Das Journal #Fremd und Eigen

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Das Journal #Fremd und Eigen
Das Journal
#Fremd
und Eigen
María de Alvear / Sheila Arnold /
Gerhart Baum / Sevi Bayraktar / Michael Borgstede /
Heinz Geuen / Sebastian Gramss / Johannes Jansen /

                                                      Heft 1 | November 2020
Mazyar Kashian / Adya Khanna-Fontenla /
Moritz Lobeck / Maximilian Marcoll /
Brigitta Muntendorf / Rainer Nonnenmann /
Ella O’Brien-Coker / Heike Sauer /
Constanze Schellow / Kurt Tallert
Das Journal #Fremd und Eigen
Das Journal   ZUR SACHE!
              DAS THEMENHEFT
              04 | Aneignung und Überfremdung: Chancen und Ängste von Rainer Nonnenmann

#Fremd
              DISKUSSION
              MUSIK UND GESELLSCHAFT
              07 | Zeitenwende – eine Herausforderung: Der Politiker und Rechtsanwalt
              Gerhart Baum im Gespräch mit Rainer Nonnenmann

              GLOBALE KULTUR

und Eigen
              GEDANKEN UND ERFAHRUNGEN
              11 | Das Fremde und Eigene im Spiegel der Mehrheitsgesellschaft von Ella O’Brien-Coker
              13 | Modell 1:2 – Wie man von eins zu zwei und von zwei zu eins kommt von Mazyar Kashian

              MEDIAMORPHOSE
              PERSPEKTIVEN UND VISIONEN
              17 | Making kin, not Brüder! von Brigitta Muntendorf und Moritz Lobeck
              21 | Die »Unheimeligkeit« der Welt bewohnen von Constanze Schellow und Sevi Bayraktar

              WIE TICKT KÖLN?
              STREIFZÜGE DURCH DIE MUSIKSTADT
              25 | Farbe bekennen – eine Alternative zum Lokalkolorit von Kurt Tallert (alias Retrogott)

                                                                                                           03 | Das Journal – Inhalt
              29 | Zwischen Sendungsbewusstsein und Selbstentfremdung – Köln als Zentrum
              der Alten Musik von Johannes Jansen

              AUS DER PRAXIS
              LEHRE UND BERUF
              31 | Leichtigkeit im Umgang – Eine Frage der Perspektive von Sheila Arnold
              35 | Offenheit und Vermischung – Der Kontrabassist und Komponist Sebastian Gramss
              im Gespräch mit Rainer Nonnenmann

              AUF DEM PRÜFSTAND
              ANALYSE UND WERTURTEIL
              39 | Imitatio, Aemulatio, Plagiat oder eigenes Werk? – Aneignungspraktiken
              im musikalischen Barock von Michael Borgstede
              43 | »Don’t stand so close to me« von Maximilian Marcoll

              GESTERN UND HEUTE
              ALUMNI ERINNERN SICH
              47 | Verrückt, kreativ und stark – María de Alvear im Gespräch mit Adya Khanna-Fontenla

              BEMERKENSWERT
              MENSCHEN UND AKTIONEN
              49 | Ein »Hybrid-Semester« neu erfinden von Heinz Geuen
              53 | Kreativ in der Krise – Veranstaltungen im Sommersemester an
              der HfMT Köln von Heike Sauer

              54 | Impressum
Das Journal #Fremd und Eigen
Zwischen »Aneignung« und                                                                                                   den späten 1960er Jahren lehnten daher Musikkollektive und
                                                                                                                                                             Improvisationsgruppen die traditionellen Kategorien Autor,
                                                                                                                                                             Werk und Stil als bürgerliches Besitzdenken ab. Musik ist so

                                  »Überfremdung« Gedanken                                                                                                    vielfältig, mobil, eigentümlich und fremd wie es auch Men-
                                                                                                                                                             schen sind. Musikgeschichte besteht aus wechselseitigen Be-
                                                                                                                                                             einflussungen, Orientierungen, Distanzierungen. So wie jedes

                                  zum ersten Heft                                                                                                            »Ich« ein »Du« braucht, um sich selbst zu erkennen, reagieren
                                                                                                                                                             auch Musikscha≠ende auf das, was andere tun.

                                                                                                                                                             DAS JOURNAL der HfMT Köln erscheint einmal pro Semester.
                                                                                                                                                             Jede Ausgabe befragt ein übergeordnetes Thema auf dessen ge-
                                  Die Polarität »fremd und eigen« benennt sowohl          In den vergangenen Monaten protestierten in den USA und Eu-        sellscha◊liche und musikalische Aspekte. Wir möchten genau-
                                  das Konfliktpotential als auch Verbindende dieser        ropa hunderttausende Menschen gegen Rassismus. Alte Denk-          er hinsehen und hinhören, größere Kontexte beleuchten sowie
                                  Entgegensetzung. Beide Pole sind nicht voneinander      mäler von Südstaaten-Generälen, Sklavenhändlern und Kolonial-      einzelne Menschen, Arbeiten, Methoden und Ausprägungen
                                  zu trennen, schon gar nicht in Musik, Kunst und Kul-    herren wurden gestürzt. Doch hat das etwas mit Musik zu tun?       von Musik porträtieren. Die Autorinnen und Autoren sind so-
                                  tur. Beides sind relationale Begri≠e, die Sinn – wenn   Musikerinnen und Musiker sind auch Staatsbürger, Wählerin-         wohl Lehrende und Studierende der Hochschule als auch Per-
                                  überhaupt – nur im Vergleich machen. Werden sie         nen, Verbraucher, Verkehrsteilnehmerinnen, Medien-User,            sönlichkeiten aus Kultur, Wissenscha◊ und Politik. Die ver-
                                  verabsolutiert, verfestigen sie sich zu Xenophobie      Häuslebauer… Kunst und Kultur sind keine abgeschlossene Son-       schiedenen Rubriken des Magazins verknüpfen die Arbeit an
                                  und Identitarismus. Es gibt nicht bloß Schwarz und      dersphäre oder Insel der Seligen. Wenn es in Gesellscha◊ und       der Hochschule mit aktuellen Zeitfragen und den Szenen der
                                  Weiß, sondern zahllose Schattierungen und Farb-         Arbeitsleben strukturell bedingte Mechanismen von Ausgren-         international bedeutenden Musikstadt Köln, um neue Perspek-
                                  werte. Schon seit Jahrhunderten gehen Menschen,         zung gibt, dann existieren diese auch im Musikleben. Und wenn      tiven, Facetten und Zusammenhänge aufzuzeigen.
                                  Waren, Ideen – und leider auch Viren – um die Welt.     eine Gesellscha◊ politische Initiativen entwickelt, um Hegemo-
                                                                                          nien, Alltagsrassismus und Diskriminierung zu thematisieren
                                                                                                                                                             Weil jeder und jede einzigartig
04 | Zur Sache – Das Themenheft

                                                                                          und zu überwinden, dann liefert auch Musik Ansätze zu gelin-
                                  Kunst und Kultur sind                                   gender Gleichberechtigung und Teilhabe.
                                                                                                                                                             ist, kommt es darauf an, wie wir
                                  keine abgeschlossene                                    Musik macht vor, wie Fremdes zu Eigenem, Eigentum zu Allge-        miteinander umgehen.
                                  Sondersphäre oder                                       meingut, und ästhetische Eigenart als fremd erlebt werden
                                                                                          kann. Schließlich waren Musikscha≠ende schon immer auf             Menschen sind ungleich hinsichtlich Herkun◊, Sprache, Alter,
                                  Insel der Seligen.                                      Wanderscha◊ zu Ausbildung, Anstellung, Au◊ritts- und Ver-          Erziehung, Ernährung, Sexualität, Religion, Einkommen, Fä-
                                                                                          dienstmöglichkeiten. Nur weil Heinrich Schütz Anfang des 17.       higkeiten, Chancen, Vorlieben, Abneigungen… Nach der Charta
                                  Heute können wir nahezu überall und jederzeit auf       Jahrhunderts nach Italien ging, konnte er später als sächsischer   der Vereinten Nationen aber sollen alle die gleichen Grundrech-
                                  verschiedenste Informationen, Texte, Bilder, Klänge,    Hofkapellmeister Texte von Luthers Bibel-Übersetzung beson-        te genießen. Weil jeder und jede einzigartig ist, kommt es darauf
                                  Videos und Kontakte zugreifen. Das World Wide           ders ausdrucksstark und sprechend in Töne, rhetorische Figu-       an, wie wir miteinander umgehen. Worin sehen wir das »Eige-
                                  Web kennt keinen Mittelpunkt. Viele nutzen die dar-     ren und A≠ekte setzen.                                             ne«? Warum empfinden wir etwas uns »Fremdes« womöglich
                                  in liegenden Chancen, vernetzen sich, wählen aus                                                                           als Angri≠? Oder respektieren wir die Diversität und schätzen
                                  und eignen sich an, was ihnen zusagt.                   Ein Migrationsphänomen ist auch die Wiener Klassik von Haydn,      vielleicht sogar die Vielfalt? Zumindest lexikalisch ist es ein
                                                                                          Mozart, Beethoven. Scheinbar Inbegri≠ deutscher Musik, handelt     kleiner Schritt von »Fremd« zu »Freund«. Wann entwickelt die
                                  Bestimmte Elemente, Stile und Techniken aus ver-        es sich in Wirklichkeit um eine produktive Anverwandlung von       Menschheit statt Egoismus und Nationalismus endlich mehr
                                  schiedenen Traditionszusammenhängen, Epochen            barockem Kontrapunkt, italienischer Triosonate und Oper, fran-     planetarisches Denken und Handeln?
                                  und Regionen amalgamieren sich zu einer weitge-         zösischer Suite und Ouvertüre, Wiener Volksmusik, böhmischer
                                  hend enthistorisierten und entlokalisierten Inter-      Musikantik, Mannheimer und Berliner Schule. Ebenso lokale wie      Ich wünsche Ihnen
                                  oder Hyperkultur. Bei anderen wecken diese Hybridi-     internationale Phänomene sind auch Jazz, Pop, neue Musik und       viel Freude beim Lesen.
                                  sierungstendenzen und Migrationsbewegungen              das Repertoire an Gesten und Bewegungen im Tanz.
                                  Ängste. Sie befürchten »Überfremdung«, Konkur-                                                                             Prof. Dr. Rainer Nonnenmann
                                  renz, Verdrängung, Identitätsverlust und wählen
                                  rechte Parteien, die das vermeintlich »Eigene« gegen    Musik ist so vielfältig, mobil,
                                  das »Fremde« in Stellung bringen. Monatelang über-
                                  deckte die Corona-Pandemie alle anderen Themen
                                                                                          eigentümlich und fremd wie es                                                       Der Musikwissenschaftler Prof. Dr. Rainer Nonnenmann
                                                                                                                                                                              ist Dozent an der HfMT Köln und Chefredakteur von
                                  und Probleme, bis diese plötzlich umso vehementer       auch Menschen sind.                                                                 DAS JOURNAL. Schwerpunkte seiner Forschung und
                                                                                                                                                                              Lehre liegen auf der Musik, Ästhetik und Kultur-
                                  wieder hervorbrechen. Das neue JOURNAL der Hoch-
                                                                                                                                                                              geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts. Er ist Autor
                                  schule für Musik und Tanz Köln setzt das Thema sei-     Doch gibt es auch problematische Appropriation, Assimilation                        zahlreicher Aufsätze und Bücher, zudem Heraus-
                                  ner ersten Ausgabe daher sowohl wegen als auch          und Absorption fremder Kulturgüter. Manche Exotismen, Priva-       geber der »MusikTexte« sowie freier Musikjournalist für verschiedene
                                  trotz Corona.                                           tisierungen und Vermarktungen gleichen Enteignungen. Seit          Magazine, Zeitungen und Rundfunkanstalten.
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Eine Herausforderung

                                                                                                                                 07 | Diskussion – Musik und Gesellschaft
Der Politiker und Rechtsanwalt
Gerhart Baum im Gespräch
Sehr geehrter Herr Baum, gestatten Sie zu Anfang eine per-         Was macht für Sie Identität aus?
sönliche Frage: Ende Oktober werden Sie 88 Jahre alt. Wird         In einem langen Leben ist man geprägt durch die Orte,
Ihnen im Alter das Leben vertrauter oder fremder?                  an denen man gelebt hat, und durch die Menschen
Die Wahrnehmung verändert sich und wird selektiver. Man unter-     und die Kommunikation mit ihnen, ohne die man
scheidet mehr, was für einen selbst wichtig oder unwichtig ist,    nicht leben kann, etwa dem Lebenspartner. Ich lebe
und man vertie◊ Themen. Aber die Neugier auf Entwicklungen         weiterhin mit den Aufgaben und Themen, die mich
der Gesellscha◊ und die aktuellen rasanten Veränderungen ist un-   immer beschä◊igt haben: Freiheit und Sicherheit, Frei-
gestillt. Sozialpsychologische Untersuchungen interessieren mich   heit der Kultur, Umweltschutz, Datenschutz. Die The-
sehr. Wie verändern sich die Menschen und die Gesellscha◊? Wie     men, die ich mir als Politiker zu Eigen gemacht habe,

                                                                                                                             …
könnte die Zukun◊ aussehen? Wir leben in einer Zeitenwende,        prägen bis heute meine Identität. Den Staat, in dem ich
man kann es nicht anders sagen, bestimmt durch Globalisierung,     lebe, sehe ich als eine gemeinsame Rechts- und Werte-
Digitalisierung und nun als biologische Weltkrise auch Corona.     ordnung, geprägt durch unsere Kultur und Geschichte,
Das Journal #Fremd und Eigen
Wer sich anmaßt,
                                                                                                                                     blem von uns nicht allein gelöst werden, jedenfalls nicht durch     Worin liegt Ihre Aufgabe als Sprecher des Kultur-
                                                                                                                                     grenzenlose Aufnahme von Flüchtlingen. Es gibt Ängste, und die      rats NRW?
                                                                                                                                     muss man auch ernstnehmen. Aber sie sind größtenteils nicht be-     Es geht darum die Rahmenbedingungen für Kultur
                                                                                                                                     rechtigt und Angst ist der jämmerlichste Dämon gegen eine frei-     und deren Vermittlung zu verbessern. Zentrales Ziel ist
                                                                                                                                     heitliche Gesellscha◊. Es gibt keine Benachteiligung von Deut-      es – unter anderem durch Mitwirkung an einem Kul-

                 andere ausgrenzen zu
                                                                                                                                     schen durch Zuwanderung und Flüchtlinge. »Der Flüchtling«           turgesetz des Landes –, die Kultur immer in der Diskus-
                                                                                                                                     ist in vieler Hinsicht der Sündenbock, der für innenpolitische      sion zu halten als eine Notwendigkeit für die Fortent-
                                                                                                                                     Versäumnisse ha◊bar gemacht wird und der uns als Bote die           wicklung einer freien Gesellscha◊, die ohne die Impul-
                                                                                                                                     Not von Hunger, Korruption, Unterdrückung und Kriegen in vie-       se der Kunst nicht vorstellbar ist.

                  können, der wandelt
                                                                                                                                     len Ländern der Welt vor Augen führt und uns damit in unserer
                                                                                                                                     eigenen »heilen Welt« stört. Alle Krisen der Welt erreichen uns.    Universitäten, Kunst- und Musikhochschulen sind
                                                                                                                                     Wir können die Augen nicht mehr davor verschließen, sondern         Sammel- und Tre≠punkte von Studierenden und
                                                                                                                                     müssen uns dem stellen.                                             Lehrenden aus unterschiedlichen Ländern. Sehen
                                                                                                                                                                                                         Sie Bestrebungen, diese für Wissenscha◊ und Kultur

                     in den Spuren der
                                                                                                                                     Immanuel Kant entwarf in seiner Altersschri◊ »Zum ewigen            lebenswichtige Internationalität und deren Finan-
                                                                                                                                     Frieden« (1795) Grundzüge eines »Weltbürgerrechts«, wonach          zierung in Frage zu stellen?
                                                                                                                                     alle Menschen Freizügigkeit und unabhängig von ihrer Her-           Solche Tendenzen sind ein erschreckender Angri≠
                                                                                                                                     kun◊ überall auf der Welt Aufenthaltsrecht genießen. Kommen         auf die Welto≠enheit und den kulturellen Austausch,

                   deutschen Barbarei.
                                                                                                                                     wir der Verwirklichung dieser Vision gegenwärtig näher oder         von dem Kunst immer gelebt hat. Die AfD macht mo-
                                                                                                                                     entfernen wir uns davon?                                            mentan eine Kampagne gegen die Kunstfreiheit. Es
                                                                                                                                     Kant hat die Vorarbeit für die universelle Geltung der Menschen-    soll von dieser Seite ein Kulturbegri≠ eingespeist
                                                                                                                                     rechte geleistet, mit deren Erklärung die Völkergemeinscha◊ 1949    werden, der völkisch ist. Das ist Nazi-Ideologie. Dem

                                                                                                                                                                                                                                                                                    09 | Diskussion – Musik und Gesellschaft
                                                                                                                                     auf das vorherige schlimme Jahrhundert der Kriege reagierte.        müssen und – da bin ich guter Ho≠nung – werden wir
                                                                                                                                     Doch diese Absichtserklärung kann nur unter bestimmten Bedin-       auch widerstehen.
                                                                                                                                     gungen verwirklicht werden. Wir können nicht unsere Grenzen
                                                                                                                                     für alle ö≠nen, die in der Welt in Not und Elend leben. Das muss
                                                                                                                                     di≠erenziert behandelt werden, auch wenn der von Kant formu-
                                                                                                                                     lierte Grundsatz richtig ist.
                                                                                                                                                                                                         Für mich ist die
                                                                                                                                     Seit 1. März 2020 hat Deutschland ein »Fachkrä◊eeinwande-
                                                                                                                                     rungsgesetz«. Braucht das Land auch ein allgemeines Einwande-
                                                                                                                                                                                                         Reise in neue
                                                                                                                                                                                                         Klangwelten immer
…
                                                                                                                                     rungsgesetz?
                                                                                                                                     Fremde, die zu uns kommen, sind eine Bereicherung unserer Ge-

                                                                                                                                                                                                         ein großartiges
    aber nicht ausgrenzend. Richtig verstandener Patriotis-   Deutschland ist heute viel stärker migrantisch geprägt als zu          sellscha◊. Das jetzige Zuwanderungsgesetzt ist meines Erachtens
    mus und die Besinnung auf eigene Wurzeln sind erst        Ihrer Amtszeit als Bundesinnenminister von 1978 bis 1982. Ist          viel zu strikt, zu eng, zu bürokratisch. Wir müssen auch sehen,
    die Voraussetzung für Weltbürgertum.                      auch die Akzeptanz oder gar Wertschätzung dieser Entwick-              dass wir diejenigen, die als Flüchtlinge ins Land gekommen sind,

    Was sagen Sie Menschen, die ihre Identität – oder ei-
    ne Konstruktion davon – zur Abwehr und Ausgren-
                                                              lung gewachsen?
                                                              Am Kabinettstisch von Helmut Schmidt habe ich in irgendeinem
                                                              Zusammenhang mal gesagt, »Herr Bundeskanzler, wir sind ein
                                                                                                                                     sofern die Menschen das wollen und die Voraussetzungen dafür
                                                                                                                                     gegeben sind, zu Einwanderern machen. Das ist ein Spurwechsel
                                                                                                                                     aus dem Asyldasein in die Spur einer geregelten Einwanderung.
                                                                                                                                                                                                         Abenteuer.
    zung der Identitäten Anderer instrumentalisieren?         Einwanderungsland«. Das stieß auf Unverständnis, beim Kanzler
    Schrecklich! Zur Geschichte unseres Landes gehört         ebenso wie bei den Kabinettskollegen. Heute bestreitet im Ernst        Sie besuchen häufig Konzerte, auch solche neuer Musik. Statt
    ein auf Ausgrenzung beruhender Völkermord. Wer            niemand mehr, dass wir ein Einwanderungsland sind und auch             Gewohntes erleben Sie dabei auch Fremdes. Ist das »Fremde«
    sich anmaßt, andere ausgrenzen zu können, der wan-        sein müssen. Nicht zuletzt gibt es die arbeitsmarktpolitische Not-     eine Grundvoraussetzung für Kunst?
    delt in den Spuren der deutschen Barbarei. Das ist        wendigkeit, wir brauchen Arbeitskrä◊e und geregelte Zuwande-           Alles ist fremd und vertraut zugleich. Die »Diabelli-Variationen«
    nicht zu ertragen. Unsere Staatsidentität ist geprägt     rung. Und wir haben einen Asylzustrom erlebt, der uns deutlich         sind mir vertraut, aber ich bin neugierig auf die Interpretation,
    durch das Grundgesetz, und das fußt auf Menschen-         gemacht hat, dass wir auch humanitäre Verpflichtungen haben.            wie dieses Werk heute gespielt wird. Vertraut bin ich auch mit
                                                                                                                                                                                                                              Der Rechtsanwalt und Politiker Gerhart Baum
    würde, Toleranz und Achtung von Minderheiten.                                                                                    Werken der neuen Musik, in die ich mich eingehört habe. Ich bin                          war Bundesinnenminister im Kabinett von Helmut
    Noch nie gab es in meiner Lebenszeit eine so starke       Gegenwärtig fürchten sich manche vor »Überfremdung«, weil              dann in gewisser Weise darin »zu Hause« und kann einordnen,                              Schmidt und Abgeordneter des Deutschen Bundes-
    Herausforderung wie heute durch den ausgrenzenden         Menschen aus verschiedenen Weltgegenden nach Deutschland               wenn etwas Neues kommt. Die zeitgenössische bildende Kunst                               tages. Als einer der profiliertesten Linksliberalen
    Rassismus und Rechtsextremismus. Das ist empörend:        kommen und andere Sprachen, Kulturen, Essgewohnheiten                  und in den letzten Jahren – auch unter dem Einfluss meiner Frau                           in der FDP setzt er sich für den Schutz von Bürger-
                                                                                                                                                                                                                              und Menschenrechten ein und klagte mehrfach
    Da nehmen Leute für sich in Anspruch, zu definieren,       mitbringen. Ist diese Angst berechtigt?                                – verstärkt die neue Musik bereichern mich. Ich bedaure, dass
                                                                                                                                                                                                         gegen Überwachungsmaßnahmen vor dem Bundesverfassungsge-
    was deutsch ist. Thomas Mann hat einmal gesagt, die-      Ich teile diese Sorge nicht, weil ich sehe, wie stark die Integrati-   viele Zeitgenossen sich dem Zeitgenössischen in der Musik ver-      richt. Er ist seit 2005 Sprecher des Kulturrates NRW und in zweiter
    se Leute haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich          onskrä◊e in unserer Gesellscha◊ sind, auch im Hinblick auf die         schließen. Für mich ist die Reise in neue Klangwelten immer ein     Ehe mit der ehemaligen Musikreferentin der Stadt Köln Renate
    mit Deutschland zu verwechseln.                           Flüchtlinge von 2015. Allerdings kann das Weltflüchtlingspro-           großartiges Abenteuer.                                              Liesmann-Baum verheiratet.
Das Journal #Fremd und Eigen
Das Fremde und                                                                                                                       sequenzen für mich: Es ist wesentlich schwieriger, mich
                                                                                                                                                                                      auf dem eigenen Bildungsweg zu profilieren, wenn die
                                                                                                                                                                                                                                                  und Räume einnimmt und aus verschiedenen Perspektiven spricht und
                                                                                                                                                                                                                                                  singt. Das Singen ordne ich mir am ehesten als Eigen zu, da ich dies schon

                                                 Eigene im Spiegel
                                                                                                                                                                                      eigene Perspektive und Position grundsätzlich noch          seit meiner Kindheit immer gerne tue. Rappen brachte ich mir dagegen ne-
                                                                                                                                                                                      erstritten werden müssen und ich mich in der Hoch-          ben dem Studium von Jazzgesang- und Vokalpädagogik selbst bei, weshalb
                                                                                                                                                                                      schule und breiteren Gesellscha ◊ wenig repräsentiert       ich es als mir eher fremd zuordnen würde. Als akademisch nicht anerkann-

                                                 der Mehrheits-
                                                                                                                                                                                      sehe. Hierbei geht es nicht darum, mich als Individu-       te künstlerische Ausdrucksform hatte ich wenige Möglichkeiten, mich mit
                                                                                                                                                                                      um repräsentiert zu sehen, sondern den Raum für alle        anderen über Rap als Technik des Sprechgesangs auszutauschen. Heute
                                                                                                                                                                                      zu ö≠ nen, so dass sich im Idealfall auch alle repräsen-    kann ich trotzdem sagen, dass mich kaum etwas in meinem Gesang so weit

                                                 gesellschaft
                                                                                                                                                                                      tiert sehen können und so die Frage nach Diversität         gebracht hat wie das Näher-Heranführen meiner Sprechstimme an meine
                                                                                                                                                                                      automatisch obsolet wird. Die Folge von mangelnder          Gesangsstimme und umgekehrt.
                                                                                                                                                                                      Repräsentation in der Hochschule bedeutet für mich
                                                                                                                                                                                      persönlich, das mir Eigene immer wieder in Frage zu         Rap war mir bis dahin zwar nah, jedoch nur aus einer konsumierenden Position.
                                                                                                                                                                                      stellen: Darf ich hier sein? Was berechtigt mich dazu?      Dass ich selbst einmal in der Lage sein würde »rhymes zu spitten«, hätte ich vor
                                                                                                                                                                                      Mit welchem Recht besetze ich die Position, die ich         einigen Jahren nicht erwartet. Insofern war mir die Praxis des Rappens durch-
                                                                                                                                                                                      besetze? Welche Leistung wird jemals genug sein, da-        aus fremd, auch wenn häufig von meinem Aussehen auf eine Nähe zu gewissen
                                                                                                                                                                                      mit sie mich zu meinem Status berechtigt?                   Themen und Praktiken geschlossen wird. Es ist allerdings eine Sache, Rap zu
                                                                                                                                                                                                                                                  hören und darüber zu sprechen, und eine ganz andere, es selbst zu tun. Hinzu
                                                                                                                                                                                      Ich ging zunächst davon aus, dass es in der Praxis zu       kommt die Diskrepanz zwischen der Art und Weise, wie ich visuell eingeordnet
                                                                                                                                                                                      wesentlich weniger Zuschreibungen kommt als im              werde, welche Rückschlüsse aus dieser Einordnung auf meine Denkweise und
                                                                                                                                                                                      Wissenscha◊sbetrieb. Vor dem Hintergrund des soge-          Handlungsfähigkeit gezogen werden und wie ich im Gegensatz dazu tatsäch-
                                                                                                                                                                                      nannten »Elfenbeinturms der Wissenscha◊« mit star-          lich konstituiert bin.
10 | Globale Kultur – Gedanken und Erfahrungen

                                                                                                                                                                                      ren Hierarchien, übergeordnetem Eurozentrismus und
                                                                                                                                                                                      dem Streben nach vermeintlicher Neutralität finde ich
                                                                                                                                                                                      diese Annahme bis heute nachvollziehbar.
                                                                                                                                                                                                                                                  Warum ist die Studierenden-
                                                                                                                                                                                                                                                  schaft weit davon entfernt, ein Abbild
                                                                                                                                                                                      Doch aus persönlicher Erfahrung kann ich dem auch
                                                                                                                                                                                      teilweise widersprechen: Die Zuschreibungen sind in         des Facettenreichtums unserer
                                                 Die Frage nach dem Fremden und dem Eigenen ist              Die Tatsache, eine von sehr wenigen Schwarzen Menschen an                der Praxis nicht geringer, sie sind dort lediglich »posi-
                                                 eine Frage, mit der ich mich in meinem Leben grund-         der HfMT zu sein, die solchen Zuschreibungen ausgesetzt sind             tiv« besetzt. Als Schwarze Frau liegt es »mir im Blut«,     Gesellschaft zu sein?
                                                 sätzlich und tagtäglich beschä◊ige. Sowohl in meiner        und sich diesen zu entwinden versuchen, ist mir schmerzlich              gut singen und tanzen zu können und Rhythmus zu
                                                 theoretischen Arbeit als Musikwissenscha◊lerin als          bewusst. Vielleicht stellen sich aber auch Andere in der Hoch-           haben, statt an der Tatsache, dass ich viel üben musste     Mir das zunächst fremde Rappen (und Raps-Schreiben) zu eigen zu machen,
                                                 auch in meiner Praxis als Rapperin, Sängerin, Songwri-      schule diese oder ähnliche Fragen: Woran liegt es, dass nicht            oder dass ich mich eingehend mit den Dingen beschäf-        hat mir einmal mehr gezeigt, wie fiktiv und unvorteilha◊ die Dichotomie
                                                 terin und Aktivistin oder wenn ich keiner dieser Rollen     mehr Schwarze Menschen an der Hochschule studieren und ar-               tigt habe, um zu den Fähigkeiten zu kommen, die ich         »fremd und eigen« ist, da sie alles in sehr verkürzter und vereinfachter Form
                                                 entspreche. Schon die Tatsache, dass ich mich bewusst       beiten? Obwohl sie doch angeblich so viel »natürliches Potential«        heute besitze. Als Autodidaktin, die erst spät im Studi-    darstellt. Dieser Mechanismus wird einmal mehr sichtbar, wenn mir inner-
                                                 zwischen Theorie und Praxis bewege und diese stellen-       mitbringen? Und selbst wenn sie dies nicht täten: Warum ist die          um zu regelmäßigem (Gesangs-)Unterricht kam,                halb der Praxis des Rappens ein gewisses Level an Professionalität aufgrund
                                                 weise zu verknüpfen versuche, stellt für viele einen        Studierendenscha◊ weit davon entfernt, ein Abbild des Facetten-          macht mir das besonders zu scha≠en, da ich im Kon-          meines Geschlechts und/oder meiner Geschlechtsidentität abgesprochen
                                                 Bruch dar, der meine Expertise in beiden Feldern in Fra-    reichtums unserer Gesellscha◊ zu sein?                                   text Hochschule, Praxis oder Theorie, selten bis nie das    wird. Dadurch wird außerdem klar, wie mehrdimensional und vielschichtig
                                                 ge zu stellen scheint. Doch nicht erst auf der Ebene der                                                                             Gefühl habe, ausreichen zu können oder das Ideal zu         Individuen sind und dass es nicht möglich ist, Menschen allein aufgrund sol-
                                                 Kompetenz begegnen mir Zuschreibungen: Mein                 Dabei ist die Frage nach der Demografie der Studierendenscha◊ zu         erfüllen, das auf mich projiziert wird. Beim Mythos des     cher Kategorien zu beschreiben.
                                                 Schwarz-sein erzeugt ebenfalls in akademischen Räu-         kurz gegri≠en. Diversität muss sich in allen Bereichen einer Institu-    »Schwarzen Genius«, der keinesfalls auf die populäre
                                                 men Annahmen über das, was mir eigen und fremd zu           tion widerspiegeln. Denn Diversität zeichnet sich nicht allein durch     Musik beschränkt ist, handelt es sich um eine Messlat-      Mich sowohl in der Praxis als auch in der Theorie zu Hause zu fühlen, im
                                                 sein hat gegenüber dem, was mir wirklich eigen oder         eine besondere Sichtbarkeit an der Oberfläche aus, sondern durch-         te, die unmöglich und auch unnötig zu erreichen ist,        Fremden wie im Eigenen, sehe ich als einzigartigen Mehrwert, mit dem ich in
                                                 fremd ist. Als ein Beispiel ist zu nennen, dass mir müh-    dringt eine Institution ganzheitlich, sowohl an der Oberfl äche als       da es nicht darum gehen kann, jemand anderes zu sein        der Lage bin, die Wechselwirkungen dieser Verschränkungen näher zu be-
                                                 sam angeeignete Fähigkeiten als »natürliches Talent«        auch bis tief ins Innerste. Nach den Protesten um Black Lives Matter     als ich selbst. Dies trif◊ sowohl auf die künstle-          leuchten. Und nicht zuletzt auch aus dem jeweils Anderen zu schöpfen.
                                                 ausgelegt werden – aufgrund meiner vermeintlichen           und die längst überfällige Debatte um Rassismus scheint es zum           risch-kreativen als auch auf die analytisch-wissen-
                                                 ethnischen Zugehörigkeit. Das hat meist wenig mit           Trend geworden zu sein, dass viele insbesondere nicht selbst von         scha◊lichen Teile in mir zu.
                                                 dem zu tun, was ich selbst als mir eigen oder fremd defi-   Rassismus betro≠ene Personen erstens nur oberflächlich wissen, wo-                                                                                      Ella O‘Brien-Coker ist Sängerin, Rapperin,
                                                 niere. Durch die Häufigkeit solcher Annahmen fühle          rum es geht und zweitens nicht in der Lage zu sein scheinen, dieses      Um die Frage des Ausreichens, des Anders-seins oder                           Musikerin, Songwriterin, Vokalpädagogin, Musik-
                                                 ich mich o◊ isoliert, da sie in mir eine Diskrepanz her-    Wissen auf das alltägliche Leben zu übertragen. Letzteres hätte un-      des Anders-gemacht-Werdens dreht sich auch mein                               wissenschaftlerin. Nach dem Bachelor of Arts in
                                                 stellen zwischen der Person, die ich bin und der, die ich   weigerlich zur Folge, dass beispielsweise nicht nur von Diversität als   aktuelles Projekt. Mit meiner Kollegin Jana Maria                             Jazzgesang und Musikerziehung studiert sie seit
                                                                                                                                                                                                                                                                    2018 Master Musikwissenschaft an der HfMT Köln.
                                                 in den Augen Anderer sein sollte. Außerdem stellt es        Marketing-Strategie gesprochen, sondern dass sie auch gelebt würde.      Heinz aus dem Bereich Producing produziere ich ein
                                                                                                                                                                                                                                                                    Sie ist Mitbegründerin der Band »The Undun«,
                                                 eine Distanz zwischen mir und den Personen mit jenen                                                                                 Album, das mich als Person beziehungsweise meine            engagiert sich im von ihr initiierten Kollektiv DEMASK, veranstaltete
                                                 Annahmen her, da diese sich nicht die Mühe zu machen        Wie ich über die Jahre im Musikhochschulbetrieb feststellen muss-        Stimme ins Zentrum stellt, die sich zwischen Gesang         das DEMASK Fest 2019 und übernahm die Produktionsleitung für
                                                 scheinen, mich individuell zu betrachten.                   te, hat die nur eingeschränkt vorhandene Diversität folgende Kon-        und Rap hin und her bewegt, verschiedene Positionen         CBE Köln u.a. für Little Simz, Lee Scratch Perry, Masego, Ebow.
Das Journal #Fremd und Eigen
MOD ELL
1:2  WIE MAN VON

                                                                              13 | Globale Kultur – Gedanken und Erfahrungen
     EINS ZU ZWEI UND
     VON ZWEI ZU EINS
     KOMMT
     Irgendwann kann der Mensch gezwungen sein, an sich
     selbst zu denken und sich selbst zu verstehen. Zugleich ist er ge-
     zwungen, an einen anderen zu denken und einen anderen zu
     verstehen. Diese beiden Handlungen können eine Reaktion des
     Menschen auf seine Begegnung mit etwas anderem sein, das
     sich von ihm unterscheidet oder das er nicht ist. Dieses Andere
     kann ihn aufgrund des Unterschieds dazu bringen, eine Suche
     zu beginnen, einerseits indem er nach sich selbst fragt und an-
     dererseits, indem er nach diesem Anderen fragt. Diese Möglich-
     keit ist nicht nur eine Möglichkeit, sondern wurde im Leben der
     Menschen aller Zeiten o◊ praktisch verwirklicht.

     Ich bin in Teheran geboren und habe bis heute hauptsächlich
     zwei Arten von Musik gemacht: traditionelle iranische Musik
     und europäische klassische Musik. Ich fing an, Musik von Bach,
     Beethoven und Brahms zu lernen. Erst im Alter von siebzehn

                                                                          …
     Jahren begann ich, die theoretischen und praktischen Grundla-
     gen der traditionellen iranischen Musik zu studieren. Als ich in
     Teheran lebte und Persisch sprach, las und schrieb, konnte ich
Das Journal #Fremd und Eigen
Und diese
                                                                        diese Mischungen und Einflüsse im Laufe der Ge-         konnte, und diese Situation war das Ergebnis meiner
                                                                        schichte in allen Bereichen der Wissenscha◊, Kunst     gleichzeitigen Arbeit in zwei verschiedenen kulturel-
                                                                        und Kultur zeigen.                                     len Bereichen. Für mich war dies ein Werkzeug, um
                                                                                                                               mich einer Domäne zu entwöhnen und zu verhin-

                                                                                                                                                                                       Suche nach dem
                                                                        Solche Beobachtungen erschweren die Benennung          dern, dass ich in einer anderen Domäne ertrinke.
                                                                        und Beschreibung dieser Themen und lassen die vor-
                                                                        handenen Namen und Attribute für diese Themen          Es ist zu beachten, dass die Verwendung von Begrif-
                                                                        manchmal unzureichend erscheinen, da diese Beob-       fen wie »europäische« und »südwestasiatische« Mu-

                                                                                                                                                                                       Selbst und dem
                                                                        achtungen den Umfang der Definitionen erweitern        sik angesichts der obigen Aussagen kontrovers sind.
                                                                        und die Grenzen zwischen ihnen verwischen. Bei         Daher werden diese Begri≠e in diesem Text nur als
                                                                        meiner Suche kam mir jedoch zugute, dass ich mich      Kompromiss verwendet, um die Bedeutung zu ver-
                                                                        umso mehr mit der Kultur der südwestasiatischen        mitteln. In meiner bisherigen Arbeit als Komponist

                                                                                                                                                                                       Anderen geht
                                                                        Musik vertraut machte, je mehr ich von der Kultur      habe ich jedoch verschiedene Anstrengungen unter-
                                                                        der europäischen Musik verstand, und dass ich mich     nommen, um die Musikkulturen Europas und Süd-
                                                                        umso mehr mit der Kultur der europäischen Musik        westasiens sowohl anzuwenden als auch nicht anzu-
               Je mehr ich über mich                                    befasste, je mehr ich mich in die südwestasiatische    wenden. Diese Bemühungen umfassten die Arbeit

                                                                                                                                                                                       für mich weiter.
                                                                        Musik vertie◊e, weil diese ähnlichen und unter-        mit jeder dieser Kulturen für sich genommen sowie
        und andere weiß und erlebe,                                     schiedlichen Phänomene in komplementären Rollen        in Kombination. Die »Anwendung« ist eine bekann-

           insbesondere mehr meine                                      zueinander fungierten. Zum Beispiel bemerkte ich
                                                                        die modulatorischen Möglichkeiten der temperier-
                                                                                                                               te Handlung. »Nichtanwendung« ist jedoch Teil mei-
                                                                                                                               ner Erfahrungen in der Vergangenheit, die mir ge-
               eigene Geschichte und

                                                                                                                                                                                                                                                15 | Globale Kultur – Gedanken und Erfahrungen
                                                                        ten Stimmung, als ich versuchte, ein ähnliches Mo-     zeigt haben, dass man als Komponist auf die grund-
                                                                        dulationsverhalten auf das mikrotonale Stimmungs-      legenden Fragen »Warum« und »Wie« der Verwen-           nationen und insgesamt sein Spielstil stimmten im-
       die Geschichte anderer kenne,                                    system traditioneller iranischer Musik anzuwenden,     dung von Musikkulturen – ob westlich oder östlich       mer stilistisch mit der Literatur des 19. Jahrhunderts
                                                                        das diese Möglichkeit nicht anbietet.                  – vor und während des Komponierens nicht immer          überein, doch waren Form und Größe seiner Vibrati
           desto schwieriger wird für                                                                                          eine überzeugende Antwort findet. Unter solchen          auf den Höhepunkten der Stücke die gleichen wie

             mich das Definieren des                                    Wenn man sich gleichzeitig mit mehreren Bereichen
                                                                        beschä◊igt, kann man zwischen ihnen wechseln.
                                                                                                                               Umständen besteht dann keine Notwendigkeit, Ele-
                                                                                                                               mente aus verschiedenen Kulturen und Musiktradi-
                                                                                                                                                                                       auf der Kamantsche (ein Streichinstrument aus Süd-
                                                                                                                                                                                       westasien), weil diese traditionelle Musik für Kulmi-
         Selbst und Fremden und das                                     Aufgrund dieses Wechsels ist es möglich, jeden Be-
                                                                        reich von außen zu betrachten und zu analysieren, in
                                                                                                                               tionen zu verwenden.                                    nationen ein bestimmtes Vibrato verwendet. Dies
                                                                                                                                                                                       geschah auf völlig automatische und natürliche Wei-
               Erkennen der Grenzen                                     dem der Analytiker zum Zeitpunkt der Analyse           Nach meiner persönlichen Erfahrung, in der ich der-     se. Obwohl es aus stilistischer und ästhetischer Sicht
                                                                        nicht anwesend ist. Diese Möglichkeit ist das Pro-     artige einfache Fragen nicht gestellt oder gestellt,    nicht wünschenswert gewesen sein mag, fand aus
                   zwischen beidem.                                     dukt eines mehrseitigen Lebens und Arbeitens und       aber nicht die richtigen Antworten gefunden habe,       phänomenologischer Sicht dieses Element ganz na-

…
                                                                        hat eine ganz besondere Qualität. Wenn man einen       war das Endergebnis o◊ nicht zufriedenstellend. Die     türlich und organisch seine eigene Stelle in einer
                                                                        Bereich nur von innen betrachtet, unabhängig da-       optimale »Anwendung« verschiedener Musikkultu-          geeigneten Zeit und Situation.
    auf dem Cello die Suite Nr. I in G-Dur, BWV 1007, die Courante,     von, wie sehr ein in einem Bereich anwesendes Indi-    ren und ihrer Komponenten hat jedoch zahlreiche
    und auf dem Klavier die Fuge in e-Moll, BWV 855 aus dem             viduum diesen Bereich von oben aus einer größeren      bekannte Formen ihrer bisherigen Methoden hervor-       Dieses Beispiel gab mir den Anstoß, nach anderen,
    »Wohltemperierten Klavier»Teil I spielen. Mein Wissen über          Perspektive zu betrachten versucht, kann das Bild      gebracht. Eine der interessantesten Weisen besteht      komplexeren Beispielen für solche handwerklichen
    iranische Musik beschränkte sich zu dieser Zeit darauf, die Na-     dieses Bereichs niemals so umfassend sein wie das      darin, die Elemente einer Musikkultur nicht be-         Kombinationen zu suchen, die etwas anderes als be-
    men einiger Modi zu kennen. Diese Situation warf für mich Fra-      Bild eines Individuums, das diesen Bereich von au-     wusst, sondern unbewusst zu nutzen. Wenn ein Mu-        wusste Kombinationen auf Papier waren. Es war für
    gen über das Selbst und das Fremde auf. Leider – oder zum Glück     ßerhalb dieses Bereichs betrachtet.                    siker ein Element einer bestimmten Musikkultur          mich der Beginn, genauere Kompositionsexperimen-
    – habe ich die Antworten auf diese Fragen noch nicht gefunden.                                                             verinnerlicht und es dem Unterbewusstsein unter-        te in beiden Modellen zu unternehmen. Und diese
                                                                        Ein weiterer Vorteil des gleichzeitigen Arbeitens in   wir◊, könnte sich diese Komponente aufgrund ihrer       Suche nach dem Selbst und dem Anderen geht für
    Auf diesem Pfad wurde mir klar: Je mehr ich über mich und an-       mehreren verschiedenen Bereichen besteht in der ge-    Internalisierung in geeigneten Bedingungen eines        mich weiter.
    dere weiß und erlebe, insbesondere mehr meine eigene Ge-            ringeren Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Individu-   Stücks auf organische Weise manifestieren, selbst
    schichte und die Geschichte anderer kenne, desto schwieriger        um an die Struktur eines Bereichs gewöhnt und sich     wenn diese Person nicht beabsichtigt, sie zu verwen-
    wird für mich das Definieren des Selbst und Fremden und das         in diesen einschmilzt. Diese Art von Nichtzugehörig-   den. Ich habe Beispiele dafür in der Arbeit verschie-                    Mazyar Kashian, geboren 1991 in
    Erkennen der Grenzen zwischen beidem. Was ich unter der ira-        keit ist eine Voraussetzung für Gedanken- und Hand-    dener Musiker der Vergangenheit gefunden.                                Teheran, begann im Alter von 11
    nischen Kultur, der iranischen bildenden Kunst und der irani-       lungsfreiheit. Und Gedanken- und Handlungsfreiheit                                                                              Jahren o∞ziell mit Musikunterricht
    schen Musik verstand, war nicht nur iranisch, denn die alte ira-    ist wiederum eine Voraussetzung für fruchtbare         Ein Geiger hatte jahrelange Erfahrung in Orches-                         an der Teheraner Musikschule
                                                                                                                                                                                                        im Bereich Komposition. Er lernte
    nische Musik stammt aus der antiken griechischen Musik, und         künstlerische und wissenscha◊liche Arbeit. Der         tern, deren Repertoire hauptsächlich aus Literatur
                                                                                                                                                                                                        persische traditionelle Musik (Radif)
    das Gerüst der klassischen persischen Poesie stammt aus der         Mangel eines einzigen festen Diskurses, innerhalb      des 19. Jahrhunderts bestand. Sein Ohr war jedoch       Maktabkhaneh (Schule) von Mirza Abdollah. Seit 2016
    arabischen Poesie. Ebenso sind indische und iranische Philoso-      dessen man sich definiert und eingewöhnt, war für      im Stimmungssystem der traditionellen südwestasi-       studiert er Komposition am Institut für Neue Musik
    phie miteinander verflochten. Es gibt viele weitere Beispiele, die   mich ein Raum, in dem ich frei atmen und denken        atischen Musik geschult. Seine Phrasierungen, Into-     der Hochschule für Musik und Tanz Köln.
Das Journal #Fremd und Eigen
MAKING KIN,
OT BRÜDER!

                                                                                                                                   17 | Mediamorphose – Perspektiven und Visionen
               »Mit dem deutsch-asiatischen Projekt
               COVERED CULTURE untersuchen Muntendorf/
               Lobeck kulturelle Prägungen, individuelle
               Interpretationen und kollektive Aneignungen
               als Potentiale des Chorischen.
               Ausgehend von Fragmenten vokaler Musik Beethovens und             LOBECK | Als uns im Herbst 2019 das Go-
               seinem politischen Blick auf das Kollektiv entsteht eine audio-   ethe-Institut Peking für ein deutsch-asia-
               visuelle Rauminstallation, in der Stimmen und Abbilder von        tisches Projekt zum Beethoven-Jubiläums-
               Sänger*innen des Beijing Queer Chorus, des Opernchores des        jahr 2020 anfragte, war deine erste Assozi-
               Nationaltheaters Weimar und Sänger*innen und Performer*in-        ation diese merkwürdige und durchaus
               nen aus China, Korea und Japan als virtueller, summender          bemerkenswerte Begeisterung für die
               Chor etabliert werden. Chor und Publikum verbinden sich in        Wiener Klassik in Asien – und insbeson-
               einem vom japanischen Architekten KATO entworfenen und            dere für Beethovens 9. Sinfonie in Japan.
               mit Excitern präparierten Tischobjekt zu einer sozialen Skulp-    Das Mega-Event in Osaka wird übrigens
               tur. In dieser gemeinsamen Entdeckung des Unvertrauten folgt      von Suntory veranstaltet, dem größten
               COVERED CULTURE (www.covered-culture.org) der Vision              Whisky-Hersteller Japans mit einem
               einer Hyperkultur und dem kritischen Befragen hymnischer          Marktanteil von etwa siebzig Prozent.
               Feierkulturen. Seit 1983 versammeln sich in der gigantischen

                                                                                                                               …
               Konzerthalle von Osaka immer am ersten Sonntag im Dezem-          MUNTENDORF | In dieser europäischen
               ber zehntausend Japaner in einer Neujahrstradition zum ge-        Hymne, die laut gesungen, fast geschrien
               meinsamen Singen der 9. Sinfonie Beethovens.                      werden muss, um sich gegenüber dem Or-
Das Journal #Fremd und Eigen
Auch wenn
                                                                   LOBECK | Interessanterweise reagierte der Europarat       nicht zuletzt kommunizieren wir in unserer digita-
                                                                   1972 auf einen ähnlichen Aspekt, als er Herbert von Ka-   len Factor y auch mit unserem eigenen tech-
                                                                   rajan anfragte, für die Europahymne eine Instrumental-    nisch-künstlerischen Team und ein erheblicher An-
                                                                   version des Beethoven-Chores zu adaptieren – damit        teil des Materials entstand über einen Online Open

viele Menschen                                                     keine der europäischen Sprachen bevorzugt wird.

                                                                   MUNTENDORF | Im Summen ist die Achtsamkeit ge-
                                                                                                                             Call. Das ist eine Weiterführung deines Begri≠s »So-
                                                                                                                             cial Composing«, der die soziale, dialogische und in-
                                                                                                                             teraktive Seite wesentlich stärker betont.

summen
                                                                   genüber der Fragilität des Einzelnen Voraussetzung für
                                                                   gemeinsames Musizieren. Nun hören wir aber gar            MUNTENDORF | Aneignung als Strategie und Äs-
                                                                   nicht die Einzelstimmen, wie sich auch die Einzelstim-    thetik ist der Musik und Kunst bereits immanent,
                                                                   men bei dieser Art des Singens gegenseitig auch nicht     wir können schon längst alles »umwerten«. Die Fra-

entsteht kein
                                                                   hören können – das ist ein interessantes Phänomen.        ge ist also nicht, ob eine Umwertung stattfindet,
                                                                   Aber wir hören jede Abweichung vom kollektiven Sta-       sondern in welchem Referenzsystem sie stattfindet
                                                                   tus quo, bei einem reinen Summton zum Beispiel das        und dann – ob sie dieses auch verlassen und neue
                                                                   Wegbrechen, den Atem, den Anteil der Lu◊, Verände-        Verwandtscha◊en eingehen kann. Die Unterschei-

Pathos
                                                                   rungen der Stimmfarbe. Im Mitsummen gebe ich mein         dung in das Eigene und das Fremde basiert auf der
                                                                   Commitment für eine Musik und eine soziale Situati-       künstlichen Unterscheidung der Welt in mich und

    …
                                                                   on in Anteilnahme, in Response und im Echo.               den anderen. Wenn aber alles Andere und alles
                                                                                                                             Fremde als mögliche Erweiterungen des eigenen Da-
        chester zu behaupten und ihre Botscha◊ von Einig-          LOBECK | Bei der Arbeit mit den unterschiedlichen Sän-    seins begri≠en werden, gibt es keine Aneignung
        keit zu vermitteln – in dieser Hymne scheint eine          ger*innen und Chören ging es darum, das Summen bis        mehr. Sie wird von einem Verwandtscha◊sbegri≠
        Attraktion zu liegen, die in der japanischen Kultur in     zu seinen Relikten in unseren verschiedenen Sprachen      abgelöst, wie ihn Donna Haraway in ihren gesell-

                                                                                                                                                                                                 19 | Mediamorphose – Perspektiven und Visionen
        dieser Form vielleicht selten vertreten ist. In zahlrei-   zu erforschen. Dieser Prozess war ein bewusst o≠ener.     scha◊lichen Science-Fiction-Szenarien als Zukun◊s-
        chen Interviews und Dokumentationen zu dem                                                                           modell begrei◊: Aneignung ist hier eine Annäherung
        Event in Osaka sprechen Dirigent, Sänger*innen und         MUNTENDORF | Ich habe nur das Nötigste an Skizzen         – ein kontinuierlicher Transformationsprozess der
        Publikum darüber, wie verbindend und zuversicht-           und Impulsen vorbereitet, die einen solchen Prozess       Sensibilisierung für das Andere.
        lich diese Hymne wirkt, wie befreiend von individu-        ermöglichen könnten. Eine Audiopartitur mit schon
        ellen Verirrungen und wie berauschend im kollekti-         bearbeiteten Fragmenten von Beethovens »Ode an die
        ven Pathos.                                                Freude«, die über Hören und Mitsummen rekonstru-
                                                                   iert wird, bildet gekoppelt mit Motiven in Form von
                                                                                                                             Im Summen ist die
        LOBECK | Gerade das Pathetische – wie auch der Spon-
        sor – verweisen aber auch auf problematische As-
                                                                   Lullabies die Eckpunkte, die durch künstlerische For-
                                                                   schung und Experimente an der summenden Stimme            Achtsamkeit gegenüber
        pekte: Die Nazis haben die Neunte zu Hitlers Ge-           verbunden wurden. Die Stimmen haben alle etwas
        burtstag gespielt, im Apartheid-Regime in Rhodesi-
        en (heute Simbabwe) wurde sie zur Nationalhymne,
                                                                   Unerwartetes, Eigenes, in diesem Sinne aber nichts
                                                                   Fremdes in den Prozess eingebracht. Wenn ein integra-
                                                                                                                             der Fragilität des
        die Nato hat sie zur Erö≠ nung des Brüsseler Haupt-
        quartiers ausgewählt – Beethoven hätte heute wahr-
                                                                   tiver und notwendigerweise o≠ener Prozess Basis einer
                                                                   Zusammenarbeit ist, dann gib es nicht das »Fremde«,       Einzelnen Voraussetzung
        scheinlich ähnliche Mails wie Neil Young an Trump          sondern nur die Erweiterung des Eigenen.
        geschrieben, als dieser »Rockin’ in the Free World«
        in seinem Wahlkampf benutzt hat. Vielleicht ist un-        LOBECK | Mit Hilfe digitaler Bearbeitungstechniken
                                                                                                                             für gemeinsames
        sere Idee, Fragmente aus Beethovens Hymne einem
        »summenden Chor« zu überlassen wie ein Reset die-
                                                                   bringst du den Gedanken des Eigenen und des Ande-
                                                                   ren musikalisch noch stärker in eine Unschärfe,           Musizieren.
        ser eher problematischen Aneignungen.                      wenn menschliche Stimmen und elektronischer
                                                                   Klang nicht mehr unterscheidbar sind oder wenn die
        MUNTENDORF | Das Summen agiert im Vertrauten.              Stimmen beginnen zwischen den Geschlechtern zu                                       Brigitta Muntendorf ist Komponistin
        Als primär privater und persönlicher Akt, als in sei-      oszillieren. Sie erklingen aus Lautsprechern und Ex-                                 und Professorin an der HfMT Köln.
                                                                                                                                                        Ihre Arbeiten sind sowohl instrumental
        nen Entfaltungsmöglichkeiten eher unkünstlerisch           citern, schwingen durch Lu◊ und Holz, als O-Ton,
                                                                                                                                                        als auch intermedial, installativ oder
        und limitiert. Zudem nivelliert es das Eigene – es         Studioaufnahme, als Verfremdungen oder werden                                        performativ und entstehen in enger
        entzieht sich Zuschreibungen von Nationalität, Al-         aus der Wahrnehmung eines unbekannten Zuhörers                                       Verbindung zu anderen Kunst- und
        ter und musikalischen Genres, somit auch sozialen          heraus hörbar gemacht. Das Projekt ist ja in einem        Ausdrucksformen. Mit der Choreografin Stephanie Thiersch und
        Umgebungen. Aber gleichzeitig – und das macht es           technisch aufgerüsteten Umfeld entwickelt – wir ha-       dem Architekten Sou Fujimoto entwickelt sie aktuell »ARCHIPEL«
                                                                                                                             (Ruhrtriennale / Theater der Welt 2021). Mit dem Dramaturgen
        so besonders – verweist es auf das Chorische, das aus      ben alle Aufnahmen von Ton/Video mit Technik-
                                                                                                                             Moritz Lobeck (zuletzt Kurator Wiener Festwochen, jetzt Programm-
        dem Privaten und Fragilen erwächst und diese »Her-         teams vor Ort via Fernregie gesteuert, haben online       leitung HELLERAU und künstlerischer Leiter Dresdner Tage der
        kun◊« nicht mehr los wird. Auch wenn viele Men-            geprobt, Testauf bauten gemacht und die Museen            zeitgenössischen Musik) konzipiert sie unter anderem eine Oper
        schen summen entsteht kein Pathos.                         und Ausstellungsorte durch den Screen besichtigt,         für das Ensemble Modern (Bregenz 2022).
21 | Mediamorphose – Perspektiven und Visionen
Die                Wir nähern uns der Frage des »Fremden« und
                   »Eigenen« mittels eines Dialogs über Tanz und seine
                   kritischen Potenziale in Zeiten globaler Pandemie.

»Unheimeligkeit«   Dazu schreiben wir einander Briefe. Die Unmittelbarkeit
                   dieser Form erlaubt uns eine größere Intimität und

der Welt
                   Langsamkeit im Nachdenken und außerdem – als
                   Kolleginnen, die sich erst ein Semester lang kennen –
                   ein Eindenken ins »eigen-artige« der jeweils anderen

bewohnen           Perspektive. Im Folgenden teilen wir unsere ersten
                   beiden Briefe.                                            …
Liebe                                                                                                                          »Wahrheit« wurde vielleicht
                                                                                                           sitz ergri≠en und etwas Fremdes als ihr »Anderes« markierten:                                                                                   In meiner Zeit als MA-Studierende der Soziologie wurde auch mir
                                                                                                           Rituale, Tempeltänze, so genannte »eingeborene« Körperprakti-                                                                                   vermittelt, jeglichen Ansprüchen von/auf Wahrheit gegenüber
                                                                                                           ken oder »Folklore« dienten als ein Repertoire der Aneignung, um                     noch nie so viel öffentlich                                misstrauisch zu sein. Denn der Diskurs der »Wahrha◊igkeit«
                                                                                                           wie in vielen Kunstformen die zunehmend unerfüllten Begehren                                                                                    dient o◊ als Herrscha◊sstrategie, um Ideen, Körper und Bewegun-
                                                                                                                                                                                              diskutiert wie in Zeiten von

                                                                Sevi,
                                                                                                           der westlichen Moderne zu befriedigen.                                                                                                          gen zu unterdrücken, die als »unwahrha◊ig« oder »fake« gelten.

                                                                                                           Nun kann »eigen« auch »speziell«, »seltsam« oder »exzentrisch«
                                                                                                                                                                                                                   Corona.                                 Die Ethnologin Regina Bendig beschreibt, dass in dem Moment,
                                                                                                                                                                                                                                                           wo bestimmte kulturelle Ausdrucksformen als »authentisch« und
                                                                                                           heißen. »Fremd« dagegen hat eine räumliche Dimension als das                                                                                    damit als unverfälscht, glaubha◊ und legitim bezeichnet werden,
                                                                                                           »Nicht-Lokale«, »Nicht-Einheimische«. Erst in den letzten Jahren                                                                                dieselben Kategorien zugleich den/die/das »Andere« des Authen-

                                                                                                                                                                                         Liebe
                                                                                                           wächst in den Debatten der hiesigen Tanz- und Theaterwissen-                                                                                    tischen scha≠en: das Fake, das Unechte, sogar das Ungesetzliche.
                                                 vor kurzem bekam ich eine Email von einem nord-           scha◊ das Bewusstsein, dass noch die postmodernen Denkgebäude                                                                                   »Wahrheit« wurde vielleicht noch nie so viel ö≠entlich diskutiert
                                                 amerikanischen Bildenden Künstler, unterschrieben         auf einem kolonialen und rassistischen Boden stehen. »Subjekt«                                                                                  wie in Zeiten von Corona. Ich frage mich deshalb, ob die Pandemie
                                                 mit »Yours truly, R.« Es fühlte sich für mich extrem      und »Selbst«, die Antihelden so vieler ihrer Erzählungen sind zum                                                                               auch eine Gelegenheit sein kann, unsere Mythen und Wahrheiten

                                                                                                                                                                                    Constanze,
                                                 seltsam an, das zu lesen. Wie kann jemand »jeman-         allergrößten Teil unausgesprochener Maßen westlich, weiß und                                                                                    zu überdenken und mit Umsicht und Solidarität zu handeln, um
                                                 des« sein? Und dann auch noch »wahrha◊ig«. Wie            männlich. Es wird daher nicht genügen, ihre Denkmäler zu stür-                                                                                  die Welt, die vor uns liegt, zu ö≠nen und Hybride, Multispezies
                                                 kann man überhaupt »wahrha◊ig« sein, an welchem           zen, so lange wir nicht bereit sind, uns mit der Entfremdung im                                                                                 und unheimische Heime zu scha≠en? Können wir in diesem
                                                 Ort auch immer?                                           Innersten unserer eigenen Arbeits- und Denkprozesse (die uns so                                                                                 Schwellenmoment der Geschichte das Unheimelige unsere Bewe-
                                                                                                           lieb und wichtig sind) auseinanderzusetzen. Weil das »Eigene« ein                                                                               gungen leiten lassen und über die Beschä◊igung mit Werkzeugen
                                                 Meine eigene akademische Ausbildung – zeitlich vor        viel befremdlicherer Ort ist als man denken sollte.                      Dein Brief hat mich an einem Tag des Gärtnerns erreicht. Ich versu-    zur Improvisation neue Bedeutungen (er-)finden?
                                                 der Etablierung eigener tanzwissenscha◊licher Studi-                                                                               che gerade, meinen kleinen Balkon in einen mobilen Mini-Garten
                                                 enprogramme im Nachwende-Deutschland – war wie            Ich lernte, dass alternativlos                                           und eine Kitsch-Oase für sonnige Tage zu verwandeln. Für mich          Tanz bietet uns auf einzigartige Weise das Wissen des Körpers
22 | Mediamorphose – Perspektiven und Visionen

                                                 ein großer Teil kunstorientierter Geisteswissenschaf-                                                                              geht es dieser Tage beim Pflanzen nicht nur um Pflanzen, sondern         an, das Wissen um Bewegung als Gemeinscha◊. Er leitet uns da-
                                                 ten zur Jahrtausendwende geprägt vom dominanten           eine Notwendigkeit besteht, jede                                         darum, meine Wurzeln einzupflanzen, Samen der Ho≠nung und               zu an, wie wir uns verändern und durch Andere im Raum verän-
                                                 Einfluss poststrukturalistischer Philosophie mit ihrem                                                                              Beziehungen zu wässern – in einer neuen Stadt und in einem Land,       dert werden können. Er ermöglicht uns, unsere wechselseitige
                                                 Imperativ der Dekonstruktion. Ich lernte, dass alterna-   Behauptung von »Wahrheit« zu                                             in das ich erst umgezogen bin. In dieser besonderen Zeit, die die      Verbundenheit in Zeiten der Unsicherheit und Unheimlichkeit
                                                 tivlos eine Notwendigkeit besteht, jede Behauptung
                                                 von »Wahrheit« zu hinterfragen, und zwar durch die
                                                                                                           hinterfragen                                                             globale Pandemie mit ihrer Beschneidung unserer Möglichkeiten,
                                                                                                                                                                                    Grenzen zu überwinden, noch komplizierter gemacht hat, ist es
                                                                                                                                                                                                                                                           zu erfahren und auszuüben. Damit trägt er dazu bei, Vertraut-
                                                                                                                                                                                                                                                           heit durch eine geteilte Verletzlichkeit im Raum des »Fremden«
                                                 kritisch-analytische Beschä◊igung mit den unaufhör-                                                                                verlockend, über die Begri≠e »eigen« und »fremd« zu meditieren.        zu scha≠en, ohne dieses zu besitzen, und das, denke ich, brau-
                                                 lich gleitenden und sich verschiebenden Ketten von        Homi Bhaba hat den Ausdruck »unhomely« erfunden, der Freuds              Und doch möchte ich im Folgenden lieber zum Tanz Zuflucht neh-          chen wir mehr denn je.
                                                 Bedeutungen, Zeichen und Diskursen. Ist es nicht wit-     Begri≠ »das Unheimliche« wörtlich ins Englische übersetzt. Freud         men, um einige Gedanken zu Deinen Überlegungen vorzuschlagen
                                                 zig, dass ich noch heute o≠enbar so gut konditioniert     benutzt ihn, um eine Entfremdung zu beschreiben, die im Bereich          und zu fragen, was Tanz uns heute anbieten kann, um mit der »Un-       So sei »truly yours« meine Manifestation einer Suche nach einem
                                                 bin, dass dieses beiläufige, von ganzem Herzen ausge-     des Intimen die Erfahrung begleitet, dass etwas an sich Vertrautes       heimeligkeit« der Welt, die einmal die unsere war, umzugehen.          Heim in Deinen Gebieten, ohne den Anspruch, irgendwelches
                                                 sprochene »truly« mir einen fast allergischen Schauer     plötzlich beängstigend erscheint. Für Bhaba dient dieses »Unhei-                                                                                Land zu besitzen. Ist das möglich?
                                                 über den Rücken jagt?                                     melige« als Bezeichnung für die schleichende Ahnung, dass unser          Tanz ist für mich das, was das Unheimliche, das Fremde, auf ein
                                                                                                           Heim nicht unseres ist. Es ist eine der Kategorien, die er entwickelt,   vertrautes Terrain von Weltlichkeit zurückführt. Tanz kann be-         Yours truly, Sevi
                                                 Im Deutschen teilt »eigen« seine Wurzel mit einem         um die binären Gegensätze, die jedes postkoloniale Projekt von sei-      wohnbare Welten herstellen und umarbeiten, ohne sie zu besit-
                                                 Vokabular des Besitzes und Eigentums, während             nen kolonialen Vorgängern insbesondere als Gesten des »ver-an-           zen. So ermöglicht er, was Michel de Certeau »Wilderei« genannt                           Constanze Schellow ist Juniorprofessorin für
                                                 »fremd« verbunden ist mit (der Abwesenheit von)           derns«, des »othering« erbt, zu unterwandern. Wie das Unheimli-          hat – einen taktischen Raum, der widerständig ist, alltäglich und                         Wissens- und Vermittlungskulturen im Tanz am
                                                 Wissen und Vertrautheit. Und die Anfänge der Vor-         che ist das Unheimelige Ergebnis einer Verdrängung.                      temporär. Die Flüchtigkeit des Tanzes erlaubt es niemals, »Eigen-                         ZZT der HfMT Köln und leitet das internationale
                                                                                                                                                                                                                                                                              BMBF-Forschungsprojekt »Theoretical Turn? –
                                                 gängerbewegungen des Zeitgenössischen Tanzes im                                                                                    tum« zu besitzen, weil man das, was man gewinnt, nicht (be-)
                                                                                                           Das ist, was das einfache »Yours truly, R.« in mir bewirkte: Es                                                                                                    Zur Institutionalisierung von Theorie/n in der
                                                 Zuge der Abspaltung des damals »Neuen Tanzes«                                                                                      halten kann. Tanz wird immer im Eigentum Anderer »wildern«.
                                                                                                                                                                                                                                                                              zeitgenössischen Tanzausbildung«. Auch in
                                                 oder »Freien Tanzes« vom Ballett unter dem Einfluss        machte mich unheimelig als praktizierende Forscherin im Rück-            Ja, Tanz kann anti-hegemonial sein. Er ist ein kreativer Prozess der   der Arbeit als Dramaturgin interessiert sie Tanz als Wirkungsfeld
                                                 der beunruhigenden, entfremdenden Krä◊e der In-           zugsort »meiner« Disziplin, wo im deutschsprachigen Kontext              Suche nach immer neuen Möglichkeiten der Interaktion und Ko-           kultureller und gesellschaftspolitischer Kräfte. Ein Fokus ihrer
                                                 dustrialisierung und des sich ausbreitenden Kapita-       ein großer Teil der Forschung bis heute auf Au≠ührungsanalysen           operation, um immer wieder neu heimisch zu werden in einer un-         Lehre liegt auf interdisziplinären Kooperationen, aktuell mit
                                                 lismus war in Deutschland Anfang des 20. Jahrhun-         basiert, die in hohem Maß von kanonischen Stimmen der westli-            sicheren, sich ständig verändernden Welt. Er ist eine Suche nach       Kolumba Köln.

                                                 derts mit zahllosen choreographischen Projekten           chen Philosophie informiert sind, anstatt ein Nachdenken über            Relationalität, die es erforderlich macht, erfinderisch und unauf-
                                                                                                                                                                                                                                                                            Sevi Bayraktar ist Professorin für Tanz,
                                                 und Arbeitsweisen verbunden, die auf einer Aneig-         Tanz als Kulturphänomen aus den trans-lokalen Perspektiven po-           hörlich innerhalb komplexer Beziehungsgeflechte in Bewegung zu                           Musik und Performance in globalen Kontexten
                                                 nung des Fremdartigen basierten.                          litischer, kultureller und sozialer Choreographien zu praktizieren.      bleiben, um egalitäre und pluralistische Gesellscha◊en zu scha≠en                       am ZZT. Ihre Forschung konzentriert sich auf Tanz,
                                                                                                           Ist das nicht befremdlich?                                               – das, was Hannah Arendt »Politik« nennen würde.                                        Gender und abweichende Politik im zeitgenössi-
                                                 Viele künstlerische Quellen aus dieser Zeit zeugen                                                                                                                                                                         schen Nahen Osten, wobei sie choreografische

                                                 von einer Suche nach einem neuen »Eigen«, in dem          Yours truly, Constanze                                                   Aber gibt es heute, hinter den Hygieneschutzmasken und in den
                                                                                                                                                                                                                                                                            und ethnografische Methoden kombiniert.
                                                                                                                                                                                                                                                           In ihrem aktuellen Buchprojekt untersucht sie die moderne Ge-
                                                 »Wahrheit« und »Authentizität« als sehnsüchtige                                                                                    virtuellen Begegnungsräumen denn überhaupt »wirkliche« In-             schichte des Volkstanzes, die Heritagisierung und die sozialen
                                                 Anforderungen mitschwingen. Sie manifestierte sich                                                                                 teraktion? Worin besteht in Zeiten von COVID19 die Wahrhaf-            Bewegungen in der Türkei und analysiert die Beziehung zwischen
                                                 in Tänzen und Choreographien, die gleichzeitig Be-                                                                                 tigkeit von Beziehungen?                                               Tanz-Ästhetik und politischer Handlungsfähigkeit.
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