Deutscher Ethikrat - Ethische Orientierung zur Frage einer allgemeinen gesetzlichen Impfpflicht

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Deutscher Ethikrat
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Ethische Orientierung zur Frage einer allgemeinen
gesetzlichen Impfpflicht

AD-HOC-EMPFEHLUNG
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          Berlin, 22. Dezember 2021

          Darlegung aktueller Ungewissheit                                            2. Dezember 2021 gebeten, eine sogenannte allgemei-
                                                                                      ne gesetzliche Impflicht2, die bis vor einigen Monaten
          Die Debatte um eine allgemeine Impfpflicht stößt in                         noch vielfach ausgeschlossen wurde, einer erneuten
          einen Raum vielfacher Ungewissheit. Zum einen hat                           Bewertung zu unterziehen und eine „Einschätzung
          sich die Faktenlage im Laufe der nun schon fast zwei                        zu den ethischen Aspekten einer allgemeinen Impf-
          Jahre dauernden Pandemie mehrfach erheblich geän-                           pflicht“ vorzulegen.
          dert. Zum anderen bestehen nach wie vor teils erhebli-                          Der ständige Lern- und Anpassungsprozess in ei-
          che Daten- und Wissenslücken. Nach gegenwärtigem                            ner sich so schnell verändernden wie unberechenba-
          Wissensstand und angesichts neuer Virusvarianten                            ren Pandemie ist nicht leicht zu kommunizieren. Der
          reichen die anfangs ausgerufenen Impfquoten für                             faktischen Unsicherheit aufgrund des dynamischen
          eine Eindämmung der Pandemie nicht aus. Sie müs-                            Mutations- und Infektionsgeschehens entspricht die
          sen deutlich höher sein.1 Trotz einer Impfquote von                         kommunikative Ungewissheit aufgrund sich konti-
          aktuell ca. 70 Prozent der Gesamtbevölkerung stößt                          nuierlich wandelnder Informationsstände, die sich
          das deutsche Gesundheitssystem derzeit vielerorts an                        teils mit Desinformationskampagnen kreuzen. In-
          seine Grenzen. Virusvarianten wie Omikron und er-                           formations- und verwaltungstechnische Strukturen
          wartbar weitere Varianten des Virus nötigen Sachver-                        wurden immer noch nicht den neuen Herausforde-
          ständige dazu, ihre Einschätzungen zum künftigen                            rungen angepasst. Die vielen Belastungen in der Kri-
          Pandemieverlauf immer wieder aufs Neue zu revi-                             se und die individuelle wie kollektive Erfahrung der
          dieren. Dies ist innerhalb des Wissenschaftssystems                         Ungewissheit haben gesellschaftliche Spuren hinter-
          gängige Praxis, führte aber in Politik und Medien teils                     lassen. Der Ton öffentlicher Auseinandersetzungen
          zu Irritationen und Missverständnissen.                                     wird schärfer, die Menschen, die sich am Diskurs be-
              Nach den intensiven gesellschaftlichen Debatten                         teiligen, werden ungeduldiger.
          um die Priorisierung der knappen Impfstoffe und                                 Eine gesetzliche Impflicht ist stets eine erhebliche
          der schwierigen Organisation und Umsetzung der                              Beeinträchtigung rechtlich und moralisch geschütz-
          Impfstrategie, erwartete man im Frühjahr 2021 eine                          ter Güter. Selbstbestimmung über den eigenen Kör-
          deutlich höhere Impfbereitschaft, sobald der Impf-                          per zu erlangen, gehört zu den zentralen Errungen-
          stoffmangel behoben wäre. Diese Prognose ist nicht                          schaften der Demokratie- und Freiheitsgeschichte;
          eingetreten. Die Impfstrategie hat viele Menschen                           Persönlichkeitsrechte haben immer einen Bezug zur
          nicht erreicht – und erreicht sie in Teilen noch im-                        leiblichen Integrität des Menschen. Diese kulturelle
          mer nicht. Vor diesem Hintergrund haben die Bun-                            Dimension muss gerade vor dem Hintergrund der
          desregierung sowie die Ministerpräsidentinnen und                           Medizingeschichte des 20. Jahrhunderts im Blick
          Ministerpräsidenten den Deutschen Ethikrat am                               bleiben. Sie erklärt auch einen Teil der starken Emo-
                                                                                      tionen, die mit dem Thema verbunden sind. Deshalb
          1   Verschiedene Institutionen haben im Verlauf der Pandemie unterschied-   müssen in der Debatte um Impfpflichten sowohl
              liche Ziel-Impfquoten ausgerufen, u. a. die EU-Kommission mindesten
              70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung im Januar 2021 (Europäische
              Kommission 2021, 3). Ganz aktuell wird davon ausgegangen, dass          2   „Allgemein“ – im Unterschied zu einer berufs- oder bereichsbezogenen
              Impfquoten von über 90 Prozent notwendig werden (Robert Koch-               Pflicht; „gesetzlich“ – durch ein Gesetz als Rechtspflicht eingeführt,
              Institut 2021, 2).                                                          deren Einhaltung rechtlich kontrolliert und ggf. sanktioniert wird.
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rechtliche als auch ethische Argumente für wie ge-                    guter Immunschutz vorliegt. Eine solche Pflicht zielt
gen eine allgemeine gesetzliche Impfpflicht gründlich                 daher darauf, gravierende negative Folgen möglicher
abgewogen werden. In diese gründliche Abwägung                        künftiger Pandemiewellen wie eine hohe Sterblich-
müssen auch Fragen der Umsetzung und der mögli-                       keit, langfristige gesundheitliche Beeinträchtigungen
chen Folgen einbezogen werden, weil diese ethische                    signifikanter Bevölkerungsteile oder einen drohen-
und gesellschaftliche Implikationen in sich tragen.                   den Kollaps des Gesundheitssystems abzuschwächen
    Der Deutsche Ethikrat hat sich bereits mehrfach                   oder zu verhindern.
mit der Thematik einer Impfpflicht befasst. Eine
moralische Verpflichtung, sich unter bestimmten
Bedingungen gegen hochinfektiöse Krankheiten                          Veränderte Faktenlage und Situation
impfen zu lassen, hat er im Juni 2019 in seiner Stel-
lungnahme „Impfen als Pflicht?“ zur Masernimpfung                     Noch zu Beginn des Jahres 2021 wurde erwartet, dass
betont.3 Mit Blick auf eine gesetzliche Impfpflicht, die              eine Impfquote von mindestens 70 Prozent der er-
mit rechtlichen Sanktionen verbunden ist, war der                     wachsenen Bevölkerung ausreichen würde, um die
Ethikrat hingegen bisher deutlich zurückhaltender.                    Pandemie mit dem damals vorherrschenden Wild-
In seiner Stellungnahme von 2019 hat er sich für eine                 typ bzw. der Alpha-Variante von SARS-CoV-2 ein-
tätigkeitsbezogene Masernimpfpflicht für bestimmte                    zudämmen.6 Die Impfstoffe zeigten kurz vor bzw.
Berufsgruppen ausgesprochen; eine Masernimpf-                         nach ihrer Einführung in Studien sehr günstige
pflicht für alle, insbesondere für Kinder, hingegen ab-               Wirksamkeits- und Sicherheitsprofile. Es bestand
gelehnt. In der Covid-19-Pandemie hat der Ethikrat                    die Hoffnung, dass sie nicht nur das Risiko schwerer
im November 2021 die rasche Prüfung einer Impf-                       Verläufe und Todesfälle wirksam reduzieren, son-
pflicht für Beschäftigte in besonderer beruflicher                    dern auch die Virusübertragung deutlich verringern,
Verantwortung empfohlen.4 Eine undifferenzierte,                      vielleicht sogar weitgehend unterbinden würden. Mit
allgemeine Impfpflicht gegen SARS-CoV-2 hat er                        der seit Ende Juni 2021 in Deutschland dominieren-
demgegenüber im gemeinsamen Positionspapier mit                       den, ansteckenderen Delta-Variante7 wurden deut-
der Ständigen Impfkommission (STIKO) und der                          lich höhere Impfquoten erforderlich (mindestens 85
Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldi-                      Prozent der 12- bis 59-Jährigen bzw. 90 Prozent der
na im November 2020 ausgeschlossen und dies drei                      über 60-Jährigen), um bei künftigen Infektionswel-
Monate später im Februar 2021 in seiner Ad-hoc-                       len erneute bedrohliche Folgen zu vermeiden.8 Diese
Empfehlung zum Umgang mit Geimpften nochmals                          Impfquoten sind bei Weitem nicht erreicht worden.9
bestätigt, weil er sie zum damaligen Zeitpunkt weder                  Zudem ist zum jetzigen Zeitpunkt unklar, ob ange-
für notwendig noch für ethisch vertretbar hielt.5                     sichts der neuen Omikron-Variante eine noch höhere
    Mit dieser Empfehlung möchte der Deutsche                         Impfquote erforderlich werden könnte.
Ethikrat einen Beitrag zur ethischen Urteilsbildung in                    Hinzu kommt, dass im Laufe der Zeit der Infek-
Bezug auf die allgemeine gesetzliche Impfpflicht leis-                tionsschutz nachlässt. Es kann trotz Impfung zu In-
ten. In jedem Fall gilt, dass andere Instrumente der                  fektionen kommen (im Infektionsfall mit klinischer
Pandemiebekämpfung darüber keinesfalls vernach-                       Symptomatik dann Impfdurchbruch genannt). Der
lässigt werden dürfen, um Menschen vor schwerer                       Schutz vor schweren Verläufen besonders bei älteren
Erkrankung oder Tod zu schützen, das Gesundheits-                     und/oder vorerkrankten geimpften Menschen kann
system und die in diesem Feld Beschäftigten deutlich                  sinken, sodass mindestens eine dritte Impfung not-
zu entlasten sowie alles zu tun, damit so schnell wie                 wendig wird („Booster“- bzw. Auffrischimpfung).10
möglich aus der unkontrollierten pandemischen eine                    Auch der Schutz von Genesenen vor Reinfekti-
kontrollierte endemische Lage wird. Das gilt zumal in                 on und schwerem Verlauf nimmt mit der Zeit ab.11
zeitlicher Perspektive: Auch eine noch einzuführende
allgemeine gesetzliche Impfpflicht wird die gegen-                    6  Europäische Kommission 2021, 3.
                                                                      7  Robert Koch-Institut 2021, 2.
wärtige vierte Infektionswelle nicht brechen können,                  8  Wichmann et al. 2021, 3.
da es einige Zeit dauert, bis bei den Personen, die sich              9  Gemäß Impfdashboard.de [Stand: 20.12.2021, 10:36] sind 70,3 Prozent
                                                                         der Bevölkerung vollständig geimpft, 75,5 Prozent der 12- bis 59-Jährigen
wegen ihrer Einführung nunmehr impfen lassen, ein                        bzw. 86,9 Prozent der über 60-Jährigen. 3,2 Millionen Menschen über 60
                                                                         Jahre sind noch nicht vollständig geimpft. Insgesamt sind 26,7 Prozent
                                                                         der Bevölkerung noch gar nicht geimpft, u.a. die insgesamt 4,8 Prozent
3 Deutscher Ethikrat 2019.                                               der 0- bis 4-Jährigen.
4 Deutscher Ethikrat 2021a.                                           10 Die Auffrischimpfung ist für alle Personen ab 18 Jahren in Deutschland
5 Ständige Impfkommission/Deutscher Ethikrat/Nationale Akademie der      durch die STIKO empfohlen (Ständige Impfkommission 2021, 7 ff.).
  Wissenschaften Leopoldina 2020; Deutscher Ethikrat 2021b.           11 Grant et al. 2021.
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          Schließlich besteht die Gefahr – aktuell relevant                          Grundlegende empirische Voraussetzungen
          bei der Omikron-Variante – dass sich sogenannte
          Immunflucht-Varianten bilden. So kann es zu einer                          Bevor verfassungsrechtliche und ethische Aspekte
          weiteren Schwächung des Schutzes vor Übertragung                           einer allgemeinen Impfpflicht erörtert und daraus
          wie vor schwerem Krankheitsverlauf kommen. Vor-                            Empfehlungen für das weitere Vorgehen abgeleitet
          aussichtlich müssen daher Impfstoffe angepasst und                         werden können, ist auf einige grundlegende empi-
          Impffrequenzen überprüft werden.                                           rische Voraussetzungen hinzuweisen. Dieser Text
              Nach den Erfahrungen des vergangenen Jahres                            wurde – wie alle Texte des Ethikrates im Verlauf der
          war für den Herbst 2021 mit steigenden Inzidenzen                          Corona-Krise – verfasst unter den Bedingungen der
          zu rechnen. Diese Entwicklung erklärt sich einerseits                      dynamischen Entwicklung der Pandemie, vor dem
          aus der im Laufe der Zeit nachlassenden Immunität                          Hintergrund der aktuell zu Verfügung stehenden em-
          und andererseits aus der vergleichsweise niedrigen                         pirischen Erkenntnisse über die Pandemie und ihrer
          Impfquote sowie der deutlich zu spät angelaufenen                          Unsicherheit. Von erheblicher Relevanz sind in die-
          Booster-Kampagne. In der Folge sind auch zahlrei-                          ser Hinsicht:
          che Fälle mit schweren und tödlichen Verläufen zu
          verzeichnen; es droht erneut eine Überlastung des                          • das Ausmaß, in dem der Immunschutz nach Imp-
          Gesundheitssystems. Aktuell ist das Umverteilen von                          fung oder Infektion nachlässt und es zu Impf-
          schwer Erkrankten über das Bundesgebiet erforder-                            durchbrüchen beziehungsweise Reinfektionen
          lich und es kommt zu erheblichen gesundheitlichen                            kommt;
          Risiken, Belastungen und Einbußen. Diese Ein-                              • die Wirksamkeit von Auffrischimpfungen und die
          schränkungen betreffen nicht nur die an Covid-19                             Häufigkeit, mit der diese notwendig werden;
          Erkrankten. Auch die medizinische Versorgung von                           • die konkrete, regional stark variierende Belastung
          Patientinnen und Patienten mit anderen Erkrankun-                            der Krankenhäuser;
          gen oder nach Unfällen kann unter Umständen selbst                         • die Infektiosität, Pathogenität und das Ausmaß ei-
          im Notfall nicht mehr gesichert werden. Die Sorge                            ner Immunflucht der Omikron-Variante;
          vor einer echten Triage12 ist konkret wie nie zuvor.                       • die Entstehung weiterer Varianten;
              Nach wie vor bietet die Impfung den besten Schutz                      • die weitere Entwicklung der Impfquoten;
          vor schweren Erkrankungen an Covid-19 und stellt                           • die Zahl der geimpften und ungeimpften Perso-
          ein unverzichtbares Mittel dar, um in eine kontrol-                          nen;
          lierte endemische Situation zu kommen.13 Dass die                          • die Verteilung dieser Personengruppen in der Be-
          aus den oben beschriebenen Gründen erforderlichen                            völkerung;
          hohen Impfquoten eindeutig nicht erreicht wurden,                          • die Gründe für den regional sehr unterschiedlich
          lässt sich zum einen auf strukturelle Defizite zurück-                       erfolgreichen Verlauf der Impfkampagne, insbe-
          führen (anfängliche Impfstoffknappheit, teils sto-                           sondere mit Blick auf noch erreichbare Personen.
          ckende Impfkampagne, zu wenig niedrigschwelliges
          und aufsuchendes Impfen, Probleme in der Kom-                              Die folgenden Überlegungen beruhen daher auf ei-
          munikation etc.). Zum anderen bestehen offenkun-                           nem sich kontinuierlich verändernden Wissensstand.
          dig Pandemiemüdigkeit sowie Grenzen bei der frei-                          Hieraus folgt die konsequente Revisionsoffenheit
          willigen Impfbereitschaft: In verschiedenen Studien                        und -bedürftigkeit der folgenden Ausführungen und
          gibt ein beträchtlicher Teil der jeweils befragten un-                     Empfehlungen. Sie müssen bei Bedarf überprüft und
          geimpften Menschen an, sich unabhängig von allen                           angepasst und/oder weiterentwickelt werden, um ei-
          Risiken, Angeboten und Einschränkungen in abseh-                           ner veränderten Faktenlage oder einem verbesserten
          barer Zeit nicht freiwillig impfen lassen zu wollen.14                     Wissensstand Rechnung zu tragen.
                                                                                        So ist beispielsweise bereits jetzt erkennbar, dass
                                                                                     sich eine allgemeine gesetzliche Impfpflicht sinnvol-
          12 Deutscher Ethikrat 2020; Online-Dokumentation des Forum Bioethik
             „Triage – Priorisierung intensivmedizinischer Ressourcen unter Pande-   lerweise nicht nur auf die einfache oder zweifache
             miebedingungen“ vom 24. März 2021 unter https://www.ethikrat.org/       Impfung beziehen kann. Um eine gute Immunität zu
             forum-bioethik/triage-priorisierung-intensivmedizinischer-ressourcen-
             unter-pandemiebedingungen [20.12.2021].                                 erreichen, ist vielmehr nach jetzigem Kenntnisstand
          13 Dies entspricht nicht der sogenannten Herdenimmunität, sondern          mindestens eine Auffrischimpfung erforderlich.
             „nur“ einer hinreichenden Grundimmunität, die zu einer weitgehenden
             Reduzierung der Viruszirkulation auf der Bevölkerungsebene führt.       Ob weitere Auffrischimpfungen für eine bestimmte
          14 Befragungen zufolge besteht bei über 60 Prozent der Ungeimpften kei-    Zeit oder regelmäßig, eventuell auch mit angepass-
             ne Bereitschaft, sich zeitnah impfen zu lassen (forsa 2021, 20; COSMO
             2021).                                                                  ten Impfstoffen, notwendig werden könnten, kann
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derzeit nicht vorhergesagt werden, sollte aber mitbe-                    Impfpflicht darf hingegen nur dann zum Einsatz
dacht und offen kommuniziert werden. Nicht zuletzt                       kommen, wenn die Bewältigung einer schweren Kri-
angesichts der Virusvariante Omikron spricht vieles                      se ohne diese Maßnahme absehbar nicht erfolgreich
dafür, dass Folgeimpfungen notwendig sein werden.                        sein kann. Gegenüber allzu zugespitzten Debatten
     Außerdem muss festgehalten werden, dass die                         ist es dem Deutschen Ethikrat wichtig, auf die Viel-
deutsche Impfstrategie im Vergleich zu anderen Staa-                     schichtigkeit des Themas hinzuweisen. „Die“ allge-
ten deutlich weniger erfolgreich war. Dazu mögen                         meine gesetzliche Impfpflicht gibt es nicht; vielmehr
kulturelle Prägungen, das jeweilige Gesellschaftsbild                    sind unterschiedliche Ausgestaltungen mit jeweils
sowie unterschiedlich ausgebildetes Vertrauen in po-                     eigenen Anforderungen und Konsequenzen zu be-
litisches und staatliches Handeln beigetragen haben,                     rücksichtigen. Zudem müssten, selbst wenn unter
teils auch mancherorts deutlich dramatischere Er-                        bestimmten Voraussetzungen eine gesetzliche und
fahrungen in den ersten Infektionswellen oder auch                       sanktionsbewehrte allgemeine Impfpflicht für recht-
ein anderer Umgang mit Themen der öffentlichen                           lich wie ethisch zulässig erachtet würde, weiterhin
Gesundheit. Regionale Unterschiede der Impfquo-                          erhebliche Anstrengungen unternommen werden,
ten innerhalb Deutschlands weisen aber auch darauf                       möglichst viele Menschen für eine freiwillige Imp-
hin, dass die Impfstrategie in vielem, von der Logistik                  fung zu gewinnen. Auch eine allgemeine Impfpflicht
über die Ansprache, von aufsuchendem Impfen bis                          ist kein Allheilmittel gegen die Pandemie. Stattdessen
hin zu schnellen, lösungsorientierten Anpassungen,                       darf sie nur als Teil einer umfassenden, evidenzba-
deutlich hinter dem Möglichen zurückgeblieben ist.                       sierten, differenzierten und vorausschauenden Pan-
Auch fehlt immer noch eine solide Datenbasis, um                         demie-Gesamtstrategie erwogen werden.
zu erklären, warum in bestimmten Milieus, sozialen
Gruppierungen oder Regionen eine Impfung stärker
abgelehnt wird als in anderen, gerade weil die Mo-                       Verfassungsrechtliche Überlegungen zur
tive und Lebenslagen ungeimpfter Menschen sehr                           Verhältnismäßigkeit
vielgestaltig sind.15 Darunter sind Personen, die eine
Impfung auf jeden Fall ablehnen, aber auch prinzi-                       Aus verfassungsrechtlicher Perspektive konstituiert
piell erreichbare Bevölkerungsgruppen, unter denen                       eine gesetzliche Impfpflicht einen erheblichen Ein-
einige auch außerhalb einer Pandemie Hürden in der                       griff in verfassungsrechtlich geschützte Rechtsposi-
Gesundheitsversorgung begegnen, sowie solche Men-                        tionen, vor allem in die körperliche Unversehrtheit
schen, die sich aufgrund einer individuellen Risiko-                     (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). Diese umfasst grundsätzlich
abwägung vorerst gegen eine Impfung entscheiden.                         auch das Recht, objektiv gesundheitsdienliche, aber
Gleichzeitig verdeutlicht die laufende Booster- Impf-                    subjektiv abgelehnte Behandlungen zu verweigern.
kampagne, dass die Defizite in der Impf-Infrastruktur                    Hierbei handelt es sich allerdings nicht um absolute
teilweise weiterhin bestehen. Wären diese verschiede-                    Garantien. Maßnahmen zum Schutz anderer Men-
nen Probleme gelöst worden, hätte sich bereits eine                      schen bzw. der Allgemeinheit sind daher verfassungs-
deutlich höhere Impfquote erreichen lassen. Das hät-                     rechtlich prinzipiell möglich. Zwar mag der Fremd-
te dazu beigetragen, die aktuellen Gefahren für die                      schutzaspekt eine gewisse Verdinglichung, im Sinne
Bevölkerung unter anderem infolge der Überlastung                        einer partiellen Inanspruchnahme des eigentlich dem
des Gesundheitswesens zu verringern sowie erneute,                       staatlichen Zugriff entzogenen Körpers, beinhalten,
einschneidende Maßnahmen gegen die Pandemie zu                           doch liegt hierin für sich genommen kein Verstoß
vermeiden. Es greift daher zu kurz, wenn man die zu                      gegen die Menschenwürdegarantie vor. Eingriffe in
geringe Impfquote allein der mangelnden individu-                        die Grundrechte können deshalb gerechtfertigt sein,
ellen Verantwortungsübernahme eines Teils der Be-                        soweit sie auf parlamentsgesetzlicher Grundlage er-
völkerung zurechnet, der sich bisher einer Impfung                       folgen und bestimmten zusätzlichen Anforderungen
entzieht. Solche Schuldzuweisungen sind einseitig,                       genügen. Namentlich ist auf die rationalisierende, ho-
verschärfen die gesellschaftliche Debatte und ka-                        heitliche Handlungsoptionen limitierende Wirkung
schieren strukturelle Versäumnisse.                                      des Übermaßverbots (Verhältnismäßigkeitsprinzips)
     Der Deutsche Ethikrat sieht eine grundsätzliche                     hinzuweisen. Demnach müssen staatliche Maßnah-
moralische Verpflichtung, durch eine Impfung sich                        men (1) ein legitimes Ziel verfolgen und zur Errei-
und andere zu schützen. Eine allgemeine gesetzliche                      chung dieses Ziels (2) geeignet, (3) erforderlich und
15 https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/web/topic/impfung/10-
                                                                         (4) angemessen sein. Dieses sequenzialisierte Prüf-
   impfungen/#gründe-des-nicht-impfens [20.12.2021]; forsa 2021, 5 ff.   verfahren dient dazu, die Frage nach der Zulässigkeit
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          insbesondere grundrechtsbeschränkenden Vorge-                                          (2) Geeignet ist eine gesetzliche Impfpflicht, wenn
          hens des Staates in geordneter, problemabschich-                                   sie als Mittel den angestrebten Zweck zumindest för-
          tender Form zu beantworten. Dabei ist zu berück-                                   dert, also nicht von vornherein untauglich ist. Letz-
          sichtigen, dass das Bundesverfassungsgericht dem                                   teres ist erkennbar ein Ausnahmefall. Angesichts der
          demokratisch legitimierten Gesetzgeber bei Maßnah-                                 unvermeidbaren zeitlichen Vorläufe, bis derzeit noch
          men zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie ange-                                     nicht geimpfte Personen nach einer Impfung einen
          sichts der Dynamik und der Komplexität der Situa-                                  ausreichenden Impfschutz entwickeln, wäre ein sol-
          tion und der großen Bedeutung der zu schützenden                                   cher Ausnahmefall etwa dann anzunehmen, wenn
          Rechtsgüter einen weiten Einschätzungs- und Beur-                                  die gesetzliche Impfpflicht dazu dienen sollte, akuten
          teilungsspielraum zuerkannt hat.16                                                 Gefährdungen – seien sie individueller, seien sie sys-
              (1) Die Frage nach dem legitimen Ziel zeigt, dass                              temischer Natur – direkt entgegenzuwirken.
          die Bewertung einer gesetzlichen Impfpflicht nicht                                     (3) Eine gesetzliche Impfpflicht ist zur Errei-
          abstrakt erfolgen kann, sondern ein konkretes Re-                                  chung der gesetzten Ziele erforderlich, wenn kein
          gelungskonzept als Untersuchungsobjekt und eine                                    mindestens ebenso effektives, milderes Mittel dafür
          spezifische, hierauf bezogene staatliche Zielsetzung                               vorhanden ist. Hier sind alternative Regelungsopti-
          erfordert.                                                                         onen zu prüfen. Von entscheidender Bedeutung ist
              Entscheidend ist zunächst, ob eine gesetzliche                                 dabei das Element der Gleicheffektivität, denn mil-
          Impfpflicht dazu dienen soll, die zur Impfung ver-                                 dere Maßnahmen sind selbstredend stets vorstellbar.
          pflichteten Personen selbst vor einer Erkrankung zu                                Zu berücksichtigen ist damit zugleich die zeitliche
          schützen, oder ob sie dem Schutz anderer Menschen                                  Reihenfolge möglicher Handlungsalternativen und
          und der Allgemeinheit dient. Dabei würde der Selbst-                               die Dringlichkeit staatlicher Reaktionen. So wird zu
          schutz der bislang ungeimpften Personen als Ziel ei-                               Recht darauf hingewiesen, die Erforderlichkeit einer
          ner gesetzlichen Impfpflicht nicht genügen. Zu Recht                               Impfpflicht scheitere nicht schon allein deshalb, weil
          verweist das Bundesverfassungsgericht (im Kontext                                  sie stets einen gewissen zeitlichen Vorlauf benötigt
          von Zwangsbehandlungen oder der Suizidhilfe) auf                                   und andere, schneller wirkende Mechanismen exis-
          die Maßgeblichkeit des Willens des Grundrechtsträ-                                 tieren. Ebenso wird man zwar staatliches Vorverhal-
          gers, „der sich einer Bewertung anhand allgemeiner                                 ten nicht völlig außer Acht lassen können; in einer
          Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaft-                                akuten Notlage dürfte aber der Verweis auf ungenü-
          licher Leitbilder für den Umgang mit Leben und                                     gende staatliche Vorarbeiten nicht ausreichen, kon-
          Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit                                    krete Maßnahmen auszuschließen.19 Deshalb genü-
          entzieht“.17                                                                       gen die oben genannten Defizite der Impfstrategie für
              Aber auch die „Anhebung der Impfquote“ für sich                                sich gesehen nicht, um eine allgemeine Impfpflicht
          genommen dürfte als Ziel einer gesetzlichen Impf-                                  pauschal für nicht erforderlich zu erklären.
          pflicht unzureichend sein; vielmehr müsste der Ge-                                     Allerdings ist vor dem Hintergrund dieser Defizite
          setzgeber begründen, inwieweit diese dem Schutz an-                                wie der benannten zeitlichen Abläufe zu begründen,
          derer Menschen dient und insbesondere vulnerable                                   warum ohne eine gesetzliche Impfpflicht auch für
          Personen schützt.18 Dabei macht es ersichtlich einen                               die Zukunft keine ausreichend hohe Impfquote zu
          erheblichen Unterschied, ob es darum geht, Neuin-                                  erwarten wäre, selbst wenn die entsprechenden An-
          fektionen so weit wie möglich zu reduzieren, oder                                  strengungen intensiviert würden und die freiwilligen
          lediglich darum, eine Zahl an (Neu-)Infektionen zu                                 Impfungen zunähmen. In diesem Zusammenhang
          erreichen, die im Gesundheitssystem ohne größere                                   wäre auch zu erörtern, wie sich die zu erwartende
          Verwerfungen handhabbar ist. Gleiches gilt für die                                 Zulassung proteinbasierter Impfstoffe auf die Impf-
          Festlegung, ob durch die Impfpflicht kurz-, mittel-                                bereitschaft auswirken mag. Zu berücksichtigen ist
          und/oder langfristige Effekte angestrebt werden.                                   dabei weiterhin, dass mit den zunehmend eingesetz-
                                                                                             ten „2G“-Regelungen bereits eine staatlich induzierte,
          16 BVerfG, Beschluss vom 19.11.2021 – Bundesnotbremse I (Ausgangs- und             aber nur mittelbar sanktionierte Impfpflicht existiert.
             Kontaktbeschränkungen), Az.: 1 BvR 781/21 usw., Rn. 171, 185, 202, 204 f.,      Umgekehrt stellen diese Regelungen indes, ebenso wie
             216 f. (http://www.bverfg.de/e/rs20211119_1bvr078121.html); BVerfG,
             Beschluss vom 19.11.2021 – Bundesnotbremse II (Schulschließungen),              härtere Kontaktbeschränkungsmaßnahmen („Lock-
             Az.: 1 BvR 971/21, 1 BvR 1069/21, Rn. 114, 122, 134 f. (http://www.bverfg.de/   down“) ebenfalls intensive Grundrechtseingriffe dar,
             e/rs20211119_1bvr097121.html).
          17 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26.02.2020, Az.: 2 BvR 2347/15
             usw., Rn. 210 (http://www.bverfg.de/e/rs20200226_2bvr234715.html);              19 BVerfG, Beschluss vom 19.11.2021 – Bundesnotbremse II (Schulschließun-
             vgl. BVerfGE 128, 282 (308); 142, 313 (339).                                       gen), Az.: 1 BvR 971/21, 1 BvR 1069/21, Rn. 175 ff. (http://www.bverfg.de/e/
          18 So jetzt BT-Drs. 20/188 (bereichsbezogene Impfpflicht).                            rs20211119_1bvr097121.html).
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die im Vergleich mit einer gesetzlichen Impfpflicht        Vertiefungen der durch die Pandemie und ihre Be-
nicht ohne Weiteres als „milder“ einzustufen sind.         kämpfung bereits eingetretenen Schäden verhindern
Sowohl aus Gründen der Effektivität wie des Kont-          (etwa im Bereich der Bildung von Kindertagesstätten
rollaufwands dürfte es hingegen nicht ausreichen, auf      bis zu den Hochschulen, in Wirtschaft und Kultur).
ein umfassendes und durchgehendes Testregime als                Dem steht eine Belastung der ungeimpften Per-
alternatives Mittel zu verweisen. Gleichwohl bliebe        sonen gegenüber. Unangemessen wäre es jedenfalls,
dieses wichtige, zwischenzeitig vernachlässigte Mittel     wenn Personen zur Impfung verpflichtet würden, die
zur Pandemiebewältigung parallel zu einer mögli-           im Einzelfall aus gesundheitlichen Gründen nicht ge-
chen Impfpflicht relevant.                                 impft werden sollten, da sie dann ein stark erhöhtes
    Unter Erforderlichkeitsgesichtspunkten zu klären       gesundheitliches Risiko tragen müssten. Auch wenn
wäre ferner erstens, wie sich eine mögliche allgemei-      diese Fälle selten sein mögen, ist es aus verfassungs-
ne gesetzliche Impfpflicht zu der jüngst beschlosse-       rechtlicher Sicht notwendig, solche Ausnahmekons-
nen, einrichtungsbezogenen gesetzlichen Impfpflicht        tellationen zu regeln.
verhielte. Auch wenn der Gesetzgeber aus verfas-                Auch bei insoweit impffähigen Personen ist die
sungsrechtlichen Gründen nicht zu einer strengen           Impfpflicht jedoch nicht bereits wegen des objektiv
Regelungskonsistenz verpflichtet ist, wäre es doch be-     geringen Risikos, das mit den Impfungen verbunden
denklich, wenn nicht zunächst geprüft würde, inwie-        ist, als angemessen anzusehen. Der Schutz der körper-
weit dieses Instrument ausreicht, um die gesteckten        lichen Unversehrtheit beinhaltet, wie bereits erwähnt,
Ziele zu erreichen. Zweitens und noch grundlegender        auch den Schutz der eigenen Risikoeinschätzung. Das
stellt sich die Frage, ob nicht allgemein eine nicht die   verweist auf die Bedeutung sorgfältiger Aufklärung.
gesamte (impffähige) Bevölkerung erfassende Impf-          Darüber hinaus kommt es für die Abwägung dar-
pflicht, sondern eine Regelung, die eine risikoprofil-     auf an, welchen Umfang die Impfpflicht haben soll,
bezogene Staffelung beinhaltet, ein gleichgeeignetes,      in zeitlicher Hinsicht und hinsichtlich der Zahl der
aber milderes Mittel darstellt.                            Impfungen, welche Impfstoffe mit welchem Nutzen-/
    (4) Angemessenheit setzt voraus, dass der Nut-         Risikoprofil vorgesehen sind, ob eine Auswahlmög-
zen der Maßnahme nicht außer Verhältnis zu den             lichkeit besteht und wie faktischen Zugangsbarrieren
dadurch herbeigeführten Beeinträchtigungen stehen          entgegengewirkt wird.
darf. Insoweit ist erneut auf die konkrete Zweck-Mit-           In der politischen Debatte wird häufig eine Dif-
tel-Relation abzustellen.                                  ferenzierung vorgenommen zwischen einer (für zu-
    Der Deutsche Ethikrat hat schon in früheren Ver-       lässig erachteten) Impfpflicht und einem (angeblich
öffentlichungen betont, dass der entscheidende Ge-         inakzeptablen) Impfzwang. Ungeachtet der diesbe-
sichtspunkt nicht das Verhindern jeglicher Erkran-         züglich zu beachtenden rechtlichen Vorgaben (sie-
kung (selbst schwerer oder tödlicher Verläufe) sein        he S. 16 f.) ist im Hinblick auf das Übermaßverbot
kann, sondern dass auf hohe Sterblichkeit, langfris-       hervorzuheben, dass der Gesetzgeber bestimmte
tige gesundheitliche Beeinträchtigungen großer Be-         Zwangsmaßnahmen ausschließen kann. Allerdings
völkerungsteile oder die drohende Überlastung des          ist eine sanktionsbewehrte Rechtspflicht begriffsnot-
Gesundheitswesens abzustellen ist.20 Mittelbar dient       wendig mit staatlichen Vollstreckungsmaßnahmen
dies zugleich dazu, Leben und Gesundheit potenziell        und daher auch mit staatlicher Gewaltanwendung
gefährdeter Menschen durch ungeimpfte Personen             gekoppelt. In jedem Fall müssen Vollstreckungsmaß-
zu schützen. Ferner kann eine Impfpflicht mittel- bis      nahmen verfassungsrechtlichen Maßstäben genügen
langfristig dazu beitragen, weitergehende Eingriffe in     und vor allem verhältnismäßig sein. Das setzt insbe-
Grundrechte durch Schutzmaßnahmen zu vermei-               sondere eine eskalierende Stufenfolge voraus. Wenn
den, die bei hoher Impfquote nicht erforderlich wä-        und soweit die zu vollstreckende Maßnahme, hier die
ren (etwa: Ausgangssperren, Reiseverbote, Quaran-          Impfung, als solche verfassungsrechtlichen Anforde-
täne; Auftrittsverbote, Gefährdungen der beruflichen       rungen genügt, ist kaum ersichtlich, warum – dies-
Existenz oder des Rechts auf Bildung; Beeinträchti-        seits politischer Opportunitäten und auch rechtlich
gungen des privaten Bereichs: Ehe und Familie, Re-         relevanter Praktikabilitätserwägungen – bestimmte
ligionsfreiheit; Beeinträchtigungen der gesellschaft-      Vollstreckungsformen ausgeschlossen sein sollten.
lich-demokratischen Willensbildung: insbesondere           Auch andere rechtliche Konsequenzen, die der Ge-
Versammlungsfreiheit). Sie könnte damit weitere            setzgeber an die Impfpflicht bzw. ihre Nichteinhal-
                                                           tung knüpft (indirekte Durchsetzung), müssen diesen
20 Deutscher Ethikrat 2020.                                verfassungsrechtlichen Maßstäben genügen.
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          Relevante ethische Grundsätze                             körperlichen (darunter medizinische) Eingriffe einer
                                                                    informierten, freiwilligen Zustimmung bedürfen. Ge-
          Aus ethischer Perspektive muss eine allgemeine ge-        rade in Deutschland, mit seiner Geschichte medizini-
          setzliche Impfpflicht nicht nur verfassungsrechtlich,     scher Zwangsmaßnahmen, genießen das Prinzip der
          sondern auch moralisch akzeptabel sein. Dabei sind        körperlichen Selbstbestimmung und das Recht auf
          die folgenden ethischen Grundsätze von besonderer         körperliche Unversehrtheit aus guten Gründen einen
          Relevanz.                                                 enorm hohen und auch rechtlich umfangreich kodifi-
                                                                    zierten Schutz, auch weil bei Eingriffen in die körper-
          Freiheit                                                  liche Selbstbestimmung und Integrität eine Dimensi-
          Für unsere Gesellschaft ist das Prinzip menschlicher      on der Menschenwürde berührt ist. Entsprechend ist
          Freiheit fundamental und durch die Verfassung in          in Deutschland der eigene Körper weitgehend staatli-
          vielerlei Hinsicht geschützt. Freiheit kommt jedem        cher Gewalt und gesellschaftlicher Verfügung entzo-
          Menschen aus sich heraus zu. Nicht die Freiheit, son-     gen. Selbst wer sich große körperliche Risiken bis hin
          dern jede ihrer beabsichtigten Beschränkungen ist         zur groben Unvernunft aussetzt, kann dies im Sinne
          rechtfertigungsbedürftig. Freiheit besteht zunächst       der Selbstbestimmung tun, ohne vom Staat daran ge-
          darin, innere wie äußere Einflüsse, Eingrenzungen         hindert zu werden. Paternalistische Einschränkungen
          oder Zwänge abzuwehren. Insofern ist die Aufer-           gibt es nur in wenigen Fällen. Der bewusste Eingriff
          legung von gesetzlichen Pflichten eine Begrenzung         in die körperliche Unversehrtheit von staatlicher Sei-
          von Freiheit – jedenfalls dann, wenn diese Pflichten      te erfordert daher immer sehr gute Gründe; entspre-
          nicht schon als moralische Verpflichtungen erkannt        chend steht eine gesetzliche Impfpflicht unter einer
          und aus Einsicht freiwillig übernommen werden.            hohen Rechtfertigungslast.
          Deshalb müssen solche Pflichten sorgfältig begrün-            Das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen
          det und gegen das hohe Gut persönlicher Freiheit          Körper gilt allerdings nicht absolut. Die eigene Fahr-
          abgewogen werden. Dies kann im Bewusstsein ge-            lässigkeit, Unvernunft oder auch besonders riskantes
          schehen, dass die individuelle Freiheit des einen nicht   Verhalten darf nicht dazu führen, andere möglicher-
          nur an den Grenzen der individuellen Freiheit aller       weise substanziell zu schädigen. Denn ebenso wie die
          anderen endet (kollektive Dimension individueller         Freiheit des einen in Einklang stehen muss mit den
          Freiheiten). Vielmehr verdankt sich die individuelle      Freiheiten der anderen, muss die körperliche Selbst-
          Freiheit jeder einzelnen Person überhaupt erst einem      bestimmung und Unversehrtheit der anderen glei-
          freiheitsermöglichenden bzw. -förderlichen Zusam-         chermaßen berücksichtigt werden. Das gilt allemal in
          menleben mit allen anderen. Die Pandemie führt            einer Pandemie. Bei einem hochansteckenden Virus
          diesen grundsätzlichen Sachverhalt vor Augen: Ein         sind nicht nur jene betroffen, die sich nicht impfen
          funktionierendes Gesundheitswesen, das durch eine         lassen wollen, sondern auch jene, die – ohne dies
          solidarische Gesellschaft gewährleistet wird, ist im      zu wählen oder selbst abwehren zu können – durch
          Falle einer schweren Erkrankung eine wesentliche          (erneute) Infektion gesundheitlich eingeschränkt
          Voraussetzung, um individuelle Freiheit zu behalten       werden könnten oder die körperliche Schäden erlei-
          oder gegebenenfalls wiederzuerlangen. Die Pandemie        den, weil sie angesichts des großen Covid-19-Krank-
          führt vor Augen, dass unterschiedliche Freiheiten zu-     heitsaufkommens medizinisch nicht oder erst später
          sammenhängen; die Freiheit, Bildung als essenzielles      behandelt werden können, etwa weil Operationen
          Gut zu erlangen sowie Kultur, Freizeit etc. umfassend     abgesagt und Therapien verschoben werden. In der
          zu genießen, lässt sich nur gewährleisten, solange        Pandemie steht die körperliche Unversehrtheit des
          die Pandemie unter Kontrolle ist. Dasselbe gilt auch      einen im direkten Zusammenhang mit der körperli-
          für die Freiheit beruflicher Lebensgestaltung für vie-    chen Unversehrtheit von anderen, wenn es um eine
          le Millionen Menschen etwa in Handel, Kultur oder         Infektion und dementsprechende potenzielle sub-
          Gastronomie, deren materielle Existenz von der Zu-        stanzielle Gefährdung geht. Gegenwärtig relevant
          gänglichkeit ihrer Angebote abhängig ist.                 sind aufgrund der Verfügbarkeit von Impfstoffen vor
                                                                    allem die indirekten Effekte, die sich ergeben, wenn
          Selbstbestimmung über den eigenen Körper                  die Wahrnehmung des Rechts auf körperliche Un-
          Aus der Freiheit folgt unmittelbar die Selbstbestim-      versehrtheit in Form von Entscheidungen gegen eine
          mung. Sie gilt in besonderem Maße über den eigenen        Impfung zu kollektiven Effekten der Überlastung von
          Körper. Auf den Körper bezogene bzw. körperliche          Krankenhäusern und Intensivstationen führt. Diese
          Selbstbestimmung fordert, dass in der Regel alle          können alle betreffen, die eine (intensivmedizinische)
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Behandlung benötigen, ob sie nun an Covid-19 oder        werden dürfen oder dass neue Ungerechtigkeiten
etwas anderem leiden.                                    entstehen könnten.
                                                             Diejenigen, die eine Impfpflicht für gerecht hal-
Nichtschädigung und Integritätsschutz                    ten, verweisen zunächst auf das Problem des Zugangs
Damit ist der ethische Grundsatz der Nichtschädi-        zu angemessener Gesundheitsversorgung bei akutem
gung bzw. des Integritätsschutzes berührt. Er gebie-     medizinischen Behandlungsbedarf. Im Laufe der ak-
tet, dass mögliche Schäden, die sich aus einer in Rede   tuellen Pandemie werden wichtige klinische Behand-
stehenden Maßnahme oder Intervention ergeben             lungskapazitäten nicht nur de facto in großem Um-
können, sorgfältig antizipiert und so weit wie mög-      fang von ungeimpften Covid-19-Patientinnen und
lich minimiert werden. Dazu gehören auch solche          -Patienten in Anspruch genommen. Zusätzlich wer-
Schäden, die durch das Unterlassen bestimmter, ei-       den Ressourcen für an Covid-19 Erkrankte reserviert.
gentlich verfügbarer und erforderlicher Maßnahmen        Personen, die aus anderen Gründen behandlungs-
oder Interventionen entstehen. Zu potenziellen Schä-     bedürftig werden, erfahren entsprechend erhebliche
den zählen nicht nur körperliche Beeinträchtigungen,     Einbußen der medizinischen Versorgung. Das hierin
sondern auch alle Faktoren, die die Lebenslage eines     zum Ausdruck kommende gravierende Problem der
Menschen oder einer Personengruppe signifikant           Verteilungsgerechtigkeit wiegt umso schwerer, als
verschlechtern. Zu nennen sind etwa Effekte auf das      die Überlastungszustände in den Kliniken jedenfalls
psychosoziale Befinden, die materielle Situation, den    teilweise durch eine rechtzeitige Impfung der Covid-
Zugang zu Bildung und sportlichen, freizeitlichen        19-Patienten hätten vermieden werden können. Es
oder kulturellen Aktivitäten, die Einbindung in die      ist ein elementares Gebot der Gerechtigkeit, dass alle
Gemeinschaft. Insofern muss geklärt und letztlich        Personen mit gleicher Behandlungsbedürftigkeit un-
abgewogen werden, inwieweit eine Impfpflicht solche      abhängig von der Art ihres medizinischen Problems
negativen gesundheitlichen oder auch gesellschaftli-     die gleiche Chance auf eine angemessene Versorgung
chen Folgen abzuwehren geeignet ist. Zugleich muss       haben.21 Angesichts der hohen Zahl teils vermeidba-
geprüft werden, ob durch den verpflichtenden Ein-        rer Covid-19-Erkrankungsfälle war bzw. ist dies nicht
griff in die körperliche Unversehrtheit gegen die Vor-   in allen Phasen der Pandemie vollständig gewähr-
behalte oder Überzeugungen impfunwilliger Perso-         leistet. Letztlich haben viele behandlungsbedürftige
nen Schäden entstehen, die sich nicht rechtfertigen      Menschen teils hohe Lasten zu tragen, die aus der
ließen. Der Grundsatz der Nichtschädigung bzw. des       Entscheidung anderer, sich nicht impfen zu lassen,
Integritätsschutzes erfordert bei der Abwägung po-       resultieren.
tenzieller Schäden ein günstiges Chancen-Risiken-            Deshalb sind geeignete Mittel zu ergreifen, um
Verhältnis, bei dem die Nutzenpotenziale die Scha-       Überlastungssituationen zu vermeiden, in denen die
denspotenziale eindeutig überwiegen.                     Behandlung bestimmter Patientengruppen zurück-
                                                         gestellt wird, weil ihr Behandlungsbedarf weniger
Gerechtigkeit und Rechtsgleichheit                       dringlich erscheint. Ansonsten könnte der Eindruck
Bei solchen Abwägungen spielen der ethische              entstehen, in der besonderen Notlage einer Pandemie
Grundsatz der Gerechtigkeit und die grundlegende         würden Personen, die darauf verzichtet haben, ihnen
Rechtsgleichheit eine wesentliche Rolle. Es gibt eine    zuvor angebotene effektive Mittel eines vorausschau-
notwendig internationale Dimension jeder gerech-         enden Gesundheitsschutzes zu nutzen, gegenüber
tigkeitsethischen Debatte, die aus deren genuin uni-     Personen bevorzugt, die diese Möglichkeit aufgrund
versalistischem Anspruch resultiert. In der Pandemie     der Art ihrer Erkrankung nicht gehabt haben.
zeigt sich diese Dimension insbesondere beim Prob-           Ein weiteres Problem besteht in der Qualifizie-
lem der globalen Verteilung der Impfstoffe. Im hier      rung der Folgen einer gesetzlichen Impfpflicht aus
primär zur Rede stehenden nationalen Kontext ist         der Perspektive der Gesetzesgerechtigkeit. Gerech-
hingegen die folgende Kontroverse von besonderem         tigkeit und Rechtsgleichheit gebieten gleiche Frei-
Interesse: Während die einen die Einführung einer        heitsrechte für alle, aber auch gleiche Rechte auf eine
allgemeinen Impfpflicht aus Gründen der Gerech-          möglichst unversehrte (gesundheitliche) Lebenslage.
tigkeit für dringend geboten erachten, halten andere     Eine undifferenzierte Gleichbehandlung ist hingegen
ebenfalls aus Gerechtigkeitsgründen eine allgemeine      weder verfassungsnormativ noch moralisch geboten.
Verpflichtung für ausgeschlossen. Letztere sind der
Auffassung, dass die mit einem solchen Schritt ver-      21 Insoweit war die pauschale Priorisierung von Covid-19-Patienten gegen-
                                                            über anderen Personen, die teils zu Beginn der Krise beobachtet werden
bundenen Folgen nicht allen Betroffenen zugemutet           konnte, problematisch.
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       Deshalb wären spezifische Risikoprofile verschiede-        zu beachten. Damit gewinnt der ethische Grundsatz
       ner Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen, zu-            der Solidarität an Bedeutung. Solidarität besteht in
       mal, wenn aus diesen unterschiedliche Lasten für das       der Bereitschaft, die eigenen, legitimen Ansprüche
       Gesundheitssystem resultieren. Dies hätte auch für         zugunsten denen anderer Personen beziehungsweise
       die Ausgestaltung einer etwaigen Impfpflicht Konse-        zugunsten des Allgemeinwohls insgesamt zumindest
       quenzen. Selbst wenn sich manche Menschen subjek-          zeitweise zurückzustellen. In der Pandemie hat sich
       tiv durch die Impfpflicht in besonderem Maße belas-        solche Solidarität in der hohen Bereitschaft gezeigt, ei-
       tet oder sogar bestimmten sozialen Stigmatisierungen       gene Freiheitseinbußen zu akzeptieren, ohne persön-
       ausgesetzt sehen, ist das Ausmaß der objektiven            lich unmittelbaren Nutzen daraus zu ziehen. Mit Blick
       körperlichen Belastung durch eine Impfung für alle         auf die Impfung wird Solidarität sichtbar, wenn sich
       Menschen gleich. Diese Last wiegt zudem weniger            Menschen trotz eigener Vorbehalte und/oder ohne
       schwer als die massiven gesundheitlichen Risiken, die      eine größere persönliche Nutzenerwartung impfen
       sich für viele Personen aus einer zeitweisen Überlas-      lassen, um hohe Bevölkerungsimmunität und damit
       tung des Gesundheitssystems durch eine vermeidba-          den Schutz vieler anderer zu befördern. Diese Solida-
       re hohe Zahl von behandlungsbedürftigen ungeimpf-          rität wird möglicherweise auch im Bewusstsein geübt,
       ten Covid-19-Patientinnen und -Patienten ergeben.          dass eine hohe Durchimpfungsrate einen unverzicht-
       Insoweit wäre es auch mit Blick auf die Forderungen        baren/wesentlichen Beitrag darstellt auf dem Weg zu
       der Gesetzesgerechtigkeit zumutbar, von allen einer        einer kontrollierbaren endemischen Situation. In die-
       Impfpflicht unterliegenden Personen eine Einhaltung        sem Sinne könnte die Solidaritätsbereitschaft derje-
       der gesetzlichen Norm zu verlangen und ein pflicht-        nigen, die von pandemiebedingten Einschränkungen
       widriges Verhalten rechtlich zu sanktionieren. Zu          besonders betroffen sind, vom Impfunwillen einiger
       bedenken ist aber auch, dass die Impfung mit Blick         über Gebühr strapaziert werden.
       auf den Selbst- und Fremdschutz je nach Risikoprofil
       durchaus unterschiedliche Folgen haben kann.               Nachhaltigkeit und Folgenverantwortung
           In der Pandemie wird des Weiteren immer wie-           Entscheidend ist auch das Vertrauen, dass die Instru-
       der eine – zumindest mittel- und langfristig – eini-       mente der Pandemiebekämpfung, unter diesen auch
       germaßen gleichmäßige bzw. faire Verteilung von            die allgemeine gesetzliche Impfpflicht, eine Beherr-
       Belastungen eingefordert. Wer selbst gegebenenfalls        schung des Pandemiegeschehens tragfähig gewähr-
       sogar über längere Zeit im Sinne der Solidarität eige-     leisten bzw. zumindest plausibel in Aussicht stellen.
       ne Interessen zurückstellt, tut dies oftmals auch in der   Entsprechend ist der Grundsatz der Nachhaltigkeit
       Erwartung, dass die zunächst und zu Recht Begüns-          für die ethische Beurteilung von Bedeutung. In einer
       tigten in anderen Situationen ihrerseits Entgegen-         Situation dynamischer Unsicherheit ist es erforder-
       kommen zeigen. So haben etwa jüngere Menschen              lich, dass schon jetzt, parallel zu den Akutmaßnah-
       lange viel Rücksicht auf die besonders gefährdeten         men in der aktuellen Krisensituation, ausreichend
       Menschen genommen und sich eingeschränkt. Um-              Vorsorge für mögliche bzw. absehbare weitere Infek-
       gekehrt sollten sie wenigstens darauf hoffen können,       tionswellen der Pandemie getroffen wird. Dem bishe-
       dass sich diese dann – wenn angemessene Mittel zur         rigen Verlauf der Pandemie wurde weitgehend reak-
       Verfügung stehen – ihrerseits schützen, um so eben-        tiv begegnet. Viele Maßnahmen kamen zu spät, um
       falls das Gesundheitswesen zu entlasten und damit          erneute Infektionswellen zu verhindern oder wenigs-
       Maßnahmen überflüssig zu machen, die die Freiheit          tens abzumildern. Eine allgemeine gesetzliche Impf-
       aller einschränken.                                        pflicht wäre nicht darauf angelegt, die gegenwärtige
                                                                  vierte Welle zu brechen. Sie mag aber ein mittelfristig
       Solidarität                                                wirksames Instrument zur Eindämmung von Folge-
       Der Grundsatz der Gerechtigkeit legitimiert zudem          wellen sein, das zur nachhaltigen Etablierung einer
       eine Ungleichbehandlung von Personen, deren Situ-          kontrollierbaren endemischen Situation geeignet sein
       ationen sich wesentlich unterscheiden. Dies betrifft       könnte.
       vor allem Personen(-gruppen), die entweder direkt              Damit eng verbunden ist schließlich der Grund-
       von einem schweren bzw. tödlichen Covid-19-Krank-          satz der Folgenverantwortung, der die Abschätzung
       heitsverlauf oder indirekt durch pandemiebedingte          und Bewertung von intendierten Folgen und unbe-
       Folgeschäden besonders bedroht sind. Aus ethischer         absichtigten Nebenfolgen einer Maßnahme erfordert.
       Perspektive sind die Bedürfnisse und Interessen der        Mit Blick auf die Einführung und Durchsetzung einer
       schwächsten und vulnerabelsten Gruppen besonders           allgemeinen gesetzlichen Impfpflicht müssten auch
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Effekte wie die mögliche (weitere) Radikalisierung         worden, um die Pandemie einzudämmen. Zu denken
von Teilen der Gruppe impfunwilliger oder impf­            sei insoweit insbesondere an eine Erhöhung der frei-
skeptischer Menschen berücksichtigt werden. Dem-           willigen Impfbereitschaft mithilfe von Instrumenten,
gegenüber wären solche Effekte zu gewichten, die           wie sie in anderen europäischen Ländern besonders
durch das Unterlassen eines entschiedenen Handelns         erfolgreich eingesetzt wurden (insbesondere persön-
große Teile der Bevölkerung betreffen könnten. Sol-        liche Ansprache, Vereinbarung individueller Impf-
che Abwägungen gehen über eine rein ethische Beur-         termine usw.). Außerdem wird vorgebracht, dass
teilung hinaus, weil sie in hohem Maße von einer Ein-      zukünftig neue antivirale Medikamente gegen Co-
schätzung der gegebenen politischen Lage abhängen;         vid-19, falls sie in den ersten Tagen der Infektion zur
sie sind damit genuine Aufgaben politischer Akteure        Anwendung kommen, vor einem schweren Verlauf
in Legislative und Exekutive. Sie müssen ethisch ver-      schützen und damit die Überlastung des Gesund-
antwortbar sein, aber politisch getroffen werden.          heitswesens vermeiden helfen könnten.
                                                               Die Eignung einer Impfpflicht zur Entlastung des
                                                           Gesundheitssystems wird ferner deshalb angezwei-
Konkrete Argumente                                         felt, weil unter den Bedingungen der Delta-Variante
                                                           die Fremdschutzwirkung durch Verhinderung einer
Aus der Anwendung dieser Grundsätze sowie ver-             Infektiosität geimpfter Personen geringer sei als ur-
schiedenen praktischen Überlegungen ergeben sich           sprünglich erhofft. Angesichts neuer Varianten wie
eine Reihe von konkreten Argumenten für und ge-            Omikron solle zudem die Wirksamkeit der Impfstof-
gen eine allgemeine gesetzliche Impfpflicht. Im Fol-       fe im Hinblick auf den Schutz vor schweren Verläu-
genden werden Argumentationsmuster aufgegriffen,           fen weiter beobachtet werden. Bis zu einer eventuell
die in der aktuellen Diskussion präsent und von be-        notwendigen Anpassung käme daher allein die Imp-
sonderer ethischer Relevanz sind. Damit soll die in        fung mit den verfügbaren Vakzinen in Betracht, die
der normativen Diskussion notwendige Transparenz           gegebenenfalls eine geringere Wirksamkeit gegen-
hergestellt und die Komplexität der Problematik an-        über Omikron haben.
gemessen gewürdigt werden.                                     Zudem seien die Risiken durch den SARS-CoV-
                                                           2-Erreger deutlich entlang verschiedener Vulnera-
Argumente gegen eine allgemeine gesetzliche                bilitätsgrenzen stratifiziert. So trügen Menschen im
Impfpflicht                                                hohen Alter und mit bestimmten Vorerkrankungen,
Unverhältnismäßiger Eingriff in persönliche Freiheit und   jedenfalls bei den bisherigen Virusvarianten, beson-
körperliche Unversehrtheit?                                ders hohe Risiken für schwere oder tödliche Verläufe.
Das wohl wesentlichste Argument, das gegen die all-        Zudem bräuchten sie deutlich häufiger intensivmedi-
gemeine gesetzliche Impfpflicht vorgebracht wird,          zinische Behandlung als jüngere, gesunde Menschen.
betrifft ihre Verhältnismäßigkeit. Eine allgemeine         Dem DIVI-Intensivregister lässt sich entnehmen, dass
gesetzliche Impfpflicht wird als ein starker Eingriff      ein weit überwiegender Teil der intensivpflichtigen Co-
in die persönliche Freiheit, in das Recht auf Selbst-      rona-Patienten über 60 Jahre (61,1 Prozent) bzw. über
bestimmung und in die körperliche Unversehrtheit           50 Jahre (83,1 Prozent) alt ist. In Deutschland sind der-
verstanden, der womöglich die Menschenwürde tan-           zeit über drei Millionen Menschen über 60 Jahre nicht
giert. Gegner einer Impfpflicht halten diesen Eingriff     geimpft.22 Es liege auf der Hand, welch erhebliches Be-
in der Abwägung empirischer wie verfassungsrechtli-        lastungspotenzial hiermit für das Gesundheitssystem
cher und ethischer Aspekte für nicht zu rechtfertigen.     einhergeht. Zugleich werde deutlich, wie bedeutsam
                                                           der Schutz dieser Menschen vor einer Erkrankung für
Kein geeignetes oder kein erforderliches Mittel?           alle Bürgerinnen und Bürger sei – nur wenn der Schutz
In dieser Perspektive erscheint eine allgemeine ge-        älterer Gesellschaftsmitglieder gelinge, sei die stabile
setzliche Impfpflicht weder als ein geeignetes noch        gesundheitliche Versorgung aller in Deutschland gesi-
als ein erforderliches Mittel zur Herbeiführung einer      chert. Dabei seien spezifische Maßnahmen gegenüber
kontrollierten endemischen Situation. Für die Ab-          denjenigen gesellschaftlichen Gruppen, die das Ge-
wendung der Überlastung des Gesundheitswesens              sundheitssystem wegen ihrer hohen Krankheitsrisiken
und für die Kontrolle der Pandemie insgesamt stün-         in besonderer Weise gefährden, milder als undifferen-
den alternative Instrumente wie Tests oder 3G- bzw.        zierte Maßnahmen gegenüber allen.
2G-Kontrollen als geeignete Mittel zur Verfügung.          22 https://www.intensivregister.de/#/aktuelle-lage/altersstruktur [Stand:
Es seien noch nicht alle milderen Mittel ausgeschöpft         20.12.2021, 14:00].
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       Unangemessen und nicht zumutbar?                         stärkere Impfreaktionen bei der eigenen Person oder
       Weiter wird vorgebracht, eine gesetzliche Impfpflicht    im nahen Umfeld aufgetreten sind. Ebenso zu den-
       führe zu nicht angemessenen bzw. zu unzumutbaren         ken ist an Menschen mit psychischen Problemen. Sie
       Belastungen. Auf der individuellen Ebene geht es hier    wären zwar von einer gesetzlichen Impflicht auszu-
       vorwiegend um die Sorge vor Komplikationen, die          nehmen. Doch könnte die Einführung einer solchen
       über erwartbare Impfreaktionen hinausgehen und           gesetzlichen Verpflichtung die Gefahr von Bloßstel-
       erst längerfristig zutage treten könnten, sowie um       lung und Diskriminierung dieser Menschen bergen,
       die Zumutung, sich trotz solcher Ängste und Vorbe-       weil sie eine Ausnahmestellung bekämen und diese
       halte einer Impfung unterziehen zu müssen. Dabei         nachweisen müssten. Im Zuge einer allgemeinen
       falle besonders ins Gewicht, dass die Pandemie mit       Impfpflicht müsste zudem eine klare Grenze gezogen
       einer Impfpflicht unter Umständen nur dann effek-        werden, wer nicht geimpft werden soll bzw. kann;
       tiv bekämpft werden kann, wenn mehrere Auffri-           eine solche Grenzziehung wäre herausfordernd, ins-
       schimpfungen verabreicht werden, deren Zahl sich         besondere mit Blick darauf, ob neben körperlichen
       zum Zeitpunkt der Einführung der Impfpflicht nicht       auch psychische oder Überzeugungsgründe Ausnah-
       benennen lässt. Dies gilt angesichts des über die Zeit   men rechtfertigen können sollen.
       abnehmenden Immunschutzes für Geimpfte wie Ge-
       nesene. Entsprechend müssten gegebenenfalls mehr-        Probleme der Umsetzung und der Durchsetzung?
       fache unfreiwillige Eingriffe in die körperliche Un-     Ein weiterer Einwand gegen eine allgemeine Impf-
       versehrtheit erfolgen. Aber auch auf der sozialen bzw.   pflicht hebt darauf ab, dass sie in freiheitlich-demo-
       politischen Ebene seien problematische Folgen zu be-     kratischen Rechtsstaaten nur sehr schwer umzusetzen
       fürchten, wenn statistisch unwahrscheinliche, unge-      sei bzw. nur mit schwer zu rechtfertigenden Mitteln
       wollte Nebenfolgen der Impfung (wie z. B. eine Herz-     durchgesetzt werden könne. Hier wird auf verschie-
       muskelentzündung) eintreten. So könnte die Gruppe        dene Formen von Zwang bei der Durchsetzung ab-
       der Impfgegner weiteren Zulauf erhalten oder diese       gehoben (siehe S. 16 f.). Angesichts der hohen Zahl
       könnten sich weiter radikalisieren.                      überzeugter Impfverweigerer seien zudem massen-
           Die Angemessenheit einer allgemeinen Impf-           haft Verfahren zu erwarten, die die Verwaltung auf
       pflicht wird ferner aus dem Grund angezweifelt, dass     viele Jahre beschäftigen würden. Das damit einherge-
       die derzeit verfügbaren Impfstoffe schon angesichts      hende hohe Risiko langer Verfahrensdauern könnte
       der in Deutschland (noch) dominierenden Delta-           der Bevölkerung den Eindruck vermitteln, der Staat
       Variante weniger wirksam vor schweren Verläufen          sei mit der Pandemiebewältigung überfordert. Die
       schützen, als dies anfangs erwartet wurde. Zukünftige    Umsetzungsdefizite könnten zudem vermehrt Vor-
       Varianten könnten diesen Effekt verstärken. Dies las-    würfe von Inkonsequenz und Inkompetenz sowie
       se, jedenfalls bis zu einer Anpassung der Impfstoffe,    Populismus lautwerden lassen und die Politikver-
       befürchten, dass selbst mit Hilfe einer allgemeinen      drossenheit zumindest in Teilen der Bevölkerung er-
       Impfpflicht keine signifikante Entlastung der Inten-     höhen.
       sivstationen erzielt werden könnte und daher über
       die Impfpflicht hinausgehende weitere Schutzmaß-         Mögliche negative gesellschaftliche Folgen?
       nahmen mit freiheitseinschränkendem Charakter für        Eine Reihe weiterer Vorbehalte bezieht sich auf mög-
       alle aufrechterhalten bleiben müssten. In der Summe      liche nachteilige gesellschaftliche Folgen einer allge-
       handele es sich hierbei um Unsicherheitsfaktoren         meinen gesetzlichen Impfpflicht. Es besteht die Sorge,
       von hohem Gewicht. Verglichen mit der Schwere des        dass sie den Einstieg in einen zunehmenden, (gesund-
       mit einer allgemeinen Impfpflicht einhergehenden         heits-)politischen Paternalismus bedeuten könnte;
       Eingriffs, sprächen diese gegen die Angemessenheit       befürchtet werden Ausweitungstendenzen etwa in
       der Maßnahme, zumindest soweit sie sich nicht auf        Gestalt der zukünftigen Anwendung der Argumente
       Personen bezieht, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit       für eine Impfpflicht auch auf andere Impfungen oder
       zu einer der anerkannten Risikogruppen einen hohen       außerhalb einer pandemischen Krisensituation. Da-
       eigenen Nutzen aus den Impfungen schöpfen.               mit einher gehe das Risiko von Normalisierungsef-
                                                                fekten, die bei Bürgerinnen und Bürgern ein gewisses
       Stigmatisierung unfreiwillig Ungeimpfter?                Anspruchsdenken entstehen lassen, wonach sie von
       Es gibt Menschen, die sich nicht impfen lassen kön-      staatlicher Seite zunehmend vor Gesundheitsrisiken
       nen oder sollen, etwa bei Allergien gegen Inhaltsstof-   geschützt werden müssten, für die üblicherweise jeder
       fe von Impfstoffen, oder wenn in der Vorgeschichte       selbst verantwortlich ist. In Anbetracht des Umgangs
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