Das Journal #Fremd und Eigen
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Das Journal #Fremd und Eigen María de Alvear / Sheila Arnold / Gerhart Baum / Sevi Bayraktar / Michael Borgstede / Heinz Geuen / Sebastian Gramss / Johannes Jansen / Heft 1 | November 2020 Mazyar Kashian / Adya Khanna-Fontenla / Moritz Lobeck / Maximilian Marcoll / Brigitta Muntendorf / Rainer Nonnenmann / Ella O’Brien-Coker / Heike Sauer / Constanze Schellow / Kurt Tallert
Das Journal ZUR SACHE! DAS THEMENHEFT 04 | Aneignung und Überfremdung: Chancen und Ängste von Rainer Nonnenmann #Fremd DISKUSSION MUSIK UND GESELLSCHAFT 07 | Zeitenwende – eine Herausforderung: Der Politiker und Rechtsanwalt Gerhart Baum im Gespräch mit Rainer Nonnenmann GLOBALE KULTUR und Eigen GEDANKEN UND ERFAHRUNGEN 11 | Das Fremde und Eigene im Spiegel der Mehrheitsgesellschaft von Ella O’Brien-Coker 13 | Modell 1:2 – Wie man von eins zu zwei und von zwei zu eins kommt von Mazyar Kashian MEDIAMORPHOSE PERSPEKTIVEN UND VISIONEN 17 | Making kin, not Brüder! von Brigitta Muntendorf und Moritz Lobeck 21 | Die »Unheimeligkeit« der Welt bewohnen von Constanze Schellow und Sevi Bayraktar WIE TICKT KÖLN? STREIFZÜGE DURCH DIE MUSIKSTADT 25 | Farbe bekennen – eine Alternative zum Lokalkolorit von Kurt Tallert (alias Retrogott) 03 | Das Journal – Inhalt 29 | Zwischen Sendungsbewusstsein und Selbstentfremdung – Köln als Zentrum der Alten Musik von Johannes Jansen AUS DER PRAXIS LEHRE UND BERUF 31 | Leichtigkeit im Umgang – Eine Frage der Perspektive von Sheila Arnold 35 | Offenheit und Vermischung – Der Kontrabassist und Komponist Sebastian Gramss im Gespräch mit Rainer Nonnenmann AUF DEM PRÜFSTAND ANALYSE UND WERTURTEIL 39 | Imitatio, Aemulatio, Plagiat oder eigenes Werk? – Aneignungspraktiken im musikalischen Barock von Michael Borgstede 43 | »Don’t stand so close to me« von Maximilian Marcoll GESTERN UND HEUTE ALUMNI ERINNERN SICH 47 | Verrückt, kreativ und stark – María de Alvear im Gespräch mit Adya Khanna-Fontenla BEMERKENSWERT MENSCHEN UND AKTIONEN 49 | Ein »Hybrid-Semester« neu erfinden von Heinz Geuen 53 | Kreativ in der Krise – Veranstaltungen im Sommersemester an der HfMT Köln von Heike Sauer 54 | Impressum
Zwischen »Aneignung« und den späten 1960er Jahren lehnten daher Musikkollektive und Improvisationsgruppen die traditionellen Kategorien Autor, Werk und Stil als bürgerliches Besitzdenken ab. Musik ist so »Überfremdung« Gedanken vielfältig, mobil, eigentümlich und fremd wie es auch Men- schen sind. Musikgeschichte besteht aus wechselseitigen Be- einflussungen, Orientierungen, Distanzierungen. So wie jedes zum ersten Heft »Ich« ein »Du« braucht, um sich selbst zu erkennen, reagieren auch Musikscha≠ende auf das, was andere tun. DAS JOURNAL der HfMT Köln erscheint einmal pro Semester. Jede Ausgabe befragt ein übergeordnetes Thema auf dessen ge- Die Polarität »fremd und eigen« benennt sowohl In den vergangenen Monaten protestierten in den USA und Eu- sellscha◊liche und musikalische Aspekte. Wir möchten genau- das Konfliktpotential als auch Verbindende dieser ropa hunderttausende Menschen gegen Rassismus. Alte Denk- er hinsehen und hinhören, größere Kontexte beleuchten sowie Entgegensetzung. Beide Pole sind nicht voneinander mäler von Südstaaten-Generälen, Sklavenhändlern und Kolonial- einzelne Menschen, Arbeiten, Methoden und Ausprägungen zu trennen, schon gar nicht in Musik, Kunst und Kul- herren wurden gestürzt. Doch hat das etwas mit Musik zu tun? von Musik porträtieren. Die Autorinnen und Autoren sind so- tur. Beides sind relationale Begri≠e, die Sinn – wenn Musikerinnen und Musiker sind auch Staatsbürger, Wählerin- wohl Lehrende und Studierende der Hochschule als auch Per- überhaupt – nur im Vergleich machen. Werden sie nen, Verbraucher, Verkehrsteilnehmerinnen, Medien-User, sönlichkeiten aus Kultur, Wissenscha◊ und Politik. Die ver- verabsolutiert, verfestigen sie sich zu Xenophobie Häuslebauer… Kunst und Kultur sind keine abgeschlossene Son- schiedenen Rubriken des Magazins verknüpfen die Arbeit an und Identitarismus. Es gibt nicht bloß Schwarz und dersphäre oder Insel der Seligen. Wenn es in Gesellscha◊ und der Hochschule mit aktuellen Zeitfragen und den Szenen der Weiß, sondern zahllose Schattierungen und Farb- Arbeitsleben strukturell bedingte Mechanismen von Ausgren- international bedeutenden Musikstadt Köln, um neue Perspek- werte. Schon seit Jahrhunderten gehen Menschen, zung gibt, dann existieren diese auch im Musikleben. Und wenn tiven, Facetten und Zusammenhänge aufzuzeigen. Waren, Ideen – und leider auch Viren – um die Welt. eine Gesellscha◊ politische Initiativen entwickelt, um Hegemo- nien, Alltagsrassismus und Diskriminierung zu thematisieren Weil jeder und jede einzigartig 04 | Zur Sache – Das Themenheft und zu überwinden, dann liefert auch Musik Ansätze zu gelin- Kunst und Kultur sind gender Gleichberechtigung und Teilhabe. ist, kommt es darauf an, wie wir keine abgeschlossene Musik macht vor, wie Fremdes zu Eigenem, Eigentum zu Allge- miteinander umgehen. Sondersphäre oder meingut, und ästhetische Eigenart als fremd erlebt werden kann. Schließlich waren Musikscha≠ende schon immer auf Menschen sind ungleich hinsichtlich Herkun◊, Sprache, Alter, Insel der Seligen. Wanderscha◊ zu Ausbildung, Anstellung, Au◊ritts- und Ver- Erziehung, Ernährung, Sexualität, Religion, Einkommen, Fä- dienstmöglichkeiten. Nur weil Heinrich Schütz Anfang des 17. higkeiten, Chancen, Vorlieben, Abneigungen… Nach der Charta Heute können wir nahezu überall und jederzeit auf Jahrhunderts nach Italien ging, konnte er später als sächsischer der Vereinten Nationen aber sollen alle die gleichen Grundrech- verschiedenste Informationen, Texte, Bilder, Klänge, Hofkapellmeister Texte von Luthers Bibel-Übersetzung beson- te genießen. Weil jeder und jede einzigartig ist, kommt es darauf Videos und Kontakte zugreifen. Das World Wide ders ausdrucksstark und sprechend in Töne, rhetorische Figu- an, wie wir miteinander umgehen. Worin sehen wir das »Eige- Web kennt keinen Mittelpunkt. Viele nutzen die dar- ren und A≠ekte setzen. ne«? Warum empfinden wir etwas uns »Fremdes« womöglich in liegenden Chancen, vernetzen sich, wählen aus als Angri≠? Oder respektieren wir die Diversität und schätzen und eignen sich an, was ihnen zusagt. Ein Migrationsphänomen ist auch die Wiener Klassik von Haydn, vielleicht sogar die Vielfalt? Zumindest lexikalisch ist es ein Mozart, Beethoven. Scheinbar Inbegri≠ deutscher Musik, handelt kleiner Schritt von »Fremd« zu »Freund«. Wann entwickelt die Bestimmte Elemente, Stile und Techniken aus ver- es sich in Wirklichkeit um eine produktive Anverwandlung von Menschheit statt Egoismus und Nationalismus endlich mehr schiedenen Traditionszusammenhängen, Epochen barockem Kontrapunkt, italienischer Triosonate und Oper, fran- planetarisches Denken und Handeln? und Regionen amalgamieren sich zu einer weitge- zösischer Suite und Ouvertüre, Wiener Volksmusik, böhmischer hend enthistorisierten und entlokalisierten Inter- Musikantik, Mannheimer und Berliner Schule. Ebenso lokale wie Ich wünsche Ihnen oder Hyperkultur. Bei anderen wecken diese Hybridi- internationale Phänomene sind auch Jazz, Pop, neue Musik und viel Freude beim Lesen. sierungstendenzen und Migrationsbewegungen das Repertoire an Gesten und Bewegungen im Tanz. Ängste. Sie befürchten »Überfremdung«, Konkur- Prof. Dr. Rainer Nonnenmann renz, Verdrängung, Identitätsverlust und wählen rechte Parteien, die das vermeintlich »Eigene« gegen Musik ist so vielfältig, mobil, das »Fremde« in Stellung bringen. Monatelang über- deckte die Corona-Pandemie alle anderen Themen eigentümlich und fremd wie es Der Musikwissenschaftler Prof. Dr. Rainer Nonnenmann ist Dozent an der HfMT Köln und Chefredakteur von und Probleme, bis diese plötzlich umso vehementer auch Menschen sind. DAS JOURNAL. Schwerpunkte seiner Forschung und Lehre liegen auf der Musik, Ästhetik und Kultur- wieder hervorbrechen. Das neue JOURNAL der Hoch- geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts. Er ist Autor schule für Musik und Tanz Köln setzt das Thema sei- Doch gibt es auch problematische Appropriation, Assimilation zahlreicher Aufsätze und Bücher, zudem Heraus- ner ersten Ausgabe daher sowohl wegen als auch und Absorption fremder Kulturgüter. Manche Exotismen, Priva- geber der »MusikTexte« sowie freier Musikjournalist für verschiedene trotz Corona. tisierungen und Vermarktungen gleichen Enteignungen. Seit Magazine, Zeitungen und Rundfunkanstalten.
Eine Herausforderung 07 | Diskussion – Musik und Gesellschaft Der Politiker und Rechtsanwalt Gerhart Baum im Gespräch Sehr geehrter Herr Baum, gestatten Sie zu Anfang eine per- Was macht für Sie Identität aus? sönliche Frage: Ende Oktober werden Sie 88 Jahre alt. Wird In einem langen Leben ist man geprägt durch die Orte, Ihnen im Alter das Leben vertrauter oder fremder? an denen man gelebt hat, und durch die Menschen Die Wahrnehmung verändert sich und wird selektiver. Man unter- und die Kommunikation mit ihnen, ohne die man scheidet mehr, was für einen selbst wichtig oder unwichtig ist, nicht leben kann, etwa dem Lebenspartner. Ich lebe und man vertie◊ Themen. Aber die Neugier auf Entwicklungen weiterhin mit den Aufgaben und Themen, die mich der Gesellscha◊ und die aktuellen rasanten Veränderungen ist un- immer beschä◊igt haben: Freiheit und Sicherheit, Frei- gestillt. Sozialpsychologische Untersuchungen interessieren mich heit der Kultur, Umweltschutz, Datenschutz. Die The- sehr. Wie verändern sich die Menschen und die Gesellscha◊? Wie men, die ich mir als Politiker zu Eigen gemacht habe, … könnte die Zukun◊ aussehen? Wir leben in einer Zeitenwende, prägen bis heute meine Identität. Den Staat, in dem ich man kann es nicht anders sagen, bestimmt durch Globalisierung, lebe, sehe ich als eine gemeinsame Rechts- und Werte- Digitalisierung und nun als biologische Weltkrise auch Corona. ordnung, geprägt durch unsere Kultur und Geschichte,
Wer sich anmaßt, blem von uns nicht allein gelöst werden, jedenfalls nicht durch Worin liegt Ihre Aufgabe als Sprecher des Kultur- grenzenlose Aufnahme von Flüchtlingen. Es gibt Ängste, und die rats NRW? muss man auch ernstnehmen. Aber sie sind größtenteils nicht be- Es geht darum die Rahmenbedingungen für Kultur rechtigt und Angst ist der jämmerlichste Dämon gegen eine frei- und deren Vermittlung zu verbessern. Zentrales Ziel ist heitliche Gesellscha◊. Es gibt keine Benachteiligung von Deut- es – unter anderem durch Mitwirkung an einem Kul- andere ausgrenzen zu schen durch Zuwanderung und Flüchtlinge. »Der Flüchtling« turgesetz des Landes –, die Kultur immer in der Diskus- ist in vieler Hinsicht der Sündenbock, der für innenpolitische sion zu halten als eine Notwendigkeit für die Fortent- Versäumnisse ha◊bar gemacht wird und der uns als Bote die wicklung einer freien Gesellscha◊, die ohne die Impul- Not von Hunger, Korruption, Unterdrückung und Kriegen in vie- se der Kunst nicht vorstellbar ist. können, der wandelt len Ländern der Welt vor Augen führt und uns damit in unserer eigenen »heilen Welt« stört. Alle Krisen der Welt erreichen uns. Universitäten, Kunst- und Musikhochschulen sind Wir können die Augen nicht mehr davor verschließen, sondern Sammel- und Tre≠punkte von Studierenden und müssen uns dem stellen. Lehrenden aus unterschiedlichen Ländern. Sehen Sie Bestrebungen, diese für Wissenscha◊ und Kultur in den Spuren der Immanuel Kant entwarf in seiner Altersschri◊ »Zum ewigen lebenswichtige Internationalität und deren Finan- Frieden« (1795) Grundzüge eines »Weltbürgerrechts«, wonach zierung in Frage zu stellen? alle Menschen Freizügigkeit und unabhängig von ihrer Her- Solche Tendenzen sind ein erschreckender Angri≠ kun◊ überall auf der Welt Aufenthaltsrecht genießen. Kommen auf die Welto≠enheit und den kulturellen Austausch, deutschen Barbarei. wir der Verwirklichung dieser Vision gegenwärtig näher oder von dem Kunst immer gelebt hat. Die AfD macht mo- entfernen wir uns davon? mentan eine Kampagne gegen die Kunstfreiheit. Es Kant hat die Vorarbeit für die universelle Geltung der Menschen- soll von dieser Seite ein Kulturbegri≠ eingespeist rechte geleistet, mit deren Erklärung die Völkergemeinscha◊ 1949 werden, der völkisch ist. Das ist Nazi-Ideologie. Dem 09 | Diskussion – Musik und Gesellschaft auf das vorherige schlimme Jahrhundert der Kriege reagierte. müssen und – da bin ich guter Ho≠nung – werden wir Doch diese Absichtserklärung kann nur unter bestimmten Bedin- auch widerstehen. gungen verwirklicht werden. Wir können nicht unsere Grenzen für alle ö≠nen, die in der Welt in Not und Elend leben. Das muss di≠erenziert behandelt werden, auch wenn der von Kant formu- lierte Grundsatz richtig ist. Für mich ist die Seit 1. März 2020 hat Deutschland ein »Fachkrä◊eeinwande- rungsgesetz«. Braucht das Land auch ein allgemeines Einwande- Reise in neue Klangwelten immer … rungsgesetz? Fremde, die zu uns kommen, sind eine Bereicherung unserer Ge- ein großartiges aber nicht ausgrenzend. Richtig verstandener Patriotis- Deutschland ist heute viel stärker migrantisch geprägt als zu sellscha◊. Das jetzige Zuwanderungsgesetzt ist meines Erachtens mus und die Besinnung auf eigene Wurzeln sind erst Ihrer Amtszeit als Bundesinnenminister von 1978 bis 1982. Ist viel zu strikt, zu eng, zu bürokratisch. Wir müssen auch sehen, die Voraussetzung für Weltbürgertum. auch die Akzeptanz oder gar Wertschätzung dieser Entwick- dass wir diejenigen, die als Flüchtlinge ins Land gekommen sind, Was sagen Sie Menschen, die ihre Identität – oder ei- ne Konstruktion davon – zur Abwehr und Ausgren- lung gewachsen? Am Kabinettstisch von Helmut Schmidt habe ich in irgendeinem Zusammenhang mal gesagt, »Herr Bundeskanzler, wir sind ein sofern die Menschen das wollen und die Voraussetzungen dafür gegeben sind, zu Einwanderern machen. Das ist ein Spurwechsel aus dem Asyldasein in die Spur einer geregelten Einwanderung. Abenteuer. zung der Identitäten Anderer instrumentalisieren? Einwanderungsland«. Das stieß auf Unverständnis, beim Kanzler Schrecklich! Zur Geschichte unseres Landes gehört ebenso wie bei den Kabinettskollegen. Heute bestreitet im Ernst Sie besuchen häufig Konzerte, auch solche neuer Musik. Statt ein auf Ausgrenzung beruhender Völkermord. Wer niemand mehr, dass wir ein Einwanderungsland sind und auch Gewohntes erleben Sie dabei auch Fremdes. Ist das »Fremde« sich anmaßt, andere ausgrenzen zu können, der wan- sein müssen. Nicht zuletzt gibt es die arbeitsmarktpolitische Not- eine Grundvoraussetzung für Kunst? delt in den Spuren der deutschen Barbarei. Das ist wendigkeit, wir brauchen Arbeitskrä◊e und geregelte Zuwande- Alles ist fremd und vertraut zugleich. Die »Diabelli-Variationen« nicht zu ertragen. Unsere Staatsidentität ist geprägt rung. Und wir haben einen Asylzustrom erlebt, der uns deutlich sind mir vertraut, aber ich bin neugierig auf die Interpretation, durch das Grundgesetz, und das fußt auf Menschen- gemacht hat, dass wir auch humanitäre Verpflichtungen haben. wie dieses Werk heute gespielt wird. Vertraut bin ich auch mit Der Rechtsanwalt und Politiker Gerhart Baum würde, Toleranz und Achtung von Minderheiten. Werken der neuen Musik, in die ich mich eingehört habe. Ich bin war Bundesinnenminister im Kabinett von Helmut Noch nie gab es in meiner Lebenszeit eine so starke Gegenwärtig fürchten sich manche vor »Überfremdung«, weil dann in gewisser Weise darin »zu Hause« und kann einordnen, Schmidt und Abgeordneter des Deutschen Bundes- Herausforderung wie heute durch den ausgrenzenden Menschen aus verschiedenen Weltgegenden nach Deutschland wenn etwas Neues kommt. Die zeitgenössische bildende Kunst tages. Als einer der profiliertesten Linksliberalen Rassismus und Rechtsextremismus. Das ist empörend: kommen und andere Sprachen, Kulturen, Essgewohnheiten und in den letzten Jahren – auch unter dem Einfluss meiner Frau in der FDP setzt er sich für den Schutz von Bürger- und Menschenrechten ein und klagte mehrfach Da nehmen Leute für sich in Anspruch, zu definieren, mitbringen. Ist diese Angst berechtigt? – verstärkt die neue Musik bereichern mich. Ich bedaure, dass gegen Überwachungsmaßnahmen vor dem Bundesverfassungsge- was deutsch ist. Thomas Mann hat einmal gesagt, die- Ich teile diese Sorge nicht, weil ich sehe, wie stark die Integrati- viele Zeitgenossen sich dem Zeitgenössischen in der Musik ver- richt. Er ist seit 2005 Sprecher des Kulturrates NRW und in zweiter se Leute haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich onskrä◊e in unserer Gesellscha◊ sind, auch im Hinblick auf die schließen. Für mich ist die Reise in neue Klangwelten immer ein Ehe mit der ehemaligen Musikreferentin der Stadt Köln Renate mit Deutschland zu verwechseln. Flüchtlinge von 2015. Allerdings kann das Weltflüchtlingspro- großartiges Abenteuer. Liesmann-Baum verheiratet.
Das Fremde und sequenzen für mich: Es ist wesentlich schwieriger, mich auf dem eigenen Bildungsweg zu profilieren, wenn die und Räume einnimmt und aus verschiedenen Perspektiven spricht und singt. Das Singen ordne ich mir am ehesten als Eigen zu, da ich dies schon Eigene im Spiegel eigene Perspektive und Position grundsätzlich noch seit meiner Kindheit immer gerne tue. Rappen brachte ich mir dagegen ne- erstritten werden müssen und ich mich in der Hoch- ben dem Studium von Jazzgesang- und Vokalpädagogik selbst bei, weshalb schule und breiteren Gesellscha ◊ wenig repräsentiert ich es als mir eher fremd zuordnen würde. Als akademisch nicht anerkann- der Mehrheits- sehe. Hierbei geht es nicht darum, mich als Individu- te künstlerische Ausdrucksform hatte ich wenige Möglichkeiten, mich mit um repräsentiert zu sehen, sondern den Raum für alle anderen über Rap als Technik des Sprechgesangs auszutauschen. Heute zu ö≠ nen, so dass sich im Idealfall auch alle repräsen- kann ich trotzdem sagen, dass mich kaum etwas in meinem Gesang so weit gesellschaft tiert sehen können und so die Frage nach Diversität gebracht hat wie das Näher-Heranführen meiner Sprechstimme an meine automatisch obsolet wird. Die Folge von mangelnder Gesangsstimme und umgekehrt. Repräsentation in der Hochschule bedeutet für mich persönlich, das mir Eigene immer wieder in Frage zu Rap war mir bis dahin zwar nah, jedoch nur aus einer konsumierenden Position. stellen: Darf ich hier sein? Was berechtigt mich dazu? Dass ich selbst einmal in der Lage sein würde »rhymes zu spitten«, hätte ich vor Mit welchem Recht besetze ich die Position, die ich einigen Jahren nicht erwartet. Insofern war mir die Praxis des Rappens durch- besetze? Welche Leistung wird jemals genug sein, da- aus fremd, auch wenn häufig von meinem Aussehen auf eine Nähe zu gewissen mit sie mich zu meinem Status berechtigt? Themen und Praktiken geschlossen wird. Es ist allerdings eine Sache, Rap zu hören und darüber zu sprechen, und eine ganz andere, es selbst zu tun. Hinzu Ich ging zunächst davon aus, dass es in der Praxis zu kommt die Diskrepanz zwischen der Art und Weise, wie ich visuell eingeordnet wesentlich weniger Zuschreibungen kommt als im werde, welche Rückschlüsse aus dieser Einordnung auf meine Denkweise und Wissenscha◊sbetrieb. Vor dem Hintergrund des soge- Handlungsfähigkeit gezogen werden und wie ich im Gegensatz dazu tatsäch- nannten »Elfenbeinturms der Wissenscha◊« mit star- lich konstituiert bin. 10 | Globale Kultur – Gedanken und Erfahrungen ren Hierarchien, übergeordnetem Eurozentrismus und dem Streben nach vermeintlicher Neutralität finde ich diese Annahme bis heute nachvollziehbar. Warum ist die Studierenden- schaft weit davon entfernt, ein Abbild Doch aus persönlicher Erfahrung kann ich dem auch teilweise widersprechen: Die Zuschreibungen sind in des Facettenreichtums unserer Die Frage nach dem Fremden und dem Eigenen ist Die Tatsache, eine von sehr wenigen Schwarzen Menschen an der Praxis nicht geringer, sie sind dort lediglich »posi- eine Frage, mit der ich mich in meinem Leben grund- der HfMT zu sein, die solchen Zuschreibungen ausgesetzt sind tiv« besetzt. Als Schwarze Frau liegt es »mir im Blut«, Gesellschaft zu sein? sätzlich und tagtäglich beschä◊ige. Sowohl in meiner und sich diesen zu entwinden versuchen, ist mir schmerzlich gut singen und tanzen zu können und Rhythmus zu theoretischen Arbeit als Musikwissenscha◊lerin als bewusst. Vielleicht stellen sich aber auch Andere in der Hoch- haben, statt an der Tatsache, dass ich viel üben musste Mir das zunächst fremde Rappen (und Raps-Schreiben) zu eigen zu machen, auch in meiner Praxis als Rapperin, Sängerin, Songwri- schule diese oder ähnliche Fragen: Woran liegt es, dass nicht oder dass ich mich eingehend mit den Dingen beschäf- hat mir einmal mehr gezeigt, wie fiktiv und unvorteilha◊ die Dichotomie terin und Aktivistin oder wenn ich keiner dieser Rollen mehr Schwarze Menschen an der Hochschule studieren und ar- tigt habe, um zu den Fähigkeiten zu kommen, die ich »fremd und eigen« ist, da sie alles in sehr verkürzter und vereinfachter Form entspreche. Schon die Tatsache, dass ich mich bewusst beiten? Obwohl sie doch angeblich so viel »natürliches Potential« heute besitze. Als Autodidaktin, die erst spät im Studi- darstellt. Dieser Mechanismus wird einmal mehr sichtbar, wenn mir inner- zwischen Theorie und Praxis bewege und diese stellen- mitbringen? Und selbst wenn sie dies nicht täten: Warum ist die um zu regelmäßigem (Gesangs-)Unterricht kam, halb der Praxis des Rappens ein gewisses Level an Professionalität aufgrund weise zu verknüpfen versuche, stellt für viele einen Studierendenscha◊ weit davon entfernt, ein Abbild des Facetten- macht mir das besonders zu scha≠en, da ich im Kon- meines Geschlechts und/oder meiner Geschlechtsidentität abgesprochen Bruch dar, der meine Expertise in beiden Feldern in Fra- reichtums unserer Gesellscha◊ zu sein? text Hochschule, Praxis oder Theorie, selten bis nie das wird. Dadurch wird außerdem klar, wie mehrdimensional und vielschichtig ge zu stellen scheint. Doch nicht erst auf der Ebene der Gefühl habe, ausreichen zu können oder das Ideal zu Individuen sind und dass es nicht möglich ist, Menschen allein aufgrund sol- Kompetenz begegnen mir Zuschreibungen: Mein Dabei ist die Frage nach der Demografie der Studierendenscha◊ zu erfüllen, das auf mich projiziert wird. Beim Mythos des cher Kategorien zu beschreiben. Schwarz-sein erzeugt ebenfalls in akademischen Räu- kurz gegri≠en. Diversität muss sich in allen Bereichen einer Institu- »Schwarzen Genius«, der keinesfalls auf die populäre men Annahmen über das, was mir eigen und fremd zu tion widerspiegeln. Denn Diversität zeichnet sich nicht allein durch Musik beschränkt ist, handelt es sich um eine Messlat- Mich sowohl in der Praxis als auch in der Theorie zu Hause zu fühlen, im sein hat gegenüber dem, was mir wirklich eigen oder eine besondere Sichtbarkeit an der Oberfläche aus, sondern durch- te, die unmöglich und auch unnötig zu erreichen ist, Fremden wie im Eigenen, sehe ich als einzigartigen Mehrwert, mit dem ich in fremd ist. Als ein Beispiel ist zu nennen, dass mir müh- dringt eine Institution ganzheitlich, sowohl an der Oberfl äche als da es nicht darum gehen kann, jemand anderes zu sein der Lage bin, die Wechselwirkungen dieser Verschränkungen näher zu be- sam angeeignete Fähigkeiten als »natürliches Talent« auch bis tief ins Innerste. Nach den Protesten um Black Lives Matter als ich selbst. Dies trif◊ sowohl auf die künstle- leuchten. Und nicht zuletzt auch aus dem jeweils Anderen zu schöpfen. ausgelegt werden – aufgrund meiner vermeintlichen und die längst überfällige Debatte um Rassismus scheint es zum risch-kreativen als auch auf die analytisch-wissen- ethnischen Zugehörigkeit. Das hat meist wenig mit Trend geworden zu sein, dass viele insbesondere nicht selbst von scha◊lichen Teile in mir zu. dem zu tun, was ich selbst als mir eigen oder fremd defi- Rassismus betro≠ene Personen erstens nur oberflächlich wissen, wo- Ella O‘Brien-Coker ist Sängerin, Rapperin, niere. Durch die Häufigkeit solcher Annahmen fühle rum es geht und zweitens nicht in der Lage zu sein scheinen, dieses Um die Frage des Ausreichens, des Anders-seins oder Musikerin, Songwriterin, Vokalpädagogin, Musik- ich mich o◊ isoliert, da sie in mir eine Diskrepanz her- Wissen auf das alltägliche Leben zu übertragen. Letzteres hätte un- des Anders-gemacht-Werdens dreht sich auch mein wissenschaftlerin. Nach dem Bachelor of Arts in stellen zwischen der Person, die ich bin und der, die ich weigerlich zur Folge, dass beispielsweise nicht nur von Diversität als aktuelles Projekt. Mit meiner Kollegin Jana Maria Jazzgesang und Musikerziehung studiert sie seit 2018 Master Musikwissenschaft an der HfMT Köln. in den Augen Anderer sein sollte. Außerdem stellt es Marketing-Strategie gesprochen, sondern dass sie auch gelebt würde. Heinz aus dem Bereich Producing produziere ich ein Sie ist Mitbegründerin der Band »The Undun«, eine Distanz zwischen mir und den Personen mit jenen Album, das mich als Person beziehungsweise meine engagiert sich im von ihr initiierten Kollektiv DEMASK, veranstaltete Annahmen her, da diese sich nicht die Mühe zu machen Wie ich über die Jahre im Musikhochschulbetrieb feststellen muss- Stimme ins Zentrum stellt, die sich zwischen Gesang das DEMASK Fest 2019 und übernahm die Produktionsleitung für scheinen, mich individuell zu betrachten. te, hat die nur eingeschränkt vorhandene Diversität folgende Kon- und Rap hin und her bewegt, verschiedene Positionen CBE Köln u.a. für Little Simz, Lee Scratch Perry, Masego, Ebow.
MOD ELL 1:2 WIE MAN VON 13 | Globale Kultur – Gedanken und Erfahrungen EINS ZU ZWEI UND VON ZWEI ZU EINS KOMMT Irgendwann kann der Mensch gezwungen sein, an sich selbst zu denken und sich selbst zu verstehen. Zugleich ist er ge- zwungen, an einen anderen zu denken und einen anderen zu verstehen. Diese beiden Handlungen können eine Reaktion des Menschen auf seine Begegnung mit etwas anderem sein, das sich von ihm unterscheidet oder das er nicht ist. Dieses Andere kann ihn aufgrund des Unterschieds dazu bringen, eine Suche zu beginnen, einerseits indem er nach sich selbst fragt und an- dererseits, indem er nach diesem Anderen fragt. Diese Möglich- keit ist nicht nur eine Möglichkeit, sondern wurde im Leben der Menschen aller Zeiten o◊ praktisch verwirklicht. Ich bin in Teheran geboren und habe bis heute hauptsächlich zwei Arten von Musik gemacht: traditionelle iranische Musik und europäische klassische Musik. Ich fing an, Musik von Bach, Beethoven und Brahms zu lernen. Erst im Alter von siebzehn … Jahren begann ich, die theoretischen und praktischen Grundla- gen der traditionellen iranischen Musik zu studieren. Als ich in Teheran lebte und Persisch sprach, las und schrieb, konnte ich
Und diese diese Mischungen und Einflüsse im Laufe der Ge- konnte, und diese Situation war das Ergebnis meiner schichte in allen Bereichen der Wissenscha◊, Kunst gleichzeitigen Arbeit in zwei verschiedenen kulturel- und Kultur zeigen. len Bereichen. Für mich war dies ein Werkzeug, um mich einer Domäne zu entwöhnen und zu verhin- Suche nach dem Solche Beobachtungen erschweren die Benennung dern, dass ich in einer anderen Domäne ertrinke. und Beschreibung dieser Themen und lassen die vor- handenen Namen und Attribute für diese Themen Es ist zu beachten, dass die Verwendung von Begrif- manchmal unzureichend erscheinen, da diese Beob- fen wie »europäische« und »südwestasiatische« Mu- Selbst und dem achtungen den Umfang der Definitionen erweitern sik angesichts der obigen Aussagen kontrovers sind. und die Grenzen zwischen ihnen verwischen. Bei Daher werden diese Begri≠e in diesem Text nur als meiner Suche kam mir jedoch zugute, dass ich mich Kompromiss verwendet, um die Bedeutung zu ver- umso mehr mit der Kultur der südwestasiatischen mitteln. In meiner bisherigen Arbeit als Komponist Anderen geht Musik vertraut machte, je mehr ich von der Kultur habe ich jedoch verschiedene Anstrengungen unter- der europäischen Musik verstand, und dass ich mich nommen, um die Musikkulturen Europas und Süd- umso mehr mit der Kultur der europäischen Musik westasiens sowohl anzuwenden als auch nicht anzu- Je mehr ich über mich befasste, je mehr ich mich in die südwestasiatische wenden. Diese Bemühungen umfassten die Arbeit für mich weiter. Musik vertie◊e, weil diese ähnlichen und unter- mit jeder dieser Kulturen für sich genommen sowie und andere weiß und erlebe, schiedlichen Phänomene in komplementären Rollen in Kombination. Die »Anwendung« ist eine bekann- insbesondere mehr meine zueinander fungierten. Zum Beispiel bemerkte ich die modulatorischen Möglichkeiten der temperier- te Handlung. »Nichtanwendung« ist jedoch Teil mei- ner Erfahrungen in der Vergangenheit, die mir ge- eigene Geschichte und 15 | Globale Kultur – Gedanken und Erfahrungen ten Stimmung, als ich versuchte, ein ähnliches Mo- zeigt haben, dass man als Komponist auf die grund- dulationsverhalten auf das mikrotonale Stimmungs- legenden Fragen »Warum« und »Wie« der Verwen- nationen und insgesamt sein Spielstil stimmten im- die Geschichte anderer kenne, system traditioneller iranischer Musik anzuwenden, dung von Musikkulturen – ob westlich oder östlich mer stilistisch mit der Literatur des 19. Jahrhunderts das diese Möglichkeit nicht anbietet. – vor und während des Komponierens nicht immer überein, doch waren Form und Größe seiner Vibrati desto schwieriger wird für eine überzeugende Antwort findet. Unter solchen auf den Höhepunkten der Stücke die gleichen wie mich das Definieren des Wenn man sich gleichzeitig mit mehreren Bereichen beschä◊igt, kann man zwischen ihnen wechseln. Umständen besteht dann keine Notwendigkeit, Ele- mente aus verschiedenen Kulturen und Musiktradi- auf der Kamantsche (ein Streichinstrument aus Süd- westasien), weil diese traditionelle Musik für Kulmi- Selbst und Fremden und das Aufgrund dieses Wechsels ist es möglich, jeden Be- reich von außen zu betrachten und zu analysieren, in tionen zu verwenden. nationen ein bestimmtes Vibrato verwendet. Dies geschah auf völlig automatische und natürliche Wei- Erkennen der Grenzen dem der Analytiker zum Zeitpunkt der Analyse Nach meiner persönlichen Erfahrung, in der ich der- se. Obwohl es aus stilistischer und ästhetischer Sicht nicht anwesend ist. Diese Möglichkeit ist das Pro- artige einfache Fragen nicht gestellt oder gestellt, nicht wünschenswert gewesen sein mag, fand aus zwischen beidem. dukt eines mehrseitigen Lebens und Arbeitens und aber nicht die richtigen Antworten gefunden habe, phänomenologischer Sicht dieses Element ganz na- … hat eine ganz besondere Qualität. Wenn man einen war das Endergebnis o◊ nicht zufriedenstellend. Die türlich und organisch seine eigene Stelle in einer Bereich nur von innen betrachtet, unabhängig da- optimale »Anwendung« verschiedener Musikkultu- geeigneten Zeit und Situation. auf dem Cello die Suite Nr. I in G-Dur, BWV 1007, die Courante, von, wie sehr ein in einem Bereich anwesendes Indi- ren und ihrer Komponenten hat jedoch zahlreiche und auf dem Klavier die Fuge in e-Moll, BWV 855 aus dem viduum diesen Bereich von oben aus einer größeren bekannte Formen ihrer bisherigen Methoden hervor- Dieses Beispiel gab mir den Anstoß, nach anderen, »Wohltemperierten Klavier»Teil I spielen. Mein Wissen über Perspektive zu betrachten versucht, kann das Bild gebracht. Eine der interessantesten Weisen besteht komplexeren Beispielen für solche handwerklichen iranische Musik beschränkte sich zu dieser Zeit darauf, die Na- dieses Bereichs niemals so umfassend sein wie das darin, die Elemente einer Musikkultur nicht be- Kombinationen zu suchen, die etwas anderes als be- men einiger Modi zu kennen. Diese Situation warf für mich Fra- Bild eines Individuums, das diesen Bereich von au- wusst, sondern unbewusst zu nutzen. Wenn ein Mu- wusste Kombinationen auf Papier waren. Es war für gen über das Selbst und das Fremde auf. Leider – oder zum Glück ßerhalb dieses Bereichs betrachtet. siker ein Element einer bestimmten Musikkultur mich der Beginn, genauere Kompositionsexperimen- – habe ich die Antworten auf diese Fragen noch nicht gefunden. verinnerlicht und es dem Unterbewusstsein unter- te in beiden Modellen zu unternehmen. Und diese Ein weiterer Vorteil des gleichzeitigen Arbeitens in wir◊, könnte sich diese Komponente aufgrund ihrer Suche nach dem Selbst und dem Anderen geht für Auf diesem Pfad wurde mir klar: Je mehr ich über mich und an- mehreren verschiedenen Bereichen besteht in der ge- Internalisierung in geeigneten Bedingungen eines mich weiter. dere weiß und erlebe, insbesondere mehr meine eigene Ge- ringeren Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Individu- Stücks auf organische Weise manifestieren, selbst schichte und die Geschichte anderer kenne, desto schwieriger um an die Struktur eines Bereichs gewöhnt und sich wenn diese Person nicht beabsichtigt, sie zu verwen- wird für mich das Definieren des Selbst und Fremden und das in diesen einschmilzt. Diese Art von Nichtzugehörig- den. Ich habe Beispiele dafür in der Arbeit verschie- Mazyar Kashian, geboren 1991 in Erkennen der Grenzen zwischen beidem. Was ich unter der ira- keit ist eine Voraussetzung für Gedanken- und Hand- dener Musiker der Vergangenheit gefunden. Teheran, begann im Alter von 11 nischen Kultur, der iranischen bildenden Kunst und der irani- lungsfreiheit. Und Gedanken- und Handlungsfreiheit Jahren o∞ziell mit Musikunterricht schen Musik verstand, war nicht nur iranisch, denn die alte ira- ist wiederum eine Voraussetzung für fruchtbare Ein Geiger hatte jahrelange Erfahrung in Orches- an der Teheraner Musikschule im Bereich Komposition. Er lernte nische Musik stammt aus der antiken griechischen Musik, und künstlerische und wissenscha◊liche Arbeit. Der tern, deren Repertoire hauptsächlich aus Literatur persische traditionelle Musik (Radif) das Gerüst der klassischen persischen Poesie stammt aus der Mangel eines einzigen festen Diskurses, innerhalb des 19. Jahrhunderts bestand. Sein Ohr war jedoch Maktabkhaneh (Schule) von Mirza Abdollah. Seit 2016 arabischen Poesie. Ebenso sind indische und iranische Philoso- dessen man sich definiert und eingewöhnt, war für im Stimmungssystem der traditionellen südwestasi- studiert er Komposition am Institut für Neue Musik phie miteinander verflochten. Es gibt viele weitere Beispiele, die mich ein Raum, in dem ich frei atmen und denken atischen Musik geschult. Seine Phrasierungen, Into- der Hochschule für Musik und Tanz Köln.
MAKING KIN, OT BRÜDER! 17 | Mediamorphose – Perspektiven und Visionen »Mit dem deutsch-asiatischen Projekt COVERED CULTURE untersuchen Muntendorf/ Lobeck kulturelle Prägungen, individuelle Interpretationen und kollektive Aneignungen als Potentiale des Chorischen. Ausgehend von Fragmenten vokaler Musik Beethovens und LOBECK | Als uns im Herbst 2019 das Go- seinem politischen Blick auf das Kollektiv entsteht eine audio- ethe-Institut Peking für ein deutsch-asia- visuelle Rauminstallation, in der Stimmen und Abbilder von tisches Projekt zum Beethoven-Jubiläums- Sänger*innen des Beijing Queer Chorus, des Opernchores des jahr 2020 anfragte, war deine erste Assozi- Nationaltheaters Weimar und Sänger*innen und Performer*in- ation diese merkwürdige und durchaus nen aus China, Korea und Japan als virtueller, summender bemerkenswerte Begeisterung für die Chor etabliert werden. Chor und Publikum verbinden sich in Wiener Klassik in Asien – und insbeson- einem vom japanischen Architekten KATO entworfenen und dere für Beethovens 9. Sinfonie in Japan. mit Excitern präparierten Tischobjekt zu einer sozialen Skulp- Das Mega-Event in Osaka wird übrigens tur. In dieser gemeinsamen Entdeckung des Unvertrauten folgt von Suntory veranstaltet, dem größten COVERED CULTURE (www.covered-culture.org) der Vision Whisky-Hersteller Japans mit einem einer Hyperkultur und dem kritischen Befragen hymnischer Marktanteil von etwa siebzig Prozent. Feierkulturen. Seit 1983 versammeln sich in der gigantischen … Konzerthalle von Osaka immer am ersten Sonntag im Dezem- MUNTENDORF | In dieser europäischen ber zehntausend Japaner in einer Neujahrstradition zum ge- Hymne, die laut gesungen, fast geschrien meinsamen Singen der 9. Sinfonie Beethovens. werden muss, um sich gegenüber dem Or-
Auch wenn LOBECK | Interessanterweise reagierte der Europarat nicht zuletzt kommunizieren wir in unserer digita- 1972 auf einen ähnlichen Aspekt, als er Herbert von Ka- len Factor y auch mit unserem eigenen tech- rajan anfragte, für die Europahymne eine Instrumental- nisch-künstlerischen Team und ein erheblicher An- version des Beethoven-Chores zu adaptieren – damit teil des Materials entstand über einen Online Open viele Menschen keine der europäischen Sprachen bevorzugt wird. MUNTENDORF | Im Summen ist die Achtsamkeit ge- Call. Das ist eine Weiterführung deines Begri≠s »So- cial Composing«, der die soziale, dialogische und in- teraktive Seite wesentlich stärker betont. summen genüber der Fragilität des Einzelnen Voraussetzung für gemeinsames Musizieren. Nun hören wir aber gar MUNTENDORF | Aneignung als Strategie und Äs- nicht die Einzelstimmen, wie sich auch die Einzelstim- thetik ist der Musik und Kunst bereits immanent, men bei dieser Art des Singens gegenseitig auch nicht wir können schon längst alles »umwerten«. Die Fra- entsteht kein hören können – das ist ein interessantes Phänomen. ge ist also nicht, ob eine Umwertung stattfindet, Aber wir hören jede Abweichung vom kollektiven Sta- sondern in welchem Referenzsystem sie stattfindet tus quo, bei einem reinen Summton zum Beispiel das und dann – ob sie dieses auch verlassen und neue Wegbrechen, den Atem, den Anteil der Lu◊, Verände- Verwandtscha◊en eingehen kann. Die Unterschei- Pathos rungen der Stimmfarbe. Im Mitsummen gebe ich mein dung in das Eigene und das Fremde basiert auf der Commitment für eine Musik und eine soziale Situati- künstlichen Unterscheidung der Welt in mich und … on in Anteilnahme, in Response und im Echo. den anderen. Wenn aber alles Andere und alles Fremde als mögliche Erweiterungen des eigenen Da- chester zu behaupten und ihre Botscha◊ von Einig- LOBECK | Bei der Arbeit mit den unterschiedlichen Sän- seins begri≠en werden, gibt es keine Aneignung keit zu vermitteln – in dieser Hymne scheint eine ger*innen und Chören ging es darum, das Summen bis mehr. Sie wird von einem Verwandtscha◊sbegri≠ Attraktion zu liegen, die in der japanischen Kultur in zu seinen Relikten in unseren verschiedenen Sprachen abgelöst, wie ihn Donna Haraway in ihren gesell- 19 | Mediamorphose – Perspektiven und Visionen dieser Form vielleicht selten vertreten ist. In zahlrei- zu erforschen. Dieser Prozess war ein bewusst o≠ener. scha◊lichen Science-Fiction-Szenarien als Zukun◊s- chen Interviews und Dokumentationen zu dem modell begrei◊: Aneignung ist hier eine Annäherung Event in Osaka sprechen Dirigent, Sänger*innen und MUNTENDORF | Ich habe nur das Nötigste an Skizzen – ein kontinuierlicher Transformationsprozess der Publikum darüber, wie verbindend und zuversicht- und Impulsen vorbereitet, die einen solchen Prozess Sensibilisierung für das Andere. lich diese Hymne wirkt, wie befreiend von individu- ermöglichen könnten. Eine Audiopartitur mit schon ellen Verirrungen und wie berauschend im kollekti- bearbeiteten Fragmenten von Beethovens »Ode an die ven Pathos. Freude«, die über Hören und Mitsummen rekonstru- iert wird, bildet gekoppelt mit Motiven in Form von Im Summen ist die LOBECK | Gerade das Pathetische – wie auch der Spon- sor – verweisen aber auch auf problematische As- Lullabies die Eckpunkte, die durch künstlerische For- schung und Experimente an der summenden Stimme Achtsamkeit gegenüber pekte: Die Nazis haben die Neunte zu Hitlers Ge- verbunden wurden. Die Stimmen haben alle etwas burtstag gespielt, im Apartheid-Regime in Rhodesi- en (heute Simbabwe) wurde sie zur Nationalhymne, Unerwartetes, Eigenes, in diesem Sinne aber nichts Fremdes in den Prozess eingebracht. Wenn ein integra- der Fragilität des die Nato hat sie zur Erö≠ nung des Brüsseler Haupt- quartiers ausgewählt – Beethoven hätte heute wahr- tiver und notwendigerweise o≠ener Prozess Basis einer Zusammenarbeit ist, dann gib es nicht das »Fremde«, Einzelnen Voraussetzung scheinlich ähnliche Mails wie Neil Young an Trump sondern nur die Erweiterung des Eigenen. geschrieben, als dieser »Rockin’ in the Free World« in seinem Wahlkampf benutzt hat. Vielleicht ist un- LOBECK | Mit Hilfe digitaler Bearbeitungstechniken für gemeinsames sere Idee, Fragmente aus Beethovens Hymne einem »summenden Chor« zu überlassen wie ein Reset die- bringst du den Gedanken des Eigenen und des Ande- ren musikalisch noch stärker in eine Unschärfe, Musizieren. ser eher problematischen Aneignungen. wenn menschliche Stimmen und elektronischer Klang nicht mehr unterscheidbar sind oder wenn die MUNTENDORF | Das Summen agiert im Vertrauten. Stimmen beginnen zwischen den Geschlechtern zu Brigitta Muntendorf ist Komponistin Als primär privater und persönlicher Akt, als in sei- oszillieren. Sie erklingen aus Lautsprechern und Ex- und Professorin an der HfMT Köln. Ihre Arbeiten sind sowohl instrumental nen Entfaltungsmöglichkeiten eher unkünstlerisch citern, schwingen durch Lu◊ und Holz, als O-Ton, als auch intermedial, installativ oder und limitiert. Zudem nivelliert es das Eigene – es Studioaufnahme, als Verfremdungen oder werden performativ und entstehen in enger entzieht sich Zuschreibungen von Nationalität, Al- aus der Wahrnehmung eines unbekannten Zuhörers Verbindung zu anderen Kunst- und ter und musikalischen Genres, somit auch sozialen heraus hörbar gemacht. Das Projekt ist ja in einem Ausdrucksformen. Mit der Choreografin Stephanie Thiersch und Umgebungen. Aber gleichzeitig – und das macht es technisch aufgerüsteten Umfeld entwickelt – wir ha- dem Architekten Sou Fujimoto entwickelt sie aktuell »ARCHIPEL« (Ruhrtriennale / Theater der Welt 2021). Mit dem Dramaturgen so besonders – verweist es auf das Chorische, das aus ben alle Aufnahmen von Ton/Video mit Technik- Moritz Lobeck (zuletzt Kurator Wiener Festwochen, jetzt Programm- dem Privaten und Fragilen erwächst und diese »Her- teams vor Ort via Fernregie gesteuert, haben online leitung HELLERAU und künstlerischer Leiter Dresdner Tage der kun◊« nicht mehr los wird. Auch wenn viele Men- geprobt, Testauf bauten gemacht und die Museen zeitgenössischen Musik) konzipiert sie unter anderem eine Oper schen summen entsteht kein Pathos. und Ausstellungsorte durch den Screen besichtigt, für das Ensemble Modern (Bregenz 2022).
21 | Mediamorphose – Perspektiven und Visionen Die Wir nähern uns der Frage des »Fremden« und »Eigenen« mittels eines Dialogs über Tanz und seine kritischen Potenziale in Zeiten globaler Pandemie. »Unheimeligkeit« Dazu schreiben wir einander Briefe. Die Unmittelbarkeit dieser Form erlaubt uns eine größere Intimität und der Welt Langsamkeit im Nachdenken und außerdem – als Kolleginnen, die sich erst ein Semester lang kennen – ein Eindenken ins »eigen-artige« der jeweils anderen bewohnen Perspektive. Im Folgenden teilen wir unsere ersten beiden Briefe. …
Liebe »Wahrheit« wurde vielleicht sitz ergri≠en und etwas Fremdes als ihr »Anderes« markierten: In meiner Zeit als MA-Studierende der Soziologie wurde auch mir Rituale, Tempeltänze, so genannte »eingeborene« Körperprakti- vermittelt, jeglichen Ansprüchen von/auf Wahrheit gegenüber ken oder »Folklore« dienten als ein Repertoire der Aneignung, um noch nie so viel öffentlich misstrauisch zu sein. Denn der Diskurs der »Wahrha◊igkeit« wie in vielen Kunstformen die zunehmend unerfüllten Begehren dient o◊ als Herrscha◊sstrategie, um Ideen, Körper und Bewegun- diskutiert wie in Zeiten von Sevi, der westlichen Moderne zu befriedigen. gen zu unterdrücken, die als »unwahrha◊ig« oder »fake« gelten. Nun kann »eigen« auch »speziell«, »seltsam« oder »exzentrisch« Corona. Die Ethnologin Regina Bendig beschreibt, dass in dem Moment, wo bestimmte kulturelle Ausdrucksformen als »authentisch« und heißen. »Fremd« dagegen hat eine räumliche Dimension als das damit als unverfälscht, glaubha◊ und legitim bezeichnet werden, »Nicht-Lokale«, »Nicht-Einheimische«. Erst in den letzten Jahren dieselben Kategorien zugleich den/die/das »Andere« des Authen- Liebe wächst in den Debatten der hiesigen Tanz- und Theaterwissen- tischen scha≠en: das Fake, das Unechte, sogar das Ungesetzliche. vor kurzem bekam ich eine Email von einem nord- scha◊ das Bewusstsein, dass noch die postmodernen Denkgebäude »Wahrheit« wurde vielleicht noch nie so viel ö≠entlich diskutiert amerikanischen Bildenden Künstler, unterschrieben auf einem kolonialen und rassistischen Boden stehen. »Subjekt« wie in Zeiten von Corona. Ich frage mich deshalb, ob die Pandemie mit »Yours truly, R.« Es fühlte sich für mich extrem und »Selbst«, die Antihelden so vieler ihrer Erzählungen sind zum auch eine Gelegenheit sein kann, unsere Mythen und Wahrheiten Constanze, seltsam an, das zu lesen. Wie kann jemand »jeman- allergrößten Teil unausgesprochener Maßen westlich, weiß und zu überdenken und mit Umsicht und Solidarität zu handeln, um des« sein? Und dann auch noch »wahrha◊ig«. Wie männlich. Es wird daher nicht genügen, ihre Denkmäler zu stür- die Welt, die vor uns liegt, zu ö≠nen und Hybride, Multispezies kann man überhaupt »wahrha◊ig« sein, an welchem zen, so lange wir nicht bereit sind, uns mit der Entfremdung im und unheimische Heime zu scha≠en? Können wir in diesem Ort auch immer? Innersten unserer eigenen Arbeits- und Denkprozesse (die uns so Schwellenmoment der Geschichte das Unheimelige unsere Bewe- lieb und wichtig sind) auseinanderzusetzen. Weil das »Eigene« ein gungen leiten lassen und über die Beschä◊igung mit Werkzeugen Meine eigene akademische Ausbildung – zeitlich vor viel befremdlicherer Ort ist als man denken sollte. Dein Brief hat mich an einem Tag des Gärtnerns erreicht. Ich versu- zur Improvisation neue Bedeutungen (er-)finden? der Etablierung eigener tanzwissenscha◊licher Studi- che gerade, meinen kleinen Balkon in einen mobilen Mini-Garten enprogramme im Nachwende-Deutschland – war wie Ich lernte, dass alternativlos und eine Kitsch-Oase für sonnige Tage zu verwandeln. Für mich Tanz bietet uns auf einzigartige Weise das Wissen des Körpers 22 | Mediamorphose – Perspektiven und Visionen ein großer Teil kunstorientierter Geisteswissenschaf- geht es dieser Tage beim Pflanzen nicht nur um Pflanzen, sondern an, das Wissen um Bewegung als Gemeinscha◊. Er leitet uns da- ten zur Jahrtausendwende geprägt vom dominanten eine Notwendigkeit besteht, jede darum, meine Wurzeln einzupflanzen, Samen der Ho≠nung und zu an, wie wir uns verändern und durch Andere im Raum verän- Einfluss poststrukturalistischer Philosophie mit ihrem Beziehungen zu wässern – in einer neuen Stadt und in einem Land, dert werden können. Er ermöglicht uns, unsere wechselseitige Imperativ der Dekonstruktion. Ich lernte, dass alterna- Behauptung von »Wahrheit« zu in das ich erst umgezogen bin. In dieser besonderen Zeit, die die Verbundenheit in Zeiten der Unsicherheit und Unheimlichkeit tivlos eine Notwendigkeit besteht, jede Behauptung von »Wahrheit« zu hinterfragen, und zwar durch die hinterfragen globale Pandemie mit ihrer Beschneidung unserer Möglichkeiten, Grenzen zu überwinden, noch komplizierter gemacht hat, ist es zu erfahren und auszuüben. Damit trägt er dazu bei, Vertraut- heit durch eine geteilte Verletzlichkeit im Raum des »Fremden« kritisch-analytische Beschä◊igung mit den unaufhör- verlockend, über die Begri≠e »eigen« und »fremd« zu meditieren. zu scha≠en, ohne dieses zu besitzen, und das, denke ich, brau- lich gleitenden und sich verschiebenden Ketten von Homi Bhaba hat den Ausdruck »unhomely« erfunden, der Freuds Und doch möchte ich im Folgenden lieber zum Tanz Zuflucht neh- chen wir mehr denn je. Bedeutungen, Zeichen und Diskursen. Ist es nicht wit- Begri≠ »das Unheimliche« wörtlich ins Englische übersetzt. Freud men, um einige Gedanken zu Deinen Überlegungen vorzuschlagen zig, dass ich noch heute o≠enbar so gut konditioniert benutzt ihn, um eine Entfremdung zu beschreiben, die im Bereich und zu fragen, was Tanz uns heute anbieten kann, um mit der »Un- So sei »truly yours« meine Manifestation einer Suche nach einem bin, dass dieses beiläufige, von ganzem Herzen ausge- des Intimen die Erfahrung begleitet, dass etwas an sich Vertrautes heimeligkeit« der Welt, die einmal die unsere war, umzugehen. Heim in Deinen Gebieten, ohne den Anspruch, irgendwelches sprochene »truly« mir einen fast allergischen Schauer plötzlich beängstigend erscheint. Für Bhaba dient dieses »Unhei- Land zu besitzen. Ist das möglich? über den Rücken jagt? melige« als Bezeichnung für die schleichende Ahnung, dass unser Tanz ist für mich das, was das Unheimliche, das Fremde, auf ein Heim nicht unseres ist. Es ist eine der Kategorien, die er entwickelt, vertrautes Terrain von Weltlichkeit zurückführt. Tanz kann be- Yours truly, Sevi Im Deutschen teilt »eigen« seine Wurzel mit einem um die binären Gegensätze, die jedes postkoloniale Projekt von sei- wohnbare Welten herstellen und umarbeiten, ohne sie zu besit- Vokabular des Besitzes und Eigentums, während nen kolonialen Vorgängern insbesondere als Gesten des »ver-an- zen. So ermöglicht er, was Michel de Certeau »Wilderei« genannt Constanze Schellow ist Juniorprofessorin für »fremd« verbunden ist mit (der Abwesenheit von) derns«, des »othering« erbt, zu unterwandern. Wie das Unheimli- hat – einen taktischen Raum, der widerständig ist, alltäglich und Wissens- und Vermittlungskulturen im Tanz am Wissen und Vertrautheit. Und die Anfänge der Vor- che ist das Unheimelige Ergebnis einer Verdrängung. temporär. Die Flüchtigkeit des Tanzes erlaubt es niemals, »Eigen- ZZT der HfMT Köln und leitet das internationale BMBF-Forschungsprojekt »Theoretical Turn? – gängerbewegungen des Zeitgenössischen Tanzes im tum« zu besitzen, weil man das, was man gewinnt, nicht (be-) Das ist, was das einfache »Yours truly, R.« in mir bewirkte: Es Zur Institutionalisierung von Theorie/n in der Zuge der Abspaltung des damals »Neuen Tanzes« halten kann. Tanz wird immer im Eigentum Anderer »wildern«. zeitgenössischen Tanzausbildung«. Auch in oder »Freien Tanzes« vom Ballett unter dem Einfluss machte mich unheimelig als praktizierende Forscherin im Rück- Ja, Tanz kann anti-hegemonial sein. Er ist ein kreativer Prozess der der Arbeit als Dramaturgin interessiert sie Tanz als Wirkungsfeld der beunruhigenden, entfremdenden Krä◊e der In- zugsort »meiner« Disziplin, wo im deutschsprachigen Kontext Suche nach immer neuen Möglichkeiten der Interaktion und Ko- kultureller und gesellschaftspolitischer Kräfte. Ein Fokus ihrer dustrialisierung und des sich ausbreitenden Kapita- ein großer Teil der Forschung bis heute auf Au≠ührungsanalysen operation, um immer wieder neu heimisch zu werden in einer un- Lehre liegt auf interdisziplinären Kooperationen, aktuell mit lismus war in Deutschland Anfang des 20. Jahrhun- basiert, die in hohem Maß von kanonischen Stimmen der westli- sicheren, sich ständig verändernden Welt. Er ist eine Suche nach Kolumba Köln. derts mit zahllosen choreographischen Projekten chen Philosophie informiert sind, anstatt ein Nachdenken über Relationalität, die es erforderlich macht, erfinderisch und unauf- Sevi Bayraktar ist Professorin für Tanz, und Arbeitsweisen verbunden, die auf einer Aneig- Tanz als Kulturphänomen aus den trans-lokalen Perspektiven po- hörlich innerhalb komplexer Beziehungsgeflechte in Bewegung zu Musik und Performance in globalen Kontexten nung des Fremdartigen basierten. litischer, kultureller und sozialer Choreographien zu praktizieren. bleiben, um egalitäre und pluralistische Gesellscha◊en zu scha≠en am ZZT. Ihre Forschung konzentriert sich auf Tanz, Ist das nicht befremdlich? – das, was Hannah Arendt »Politik« nennen würde. Gender und abweichende Politik im zeitgenössi- Viele künstlerische Quellen aus dieser Zeit zeugen schen Nahen Osten, wobei sie choreografische von einer Suche nach einem neuen »Eigen«, in dem Yours truly, Constanze Aber gibt es heute, hinter den Hygieneschutzmasken und in den und ethnografische Methoden kombiniert. In ihrem aktuellen Buchprojekt untersucht sie die moderne Ge- »Wahrheit« und »Authentizität« als sehnsüchtige virtuellen Begegnungsräumen denn überhaupt »wirkliche« In- schichte des Volkstanzes, die Heritagisierung und die sozialen Anforderungen mitschwingen. Sie manifestierte sich teraktion? Worin besteht in Zeiten von COVID19 die Wahrhaf- Bewegungen in der Türkei und analysiert die Beziehung zwischen in Tänzen und Choreographien, die gleichzeitig Be- tigkeit von Beziehungen? Tanz-Ästhetik und politischer Handlungsfähigkeit.
Sie können auch lesen