DER ÜBERFALL AM MERU VOR 125 JAHREN - Leipziger Missionswerk
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MITTEILUNGSBLATT DES LEIPZIGER MISSIONSWERKES der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens und der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland KIRCHE 3/21 weltweit DER ÜBERFALL AM MERU VOR 125 JAHREN Am 20. Oktober 1896 wurden zwei Missionare und fünf ihrer Begleiter am Mount Meru in der damaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika (heute Tansania) ermordet, wo sie eine neue Missionsstation begründen wollten. Eine Strafexpedition der deutschen Ko- lonialherrschaft kostete 600 Waarusha das Leben. Eine Geschichte über die Verwick- lungen von Mission und Kolonialismus. WECHSEL IN DER ARBEITSSTELLE EINE WELT 25 Jahre leitete Christine Müller als sächsische Beauftragte für den Kirchlichen Ent- wicklungsdienst die im Missionshaus ansässige Arbeitsstelle Eine Welt. Im Juli 2021 ging sie in den Ruhestand. Im Interview blickt sie auf ihre Arbeit zurück.
EDITORIAL & INHALT Liebe Leserinnen Inhalt und Leser, „Vergib uns unsere Schuld, so 2 Editorial wie auch wir vergeben unse- 3 Elias Kitoi Nasari ren Schuldigern“ – mit diesen Meditation Worten nahm Direktor Joachim Schlegel 1993 das Makonde- 4 Dr. Joseph Parselaw Kreuz entgegen, das ihm der Als Spione der Kolonialmacht verdächtigt Bischof der tansanischen Meru- Hintergründe zum tödlichen Überfall am Diözese Paulo Akyoo überreich- Mount Meru vor 125 Jahren te. Bischof Akyoo war davon bewegt, dass 97 Jahre zuvor 8 Emmanuel Majola die Missionare Ewald Ovir und Karl Segebrock ums Leben Namen noch immer im Gedächtnis gekommen waren: „Wenn die Meru-Christen heute zu- Wie die Geschichte am Meru weiterging rückschauen, wie die Geschichte mit dem Töten von Gottes Gesandten begann, empfinden wir, dass diese Schuld noch 10 Elisabeth Müller auf uns liegt. Wir warten auf den Zuspruch der Vergebung, „Man dachte an keine Gefahr“ den wir in der Liturgie erbitten wollen.“ Erinnerungen von Elisabeth Müller Die Worte Direktor Schlegels lassen das erahnen, was wir an den Überfall am Meru 125 Jahre nach dem Tod von Ovir, Segebrock und fünf 11 Elias Kitoi Nasari weiteren Zivilisten besonders in den Blick nehmen wol- Zeit war noch nicht reif len: Die Verwicklung der Leipziger Mission in den deut- Wer sich bedroht fühlt, wehrt sich schen Kolonialismus. Joseph Parsalaws Beitrag hebt das besonders hervor, wenn er das nachfolgende Massaker 12 Fürbitte konkret der Deutschen Schutztruppe an den Ilarusa und Massai 14 kristina Ece aus Anlass des Tods der beiden Leipziger Missionare be- Von Lettland über Leipzig nach Ostafrika schreibt – und mit der Feststellung endet: „Die anderen Eine Perspektive aus dem Heimatland Leipziger Missionare wären in der Lage gewesen, dieses von Karl Segebrock Massaker zu verhindern … aber sie schwiegen einfach, als ob nichts Schlimmes passieren würde.“ – Die Spur der 16 Daniel Keiling fünf Zivilisten von den Chagga, die ebenfalls ums Leben WANAPANDA – Konfis pflanzen Bäume kamen, verblasst in der Leipziger Erinnerung. Nur zwei Konfigruppen für Pilotphase gesucht der Namen – Karava und Mrio – sind mit Mühe auffind- 17 Botschafter*innen der Liebe Christi bar. – Zählten sie nicht? Programm zur Vollversammlung des Mission stellt die Frage nach unserer Identität, betonte Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) Dorottya Nagy in ihrer Predigt zu unserem Jahresfest am 18. Juli: Wenn wir wirklich „eins in Christus sind, alle 18 Interview gemeinsam Hausgenossen Gottes“, warum unterschei- „Wir haben verlässlich und konstruktiv den wir dann zum Beispiel zwischen Gemeinden unserer geschuftet“ Landeskirchen und „Migrationsgemeinden“, zwischen Ein Rückblick auf 25 Dienstjahre in der „Menschen von hier“ und „denen, die zuwandern“? Wir Arbeitsstelle Eine Welt sind gerufen, Christi Friede und Versöhnung auszubreiten, 20 Nachrichten so Nagy, und diese in Vielfalt, ohne Zwiespalt, auszule- ben. Als Menschen, deren Identität sich in Christus grün- 22 Geburtstage, Impressum det, sind wir gesandt, Menschen in unserer Gesellschaft 23 Termine als Hausgenossen Gottes zu lieben und zu behandeln. Ihr 24 Vierteljahresprojekt Das Titelbild zeigt eine historische Karte der Leipziger Ravinder Salooja, Direktor des Leipziger Missionswerkes Missionsstationen am Kilimanjaro aus dem Jahr 1895. 2 KIRCHE weltweit 3/2021
MEDITATION Meditation Von Pfarrer Elias Kitoi Nasari, Bischof der Meru-Diözese der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Tansania Lasst uns aufeinander achthaben und einander anspornen zur Liebe und zu guten Werken. Monatsspruch Oktober 2021: Hebräer 10,24 Das Verb „anspornen“, wie es im Monatsspruch dieser Krankheit ein Ende zu für diesen Oktober vorkommt, ist ein starker theo- setzen. Während wir auf Hei- logischer Begriff. Kein Wunder, dass dieser Bibelvers lung warten, beten wir, dass für diesen Monat ausgewählt wurde! Das Wort hat alle Menschen – Arme und mehrere Bedeutungen, zum Beispiel bringt es zum Reiche – sich eine Impfung Ausdruck, dass jemand einen starken Wunsch ver- gegen diese Krankheit leisten spürt, die Menge im Glauben aufzurütteln. Wir sollen und sie erhalten können. aufeinander achten und uns umeinander kümmern. Wir reichen uns gegensei- Überlegen Sie doch einmal, wie Sie sich gegenseitig tig die Hände als Menschen zur Liebe motivieren können. Wie können Sie einan- des Glaubens, um uns ein- der helfen, gute Werke zu tun, so wie es Christus uns ander unsere gegenwärtigen als Christinnen und Christen geboten hat? Wir sollen und vergangenen Sünden zu uns als christliche Partner auf der ganzen Welt gegen- vergeben. seitig im Glauben stärken. In diesem Zusammenhang denken wir vor allem an All dies sind starke Worte. Sie bringen uns Men- den Todestag der zwei Missionare, die im Oktober 1896 schen, die wir freundschaftlich und partnerschaftlich – also vor 125 Jahren – im Dorf Akeri am Meru getötet in der Mission verbunden sind, eine wichtige Bot- wurden. Sie brachten das Wort Gottes zu unserem Volk, schaft – gerade im Angesicht dieser herausfordernden den Meru. Das Evangelium von Jesus Christus ist stark Zeiten der COVID-19-Pandemie. gewachsen. Heute hat unsere Diözese mehr als 100.000 Der Bibelspruch ruft uns dazu auf, einander zu um- Mitglieder, 59 Pfarreien und mehr als 120 Gemeinden, armen; im Glauben zusammen zu gehen; uns gegen- 80 Pastor*innen und mehr als 150 Evangelist*innen seitig zu trösten – vor allem, wenn wir an Mitglieder und andere Gemeindemitarbeitende. Die kleine Bil- unserer eigenen Kirchen oder Mitarbeitende von bei- dungseinrichtung, die von unseren frühen christlichen den Seiten denken, die an Corona gestorben sind; uns Missionaren in Nkoaranga gegründet wurde, hat sich gegenseitig zu unterstützen; aneinander zu denken zu sechs Sekundarschulen, einer Sondergrundschule und einander im Gebet zu erheben. und drei Berufsschulen entwickelt. Als Christinnen und Christen müssen wir uns ge- Mit dem Kommen der Missionare haben wir so genseitig ermutigen, anstatt die Hoffnung zu verlieren viele Segnungen erfahren! Preiset den Herrn! Als He- oder uns von Angst und einem Gefühl der Hoffnungs- rausforderung sehe ich Folgendes: Die Mission darf losigkeit treiben zu lassen – wie Paulus schreibt: „Da- kein „Einwegunternehmen“ bleiben. Ich schlage vor, rum, meine lieben Brüder und Schwestern, seid fest dass wir nach Wegen suchen, wie sie in beide Rich- und unerschütterlich und nehmt immer zu in dem tungen funktionieren kann. Lasst uns einander im Werk des Herrn, denn ihr wisst, dass eure Arbeit nicht Gebet ermutigen für eine kontinuierliche Unterstüt- vergeblich ist in dem Herrn.“ (1. Korinther 15,58). zung im Dienst und der Mission Gottes – zur Liebe Im Lichte eines solchen Geistes des Einander-An- und zu guten Werken – „und [wenn] dann mein Volk, spornens müssen wir zum Gebet auf die Knie gehen. über das mein Name genannt ist, sich demütigt, dass Wir müssen Gott bitten, Licht zu bringen, wo es Dun- sie beten und mein Angesicht suchen und sich von kelheit gibt; Heilung im Krankheitsfall – insbesondere ihren bösen Wegen bekehren, so will ich vom Him- für diejenigen, die an COVID-19 leiden oder ihre Lie- mel her hören und ihre Sünde vergeben und ihr Land ben durch Corona verloren haben. Wir bitten Gott, heilen.“ (2. Chronik 7, 14 ). KIRCHE weltweit 3/2021 3
ÜBERFALL AM MERU Als Spione der Kolonialmacht verdächtigt Hintergründe zum tödlichen Überfall am Mount Meru vor 125 Jahren In seiner Doktorarbeit erforschte Joseph Parsalaw die Geschichte der lutherischen Kirche in der Region Arusha. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Ermordung der beiden Leipziger Missio- nare Ewald Ovir und Karl Segebrock vor 125 Jahren und die folgende Strafexpedition. Von Prof. Dr. Joseph Parsalaw, Vizekanzler der Tumaini Universität Makumira, Tansania Die Geschichte der Stadt Arusha reicht zurück bis in angegriffen oder ausgeraubt, wie es in anderen Tei- das Jahr 1896. Damals wurden die beiden jungen Mis- len des Landes geschah. Es wurde als gutes Zeichen sionare Ewald Ovir und Karl Segebrock ermordet. Sie angesehen, dass die Missionsarbeit im Meru-Land waren von der Leipziger Mission im Dienst des Herrn ohne Angst vor den Massai und Waarusha begon- Jesus Christus gesandt, um eine neue Missionsstation nen werden konnte. Damals kleideten und benah- im Land der Wameru (oder auch Waro) aufzubauen. men sich die Wameru wie ihre Maa-Nachbarn. Für einen Außenstehenden war es schwer, einen Meru- Krieger von einem Maa-Krieger zu unterscheiden. Tatsächlich aber sind die Wameru eng mit den Ki- kuyu, Shira und Machame verwandt. Auseinandersetzungen mit der Kolonialmacht 1896 erkundete Missionar Ewald Ovir das Land der Wameru. Mangi Matunda, das Oberhaupt der Wameru, begegnete ihm und seinen Bedienste- ten sehr freundlich. Als er zu seinem Vorgesetzten [Missionar Emil Müller] in Machame zurückkehrte, berichtete Ovir über den herzlichen Empfang durch die Wameru und deren Oberhaupt im Meru-Land.1 Die Missionare waren sich auch bewusst, dass bei Schwierigkeiten mit den Indigenen die deutsche Der Mount Meru erhebt sich 4.562 Meter über der Stadt Arusha. In Administration im Land helfen würde. Obwohl die der drittgrößten Stadt Tansanias leben rund zwei Millionen Menschen. Deutschen unmittelbar nach der Berliner Konferenz und den Verträgen von Carl Peters die Kontrolle über Deutsch-Ostafrika übernommen hatten, war Die Wameru bewohnen die Ostseite des Mount ihre Macht nur in den sich entwickelnden Klein- Meru. Sie sprechen einen Dialekt, der dem der Chag- städten und am Küstenstreifen spürbar. Im Landes- ga am Kilimanjaro ähnelt. Die Missionare, die bereits inneren war ihr Einfluss noch nicht zu spüren, mit einige Monate auf dem Leipziger Missionsfeld am Ausnahme von Geschichten über ihre Grausamkeit, Kilimanjaro tätig waren, waren in der Lage, mit den die sich unter der Bevölkerung im Landesinneren Wameru zu kommunizieren. Auch eigneten sich die verbreiteten. Den Waarusha und Massai war nur Hänge des Berges, weil sie frei von Malaria waren – bekannt, dass es weiße Männer gab, die wussten, dem Feind Nummer Eins der Weißen. wie man kämpft. Das freute die Maa, denn auch ihr Zwischen 1890 und 1894 lebten schon einige weni- Ruf als Krieger war den Weißen bekannt. Sie hatten ge deutsche Siedler auf dem flachen Land im Westen nicht die leiseste Ahnung, dass diese weißen Männer des Kilimanjaro und bewirtschafteten es. Die Mas- eines Tages ihre neuen Herren werden würden. sai und Arusha [auch Ilarusa], zwei Maa-Völker, Die Ankunft der Weißen war bereits von einem die den westlichen Teil des Meru bewohnten, waren Wahrsager der Maa, einem Loiboni, vorausgesagt gefürchtete Krieger. Dennoch wurden Karawanen, worden. Er prophezeite, dass Weiße aus den Meeren die von der Küste nach Tabora und zu den Seen im kommen und viele Dinge ins Land bringen würden.2 Westen zogen, nicht von den genannten Stämmen Die Ankunft dieser „Geschöpfe“ im Massailand und 4 KIRCHE weltweit 3/2021
ÜBERFALL AM MERU in Arusha wurde von den beiden Maa-Stämmen mit Feindseligkeit und Misstrauen gesehen. Ihre Gegen- wart würde nur Unglück bringen. Vor der Besetzung Deutsch-Ostafrikas, des heu- tigen Tansanias, durch die Deutschen gehörten die Maa zu den gefürchtetsten und angesehensten Völ- kern des Landes.3 Ihre Krieger waren für die Vertei- digung ihrer Grenzen verantwortlich und verhin- derten das Eindringen von Arabern und Weißen in ihr Land. Als die Deutschen ankamen, waren die Massai (nicht die Waarusha) durch Cholera und kleine Pockenepidemien geschwächt. Auch hatten sie fast ihr gesamtes Vieh durch schwere Dürren und eine Rinderpest-Epidemie verloren, wie Oscar Baumann 1890 berichtete.4 Die deutsche Besetzung Tanganjikas geschah mit Hauptmann Johannes (Mitte sitzend) und rechts hinter ihm Oberleut- der Absicht einer wirtschaftlichen Entwicklung nant Merker bei einem Besuch von Hans Meyer (rechts sitzend) 1898. der Kolonie. Die Erschließung des Landes galt als Hauptanliegen. Zu diesem Zweck wurden bestimm- te Gebiete mit gutem Ackerland an deutsche Siedler gleitung von Leutnant Merker und mehreren su- veräußert, damit sie für den Verkauf geeignete Feld- danesischen Askaris [Söldner] im Meru-Land an. früchte anbauten. 1895 erließen die Kolonialherren Sie schlugen ihre Zelte nicht weit entfernt von den ein Dekret, das alles Land zu Kronland erklärte. Die Missionaren Ovir und Segebrock auf. Diese waren angestammte Bevölkerung an den Hängen des Kili- ungefähr fünf Tage zuvor mit einer kleinen Gruppe manjaro und des Mount Kenya wurden auf die hö- von Trägern vom Kilimanjaro im Meru-Land einge- heren Lagen zurückgedrängt. In der unteren Region troffen. Bevor die Missionare Moshi verließen, er- waren sie von einem Kreis weißer Siedler umringt, hielten sie für den Notfall Waffen und Munition zur die große Ländereien besaßen. Ausgenommen wa- Selbstverteidigung. ren die Felder (Shambas) und Grundstücke, die be- Die Leipziger Missionare waren auf Frieden und reits den Waarusha gehörten. Sicherheit im Meru- und Arusha-Land eingestellt, Die Zuweisung von Land an Deutsche und andere nachdem Hauptmann Johannes und Leutnant Mer- europäische Siedler führte zu Unruhe und Hass ge- ker schon im Oktober 1895 eine Strafexpedition ge- gen die Europäer im Allgemeinen. Einige Stämme gen die Waarusha an vorderster Front geführt hatten. versuchten es mit passivem Widerstand, während Doch sowohl die Missionare als auch Hauptmann andere wie die Wameru und Waarusha einen sehr Johannes selbst täuschten sich. Die Anwesenheit von aktiven Widerstand gegen alle Weißen leisteten. Hauptmann Johannes und seiner kleinen Gruppe su- Die Waarusha wurden im Meru-Land und in der danesischer Askaris ließ den Verdacht aufkommen, Gegend von Oldonyo Sambu den dort angesiedel- dass beide Missionare, Ovir und Segebrock, Spione ten deutschen Bauern zu einer großen Belastung. von Hauptmann Johannes seien. Sie trugen Waffen; Arusha-Krieger stahlen immer wieder deren Vieh so machte es keinen Unterschied, ob sie Soldaten oder in der Hoffnung, dass die weißen Farmer dessen Männer Gottes waren, die das Licht des Evangeliums überdrüssig ihre Farmen verlassen würden. Der in brächten. In der Gewissheit, dass alle Weißen in Akeri Moshi stationierte Hauptmann Kurt Johannes und Feinde waren, wurden beide Lager angegriffen. Leutnant Moritz Merker unternahmen erfolglos Hauptmann Johannes hatte Glück, dass die su- mehrere Strafexpeditionen gegen die Maa mit dem danesischen Askaris hart kämpften und die heran- Ziel, sie unter Kontrolle zu bringen. Das führte dazu, nahenden Waarusha- und Wameru-Krieger fern- dass der gesamte Stamm jederzeit bereit war, auf hielten. So überlebte er. Aus dem Lager der Missi- Überraschungsangriffe der am Kilimanjaro leben- onare aber hörte man das Zerschlagen von Kisten den deutschen Soldaten zu reagieren.5 und Utensilien. Das war das tragische Ende von Auf einer seiner regulären Reisen nach Umbug- Ovir und Segebrock, die jeweils mit über dreißig we über Arusha kam Hauptmann Johannes in Be- Speerstichen getötet wurden.6 KIRCHE weltweit 3/2021 5
ÜBERFALL AM MERU Strafexpedition aus Rache für die Ermordung Johannes repräsentierte. Die Deutschen wurden von den Briten gewarnt, dass der in Kenia lebende spi- Hauptmann Kurt Johannes verstand den Tod der rituelle Führer der Loita-Massai, Loiboni (Prophet/ beiden Missionare, die in seiner Gegenwart gefallen Priester) Sendeyo, dazu neige, die Tötung von Hun- waren, als persönlichen Angriff auf seinen Rang und derten seiner blutsverwandten Waarusha zu rächen. seine Stellung. Aus Rache für die Ermordung von Bau der Militärstation in Arusha Ab dem Jahr der Niederlage 1896/97 lernten es alle Waarusha, sich respektvoll zu verbeugen, wenn sie ihren neuen weißen Herren begegneten. Um den kriegerischen Stamm genauer im Auge zu behalten, beschlossen die Deutschen, in der heutigen Stadt Arusha einen Militärposten zu errichten. Die Vorbereitungen dafür begannen 1899. Vorher waren dort nur einige Askaris stationiert, um die Waarusha und ihre verwandten Massai zu überwa- chen. Ein Swahili-Mann namens Efendi Moham- med war mit der Bauleitung beauftragt. 1900 war die Boma fertig. Es waren die Waarusha selbst, die die Boma bauten, nicht weil sie es wollten, sondern weil sie dazu gezwungen wurden. Nicht die Die Boma in Arusha beherbergt heute das Naturkundemuseum. Eine geringste Widerstandskraft war geblieben, um den kleine Ausstellung erinnert an die koloniale Geschichte des Gebäudes. deutschen Befehlen ein „Nein“ entgegenzusetzen. Wenn der große Gebieter sagte, tu dies, taten die Ovir und Segebrock organisierte er eine Strafexpedi- Krieger das sofort, ohne mit der Wimper zu zucken. tion gegen die renitenten Waarusha. Mehrere Anfüh- Der Bau der Boma in Arusha war die schlimmste rer und Wortführer des Stammes mussten sich dem Strafe für den gesamten Stamm. Männer und Frauen Hochmut des Hauptmanns unterwerfen. Krieger errichteten unter Gewaltandrohung den Militärpos- wurden ausgepeitscht oder in der Öffentlichkeit ge- ten. Die ruhmreichen Arusha-Krieger wurden vor hängt, um seine Grausamkeit zu demonstrieren. Die den Augen ihrer eigenen Kinder und anderer Stämme Oberhäupter der anderen Stämme wurden angewie- gedemütigt. Die stolzen Krieger wurden gezwungen, sen, in Moshi zu erscheinen. Einige von ihnen wur- Steine mit ihren Kampfwaffen, den Speeren, auszu- den für mehrere Monate ins Gefängnis gesteckt. Ein graben. Ihre reich geschmückten Schilde verrichteten paar Glückliche flohen in den Meru-Wald und ließen die Arbeit von Schubkarren, um Steine zur Boma zu ihre Familien zurück. Deutsche Soldaten wurden be- bringen. Sie benutzten ihre Schwerter, um große Bäu- auftragt, die Waarusha abzuschlachten. Sie verrich- me zu fällen. Junge Frauen und Kinder wurden ge- teten ihre Arbeit zur Zufriedenheit. Sie töteten alles, zwungen, Bananenblätter zum Dachdecken zu brin- was sich bewegte. Rinder, Häuser, Maisfelder und Ba- gen. Älteren Frauen und Männern wurde die Arbeit nanenhaine wurden angezündet, um sicherzustellen, übertragen, den feuchten Lehm zu stampfen, mit dem dass Überlebende bei der Rückkehr aus ihren Verste- bei den Bauarbeiten der Boma die Steine vermauert cken weder Unterkunft noch Nahrung fanden. Tau- wurden. Missionar L[eonhard]Blumer, der viele Jahre sende Rinder, Ziegen, Schafe und Menschen wurden in der Missionsstation Ilboru arbeitete, schrieb in Be- von den neuen Herren mitgenommen.7 [...] zug auf die Waarusha und den Bau der militärischen Die Ermordung von Ovir und Segebrock 1896 Boma: „Mit ihren Speeren mussten sie die Kalksteine und die folgende Bestrafung der Waarusha durch brechen und auf ihren Schilden dann hierhertragen, Hauptmann Johannes beendeten die Unruhen der wo der Kalk dann gebrannt wurde. Das Brennholz Waarusha und anderer Massai nicht. Waarusha und mussten sie ringsum //in der Steppe// zusammen- Massai in Mpwapwa (Dodoma), Tanga, Kondoa und suchen und mit ihren grossen Seitenmessern fällen. Ngorongoro weigerten sich, die strenge deutsche Von hier wurde dann der gebrannte Kalk nach Aru- Kolonialregierung anzuerkennen, die Hauptmann sha für die Festungsbauten (=boma) hingetragen.“8 6 KIRCHE weltweit 3/2021
ÜBERFALL AM MERU Seitdem wuchs die Bedeutung von Arusha bestän- Quellen dig. Dazu trugen besonders die Küstenbewohner 1. H. Adolphi: Am Fuße der Bergriesen Ostafrikas, Leipzig bei, die eine Anstellung als Hausangestellte oder 1912, S. 47 eine andere verfügbare Arbeit suchten. Die Präsenz 2. Interview mit Wilson Saiguran im Alter von 85 am des Militärpostens im Arusha-Land veränderte das 12.09.1998 Erscheinungsbild der Gegend völlig. Die Boma war 3. J. P. Moffet (Hrsg.): Handbook of Tanganyika, Dar es das erste moderne Gebäude in der gesamten Region Salaam 1958, S. 64 Arusha. Um das Gebäude wurde ein tiefer Graben 4. I. N. Kimambo/A. J. Temu (Hrsg.): A history of Tanzania, ausgehoben und außerhalb des Grabens ein Stachel- Nairobi 1969, S. 89. Siehe auch J. W. Parsalaw: A history drahtzaun angelegt, um Feinde auf Abstand zu hal- of the Lutheran Church Diocese in the Arusha Region ten. In der Boma lebten die Militäroffiziere mit einer from 1904 -1958, Dissertation Erlangen 1997, S. 37 kleinen Gruppe von etwa dreißig Askaris, größten- 5. ebd. teils Nubier. Die Erfordernisse des Militärpostens 6. Evangelisch-Lutherisches Missionsblatt, Leipzig 1897, S. ließen um ihn herum ein kleines Dorf entstehen, 12-19 dessen Häuser im Swahili-Stil in Reihen angeord- 7. Information von Wilson Saiguran net waren. Abgesehen von den wenigen Einheimi- 8. Tagebucheintrag der Missionsstation Ilboro, 4. Okt. schen, die in der Nähe der Boma lebten, eröffneten 1922 (Akte ALMW II/32/311 C II) einige wenige Küstenbewohner und Inder aus Goa 9. Carl Uhling, in: Mitteilungen aus den Deutschen kleine Läden.9 Aus dem 1900 von den Deutschen Schutzgebieten, Berlin 1909, S. 249 gegründeten kleinen Militärposten hat sich heute Der Beitrag wurde 2000 veröffentlicht eine Großstadt entwickelt. Die Stadt Arusha ist der- in dem Buch „Mission und Gewalt. zeit [Stand 1997] die Heimat von nicht weniger als Der Umgang christlicher Missionen mit fünfhunderttausend Einwohnerinnen und Einwoh- Gewalt und die Ausbreitung des Chris- nern. Sie liegt auf der Hälfte der Great North Road, tentums in Afrika und Asien in der Zeit die als Fernverkehrsstraße Kapstadt und Kairo mit- von 1792 bis 1918/19“ von Ulrich van einander verbindet. der Heyden (Herausgeber), Jürgen Be- cher (Herausgeber). Wir danken dem Fazit Franz Steiner Verlag Stuttgart für die freundliche Freigabe zur Übersetzung und Veröffentlichung. Es handelt sich Die anderen Leipziger Missionare in Machame, Mo- hier um eine leicht gekürzte und redigierte Fassung. shi und Mamba wären in der Lage gewesen, das Mas- Professor Dr. Joseph Wilson Parsalaw referiert am 30. Ok- saker des Hauptmanns Johannes an Unschuldigen tober 2021 bei unserem internationalen Online-Symposi- zu verhindern, wenn sie gewollt hätten. Sie wussten, um (siehe Seite 11). wann Johannes vorhatte, seine Rache zu vollziehen. Sie schwiegen aber, als sollte nichts Schlimmes passie- ren. So wurde die Ermordung der beiden Missionare Literaturempfehlungen mit dem Leben von sechshundert Menschen bezahlt. Joseph Wilson Parsalaw (1999): A his- Fest steht, dass Ovir und Segebrock weder im Dienst tory of the Lutheran Church Dio- der deutschen Kolonialregierung standen noch unter cese in the Arusha Region from dem Schutz der Kanonen und Waffen von Haupt- 1904 to 1958. – Erlanger Verlag für mann Johannes. Diese beiden jungen Männer waren Mission und Ökumene (403 Seiten) davon überzeugt, den Menschen in Afrika um jeden derzeit nur antiquarisch erhältlich Preis Christus zu bezeugen, selbst um den Preis ihres Lebens. Aber es ist wichtig, wenn wir an die Anfänge der Stadt Arusha denken, die Entstehung dieser Stadt Helge Wendt (Hg.), Ulrich Heyden (Hg.) auch als eine Folge des Racheaktes für die beiden Mis- (2020): Mission und dekoloniale sionare zu verstehen. Perspektive. Der Erste Weltkrieg als Auslöser eines globalen Prozesses, Reihe Übersetzung aus dem Englischen: Antje Lanzendorf, „Missionsgeschichtliches Archiv“, Band mit Dank an Pfarrer i.R. Gerhard Richter, ehemaliger 30. – Franz Steiner Verlag: Stuttgart Tansania-Referent des LMW, für wertvolle Hinweise ISBN: 978-3-515-12070-8 KIRCHE weltweit 3/2021 7
PARTNERPERSPEKTIVE Namen noch immer im Gedächtnis Wie die Geschichte am Meru weiterging Der Tod der beiden Missionare 1896 wurde in Tansania nicht vergessen. Dankbar wird darauf zu- rückgeblickt, dass fünf Jahre später ein zweiter Versuch am Meru gestartet wurde. Heute ist die Meru-Diözese eine lebendige Kirche mit Schulen und Krankenstationen. Von Pfarrer Emmanuel Majola, Direktor des Ailanga Lutheran Junior Seminary, Meru-Diözese, Tansania Die Reise zur Verkündigung des Wortes Christi körperliche Bestrafung des Waarusha-Stammes im durch die Pfarrer Ewald Ovir und Karl Segebrock Oktober 1895 durch die Kolonialmacht (siehe Beitrag von der Leipziger Mission ins Meru-Land im Nor- von Dr. Joseph Parsalaw S. 4ff) (Anm. der Red.: Waa- den des heutigen Tansanias endete vor genau 125 rusha = Swahili, Ilarusa = Maa, beide Begriffe bezeich- nen dieselbe Ethnie in den verschiedenen Sprachen). Die Ermordung der Missionare ist in dem 2002 veröffentlichten Buch „Historia ya Miaka 100 ya Injili Meru“ (100 Jahre Evangelium am Meru) gut doku- mentiert. Die Beziehung zwischen den Missionaren und den Kolonialherren war sehr gut. Aus unter- schiedlichen Quellen gibt es zwei Belege für die Ver- schränkung von Missionstätigkeit und Kolonialherr- schaft: Zum einen versuchte Hauptmann Johannes, die Sicherheit der Missionare zu gewährleisten. Tage vor der Mordnacht in Akeri gab er den Missionaren Waffen und Munition zur Selbstverteidigung mit auf den Weg. Zum anderen unterstützte die Kolonial- herrschaft die Missionstätigkeit bei wirtschaftlichen Tätigkeiten. So kauften die Missionare am 19. Okto- ber 1896 Land in Akeri im Wert von 25 Stoffballen. Im Das baulich mehrfach erweiterte Grab der beiden Missionare Ovir und Beisein von Hauptmann Johannes wurde das Land Segebrock in Akeri wird bis heute in Ehren gehalten und gepflegt. für die Mission vermessen und der Kauf abgewickelt. Es ist unmöglich, im 19. Jahrhundert zwischen poli- tischen Erkundungen und den Aktivitäten der Missi- Jahren. Am 20. Oktober 1896 verloren sie im Dorf onare zu trennen. Erst durch die Berliner Konferenz Akeri ihr Leben. Die Geschichte spiegelt Aspek- von 1884 wurde die Tür für die Leipziger Mission in te des menschlichen Miteinanders, die auch heute Ostafrika geöffnet. Gouverneure oder andere Koloni- noch zu finden sind. Das heutige spirituelle und so- alherren garantierten die sichere Reise der Missiona- zio-ökonomische Leben offenbart jedoch den Wert re. Ebenso erging es Ewald Ovir und Karl Segebrock. dieses Blutvergießens. Gouverneur von Tanganjika war zur damaligen Zeit Die Namen der verstorbenen Missionare sind noch Hermann von Wissmann (April 1895 bis Dezember immer im Gedächtnis der Meru-Christen verankert. 1896). Der Verantwortliche in der Boma (Militärsta- Ihre Gräber in Akeri tragen die lebendige Botschaft tion) in Moshi war Hauptmann Kurt Johannes. Er in unserem Geist durch die Meru-Diözese und sogar sorgte für die sichere Reise von Ovir und Segebrock. darüber hinaus. Die Namen der Chagga, die eben- falls zu Tode kamen, sind uns nicht bekannt. In Ake- Der Samen des Evangeliums auf Meru-Land ri sind keine weiteren Gräber überliefert. Die lutherischen Christinnen und Christen am Am 15. Oktober 1896 kamen die Missionare als Meru trauern bis heute und fühlen sich durch den Ehrengäste des Mangi Matunda des Meru-Volkes in Tod der Missionare beschämt. Es waren keine Meru- Akeri an. Es gab Gerüchte, dass die Missionare ange- Leute, die die beiden umgebracht haben. Sie wurden griffen werden würden. Aber sowohl die Missionare von Ilarusa-Kriegern ermordet aus Rache für die als auch Hauptmann Johannes negierten die Berich- 8 KIRCHE weltweit 3/2021
PARTNERPERSPEKTIVE te über einen bevorstehenden Kampf. Mai 1902 wurde der erste Sonntagsgot- Am 20. Oktober 1896 wurden Ovir und tesdienst gehalten. So begannen im Mai Segebrock getötet. Am frühen Morgen 1902 zwei Kernaktivitäten; das Predigen begruben Johannes und seine Soldaten des Evangeliums von Jesus Christus so- die Leichen der beiden Missionare und wie das Lehren von Schreiben und Lesen. machten sich auf den Weg nach Moshi. Der Bericht über den Tod von Ovir Die Meru-Diözese heute und Segebrock traf am 21. Oktober 1896 in Machame bei Missionar Emil Mül- Nach 125 Jahren kann die lutherische ler ein. Er schrieb einen Brief an das Kirche eine enorme Entwicklung feiern. Leipziger Missionskollegium, in dem Diese muss parallel zur staatlichen erfol- zwei Dinge erwähnt wurden; a) Die gen. Im Allgemeinen stehen die kirch- Missionsarbeit im Meru-Land wurde lichen Aktivitäten im Einklang mit den abgebrochen, aber das Grundstück ist Entwicklungszielen der Regierung. mit dem Blut unserer Brüder gesegnet Von den ersten elf Taufen im Meru- b) Lasst uns zu Gott beten, dass er das Gebiet am 18. Juni 1905 hat das Lehren Evangelium von Christus zu gegebener und Predigen des Evangeliums zu einem Zeit in das Meru-Land bringt. enormen Wachstum der Kirche geführt. Die Kolonialherrschaft wendete als Es gibt 159 Predigtstellen, 59 Gemeinden Strafmaßnahme massive Macht an, um und fünf Kirchenbezirke. Derzeit hat das Leben von Menschen und Eigentum die Meru-Diözese 72.083 Kirchenmit- zu zerstören. Dies zeigt die Verwicklung glieder. In den 125 Jahren hat es 75 Pas- Arno Krause und Kurt Fickert der Missionare im Zusammenhang mit kamen 1902 an den Meru. toren, 156 Evangelisten, 42 Gemeinde- der Kolonialherrschaft. Andererseits mitarbeitende und 64 Gemeindesekre- kooperierte auch die tansanische Kir- täre gegeben. Sie predigten und tauften, che in den 1960/70er Jahren mit der Regierung, als engagierten sich in der Bildung und medizinische es darum ging, den afrikanischen Sozialismus „Uja- Versorgung der Menschen. Zur Diözese gehören maa“ aufzubauen. sechs Sekundarschulen, zwei Grundschulen und vier Berufsschulen. Seit der ersten Aufnahme von acht Patienten im Krankenhaus Nkoaranga im Mai Zweite Missionsreise 1902 1904 entstanden weitere fünf Gesundheitsstationen Die Blutsamen von Ovir und Segebrock offenbaren und ein Gesundheitszentrum im Besitz der Kirche. die Macht des Wortes Gottes. Jesus Christus erhörte Ausgehend vom Kern der Missionstätigkeit war der die Gebete von Missionar Müller, das Evangelium zu Hauptzweck das Wohlergehen der Menschen; ein gegebener Zeit in das Meru-Land zu bringen. Pfarrer besseres Leben für alle und eine gut strukturierte Ge- Arno Krause und Kurt Fickert trafen am 24. Februar sellschaft. Von 1896 bis heute sind die Fortschritte der 1902 während der Regierungszeit von Gouverneur Kirche und der Regierung bemerkenswert. Der Weg Gustav Adolf von Götzer (März 1901 bis April 1906) der Missionare unter den Kolonialherren ermögli- in Tanganjika ein. Die beiden Missionare besuchten che die Umsetzung der Ziele: Predigt des Evangeli- Mangi Nyereu im Dorf Mbembe-Nkoaranga auf ums, Bildung und Gesundheit. Unabhängig von dem Befehl von Leutnant Merker, dem Nachfolger von schwerwiegenden Rachefeldzug gehört die Entwick- Hauptmann Johannes. Die Einsetzung von Nyereu lung im Meru-Land, der heutigen Meru-Diözese im und der Bau eines Gästehauses in Mbembe noch vor Meru District Council, zu den besten in Tansania. Das der Ankunft der Missionare zeigen, dass die Koloni- Wachstum ist überwältigend. Gott sei Dank, wurde almacht hinter den Missionsaktivitäten stand. nach dem Tod der beiden Missionare die Tür für die Die Missionare und ihre Delegation baten den zweite Reise geöffnet und das Christentum verbreitet Mangi um Erlaubnis, den Menschen das Wort Gottes sowie das sozioökonomische Wachstum im Meru- lehren zu dürfen. Sie wurden willkommen geheißen Land herbeigeführt. und am folgenden Tag, dem 25. Februar 1902, übergab ihnen Nyereu das Gebiet in der Nähe des Mbembe- Pfarrer Emmanuel Majola referiert am 30. Oktober 2021 Flusses. Im April begann der Lehrbetrieb und am 2. beim internationalen Online-Symposium (siehe Seite 11). KIRCHE weltweit 3/2021 9
BERICHT „Man dachte an keine Gefahr“ Erinnerungen von Elisabeth Müller an den Überfall am Meru In einem Rückblick auf ihr Leben als Missionsfamilie am Kilimanjaro berichtet Elisabeth Müller, Frau des Missionars Emil Müller, auch vom Überfall am Meru. Es lässt sich nicht nur herauslesen, wie überrascht alle waren, sondern auch wie eng das Verhältnis zur Kolonialmacht war. Ausschnitt aus einem Originaltext von Elisabeth Müller, geschrieben 1949 Im Januar 1896 kamen wir an. Anfang September unter unserem Schutz stehen. Hauptmann Johannes wurde unser kleines Steinhaus fertig. Ebenfalls Ende hatte 30 farbige Soldaten bei sich, auch seine Frau. September wurde unser Töchterchen geboren. Inzwi- Hätte er an Gefahr geglaubt, hätte er sie sicher nicht schen war noch ein junger Missionar angekommen, mitgenommen. ein anderer hatte uns verlassen, um eine neue Station Drei Tagereisen galt es zu marschieren. Bald nach anzulegen. Am 13. Oktober wurde unser Töchterchen unseren zwei Missionaren kam der Hauptmann getauft. Am Nachmittag wollten dann 2 unserer neu- mit seiner Begleitung auch an und schlug sein La- angekommenen, jungen Missionare aufbrechen, um ger nahe dem der Missionare auf. Bald nach seiner weiter im Westen eine neue Station anzulegen. Als wir Ankunft wurde der Hauptmann von verschiedenen beim Kaffee saßen, sagte der eine von ihnen: „Viel- Seiten durch Eingeborene gewarnt, die Massai- und leicht bringen sie uns dort um?“ Wir wehrten ihnen Menileute hätten etwas Böses gegen ihn vor. Er ließ lächelnd ab, denn man dachte an keine Gefahr. Wir darauf die beiden Missionare, die ganz nahe mit ih- gaben ihnen noch ein Stück das Geleit und verab- ren Zelten dort lagerten, rufen, und bot ihnen an, zu schiedeten uns froh, ohne Sorge um sie! ihm zu kommen. Er selbst hielt es nicht für ernst, Hauptmann Johannes von der deutschen Schutz- da solche Reden immer kamen, wenn er da war. So truppe, dessen junge Frau eben erst von blieben die beiden in ihren Zelten. daheim angekommen war, wollte am Gegen Morgen geschah dann der Überfall. Zu Tau- nächsten Tag den beiden Missionaren senden waren die Eingeborenen gekommen, da sie nachziehen. Der Hauptmann meinte, aber dem Lager des Hauptmannes nichts anhaben er habe keine Sorge um die Herren, konnten, da er mit seinen Soldaten ja Gewehre hatte, aber es gibt dort, wo die Missio- überfielen sie die zwei in ihren Zelten ruhig schla- nare die Station anle- fenden Missionare und ermordeten sie. gen wollen, so einen Hauptmann Johannes kam später nach dem Ki- Stamm, der immer limandscharo zurück und traf alle Vorbereitungen gern Späne macht. zur Bestrafung der Eingeborenen. Es dauerte jedoch Es ist schon bes- bis Januar 1897, ehe er soviel Krieger beisammen hat- ser, daß ich te, um seinen Kriegszug antreten zu können. Mein auch hin- Mann, unser Kindchen und ich waren nun ganz gehe, allein unter den Tausenden von Eingeborenen. Es damit konnte Wochen dauern, ehe der Hauptmann zu- m a n rückkehrte. So schrieb uns die Militärstation, wir merkt, möchten doch zu ihnen kommen, da sie uns sonst daß die nicht schützen könnten, weil alles mit auf dem Missi- Kriegszug sei. So packten wir zusammen, unser 7 onare Wochen altes Töchterchen wurde in einen Holzkorb, an dem ich Träger angebracht hatte, gesetzt, und von einem Arbeiter auf dem Rücken getragen. Über die Das Foto zeigt klitschigen Baumstämme mußte der Mann hinüber, die junge Mis- während ich – 7 Wochen nach der Geburt der Klei- sionarsfamilie Elisabeth und Emil nen – von den Eingeborenen gehalten, bis unter die Müller mit ihren bei- Arme durch die hochgehenden Flüsse stapfen muß- den ersten Kindern. te [...] Gott gab, dass es mir nicht geschadet hat. 10 KIRCHE weltweit 3/2020
BEGEGNUNG Zeit war noch nicht reif Symposium Wer sich bedroht fühlt, wehrt sich Climbing high mountains. Für Bischof Nasari war der Tod der Missionare Colonial entanglement & nicht beabsichtigt. Es war die Reaktion, die auf postcolonial reflections die Brutalität der Kolonialmacht folgte. Von Bischof Elias Kitoi Nasari, Meru-Diözese October 29 – 30, 2021 – ONLINE Die Ermordung der beiden ersten lutherischen - main event in English language only - Missionare 1896 in Akeri am Meru, die von der Leipziger Mission geschickt wurden, geschah mei- Thursday 28 October, 2021 – 18:00 h CEST (UTC+2) ner Meinung nach zufällig. Sie offenbart die Un- (preparatory session in German language only) kenntnis und das fehlende gegenseitige Verständnis Geschichtswerkstatt – Jürgen Günther (DE): Missi- der Kulturen der beiden Nationen (Wameru und on im kolonialen Kontext. Karl von Schwartz und der Deutsche). Die entsandten Missionare gingen, so Eintritt (der Leipziger Mission) in die Kolonie Deutsch- glaube ich, davon aus, dass die Bevölkerung dieses Ostafrika kleinen und weit im Inneren des Landes gelegenen, deutsch-kolonisierten Territoriums sicher nachge- Friday, 29 October 2021 – 16:00-20:00 h CEST ben und die neue christliche Religion, die aus Eu- (UTC+2) ropa mitgebracht wurde, zu schätzen wissen würde. Welcome and introduction Die einheimischen Autoritäten und Führungsper- Konstantin Gerber (DE): Mission – white, western, colo- sönlichkeiten, angeführt von Mangi Matunda, sahen nial? Mission in the contemporary theological discourse darin hingegen eine große Bedrohung, die ihnen in Germany von der regionalen Kolonialbehörde Arusha (deren Kristina Ecis (LV): Rediscovery and reevaluation of mission Aktionen große Brutalität gezeigt hatten) auferlegt understanding of the Courland Lutheran Consistory and wurde. Also wurden die jungen Krieger organisiert, missionary martyr Karl Segebrock um dem Ankommen der beiden Missionare entge- genzuwirken: Sie töteten sie. Ihrer Meinung nach Key lecture I: Moritz Fischer (DE): Unavoidable entan- taten sie das Richtige. Sie hielten das Kolonialregime gled into the machinery of war? – Missionaries squeezed von der Herrschaft ab. Sie ließen sich nicht diktie- between their supposed African addressees and the Ger- ren, was zu tun ist. Ich bedauere das Chaos, das man colonial military durch diesen schlechten Ansatz verursacht wurde! Evening blessing Ich denke, es wäre besser gewesen, wenn die Mis- sionare und die Leipziger Mission als sendende Or- Saturday, 30 October 2021 – 9:00-13:00 h CEST ganisation zunächst den Kontakt und das Gespräch (UTC+2) mit der örtlichen Autorität gesucht hätten, statt mit Morning prayer oder im Namen der damaligen deutschen Kolonial- Key lecture II: Prof. Dr. Joseph W. Parsalaw (TZ): The herrschaft aufzutreten! Akeri Killings of 1896 Der Zeitpunkt war 1896 nicht reif. Als Gottes Zeit Rev. Emmanuel Majola (TZ): The geographical and gekommen war, gelang es den später entsandten chronological perspectives of Leipzig missionaries’ activi- Missionaren, gute Beziehungen zu Mangi Matunda ties, around Meru land for about 125 years ago in Nkoaranga aufzubauen. Dieses Volk Gottes aus Deutschland wurde am Fuße des Nkoya (einem Moni Parisius (DE): 125 years death at Mt. Meru – a kleinen Hügel bei Nkoaranga) herzlich aufgenom- discourse analysis of the reception of the killing of two men und gut bewirtet. Die „zweiten“ Missionare Leipzig missionaries from a postcolonial perspective leisteten sehr wichtige und geschätzte Dienste für Thanks and Farewell die Verbreitung der Frohen Botschaft von Jesus Kindly register yourselves by Monday, 25 October at Christus durch die Verkündigung des Evangeliums info@LMW-Mission.de. Following your registration, you in ihrem ganzheitlichen Sinn – spirituelle, körperli- will receive the link for your digital access. che und soziale Entwicklung. KIRCHE weltweit 3/2021 11
FÜRBITTE KONKRET Partnerkirche in Tansania Die Zeit zwischen dem 1. September und dem 4. Oktober wird in immer mehr Kirchen als „Schöp- fungszeit“ begangen. Die Gemeinden sind vor dem Erntedankfest dazu aufgerufen, für den Schutz der Schöpfung Gottes zu beten, sich auf ihre Verantwor- tung für sie zu besinnen und daraus praktische Ta- ten folgen zu lassen. Die Kampagne „WANAPANDA – Konfis pflanzen Bäume“ startet deshalb bewusst am Ökumenischen Tag der Schöpfung Anfang September. Mit dieser Aktionen nehmen die Evangelische Kirche in Mit- teldeutschland und die sächsischen Landeskirche eine Idee aus Tansania auf. Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Partner- Die Erderwärmung führt auch in Tansania zu Unwettern. Bei außer- schaftsreisen nach Tansania berichten immer wie- gewöhnlich schweren Regenfällen wurden viele Familien obdachlos. der fasziniert von der überwältigenden Flora und Fauna in Ostafrika. Und zugleich wissen wir, dass In der Begegnung und im Gespräch mit Menschen die „Wunder der Natur“ in Tansania, wie das Selous- aus unserer Partnerkirche in Tansania haben wir er- Wildreservat oder der Gletscher auf dem Gipfel- kannt, dass wir alle unter Deinem Himmel auf der ei- massiv des Kilimanjaro, durch menschliches Han- nen Erde zusammenleben und einander beeinflussen. deln gefährdet sind. Auch die Menschen in unseren Die Art, wie wir leben, hat Auswirkungen bis an die Partnerdiözesen waren in den vergangenen Jahren Enden der Erde. Wir bitten Dich für alle Menschen, in zunehmendem Maße von Wetterextremen wie die in Tansania und anderen Ländern unter den Fol- Dürreperioden oder außergewöhnlich starken Re- gen der Umweltzerstörung leiden, um Hilfe. Erwecke genfällen und Flutkatastrophen betroffen. in uns die Nachdenklichkeit über die weltweiten Fol- gen unseres Lebensstils. Gott, Du Quelle des Lebens auf unserer Erde, lass Schenke uns neue Ideen zur Bewahrung Deiner uns staunen über das Wunder Deiner Schöpfung und Schöpfung hier und in Tansania. Gib uns den Mut achtsam werden gegenüber der Natur, die die Grund- zum Umdenken und Handeln für eine nachhaltige lage unseres Lebens ist. und zukunftsfähige Lebensweise. Amen. Kirchliche Partnerschaften Wir freuen uns über die vielen Gemeinde-, Kir- Darum lasst uns gemeinsam beten: chenkreis- und Schulpartnerschaften, die es zwi- Dreieiniger Gott, wir danken Dir für die vielen Mög- schen Deutschland und anderen Ländern gibt. lichkeiten, die wir haben, um Partnerschaft lebendig Weltweite Ökumene lebt von Beziehungen unter- werden zu lassen. einander und von persönlichen Begegnungen. Um Wir danken Dir für alle, die sich für lebendige Be- Projekte, Besuchsreisen und die nötige Kommuni- ziehungen zwischen unterschiedlichen Nationen und kation zu organisieren, braucht es oft einen langen Kulturen engagieren. Schenke ihnen immer wieder Atem, Geduld und Flexibilität. Dankbar sehen wir die nötige Motivation und Kreativität, um angedachte die vielen ehren- und hauptamtlichen Mitarbeite- Vorhaben umzusetzen. rinnen und Mitarbeiter der Mission, die mit großem Schenke ihnen Phantasie, um in diesen Zeiten der Engagement die Partnerschaftsarbeit befördern. räumlichen Kontaktsperren und verschobener Vorha- In der Zeit der Corona-Pandemie sind ein beson- ben neue Ideen zu entwickeln, um Partnerschaft zu ders gutes Durchhaltevermögen und viel Kreativität leben und sich gegenseitig zu ermutigen und im Glau- gefragt, um Beziehungen aufrecht zu erhalten und ben zu stärken. Gerade in schwierigen Zeiten ist die trotz räumlicher Ferne beieinander zu bleiben. Fürbitte füreinander wichtig. Amen. 12 KIRCHE weltweit 3/2021
FÜRBITTE KONKRET Partnerkirche in Tamil Nadu, Südindien Das Leipziger Missionswerk verbindet eine über Gott der Liebe, in großer Dankbarkeit blicken wir auf hundertjährige Partnerschaft mit dem Süden Indi- die bereichernden Jahrzehnte der Begegnung und des ens. Mitarbeitende wurden ausgesandt, kirchliche Austauschs mit unseren Geschwistern in Tamil Nadu Institutionen aufgebaut, Projekte durchgeführt, in Südindien. Wir nehmen all diese Erfahrungen mit in Besuchsreisen hin- und her organisiert und vieles unsere Gegenwart und bitten Dich für unsere gemein- mehr. Die Erinnerungen füllen viele Bücher, Akten same Zukunft. und Fotoarchive. Hinter allem stehen menschliche Wir bitten Dich für unsere Partnerkirche in Tamil Begegnungen und großes Engagement. Nadu. Es herrscht große Angst vor der nächsten Pan- In den letzten Monaten haben wir bedingt durch demiewelle. Nur ein Bruchteil der Bevölkerung konnte das verheerende Corona-Virus erlebt, wie Pläne und bislang geimpft werden. Viele Menschen fürchten auch Vorhaben verschoben und umstrukturiert werden die Nebenwirkungen der Impfungen. mussten. Wir haben viele Menschen nur auf dem Die Konsequenzen der Einschränkungen der letzten Monitor bei Videokonferenzen gesehen oder am Te- Monate haben viele Familien an den Rand ihrer Exis- lefon gehört, die wir eigentlich persönlich begrüßen tenz gebracht. Die christlichen Gemeinden steuern der und herzlich umarmen wollten. Zukunftsangst entgegen und lindern Leid, wo es geht. Todesnachrichten haben uns erschüttert. Viele Lass uns an ihrer Seite bleiben und auch diese Phase Menschen trauern um Angehörige und kämpfen um unserer Partnerschaft mit lebendiger Hoffnung füllen. das wirtschaftliche Überleben. Amen. Partnerkirche in Papua-Neuguinea Unsere Partnerkirche in Papua-Neuguinea entstand aus der Arbeit australischer, amerikanischer, kanadi- scher und deutscher Missionen. Die Leipziger Missi- on ist seit 1953 in der Partnerschaftsarbeit beteiligt. In besonderer Weise wird das Hochlandseminar in Ogel- beng unterstützt. Weitere Anliegen sind die Jugend- und Frauenarbeit im Land, in dessen Umfeld immer wieder neue Projekte aufgelegt werden. Gott des Lebens, über so lange Zeit hinweg gibt es das Band der Fürbitte, der Zusammenarbeit und der Part- nerschaften zwischen Papua-Neuguinea und seinen Partnern in Europa, Amerika und Australien. Soviel Se- gensreiches ist seitdem entstanden und aus der Kraft des Evangeliums heraus wurden viele gemeinsame Vorhaben gestartet und durchgeführt. Gemeinden wurden gestärkt, Im Lutherischen Seminar Ogelbeng im Hochland von Papua-Neugui- kirchliche Institutionen wurden weiterentwickelt. nea leben viele Studenten gemeinsam mit ihren Familien. Die Pandemie bremst vieles aus. Die finanziellen Möglichkeiten werden stets neu geprüft. Viele Men- land und an der Küste, für die Projekte unter Frau- schen haben so viel mit sich selbst zu tun, dass part- en und Jugendlichen, für das Freiwilligenprogramm nerschaftliches Engagement in weiter Ferne zu liegen zwischen unseren Kirchen, für das Gelingen der Be- scheint. Und doch brauchen wir einander. Möge uns ratungsdienste in Verwaltung und Finanzwesen der DEIN Heiliger Geist motivieren und mit der nötigen Evangelisch-Lutherischen Kirche von Papua-Neugui- Freude und Phantasie ausrüsten. nea. Lass uns dankbar die Früchte dieses gemeinsamen Wir bitten Dich konkret für das Hochlandseminar in Weges sehen und dabei die Zukunft im Blick haben, wie Ogelbeng, für die Gemeindepartnerschaften im Hoch- wir die weiteren Schritte gehen. Amen. KIRCHE weltweit 3/2021 13
PERSPEKTIVE AUS LETTLAND Von Lettland über Leipzig nach Ostafrika Eine Perspektive aus dem Heimatland von Karl Segebrock Ewald Ovir und Karl Segebrock stammten aus dem Baltikum. Dass die dortigen lutherischen Kir- chen einst die Leipziger Mission unterstützen, ist in Vergessenheit geraten. Nun wird versucht, die Geschichte der lettischen Mission aufzuarbeiten und ihren Beitrag zu würdigen. Von Kristina Ece, Theologische Fakultät der Universität Lettlands, Riga Es war Februar dieses Jahres und ich war eine Stu- dentin der Theologischen Fakultät der Universität Ewald Ovir Lettlands, die sich für die Geschichte der lettischen (1873-1896) Mission interessiert. Beim Lesen der verschiede- nen Quellen, die während der Pandemie verfügbar Ewald Ovir kam waren, entdeckte ich den Namen von Karl Sege- am 18. Februar brock. Tatsächlich haben wir in Lettland aufgrund 1873 in Jaggowall verschiedener trauriger historischer Umstände viel im heutigen Est- über die Geschichte der lettischen Mission verloren. land zur Welt, das Daher ist jeder dieser Funde ein Juwel. damals zum Kai- Lettland als Land existiert erst seit etwas mehr als serreich Russland 100 Jahren. Auf der Suche nach Materialien über gehörte. Er war das die Geschichte dieses Territoriums muss man nach fünfte von sieben Livonia, dem Herzogtum Kurland und Semgallen Kindern. Sein Va- sowie den Provinzen Kurland und Livland als Teil ter war Gerichtsschreiber. des Russischen Reiches. Später wurde die Republik Von 1883 bis 1890 besuchte er das Gouver- Lettland gebildet, die in die Sowjetunion eingeglie- nements-Gymnasium in Reval (heute Tallinn) dert wurde. Aufgrund der atheistischen Einstellun- und wurde dann Hauslehrer. Die Ausbildung gen der Sowjetmacht konnte die Auslandsmission erfolgte unter schwierigen finanziellen Verhält- als solche nicht existieren. Für die Kirche ging es nissen und nach dem Tod der Mutter getrennt ums Überleben. Die Archive der Lettischen Evan- von der Familie, worunter Ovir auch gesund- gelisch-Lutherischen Kirche wurden 1944 am Ende heitlich sehr litt. Durch einen englischen Arzt des Zweiten Weltkriegs zerstört, so dass es schwierig bekam er Kontakt zur „Äußeren“ Mission. Er ist, Informationen über die Kirche und auch über erschien ihm als Bote Gottes, der ihn den Weg die Missionare zu finden, die aus Lettland entsandt zur Mission weisen sollte. wurden. Im historischen Kontext muss verstanden Am 30. November 1891 trat er in das Leipziger werden, dass die meisten Lutheraner Ende des 19. Missionsseminar ein. Er bestand am 28. März Jahrhunderts Letten waren. Nur 5,5 Prozent waren 1895 die Abgangsprüfung und wurde am 2. Deutschbalten. Allerdings waren die meisten Pasto- Juni 1895 gemeinsam mit Karl Segebrock in der ren Deutsche. Wahrscheinlich schafft dieser Aspekt Leipziger Thomaskirche ordiniert. Am 5. Juni auch zusätzliche Schwierigkeiten, die Geschichte der 1895 wurden beide Missionare in die Chagga- lettischen Mission zu verstehen. Mission nach Deutsch-Ostafrika, dem heuti- gen Tansania, abgeordnet. Sie landeten am 10. August 1895 in Mombasa an. Am 21. September Enge Verbindungen nach Leipzig 1895 kam Ewald Ovir in Madschame (heute Da Karl Segebrock aus Kurland stammt, lohnt es Machame) an, wo er zusammen mit Missionar sich, die Entwicklung der Auslandsmission im Kur- Emil Müller arbeitete. ländischen Konsistorium im 19. Jahrhundert zu be- Er brach am 13. Oktober 1896 mit Missionar trachten. Die ersten Kontakte knüpfte 1837 Friedrich Segebrock zum Meru auf, wo sie eine neue Eduard Neander (1802-1895), Pfarrer der St. Trinita- Station gründen wollten. Beide wurden in der tis Kirche Jelgava (Mitau). Zunächst gab es eine Zu- Nacht zum 20. Oktober 1896 ermordet. Ewald sammenarbeit mit der Barmer Mission, ab 1865 gin- Ovir wurde nur 23 Jahre alt. 14 KIRCHE weltweit 3/2021
PERSPEKTIVE AUS LETTLAND gen die Spenden an die Leipziger Mission. Es gab so- gewesen war, war es für Segebrock zunächst schwer, gar Besuche der damaligen Missionsdirektoren auf wieder ein Schüler zu sein, der sich an die Regeln hal- den Synoden des Kurländischen Konsistoriums – ten musste. Da ein Missionar jedoch darauf vorberei- Dr. Karl Graul 1856 und Julius Hardeland 1863. Har- tet sein muss, unter anderen Bedingungen zu leben, deland besuchte Kurland nochmals 1874 sowie 1882. musste er auch in der Schule lernen, sich zu diszipli- Die Missionsarbeit in Kurland entwickelte sich. Die nieren. Später war er jedoch dankbar für die Zeit, die Gemeinden veranstalteten ein Missionsfestival und er im Seminar verbrachte, einschließlich der Schwie- beteiligten sich an Missionsspenden. Wenn man rigkeiten. Karl war ein fleißiger Schüler, schloss die sich die Protokolle der Synoden des Konsistoriums Ausbildung ab und im Laufe der Zeit ansieht, kann man den Schluss zie- wurde am 2. Juni 1895 hen, dass die Auslandsmission gedieh, wenn es min- ordiniert. destens einen Pastor gab, der dafür „brannte“, in den Drei Tage später wur- Synoden über die Mission berichtete und andere zur de er während einer Teilnahme einlud. Das sehen wir auch im Leben von Missionsfeier beauf- Karl Segebrock. tragt, zu den Wachagga im Kilimanjaro-Gebiet zu gehen. Seine Rei- Karl Segebrocks Weg in die Mission se begann am 17. Juni Karl Segebrock wurde am 4. Januar 1872 in Jelgava gemeinsam mit Ewald (Mitau), der Hauptstadt von Kurland, geboren. Sein Ovir, einem Missionar Vater war Tischler und er hatte einen älteren Bru- aus Estland. Im Au- der. Er besuchte die Grundschule und dann die so- gust erreichten sie das genannte Kreisschule. Bereits während der Schulzeit britisch kontrollierte interessierte sich Segebrock für die Missionsarbeit. Mombasa. Am 2. September reisten sie weiter zum Damals war Ludwig Katterfeld (1843-1910) Pfarrer in Kilimanjaro. Segebrock beschreibt in seinem Ta- der St. Johanneskirche Mitau. Dass Pastor Katterfeld gebuch diese Reise, die voller Schwierigkeiten und für die Auslandsmission brannte, zeigt sein Bericht kriegerischen Gefahren war. Am 19. September ka- auf der Synode des Kurländischen Konsistoriums men sie an der Missionsstation Mamba an. Die bei- von 1885. Segebrock weist darauf hin, dass er in der den Missionare lernten die Landessprachen, hielten Kirche eine leidenschaftliche Predigt eines Missio- Gottesdienste ab und begannen, das Evangelium zu nars gehört und sich entschlossen hätte, selbst Mis- predigen. sionar zu werden. Das zeigt, dass Segebrock in einer Nach etwa einem Jahr Arbeit erhielten sie den Kirche war, die die Flamme der Auslandsmission Ruf, die Missionsarbeit nach Westen auszudehnen. gepflegt und gefördert hat. So machten sie sich im Oktober 1896 auf den Weg Segebrock besuchte den Konfirmandenunterricht. zum Mount Meru für eine neue Missionsstation. Seine Kenntnisse der biblischen Geschichte und des Doch völlig unerwartet wurden sie in der Nacht Katechismus wurden als „sehr gut“ bewertet. Am vom 19. auf den 20. Oktober angegriffen und fanden Palmsonntag 1887 wurde er konfirmiert. Nach der den Märtyrertod. Über dieses sehr traurige Ereig- Konfirmation äußerte Karl gegenüber seinem Pfar- nis wurde sowohl in der lettischen als auch in der rer Katterfeld den Wunsch, Missionar zu werden und deutschen Presse im Baltikum berichtet. Aber es gab denen, die es noch nicht gehört hätten, das Licht des kein Echo und keine Bewertungen der kolonialen Evangeliums zu bringen. Da der bloße Wille nicht Zusammenhänge. Dies liegt wahrscheinlich daran, reicht, arbeitete Segebrock ein Jahr als Lehrassistent dass das Baltikum selbst eine Kolonie innerhalb des an einer kirchlichen Schule, um seine Ausdauer und Russischen Reiches war. sein Talent zu beweisen. Er zeigte Eifer und Fleiß und Wir als lettische Lutheranerinnen und Lutheraner, bestand die Probezeit mit Bravour. Ostern 1889 trat Erben dieser Mission, haben noch einen langen Weg Karl Segebrock in das Leipziger Missionsseminar ein. vor uns, Karl Segebrock und seinen Eifer und Bei- Er verbrachte sechs Jahre im Missionsseminar. Aus trag zur Mission zu erwähnen. dem Baltikum kommend war Segebrock mehr Frei- heiten gewohnt. Manches im Seminar war ihm zu Kristina Ece referiert am 29. Oktober 2021 beim interna- akribisch und kleinkariert. Da er zuvor selbst Lehrer tionalen Online-Symposium (siehe Seite 11). KIRCHE weltweit 3/2021 15
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