JUNGE AKADEMIE MAGAZIN - Die Junge Akademie
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AUSGABE 23 | 2017 JUNGE AKADEMIE MAGAZIN an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina DOSSIER Geschäftsstelle Hochleistung – präziser, schneller, weiter Die Junge Akademie Jägerstraße 22/23 K O M M E N TA R 10117 Berlin Impact! Auf Kollisionskurs mit Zitationsparametern Telefon (030) 2 03 70 – 6 50 Fax (030) 2 03 70 – 6 80 P R O JE K T E E-Mail office@diejungeakademie.de Der Kurzfilmwettbewerb „be a better being“ Internet www.diejungeakademie.de
J UNG E A KADE MIE MAGAZI N Das Junge Akademie Magazin wird von Mitgliedern der Jungen Akademie konzipiert. Es bietet Einblicke in Projekte und Veranstaltungen der Jungen Akademie, berichtet über Mitglieder und Publikationen und mischt sich in aktuelle wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Debatten ein. D IE JU NGE AKADEMIE Die Junge Akademie wurde im Jahr 2000 als gemeinsames Projekt der Berlin-Brandenbur- gischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) und der Deutschen Akademie der Natur- forscher Leopoldina gegründet. Sie ist weltweit die erste Akademie des wissenschaftlichen Nachwuchses. Die Junge Akademie wird gemeinsam von BBAW und Leopoldina getragen. Seit 2011 ist sie administrativ dauerhaft im Haushalt der Leopoldina verankert und wird finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie den Ländern Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Ihre fünfzig Mitglieder, Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus dem deutschsprachigen Raum, widmen sich dem interdisziplinären Diskurs und engagieren sich an den Schnittstellen von Wissenschaft und Gesellschaft.
EDITORIAL | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 1 EDITORIAL Wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn schreitet mit atemraubender Geschwindigkeit voran. Unser Wissen wächst exponentiell und verdoppelt sich schätzungsweise alle fünf bis zehn Jahre. Was gestern unmöglich schien, ist heute schon technische Realität. Noch nie konnten wir so tief in den Kosmos blicken, genetische Information präziser und einfacher manipulieren, Daten schneller verarbeiten und austauschen. In dieser Ausgabe des Jungen Akademie Magazins entführen wir Sie in die Welt der wissenschaftlichen Hochleistung, in der unsere Mitglieder die Technik von morgen mitgestalten. Mit Hilfe hochauflösender Mikroskopie gewinnt die Biophysikerin Ulrike Endesfelder spektakuläre Einblicke in lebende Zellen. Der Informatiker Dirk Pflüger erzählt von der Herausforderung, aus Hunderttausenden von Prozessoren einen funktionierenden Supercomputer aufzubauen. Wie solche Hochleistungsrechner einge- setzt werden können, um die atomaren Bewegungen von Proteinen zu simulieren, aber auch die Struktur des Universums abzubilden, schildern die Bioinformatikerin Bettina Keller und der Kosmologe Fabian Schmidt. Über die Zukunft der Wettervorhersage unterhalten sich die Atmosphärenforscherin Bernadette Weinzierl und die Musik- wissenschaftlerin Miriam Akkermann. Aber Hochleistung hat auch ihre Schattenseiten. Im Filmwettbewerb der Jungen Akademie „be a better being“ beschäftigten sich viele Beiträge mit dem Drang und dem Zwang zur ständigen Selbstoptimierung in Wissenschaft und Gesellschaft. Mittlerweile wächst der Druck, die Leistung einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu quantifizieren, wie Nachwuchswissenschaftler mit dieser Entwicklung umgehen sollten, ist das Thema unseres Kommentars. Viel Vergnügen mit dieser Ausgabe des Jungen Akademie Magazins. An der nächsten Ausgabe arbeiten wir bereits mit Hochdruck! Tobi J. Erb
2 IMPRESSUM | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 Hochleistungsrechner der Universität Stuttgart IMPRESSUM Herausgeberschaft Beiträge aus der JA Text und Koordination Gestaltung Die Junge Akademie (JA) Miriam Akkermann Tobias J. Erb, JA-Mitglied Wiebke Genzmer an der Thomas Böttcher Dirk Liesemer, Berlin-Brandenburgischen Ulrike Endesfelder freier Textchef Druck F O T O : U N I V E R S I T Ä T S T U T T G A RT / FA C H B E R E I C H I N F O R M AT I K Akademie der Wissenschaften Tobias J. Erb Deidre Rath, Medialis Offsetdruck GmbH und der Deutschen Akademie Katharina Heyden studentische Hilfskraft/ der Naturforscher Leopoldina Philipp Kanske Projektmanagement Auflage Bettina Keller Anne-Maria Stresing, 1.500 Exemplare Redaktionsteam der JA Jonas Peters JA-Geschäftsstelle Tobias J. Erb (verantwortlich) Dirk Pflüger Februar 2017 Miriam Akkermann Fabian Schmidt Titelbild © Die Junge Akademie Caspar Battegay Bernadett Weinzierl David Virant, AG Endesfelder, Jennifer Girrbach-Noe Kai Wiegandt Kooperationsprojekt mit Diana Göhringer AG Rothbauer, Tübingen ISSN 1863-0367 Katharina Heyden Weitere Beiträge www.diejungeakademie.de Lisa Kaltenegger Deidre Rath Florian Meinel Leonhard Scheck Fabian Schmidt Beate Wagner Jule Specht Kai Wiegandt
INHALT | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 3 INHALT 1 EDITORIAL 2 IMPRESSUM Dossier 0 HOCHLEISTUNG – PRÄZISER, SCHNELLER, WEITER 4 THEMEN UND AUTOREN 6 „WIR KÖNNEN LIVE BEOBACHTEN, WIE GENETISCHE CODES KOPIERT WERDEN“ 14 SCHNELLER ALS EIN WANDERFALKE 16 93 000 000 000 000 000 RECHENOPERATIONEN PRO SEKUNDE 18 UNTERSUCHUNGEN IN DER GANZ KLEINEN UND GANZ GROSSEN WELT 24 MACHT SCHOKOLADE SCHLAU? 26 ERKUNDUNGEN AM HIMMEL Kommentar 30 IMPACT? WARUM DER WISSENSCHAFTLICHE NACHWUCHS NICHT AN SEINEN ZITATIONEN GEMESSEN WERDEN SOLLTE Projekte 32 LAUFEN ALS METAPHER Der Kurzfilmwettbewerb „be a better being“ lotete den ewigen Drang des Menschen aus, ein besseres Wesen werden zu wollen Arbeitsgruppen 36 SICH EINMAL VON AUSSEN BETRACHTEN Eine Konferenz der AG Faszination beschäftigte sich mit den Möglichkeiten des Perspektivwechsels Internationales 40 WELTWEITE VERNETZUNG Die Global Young Academy steht in ihrem siebten Jahr vor neuen Herausforderungen JA aktiv 42 PREISE, STIPENDIEN UND AUSZEICHNUNGEN 44 PUBLIKATIONEN 46 TERMINE 2017/2018 Zu guter Letzt 48 WAS MACHT EIGENTLICH ... Volker Springel?
4 HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 HOCHLEISTUNG – PRÄZISER, SCHNELLER, WEITER KONZEPTION TOBIAS J. ERB Beim Thema Hochleistung denken nicht wenige Menschen wohl zuerst an den Spitzensport. Man assoziiert damit Begriffe wie höher, schneller und weiter. Um neues wissenschaftliches Terrain zu vermessen, müssen auch Forschende jeden Tag nach Höchstleistungen streben. Unsere Autorinnen und Autoren, allesamt Mitglieder der Jungen Akademie, berichten in diesem Dossier, wie sie mit Hilfe von Supercomputern oder der aktuellsten Generation von Mikroskopen zu neuen Erkenntnissen gelangen.
HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 5 F O T O S : D AV I D V I R A N T, A G E N D E S F E L D E R , K O O P E R AT I O N S P R O J E K T M I T A G R O T H B A U E R , T Ü B I N G E N , V. S P R I N G E L , C . S . F R E N K A N D S . D . M . W H I T E , N AT U R E ( L O N D O N ) 4 4 0 , 1 1 3 7 ( 2 0 0 6 ) , „ L E G U I D E D E S C I T É S “ B Y F R A N Ç O I S S C H U I T E N © C A S T E R M A N S . A , A N D R E A S C H Ä F E R „An einer lebenden Zelle lässt sich „Längst ist das Rechnen selbst nicht sogar erkennen, wie viel Prozent mehr der kritische Flaschenhals, der RNA-Polymerase gerade einen sondern die Kommunikation und DNA-Abschnitt abschreibt“, „Welche Rechnung könnte so der Zugriff auf den Speicher“, erzählt Ulrike Endesfelder kompliziert sein, dass man dafür schreibt Dirk Pflüger (ab Seite 7). Hunderttausende von Prozessoren (ab Seite 16). auf einmal benötigt?“ Diese Frage beantworten Bettina Keller und Fabian Schmidt. (ab Seite 18). „Bdellovibrio bacteriovorus, ein „Viele Entwicklungen der Forschung räuberisch lebendes Bakterium, finden zu einem Zeitpunkt statt, das sich von anderen Bakterien an dem noch nicht klar ist, welche ernährt, bewegt sich mit bis zu 150 „Was passiert, wenn man praktische Anwendung die Körperlängen pro Sekunde fort“, bestimmte Gene löscht oder Entdeckung haben wird“, berichtet Thomas Böttcher Proteine deaktiviert? Hier sind sagt Bernadett Weinzierl im Interview (ab Seite 14). kausale Methoden von Interesse“, (ab Seite 26). erklärt Jonas Peters (ab Seite 24).
6 HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 FOTO: U. ENDESFELDER Rote, grüne und blaue Laserstrahlen werden über verschiedene Spiegel übereinandergeführt, bevor sie als ein gemeinsamer Strahl in das Fluoreszenzmikroskop eingekoppelt werden. Dort bringen sie markierte Proteine von Lebendzellen zum Leuchten. Mit der Methode lassen sich einzelne Bestandteile und die Struktur einer Zelle untersuchen.
HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 7 „WIR KÖNNEN LIVE BEOBACHTEN, WIE GENETISCHE CODES KOPIERT WERDEN“ Die Biophysikerin Ulrike Endesfelder über Fluoreszenzmikroskopie und aufschlussreiche Einblicke in das Innenleben von lebenden Zellen INTERVIEW DIRK LIESEMER | FOTOS ULRIKE ENDESFELDER JAM: Auf den ersten Blick sehen die Mikroskopaufnahmen wie spektakuläre Bilder aus dem Weltraum aus. Was genau zeigen die Fotos? Ulrike Endesfelder: Wir sehen Proteine, die künstlich zum Leuchten gebracht wurden. Dadurch erkennt man unterschied- liche Bestandteile der Zelle, wie etwa das Zellskelett aufgebaut ist, welche Struktur es hat und wie es stabil gehalten wird. Darüber hinaus zeigen die Fotos, dass manche Proteine gezielt genutzt werden, um Dinge von A nach B zu transportieren. Und in einem der Bilder sieht man, wie die RNA-Polymerase arbeitet – also jenes Protein, das unsere genetischen Informationen abschreibt. Wir können mit dem Fluoreszenzmikroskop live be- obachten, wie mit dieser Abschrift die Proteine gebaut werden. DIE BIOPHYSIKERIN JAM: Sie forschen seit 2008 mit Hilfe von hochauflösender Fluoreszenzmikroskopie an subzellulären Zellstrukturen und Ulrike Endesfelder arbeitet am Max-Planck-Institut für terrestrische Dynamiken. Worin besteht Ihr Erkenntnisinteresse? Mikrobiologie & LOEWE Zentrum für Synthetische Mikrobiologie in Marburg. Sie ist seit 2015 Mitglied der Jungen Akademie. Ulrike Endesfelder: Als wir begannen, war die hochauflösen- de Fluoreszenzmikroskopie neu. Wir wussten nicht, was man FOTO: LAACKMAN, MARBURG mit den Mikroskopen alles anfangen kann, ob sich dreidimen- sionale und mehrfarbige Bilder aufnehmen lassen. Auch ging es um die Frage, wie detailreich die Bilder maximal sein können. Der große Vorteil dieser Art der Mikroskopie liegt darin, dass ich neben den detaillierten Strukturaufnahmen auch dynamische Prozesse innerhalb der lebenden Zelle beobachten kann: die Teilung der Zelle sowie ihre Regulation, die Transkription der DNA-Information oder deren Replikation. Man wusste bereits,
8 HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 BILD: U. ENDESFELDER Das Protein RNA-Polymerase erfüllt, in diesem Fall in Escherichia-coli-Bakterien, einen bestimmten Job: Es liest den genetischen Code ab und fertigt von diesem eine Abschrift an. Damit können an einem anderen Ort in der Zelle neue Proteine gebaut werden. Mit Hilfe der hochauflösenden Mikroskopie lassen sich in lebenden Zellen einzelne RNA-Polymerasen bei der Arbeit beobachten. So lässt sich nachvollziehen, wann, wie schnell oder wo welcher Teil der DNA von ihnen abgeschrieben wird.
HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 9 B I L D : D AV I D V I R A N T, A G E N D E S F E L D E R , K O O P E R AT I O N S P R O J E K T M I T A G R O T H B A U E R , T Ü B I N G E N Aktinskelett einer menschlichen Zelle: Das Strukturprotein Aktin polymerisiert zu dynamischen Filamenten (Fasern). Es bildet dabei ein großes, verzweigtes Netzwerk aus und ist ein maßgeblicher Bestandteil im Zellskelett eukaryotischer Zellen. Als stabilisierendes und dynamisches Gerüst bedingt es die äußere Zellform. Mit Hilfe kleiner Zellfortsätze kann sich die Zelle gerichtet bewegen oder es können Kontakte von Zelle zu Zelle ausgebildet werden. Entlang des Aktinnetzes werden auch Vesikel (sehr kleine, rundliche bis ovale Bläschen) zur Membran transportiert.
10 HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 welche Proteine bei diesen Prozessen eine Rolle spielen und wie JAM: Wenn man ältere Bilder mit den Aufnahmen aus hochauf- ihre Interaktionen grundsätzlich ablaufen. Nun aber lässt sich lösenden Mikroskopen vergleicht, denkt man, dass jemand an in einer lebenden Zelle betrachten und vermessen, wann und wo der Schärfe gedreht hat. sich welches Protein aufhält. Ulrike Endesfelder: Ja, stimmt! Wir haben einen hohen JAM: Viele Erkenntnisse wären also mit der bis dahin Kontrast und eine genaue Auflösung. Beides führt zu einem gut existenten Mikroskopie nicht möglich gewesen? erkennbaren Bild. Zwar waren die Kontraste vorher schon gut, aber die Auflösung ist jetzt zehn Mal besser als zuvor. Ulrike Endesfelder: Jedenfalls wäre vieles deutlich schwieriger gewesen. Eine wichtige Voraussetzung für unsere Hochleistungs- JAM: Nun bedeutet hochauflösend auch, dass diese Art der mikrokopie war die Entdeckung des grün fluoreszierenden Pro- Mikroskopie sehr empfindlich ist. teins, kurz GFP. Es kommt als natürlicher Farbstoff in Quallen vor und kann durch Lichtanregung, in unserem Fall durch Laser- Ulrike Endesfelder: Deswegen steht unser Mikroskop im licht, leuchten. Man hat es geschafft, den Protein-Code aus einer Keller, wo es – im Vergleich zu den oberen Stockwerken – Qualle zu extrahieren und genetisch als Marker an fast jedes be- weniger Vibrationen gibt, beispielsweise durch Türen, die zuge- liebige Zielprotein in verschiedensten Organismen anzuheften. schlagen werden. Jede winzige Bewegung, selbst wenn man sie Wenn man das GFP durch Laserlicht anregt, beginnt das Protein mit dem bloßen Auge nicht wahrnimmt, kann im Mikroskop als zu leuchten. So kann man genau verfolgen, wo sich das durch verwackeltes Bild erscheinen. Deshalb ist der optische Tisch, auf GFP markierte Protein in der Zelle befindet, welche Strukturen dem die ganze Technik steht, durch Druckluft gedämpft und so es bildet und wie es sich bewegt. Durch fluoreszierende Proteine von der Umgebung isoliert. wie GFP sind Beobachtungen in lebendigen Zellen möglich und Routine geworden. JAM: Um die Fluorophore in den Zellen anzuregen, arbeiten Sie mit Lasern. Wie weit ist die Technik? JAM: Wie viel genauer ist diese Art der hochauflösenden Mikroskopie? Ulrike Endesfelder: Wir arbeiten hier zum Beispiel mit sechs unterschiedlichen Laserfarben. Einige Fluorophore kann ich Ulrike Endesfelder: In der klassischen Mikroskopie kann mit blauwelligem Licht anregen, andere mit grünem und wieder man Strukturen bis zu 200 bis 300 Nanometer genau auflösen. andere mit rotem. So kann ich die Proteine voneinander unter- Kleinere Details, etwa Proteine oder feine Substrukturen, die scheiden und gleichzeitig beobachten. Die Aufnahme der Bilder sich näher sind, kann man nicht auseinanderhalten. Zum Ver- funktioniert im Grunde wie eine normale Digitalkamera mit gleich: Eine Bakterienzelle kann nur 500 Nanometer breit sein. CCD-Chip. Nur ist unsere Technik deutlich empfindlicher, so Man erkennt zwar die Zelle, aber nicht den Ort, an dem sich dass wir einzelne Fluorophore sehen können, die gerade mal ein leuchtendes Protein genau befindet: Ist es an der Membran oder paar Tausende Photonen Licht emittieren. in der Mitte der Zelle? Mit der hochauflösenden Fluoreszenzmi- kroskopie können wir noch zehn bis zwanzig Nanometer große JAM: Was weiß man heute, was man vor 2006, als diese Hoch- Strukturen sehen. leistungsmikrokopie aufkam, noch nicht wusste?
HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 11 Ulrike Endesfelder: Ich konnte mit meiner Arbeit heraus- Proteine zu photoaktivieren. Unser Ziel ist es, das normale finden, wie viele RNA-Polymerasen – also Proteine, welche die Verhalten einer Zelle zu beobachten – und nicht irgendwelche DNA abschreiben – sich in einer bestimmten Zelle befinden. Schutz- oder Notreaktionen zu provozieren. Vorher fehlte dazu die notwendige bildgebende, quantitative Mikroskopie. Nun kann ich sagen, wie diese Zelle aussieht, JAM: Wie vielversprechend ist es, wenn man verschiedene an welcher Stelle sich die RNA-Polymerasen gerade befinden Mikroskope miteinander kombiniert? und kann genaue Aussagen über ihre Anzahl machen. An einer lebenden Zelle lässt sich sogar erkennen, wie viel Prozent der Ulrike Endesfelder: Wir kombinieren unsere Hochleistungs- RNA-Polymerase gerade einen DNA-Abschnitt abschreiben und mikroskopie oft mit biochemischen oder auch spektroskopi- wie viel Prozent bereits nach einem neuen Abschnitt suchen. schen Methoden. Dabei beobachten wir zunächst, wie sich Mit anderen Untersuchungen erkunden wir, wie komplexere eine größere Zellpopulation als Ganzes verhält, um dann die Strukturen aus vielen Proteinen aufgebaut sind, wie ihre räum- subzellulären Strukturen zu untersuchen. Oder ich verbinde liche Anordnung aussieht und wie sich ihre Geometrie unter Fluoreszenz- und Elektronenmikroskopie miteinander. Letztere bestimmten Umständen verändert. All dies kann man in den ermöglicht es aufgrund ihrer hohen Auflösung der gesamten Zellen selbst, auch in der lebenden Zelle, beobachten. Mit Hilfe Ultrastruktur, größere Zusammenhänge besser zu erkennen. von In-vitro-Experimenten wäre das alles nicht möglich. Allerdings eignet sich dieses Verfahren nicht für Lebendzellen. Mit der Fluoreszenzmikroskopie können wir dafür zwei oder JAM: Und kaum hat man Antworten gefunden, stellen sich drei Proteine gezielt markieren und beobachten. Legt man die neue Fragen. Woran arbeiten Sie zurzeit? Aufnahmen aus beiden Mikroskopen übereinander, erhält man sehr detaillierte Bilder und kann zugleich erkennen, in welchem Ulrike Endesfelder: Eine zentrale Frage ist, wie sich die An- größeren Zusammenhang sich einzelne Proteine bewegen. wesenheit der Fluorophore möglicherweise auf die Proteine aus- wirkt. Sie werden ja von außen in die Zelle eingebracht. Aktuell JAM: Wenn Sie Ihre Erkenntnisse zusammenfassen: Laufen die geht die Forschercommunity davon aus, dass eine Zelle umso Prozesse in einer Zelle zufällig oder gerichtet ab? weniger gestört wird, je kleiner beispielsweise ein Fluorophor ist. Deshalb geht der Trend zu immer kleineren, kompakteren Ulrike Endesfelder: Ich arbeite viel mit Bakterien und Hefen. Markierungsstrategien. Zudem versucht man, weniger Laserlicht Hefezellen haben einen Zellkern und eine hohe räumliche zu benutzen. Denn es gibt Prozesse, die sehr empfindlich sind Organisation, was bereits für geordnete Abläufe spricht. In Bak- und dementsprechend schnell beeinträchtigt werden. Auch mit terienzellen hingegen existieren keine klaren Kompartimente. der Wellenlänge des verwendeten Lichtes wird man vorsichtiger: Lange Zeit dachte man deshalb, dass im Innern einer Bakterie Fluoreszierende Proteine werden oft mit Hilfe von UV-Licht alle Prozesse räumlich ungeordnet und gleichzeitig stattfinden. photoaktiviert, das per se nicht sehr schonend ist. Man sollte Mittlerweile wissen wir, dass auch die intrazellulären Abläufe sich ja auch nicht stundenlang in einem Solarium bräunen. Wir einer Bakterienzelle sehr präzise koordiniert sind. Die Proteine bereiten gerade eine aktuelle Studie zur Veröffentlichung vor, in verteilen sich nicht gleichmäßig in ihrem Innern, sondern sind der wir zeigen können, dass wir auch langwelligeres und damit strukturiert organisiert. Die große Frage lautet nun: Wer regu- energieärmeres Licht benutzen können, um fluoreszierende liert da wen?
12 HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 B I L D : D AV I D V I R A N T, A G E N D E S F E L D E R , K O O P E R AT I O N S P R O J E K T M I T A G R O T H B A U E R , T Ü B I N G E N Vimentin-Netzwerk in einer menschlichen Zelle: Wie Aktin ist auch Vimentin ein strukturgebendes Protein des Zytoskeletts eukaryotischer Zellen, ein sogenanntes Intermediärfilament. Es hat eine wichtige Rolle bei der Organisation der Organellen im Zytosol und ist beispielsweise an den Zellkern, das endoplasmatische Retikulum und die Mitochondrien gebunden. Aufgrund seiner vielfältigen, oft noch nicht genau bestimmten Funktionen steht es im Fokus aktueller Forschung.
HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 13 B I L D : D AV I D V I R A N T, A G E N D E S F E L D E R Das nukleäre, DNA-bindende Protein cbp1, das hier in den Zellkernen einzelner Schizosaccharomyces-pombe- Hefezellen zu sehen ist, hat mehrere Funktionen: Zum einen ist es Teil des Kinetochores, einem Multiprotein-Komplex, der jede Zellteilung reguliert und DNA mit den Mikrotubuli des Spindelapparates verbindet. Zum anderen bindet das Protein sowohl an Startpunkte der Replikation als auch an Transposons, was auf regulierende Funktionen hindeutet.
14 HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 SCHNELLER ALS EIN WANDERFALKE Viele der erstaunlichsten Rekorde der Natur finden sich dort, wo man sie kaum vermuten würde: im Mikrokosmos der Kleinstlebewesen TEXT THOMAS BÖTTCHER Salzlösungen und schwermetallreichen Grubenwässern. Mikro- bielles Leben gedeiht auch dort, wo viele höhere Lebensformen längst nicht mehr überleben könnten. Ein Großteil dieses Erfolges ist den kurzen Generationszeiten der Mikroorganismen und ihrer daraus resultierenden raschen Anpassungsfähigkeit zuzuschreiben. Schon das gewöhnliche Darmbakterium Escherichia coli teilt sich alle zwanzig Minuten und nähert sich damit dem thermodynamischen Effizienzlimit. Ein thermophiles Bakterium (Stamm TR10) aus den Hydrother- malquellen des Tanganjikasees in Ostafrika zeigte bei einer opti- malen Wachstumstemperatur von 60 Grad sogar eine rekordver- dächtige Verdopplungsrate von nur zehn Minuten. Eine solche Reproduktionsgeschwindigkeit verlangt einer Zelle Escherichia coli absolute Höchstleistungen in Effizienz und Koordination ab. Innerhalb weniger Minuten muss die gesamte Erbinformation Hochleistung wird oft nur mit technischen Errungenschaften der Zelle vervielfältigt, abgelesen und alle in ihr codierten Funk- des Menschen oder Lebewesen des Makrokosmos in Verbindung tionen ausgeführt werden. Hierbei setzen Hochleistungsenzyme gebracht. Dabei sind es gerade die kleinsten, mit dem bloßen die etwas über 4,6 Millionen einzelnen Basenpaare des Bakterien- Auge unsichtbaren Lebensformen, die einen Großteil der Re- genoms aus ihren Bausteinen in der richtigen Reihenfolge zu- korde aus dem Tier- und Pflanzenreich in den Schatten stellen. sammen, wobei jedes einzelne Enzym Spitzengeschwindigkeiten Einzellige Mikroben wie Bakterien, Pilze und Archaeen sind von tausend Reaktionen pro Sekunde erreicht. Währenddessen nach wie vor die wahren Herrscher unseres Planeten. lesen andere Enzyme bereits die über viertausend Gene ab und übersetzen diese in RNA und Proteine. Schon ein Gramm Erde enthält teilweise mehr Mikroorganis- men als es Menschen auf der Erde gibt. Doch nicht nur ihre In nur wenigen Minuten stellt die Zelle somit an die zehn Mil- schiere Menge und Vielfalt ist erstaunlich. Sie haben jeden lionen neue Proteine her, welche wiederum Milliarden kleiner Winkel unseres Planeten und nahezu jeden noch so unwirtlichen Moleküle herstellen, den Energiebedarf der Zelle decken und Lebensraum besiedelt. Von 122 Grad Celsius heißen hydro- ihre eigenen Bausteine für Proteine und Nukleinsäuren, Zucker thermalen Schloten bis zu Permafrostböden, von kochenden und Bestandteile der Zellmembran und Zellwand synthetisieren. Säurequellen bis zu Seen mit konzentrierter Lauge, gesättigten Dies erfordert eine exakte Abstimmung der Stoffwechselwege
HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 15 und Enzyme untereinander, um einen maximalen Durchsatz bei Vibrio alginolyticus Spitzengeschwindigkeiten des flagellaren Mo- höchster Genauigkeit zu erzielen. tors bis zu hunderttausend Umdrehungen pro Minute gemessen. Dies entspricht in etwa dem Zehnfachen der Drehzahl eines Jet- Alle diese Prozesse finden in einer Bakterienzelle mit der Größe triebwerks in der Luftfahrt. Durch diese Hochleistungsmotoren von wenigen tausendstel eines Millimeters statt. Unsere „Kleins- erhalten Bakterien einen Schub, der sie bis zu einige Zehntel ten“ sind damit noch längst nicht an den Grenzen ihrer Fähig- eines Millimeters pro Sekunde vorwärtsstoßen kann. Da ihre keiten angelangt. Viele Mikroorganismen produzieren nebenbei Größe jedoch nur wenige tausendstel eines Millimeters aus- Stoffe, die für uns von großem Wert sind: Antibiotika, Vitamine macht, ist ihre Geschwindigkeit im Verhältnis zur Körperlänge und eine enorme Fülle an pharmakologischen Wirkstoffen. Auch geradezu außerordentlich. für Fermentationsprozesse sind Mikroorganismen essenziell und sie finden daher Einsatz in der Herstellung von Nahrungsmitteln wie Joghurt, Käse, Wurst, alkoholischen Getränken und Essig, aber auch von Treibstoffen wie Methan, Ethanol und Wasser- stoff. Mit Hilfe von genetisch getunten Bakterien lassen sich sogar Insulin, Interferon und Feinchemikalien großtechnisch produzieren. Hochleistung erbringen Mikroorganismen nicht nur in ihrer Rolle als Produzenten für die Biotechnologie. Einige Bakterien verfügen über winzige Motoren, die es durchaus mit dem Stand der modernsten Technik des Menschen aufnehmen können. Diese bakteriellen Motoren sind in der Membran der Bakterien- zellen verankert und jeweils mit einem extrem langen, kabel- artigen Proteinfilament, einer sogenannten Flagelle verbunden. Dieser Motor dreht die Flagelle wie einen riesigen, peitschen- Bd ellov us förmigen Propeller und treibt damit die Zelle an. Auf diese Weise i b r i o ba c t e r i o v o r können sich Mikroorganismen schwimmend in Flüssigkeiten oder als Schwärme über feuchte Oberflächen bewegen. Auf Bdellovibrio bacteriovorus, ein räuberisch lebendes Bakterium, chemische Reize hin können sie die Richtung ihrer Bewegung das sich von anderen Bakterien ernährt, bewegt sich mit rund verändern. Flagellen stellen somit eine Art Außenbordmotor in 150 Körperlängen pro Sekunde fort. Methanocaldococcus villosus der Bakterienwelt dar. ist ein methanproduzierender Vertreter der Archaeen, der sich in heißen Tiefseequellen besonders wohlfühlt und Spitzenge- Die Leistung dieser Motoren ist erstaunlich. Während ein schwindigkeiten von 500 Körperlängen pro Sekunde erreicht. moderner Außenbordmotor eine Drehzahl von etwa fünftausend Vermutlich resultiert dessen Schnelligkeit in der Fortbewegung Umdrehungen pro Minute aufweist, wurden bei der Bakterienart aus einer Anpassung an die starken lokalen Temperaturen und Nährstoffschwankungen in seiner Umwelt. Zum Vergleich: Der Gepard erreicht als schnellstes Landsäugetier gerade einmal zwanzig Körperlängen pro Sekunde. Auch der Wanderfalke, das schnellste Tier im Makrokosmos, kann hier nicht mithalten. Seine Höchstgeschwindigkeiten von 389 Kilometern pro Stunde I L L U S T R AT I O N : W I E B K E G E N Z M E R im Sturzflug aus knapp fünf Kilometer Höhe entsprechen etwa 300 Körperlängen pro Sekunde. Damit ist der Wanderfalke dem Winzling Methanocaldococcus villosus immer noch deutlich unterlegen. Man muss also nicht einmal besonders hoch hinaus, um Höchstleistungen vorzufinden. Me s Thomas Böttcher arbeitet am Fachbereich Chemie der Universität osu t ha n oca ld o co cc u s v ill Konstanz. Er ist seit 2015 Mitglied der Jungen Akademie.
16 HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 93 000 000 000 000 000 RECHENOPERATIONEN PRO SEKUNDE Noch immer überflügelt jede neue Generation von Supercomputern ihre Vorgänger. Weil die Leistungsfähigkeit einzelner Prozessoren an Grenzen stößt, wird die Komplexität für Konstrukteure und Nutzer immer größer. TEXT DIRK PFLÜGER Werfen wir einen kurzen Blick in die Geschichte. Das Wort durchbrochen, wäre heute mit über Lichtgeschwindigkeit unter- „Computer“ war ursprünglich die Berufsbezeichnung für jeman- wegs und würde 2030 das Raumschiff Enterprise bei Warp 5 den, der Berechnungen durchführte: „A computer wanted“ hieß (125-fache Lichtgeschwindigkeit) mit mehr als 4,7 x 1010 Metern es erstmals in einer Anzeige der US-Marine in der New York Times pro Sekunde (beziehungsweise 2,2 x 1011 km/h) links liegen lassen. im Jahr 1982. Die gewünschten Voraussetzungen waren: Kennt- nisse in Algebra, Geometrie, Trigonometrie und Astronomie. Andererseits bedeutet Moores Gesetz, dass wir bei vergleichba- rer Rechenleistung die Rechner immer kleiner bauen können. So Mit dem Einzug der ersten elektronischen Rechner wurde der wurden die riesigen Anlagen auf handliche Kisten geschrumpft, Name „super computer“ geprägt. Ein Supercomputer war etwas, die als Personal Computer über die Jahre immer leistungsfähiger das Berechnungen schneller anstellen konnte als die menschli- wurden – oder wiederum durch kleinere Geräte ersetzt wurden. che Variante. Und seine Leistungsfähigkeit wuchs rasant: 1965 formulierte Gordon Moore, Mitbegründer der Firma Intel, sein Doch was wurde aus der Klasse der ganz großen Maschinen – bekanntes „Gesetz“, wonach sich vereinfacht gesprochen die jene, die nicht geschrumpft, sondern entsprechend leistungs- Rechenleistung von Computern alle zwei Jahre verdoppelt – fähiger wurden? Die, an die Thomas Watson als Präsident der eine Beobachtung, die im Wesentlichen bis heute zutrifft. Für IBM vermutlich dachte, als er 1943 prognostizierte: „I think den Computerkäufer bedeutet dies, dass bei ähnlicher Größe there is a world market for maybe five computers“? Nun, es gibt (gemessen in Volumen oder in Geld, so genau rechnen wir hier sie sehr wohl noch und es sind deutlich mehr als fünf geworden: nicht) der nächste Rechner entsprechend leistungsfähiger aus- Zweimal im Jahr werden diese Supercomputer oder Höchstleis- fällt. Ist ein Programm zu langsam, so genügt es, auf die nächste tungsrechner in der Top500 gekürt, der Liste der 500 weltweit Generation von Computern zu warten. schnellsten zivil genutzten Rechner. Gemessen wird hierzu im sogenannten Linpack Benchmark die Anzahl an Rechenope- Diese Leistungssteigerung lässt sich am ehesten mit einer „Was rationen pro Sekunde für eine Auswahl an linearen Algebra- wäre wenn“-Überlegung verdeutlichen: Betrachten wir etwa Routinen wie dem Lösen eines großen Gleichungssystems einen VW Käfer aus dem Jahr 1970 mit einer Höchstgeschwin- oder Matrix-Vektor-Multiplikation – alles Kernaufgaben eines digkeit von 130 km/h, also 36 Metern pro Sekunde. Hätte sich ursprünglich menschlichen „Computers“. Als Anhaltspunkt: seine Geschwindigkeit in gleichem Maße gesteigert wie die der Typischerweise entspricht die Leistungsfähigkeit der größten Computer, so hätte er bereits im Jahr 1977 die Schallmauer Supercomputer etwa der von zehntausend PCs (von denen jeder
HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 17 ungefähr die Rechenleistung eines Supercomputers von vor Fertigungsprozess erreichte physikalische Grenzen. Das zwanzig Jahren hat). mooresche Gesetz gilt nur noch, weil immer mehr Prozessoren zusammen zum Einsatz kommen. „Um einen größeren Wagen Die aktuelle Nummer eins – der chinesische Rechner Sunway zu ziehen, ist es einfacher, mehr Ochsen hinzuzufügen als einen TaihuLight mit seinen mehr als zehn Millionen Recheneinheiten gigantischen Ochsen zu züchten“, notierten William Gropp und – erreicht 93 Billiarden Rechenoperationen pro Sekunde, was Kollegen in einem Paper. wiederum kaum vorstellbar ist (es handelt sich um eine 93 mit 15 Nullen): Wenn jeder einzelne der etwa 7,5 Milliarden Menschen Die zunehmende Parallelität ist Kernpunkt vieler Forschungs- auf der Erde es schaffen würde, 12,5 Millionen Rechenoperatio- fragen im Höchstleistungsrechnen. Oder mit anderen Worten: nen pro Sekunde zu lösen (nebenbei bemerkt: Ende der 1960er Wie zieht man einen großen Wagen mit Hunderttausenden von Jahre war das die Leistung eines Supercomputers), dann wäre das Ochsen? Simulationsprogramme müssen umgeschrieben, neue eine vergleichbare globale Rechenleistung wie die des Sunway mathematische Verfahren und Algorithmen entwickelt werden. TaihuLight. Längst ist das Rechnen selbst nicht mehr der kritische Flaschen- hals, sondern die Kommunikation und der Zugriff auf den Architektur und Betrieb eines solchen Höchstleistungsrechners Speicher. Wenn sich zehn Millionen Ochsen einigen müssen, in sind nicht trivial: Das beginnt schon mit der Leistungsaufnahme welche Richtung der Pflug gezogen werden muss, so geht dies von 15 Megawatt und entspricht dem Energiebedarf von etwa nicht ohne Reibungsverluste – und ein Ochse am rechten Ende 31.000 Vierpersonenhaushalten in Deutschland im Jahr 2016 und des Jochs kann nicht ohne weiteres während der Arbeit ganz knapp einem Prozent der Nettoleistung eines aktuellen Kern- nach links laufen, um etwas nachzufragen. kraftwerks. Bei Kosten von 25 Cent pro Kilowattstunde führt dies zur jährlichen Rechnung von 32 Millionen Euro für Strom! Um einige der großen Fragen der Wissenschaft zu beantworten Über die gesamte Betriebsdauer betrachtet sind die Anschaf- – etwa zum Klimawandel, zum menschlichen Gehirn, aus der fungskosten längst nicht mehr die kritische Größe. Astrophysik und den Geowissenschaften sowie zum Thema, ob Fusionsreaktoren als saubere Energiequelle dienen können –, Noch kritischer ist es, dass zehn Millionen Recheneinheiten wird dringend die enorme Rechenleistung zukünftiger Höchst- nicht nur mit Strom versorgt und gekühlt werden müssen, son- leistungsrechner mit angepassten Algorithmen und Rechenver- dern auch an Speicher anzubinden und miteinander zu vernetzen fahren benötigt. Für jede große Simulationsaufgabe ergeben sind. Und schließlich müssen die Rechenaufgaben so aufgeteilt sich erneut spannende Fragestellungen. Im Zusammenspiel von werden, dass alle Einheiten gleichzeitig daran arbeiten können. Informatikern, Mathematikern und Forschern aus den verschie- I L L U S T R AT I O N : W I E B K E G E N Z M E R Wieso dann nicht lieber weniger Prozessoren und dafür schnelle- denen Anwendungsdisziplinen stoßen Millionen von Ochsen re verwenden? Seymore Cray, Computerpionier und Vater vieler damit mit Höchstleistung die Türen auf zu wissenschaftlichem Supercomputer, formulierte dies so: „Wenn du ein Feld pflügst, Neuland. was würdest du lieber benutzen: zwei starke Ochsen oder 1024 Hühner?“ Ein schneller Prozessor ist einfacher zu handhaben als viele langsamere. Der Informatiker Dirk Pflüger, Mitglied der Jungen Akademie seit 2015, Seit mehr als zehn Jahren nimmt die Geschwindigkeit einzelner arbeitet am Institut für Parallele und Verteilte Systeme der Universität Prozessoren jedoch nicht mehr zu. Die Miniaturisierung im Stuttgart.
18 HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 F O T O : V. S P R I N G E L , C . S . F R E N K A N D S . D . M . W H I T E , N AT U R E ( L O N D O N ) 4 4 0 , 1 1 3 7 ( 2 0 0 6 ) Ausschnitt aus der großräumigen Struktur im Universum, der einen Durchmesser von circa einer Milliarde Lichtjahren hat: Die Beobachtungsdaten sind in blau, die Simulation ist in rot. Jeder Punkt repräsentiert eine Galaxie.
HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 19 UNTERSUCHUNGEN IN DER GANZ KLEINEN UND GANZ GROSSEN WELT Supercomputer werden eingesetzt, um komplexe Systeme besser zu verstehen – beispielsweise in der Kosmologie und der Molekulardynamik TEXT BETTINA KELLER UND FABIAN SCHMIDT Hochleistungsrechner ist der sperrige deutsche Begriff Supercomputer kommen beispielsweise in der Kosmolo- für Supercomputer. Dies sind Rechenmaschinen, die gie und der Molekulardynamik zum Einsatz. Es handelt Hunderttausende oder gar Millionen von Prozessoren sich zwar um sehr verschiedene Wissenschaftsgebiete, haben und zuweilen ganze Hallen füllen. Aber ist das doch beide Anwendungen, die wir vorstellen, versuchen, internationale Wettrennen um den größten und das Verhalten extrem komplexer Systeme durch die schnellsten Computer nicht längst zum Selbstzweck Simulation von wechselwirkenden Teilchen besser zu geworden? Welche Rechnung könnte so kompliziert sein, verstehen. Im kosmologischen Fall sind es Teilchen der dass man dafür Hunderttausende von Prozessoren auf dunklen Materie, die über die Schwerkraft wechsel- einmal benötigt? wirken, während wir es in der Molekulardynamik mit Atomen zu tun haben, die über die elektromagnetische Kraft wechselwirken. KOSMOLOGIE Die großräumige Struktur des Universums (Abb. links) ist eines kalischen Eigenschaften der dunklen Materie und dunklen Ener- der wenigen Hilfsmittel, die wir nutzen können, um seine gie zu erfahren. Das Universum hat in einem extrem heißen, Zusammensetzung und Entwicklung zu rekonstruieren. Mittler- dichten und homogenen Zustand begonnen. Die ursprünglichen weile deuten alle Hinweise auf ein Universum hin, das von Schwankungen in der Dichte und Temperatur des Universums „dunklen“ Komponenten dominiert wird: Zum einen von der waren kleiner als ein Zehntausendstel; dies entspricht Wellen dunklen Materie, die Galaxien und Galaxienhaufen zusammen- von 50 Zentimeter Höhe auf einem 5000 Meter tiefen Ozean. hält und deren Bildung erst ermöglicht hat. Zum anderen von Unter dem Einfluß der unnachgiebigen Schwerkraft wuchsen der dunklen Energie, die die beschleunigte Expansion des Uni- diese Dichteschwankungen an und bildeten nach circa versums als Ganzes vorantreibt. Eines der Kernziele der 14 Milliarden Jahren die beobachtete großräumige Struktur modernen Kosmologie ist es, mehr über die Natur und die physi- sowie die Galaxien, Sterne und Planeten in ihr.
20 HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 Zweidimensionaler Ausschnitt aus einem würfelförmigen Simulationsvolumen: Links die Materialdichte in einer kosmologischen Simulation und rechts ein adaptives Gitter, das zur Lösung der Gleichungen benutzt wird (adaptive mesh refinement). In der Ozean-Analogie hat sich die Höhe der Wellen mittlerweile tatives Volumen des Universums mindestens eine Million mal um den Faktor tausend vergrößert. Die Wellen entsprechen nun größer ist als das Volumen einer Galaxie, während die Materie eher dem Meer in Küstennähe, wo die Höhe der Wellen in etwa innerhalb dieser simulierten Galaxien auf das Zehntausendfache der Tiefe des Wassers entspricht. Da 80 Prozent der gesamten gegenüber der mittleren Materiedichte im Universum kompri- Materie aus der dunklen Materie besteht, kann man sich die miert wird. Es gibt jedoch eine wichtige Struktureigenschaft gewöhnliche Materie – also Galaxien und Sterne – als Schaum- im Universum, die wir nutzen können. Die Struktur ist nähe- kronen auf diesen Wellen vorstellen. rungsweise fraktal, was bedeutet, dass nur ein kleiner Teil des gesamten Universums in sehr dichte Strukturen wie Galaxien Das heißt also, dass wir die Verteilung der Materie (des Wassers) kollabiert. Der weitaus größte Teil des Universums wird von gro- F O T O : J E A N - M I C H E L A L I M I , D E U S C O N S O RT I U M nur indirekt (durch die Schaumkronen) nachzeichnen können. ßen, unterdichten Regionen (sogenannten Voids) eingenommen, Um nun kosmologische Modelle mit den Beobachtungen der die zehntausendmal diffuser als Galaxien sind. Daher brauchen Astronomie zu vergleichen, brauchen wir Computersimulati- unsere Simulationen nur in einem kleinen Teil ihres Volumens onen, die die großräumige Struktur des Universums abbilden. eine hohe Auflösung. Wir können jedoch nicht voraussagen, wel- Gleichzeitig sollten die Simulationen eine ausreichend hohe che Regionen im simulierten Volumen hochaufgelöst berechnet Auflösung haben, um die Bildung einzelner Galaxien wenigstens werden müssen. in groben Zügen nachzubilden. In diesen Simulationen wird die Materie durch Teilchen repräsentiert, die über die Schwerkraft Aus diesem Grund benutzen unsere Simulationscodes innovative miteinander wechselwirken. Kollisionen dieser Teilchen werden Techniken, die vor etwa zwanzig Jahren entwickelt wurden. Die dabei vermieden, weil diese Teilchen nicht physikalisch existie- Codes entscheiden selbstständig und adaptiv während der Rech- ren, sondern nur als numerisches Hilfsmittel dienen. nung, welche Regionen aufgelöst werden sollen und für welche Ein großes Hindernis hierbei ist es, den sogenannten dynami- eine grobe Auflösung ausreicht. Die zwei wichtigsten Techniken schen Umfang aufzulösen. Er wird benötigt, weil ein repräsen- sind:
HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 21 Erstens der Tree-Algorithmus, mit dem Teilchen zu Gruppen MOLEKULARDYNAMIK angeordnet werden, die „aus der Entfernung“ wie Punktteilchen wirken. Diese Gruppen sind hierarchisch so strukturiert, dass eine Gruppe mehrere Untergruppen enthält, die wiederum Letztendlich sind Lebewesen aus Atomen aufgebaut, die zu Unter-Untergruppen bilden und so weiter. Nur durch diese besonders komplexen Molekülen verknüpft sind, die wiederum hierarchische Anordnung kann den enormen Auflösungsanfor- miteinander in Kontakt stehen und sich gegenseitig beein- derungen in dichten Regionen entsprochen werden. flussen. Aus diesem Zusammenspiel entstehen Zellwachstum, Stoffwechsel, Fortpflanzung und Interaktion mit der Umgebung, Zweitens die Technik des adaptive mesh refinement: Sie verwendet kurz: Leben. Moleküle sind jedoch keineswegs starre Gebilde, ein Gitter, auf dem die Materiedichte repräsentiert wird und das vielmehr verändern sie kontinuierlich ihre dreidimensionale für die Berechnung der Schwerkraft genutzt wird (Abb. linke Form. Man kann sich tatsächlich vorstellen, dass diese Moleküle Seite). Dies kann man sich vorstellen wie ein Digitalfoto, nur wie Maschinen agieren, die durch die Bewegung ihrer Teile eine dass hier Helligkeit und Farbe auf einem dreidimensionalen Ras- Aufgabe erfüllen. ter repräsentiert wird. Das Gitter hat nicht überall im Volumen dieselbe Auflösung: Voids werden nur mit einem groben Raster Die Abbildung auf Seite 22 zeigt verschiedene dreidimensionale überdeckt, während die Auflösung nur für die Umgebung von Formen, sogenannte Konformationen, eines Teils des Proteins Galaxien erhöht wird. Dabei entscheidet der Code bei jedem p27. In Rot ist das Rückgrat des Proteins dargestellt, das sich einzelnen Zeitschritt, an welchen Punkten die Auflösung erhöht wie ein Band in verschiedene Formen legt. Die Oberfläche des und an welchen sie wieder zurückgefahren werden muss. An sol- Moleküls ist als durchscheinende Hülle gezeigt. Das Protein p27 chen Punkten werden zusätzlich höher aufgelöste, aber räumlich ist wesentlich an der Regulation der Zellteilung beteiligt und eng begrenzte Gitter angelegt. Diese sind – analog den Gruppen funktioniert gerade aufgrund seiner Flexibilität. Es kann sich im Tree-Algorithmus – hierarchisch angeordnet. genau an seinen Gegenspieler, eine Cyclin-abhängige Kinase, anpassen und anlagern. In vielen Tumorzellen ist p27 in nur Beide Techniken haben Vor- und Nachteile und kommen für geringen Mengen vorhanden oder wird so schnell abgebaut, dass verschiedene Anwendungen zum Einsatz. Eine weitere Möglich- sich die Tumorzellen viel schneller teilen als gesunde Zellen. keit bietet das sogenannte verteilte Rechnen. Heutzutage sind Es gibt eine Reihe von experimentellen Methoden, um die Kon- die meisten Simulationen zu groß, um im Arbeitsspeicher eines formationsdynamik eines Moleküls zu untersuchen. Röntgen- einzelnen Rechners gespeichert werden zu können, selbst wenn beugungsexperimente liefern atomgenaue Bilder einzelner Kon- dieser hunderte Gigabyte umfasst. Stattdessen können moderne formationen, sagen aber nichts über die Dynamik des Moleküls Codes auf mehreren Rechnern gleichzeitig laufen. Jeder Rech- aus. Spektroskopische Experimente liefern Durchschnittswerte ner bekommt dabei einen Teil des Volumens zugewiesen. Die des konformationellen Ensembles. Aus Einzelmolekülexperi- Wechselwirkungen zwischen den Teilvolumina werden von den menten erhält man die zeitliche Entwicklung eines einzelnen Rechnern untereinander mit speziellen Protokollen kommuni- Abstands in einem Molekül. Allerdings ist es nahezu unmöglich, ziert. Dabei muss eine automatisierte Zuteilung zwischen den allein aus den experimentellen Daten ein komplettes Bild der Rechnern erfolgen, damit jeder einzelne von ihnen möglichst Konformationsdynamik zu rekonstruieren. Dafür brauchen wir voll ausgelastet ist. molekulardynamische Simulationen. Computersimulationen sind zu einem unabdingbaren Für diese Simulationen werden die Kenntnisse über die Wechsel- Werkzeug in der Kosmologie geworden. Sie erlauben uns wirkungen zwischen den Atomen aus physikalischen Modellen aber nicht nur, die Natur auf den größten Skalen besser genutzt. Wir modellieren die Atome als Massepunkte, die eine zu verstehen, sondern auch auf den kleinsten, wie die Ladung tragen und miteinander in Wechselwirkung treten Molekulardynamik zeigt. Eine der interessantesten Fra- können. Eine neue Anordnung der Atome im Raum entspricht gen auf diesem Gebiet ist, wie Leben aus der Interaktion einer neuen Konformation. Die Bewegung der Atome wird dabei von unbelebten Molekülen entsteht. durch die Gesetze der klassischen Mechanik bestimmt.
22 HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 Verschiedene Konformationen eines (intrinsisch ungeordneten) Proteins. Das Proteinrückgrat ist in Rot gezeigt, die Proteinoberfläche als durchscheinende Hülle. Ausgehend von der aktuellen Konformation berechnet das jeden einzelnen Zeitschritt sehr schnell berechnen. Das gelingt Simulationsprogramm die Kräfte auf jedes einzelne Atom und mit Supercomputern. bewegt die Atome entlang dieser Kräfte für einen kleinen Zeit- schritt ∆t. Die neue Konformation wird zwischengespeichert Wir haben die Konformationsdynamik des in der obigen Ab- und die Kräfte werden neu berechnet. Durch Iterieren dieses bildung gezeigten Proteins auf einer Zeitspanne von 45 Micro- Algorithmus erhält man eine Art Film der Konformationsdy- sekunden (10-6 s) auf dem HLRN-III Supercomputer Konrad namik. simuliert. Für diese Rechnung mussten 22,5 Milliarden Zeit- schritte berechnet werden. Das ist in etwa so, als wollte man die Wieso braucht man für einen scheinbar so simplen Algorithmus Geschichte eines Ortes dokumentieren, indem man jede Stunde Supercomputer? Die Anzahl der Zeitschritte ist hier das ein Bild macht. Bei 22,5 Milliarden Bildern würde die Bilderserie kritische Stichwort: Die Konformationsdynamik eines großen über 2,5 Millionen Jahre zurückreichen, als noch Säbelzahntiger Moleküls findet auf einem sehr breiten Spektrum von Zeitskalen und Mammuts die Erde bevölkerten. statt. Zwei Atome schwingen entlang ihres Bindungsabstands in FOTO: BETTINA KELLER Femtosekunden- (10-15 s), während eine große Konformations- Mit „nur“ 130.000 Atomen gehört unsere Simulation bei weitem änderung in mehreren Millisekunden (10-3 s) stattfinden kann. nicht zu den größten. Ein Meilenstein der Molekulardynamik- Die schnellen Bindungsschwingungen legen den Zeitschritt Simulationen ist eine 2013 veröffentlichte Studie zum Kapsid des auf etwa zwei Femtosekunden fest. Leider ist es nicht möglich, HI-Virus (siehe oben). Kapside sind Hüllen aus einer Vielzahl diesen Zeitschritt wesentlich zu vergrößern, ohne dass sich die von Proteinen, in denen Viren ihre DNA in den Zellkern des Genauigkeit der Simulation erheblich verschlechtert. Da wir die Wirtsorganismus schleusen. Die Hüllen sind außerhalb des Anzahl der Zeitschritte nicht reduzieren können, müssen wir Zellkerns sehr stabil, zerfallen aber, sobald sie den Zellkern
HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 23 HIV-Kapsid bestehend aus Protein-Hexameren und Pentameren. Eine Molekulardynamik-Simulation zeigte, dass die Oberfläche dieses Kapsids nicht starr ist, sondern dass sich die molekularen Bausteine leicht gegeneindander verschieben. erreicht haben, in ihre Bestandteile und geben die DNA frei. Hochleistungsrechner haben ihren festen Platz in den modernen Der Grundbaustein des Kapsids ist das caspid protein (auch p24 Naturwissenschaften. Die beiden von uns beschriebenen An- genannt, die Namensähnlichkeit mit p27 ist Zufall). Jeweils sechs wendungen versuchen, das Verhalten extrem komplexer Systeme beziehungsweise fünf dieser Proteine lagern sich zu Hexonen durch die Simulation von wechselwirkenden Teilchen besser zu F O T O : T H O M A S S P L E T T S T O E S S E R ( W W W. S C I S T Y L E . C O M ) (blau) und Pentonen (türkis) zusammen, aus denen wiederum das verstehen. Während die zugrundeliegenden Ideen eng verwandt vollständige Kapsid aufgebaut ist. sind, sind die numerischen Herausforderungen verschiedener Natur: In der Molekulardynamik besteht das Problem in einer Die Simulation, die in der Arbeitsgruppe von Klaus Schulten enormen Spanne von Zeitskalen, während es sich in der Kos- am Supercomputer Blue Waters an der University of Illinois at mologie um eine enorme Spanne räumlicher Skalen handelt. In Urbana-Champaign durchgeführt wurde, enthielt insgesamt über beiden Fällen müssen daher innovative Simulationstechniken 1300 Proteine. Zusammen mit dem umgebenden Wasser enthielt eingesetzt werden, die das Leistungsvermögen heutiger Super- die Simulationsbox etwa 64 Millionen Atome, deren Bewegung computer voll ausschöpfen. für einen Zeitraum von 100 Nanosekunden simuliert wurde. Das entspricht immerhin 50 Millionen Zeitschritten. Die Simulation zeigte, dass die Hexamere und die Pentamere sich in der Kap- sidhülle leicht verschieben können. Die entstehenden Mulden in der Kapsid-Oberfläche könnten vielversprechende Angriffspunkte Bettina Keller und Fabian Schmidt sind seit 2016 Mitglieder der Jungen für die Entwicklung neuer HIV-Medikamente sein. Akademie. Keller arbeitet am Institut für Chemie und Biochemie an der Freien Universität Berlin. Schmidt forscht am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching.
24 HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 MACHT SCHOKOLADE SCHLAU? Korrelation bedeutet nicht Kausalität, heißt es. Trotzdem lassen sich mit Hilfe mathematischer Methoden kausale Strukturen nachweisen. TEXT JONAS PETERS Je mehr Schokolade in einem Land gegesssen wird, desto größer ren kann, wie Y aus X entsteht, dann muss in vielen Fällen die ist die Anzahl der Nobelpreisträgerinnen und -träger. Doch Konstruktion von X aus Y besonders komplex sein. Dies ist bedeutet dies, dass der Verzehr von Schokolade die Chance etwas überraschend, lässt sich aber mathematisch beweisen. Das auf einen Nobelpreis erhöht? Um diese Frage zu beantworten, einfachere Modell schlagen wir dann als kausales Modell vor. In müsste man in einigen zufällig ausgewählten Ländern Schoko- der Praxis können wir uns also auf einfache Modelle beschrän- lade verteilen und später untersuchen, ob sich die Anzahl der ken und schauen, ob Daten besser durch ein Modell von X nach Nobelpreise für dieses Land erhöht hat. Auch wenn sich manch Y, von Y nach X oder durch keines der beiden erklärt werden. ein Studierender über die Einführung einer Zwei-Tafeln-Scho- Es ist nicht überraschend, dass im Schokoladenbeispiel die kolade-pro-Tag-Politik freuen würde, ist solch ein Experiment Daten keinen einfachen kausalen Zusammenhang nahelegen: kaum durchzusetzen. Weder hat der Schokoladenkonsum einen kausalen Einfluss auf die Anzahl der Nobelpreise, noch beginnt man, riesige Mengen In anderen Situationen scheitern derartige Interventionen aus Schokolade zu essen, sobald man den Nobelpreis bekommt. ethischen, physikalischen oder finanziellen Gründen. Viele Vielmehr erwarten wir eine unbeobachtete Variable wie die Forschende glauben, dass man ohne sorgfältig durchgeführte, wirtschaftliche Stärke eines Landes, die einen Einfluss auf beide randomisierte Experimente nichts über kausale Zusammenhänge Größen hat – also auf Schokoladenkonsum und die Anzahl der herausfinden kann. Denn aus einem statistischen Zusammen- Nobelpreisträger. hang lässt sich nicht so einfach auf einen kausalen Zusammen- hang schließen – daran erinnert der Ausdruck „correlation does Interessante wissenschaftliche Probleme beschäftigen sich meist not imply causation“, Korrelation bedeutet nicht Kausalität. mit mehr als zwei Variablen. So versucht man in biologischen Aktuelle Forschungsprojekte zur kausalen Inferenz versuchen, Interaktionsnetzwerken, die Folgen einer Intervention vorher- diese Auffassung zu widerlegen. Es werden Methoden entwi- zusagen: Was passiert, wenn man bestimmte Gene löscht oder ckelt, um kausale Beziehungen zwischen gleichzeitig beobach- Proteine deaktiviert? Hier sind kausale Methoden von Interesse, teten Größen zu erkennen, selbst ohne aktiv in das System ein- weil es oft zu viele mögliche Interventionen gibt, um sie alle zugreifen. Diese Methoden basieren zum Beispiel auf der Idee, ausprobieren zu können. Basierend auf dem oben beschriebenen dass reale Zusammenhänge nicht beliebig komplex sind. Wären Prinzip des einfachen Modells möchten wir herausfinden, wel- sie es, könnte Facebook nicht vorhersagen, welche Geschichten che kausale Struktur die Daten am besten erklärt. Allerdings ist einen Nutzer interessieren. Google wüsste nicht, wonach wir es unmöglich, alle Strukturen zu testen, da deren Anzahl schlicht suchen, und unser Smartphone würde unsere Spracheingabe zu groß ist – selbst dann, wenn man gerichtete Zykel, also Feed- nicht verstehen. back, und versteckte Variablen ausschließt: Bei zwei Variablen X und Y gibt es drei Möglichkeiten (X verursacht Y, Y verursacht Dieses Prinzip der einfachen Zusammenhänge kann man auch X, kein kausaler Zusammenhang); bei drei Variablen X, Y und Z in der kausalen Inferenz ausnutzen: Wenn man einfach erklä- gibt es 25 mögliche Kausalstrukturen und bei 13 Variablen bereits
HOCHLEISTUNG | JUNGE AKADEMIE MAGAZIN | 2017 25 François Schuiten illustriert Lewis Fry Richardsons Idee der „forecast factory“: Tausende Menschen lösen gleichzeitig und gemeinsam Differentialgleichungen, um eine globale Wettervorhersage zu liefern. FOTO: „LE GUIDE DES CITÉS“ BY FRANÇOIS SCHUITEN © CASTERMAN S.A 18676600744432035186664816926721. Vor knapp hundert Jahren oder weglässt. Und all diese möglichen Veränderungen werden entwarf der Mathematiker, Physiker und Meteorologe Lewis gleichzeitig von den vielen Prozessoren eines Hochleistungs- Fry Richardson eine der ersten Architekturen zum sogenannten rechners überprüft. So lassen sich selbst Probleme nicht nur mit Parallelen Rechnen, mit der er die numerische Wettervorher- 13, sondern mit tausenden Variablen untersuchen. Die kommen- sage verbessern wollte (die damals noch nicht rechnerbasiert den Jahre werden zeigen, inwieweit solche kausale Methoden stattfand). Er stellte sich eine riesige Halle vor, in der tausende dabei helfen können, reale Systeme besser zu verstehen. menschliche „Computer“ gleichzeitig Differentialgleichungen zu Richardson sah den Nutzen des Parallelen Rechnens in der Druck oder Temperatur für einen ihnen zugewiesenen kleinen Berechnung großer, deterministischer Systeme. Heutzutage ist Teil der Erde lösen, was François Schuiten in einem Bild illust- Parallelisierung etwa aus der Datenverarbeitung (maschinelles rierte. Lernen, data science) nicht mehr wegzudenken. Firmen wie Google und Facebook könnten ihre riesigen Datenmengen ohne Mit dieser Idee war Richardson seiner Zeit weit voraus: Tatsäch- Parallelisierung nicht verarbeiten. Auch das Auffinden kausaler lich wurden für viele Jahre die größten Rechner der Welt für die Strukturen wäre ohne Paralleles Rechnen unmöglich – es wird Wettervorhersage eingesetzt. Seine Idee hilft uns auch dabei, das in diesen Gebieten wohl für viele Jahre eine große Rolle spielen. beste (und damit kausale) Modell zu finden. Eine oft angewandte Dass eines Tages die Aufgabe der „Computer“ nicht von Men- Strategie besteht darin, mit einer beliebigen kausalen Struktur schen, sondern von winzigen elektronischen Prozessoren durch- zu beginnen und mit jedem einzelnen Schritt zu überprüfen, geführt wird, damit hatte Richardson sicher nicht gerechnet. ob man die erhobenen Daten noch besser erklären kann – etwa wenn die Struktur leicht verändert wird, indem man beispiels- Jonas Peters, Mitglied der Jungen Akademie seit 2016, arbeitet am weise die Kausalbeziehungen zwischen zwei Variablen umdreht Department of Mathematical Sciences an der University of Copenhagen.
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