespräch gesucht. Dabei hätte allein 32
eine realistischere Zielsetzung die Er- Situationsbezogen bedeutet, zu beurtei- wartungshaltung reduziert. Das Gespräch len, wieweit eine Kollegin oder ein Kollege wäre im Nachgang vielleicht sogar als beeinträchtigt ist. Besteht bei den erlebten nützlich und gut bewertet worden. Auffälligkeiten bereits ein Zusammenhang mit Substanzkonsum oder problemati- Realistische Gesprächsziele setzen schem nicht stoffgebundenem Verhalten? Hier folgen einige Vorschläge für eine er- folgversprechendere Formulierung von Zielen. Sie können einzeln oder auch in Kombination gewählt werden. Die Liste ist nicht vollständig. Sie dient nur zur An- regung und sollte mit eigener Fantasie personen- und situationsbezogen ergänzt werden. Zielformulierung für frühe Gespräche bei ersten Beeinträchtigungen ohne klare Hintergrundproblematik (siehe „Wie könnte Hilfe für auffällige Beschäftigte aussehen?“, S. 17) · Das Ziel ist, Unterstützung anzubieten: Ich würde dir gerne helfen. Was kann ich für dich tun, damit es dir wieder besser geht? · Das Ziel ist, Hintergründe zu erfragen: Mich beunruhigt dein selbst gewählter Rückzug. Was ist los? Was belastet dich? Es wäre gut zu wissen, was der Grund für deine Veränderung ist. · Das Ziel ist die Spiegelung der eigenen Wahrnehmung: Ich erlebe dich verändert und ich zeige dir an Beispielen auf, woran mir etwas aufgefallen ist. Ich würde gerne verstehen, was passiert ist. · Das Ziel ist Verstärkung des Veränderungswunsches: Ich bin froh, dass du merkst, wie nötig du Unterstützung brauchst. Ich sehe, es geht dir nicht gut, und ich bin froh, dass du dich mir anvertraust. 33
Bei den frühen Interventionen liegt die Hilfe. Und selbst wenn es diese Irritation große Chance in der ehrlichen Begegnung nicht geben sollte, leuchtet es doch ein, zweier Kolleginnen oder Kollegen auf dass ein Moment des Nachdenkens er- Augenhöhe. Eine Chronifizierung der ne- laubt sein muss, und zwar darüber: „Wie gativen Entwicklung kann durch die frühe ausführlich will ich meinem/r Kollegen/ Intervention vermieden werden. Eventuell Kollegin meine Krisensituation darstel- öffnet sich die angesprochene Person und len?“, „Was von meinem privaten Dilem- gewährt Einblick in ihre derzeitige Krise. ma geht mein Arbeitsumfeld an?“, „Wenn Vielleicht nimmt sie sogar die angebotene ich etwas erzähle, wie schnell macht das Unterstützung an. Möglich ist aber auch, dann die Runde unter den Kollegen?“ dass die angesprochene Person sich nicht Selbst wenn diese Befürchtungen jeder erklären möchte. Es ist ihre Entscheidung. Grundlage entbehren, so kann ich der angesprochenen Person ihre Ängste und Nicht selten erlebt die angesproche Per- Befürchtungen nicht verbieten. Es ist vor- son das Gespräch auch als unangenehm ausschauend, dieses Nachdenken einzu- und fühlt sich bedrängt. In der Rückschau kalkulieren und ein Angebot zur freiwilli- über das Gesagte versteht sie das Ge- gen Fortsetzung des Gesprächs auf einen spräch eventuell auch als ein Angebot der der nächsten Tage anzubieten. Zielformulierung für das erste Gespräch bei vermutetem riskantem Substanzkonsum oder nicht stoffgebundenem Problemverhalten (keine Überfrachtung!) Wie an anderer Stelle bereits erwähnt, fordern ehemals betroffene Abhängige selbstkri- tisch ein, nicht „über“, sondern „mit Auffälligen“ zu sprechen. Sowohl diesem Wunsch entsprechend als auch der Notwendigkeit der Standards folgend, sind diese Ziele formu- liert. · Ich möchte dem/der Auffälligen aus meiner Sicht als Kollege/Kollegin mitteilen, wie ich ihn/sie im Moment wahrnehme. Ich möchte ihm/ihr auch meine jetzige Interpre- tation (z. B. riskanter Alkoholkonsum, Medikamenteneinnahme oder Glücksspiele) für die Auffälligkeiten vorbringen. · Ich möchte meine Sicht auf die Situation neben die Sichtweise meines Gegenübers stellen. Dabei geht es mir nicht darum, zu diskutieren, wer Recht hat. · Ich möchte der auffälligen Person mitteilen, wie groß meine Sorge einerseits, aber auch mein Unbehagen andererseits ist. 34
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