Jesuiten Zukunftslabore des Zusammenlebens - Jesuiten.org

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Jesuiten Zukunftslabore des Zusammenlebens - Jesuiten.org
2021-3

Jesuiten
       Zukunftslabore
 des Zusammenlebens
Jesuiten Zukunftslabore des Zusammenlebens - Jesuiten.org
Jesuiten
                                                                                             2021-3
                                             1   Editorial

                                                 Schwerpunkt
                                             2   Schokoladen-Häuser, Schwimmbäder und Chill-Zonen
                                             4   Die sozial-ökologische Transformation beginnt
                                                 bei uns selbst
                                             6   Ziel: Menschenwürdiges Leben innerhalb
                                                 planetarer Grenzen
                                             8   Gemeinsam leben – gemeinsam entscheiden
                                           10    Menschen ein Zuhause geben
                                           12    Erneuertes Zusammenleben in Wuppertal
Titelbild © fotografixx iStock.com
                                           15    Das „Drumherum“ für die innere Transformation
                                           17    Blick in die Werkstatt
Wie wollen wir eigentlich zusammen-
                                           18    Auf gute Nachbarschaft
leben ... als einzelne Menschen mit
anderen, als Familie, als generations-     20    Nachhaltig bauen – eine positive Antwort geben
übergreifende Gruppe? Die Bilder           21    Die Kuh gegen eine Ziege tauschen
in diesem Heft zeigen, wie Menschen
mit dieser Frage umgehen. Da sind
                                                 Geistlicher Impuls
Erwachsene, die neue Formen aus-           22    Prophetisch leben
probieren und das Dach einer Indus-
                                                 Was macht eigentlich?
trieanlage zum Garten machen.
                                           24    Ludger Joos SJ
Oder die Wand zur vertikalen Oase.
Und da sind Kinder, die sich im
                                                 Nachrichten
Sommer während einer Ferienwoche
                                           26    Neues aus dem Jesuitenorden
im Heinrich Pesch Haus in Ludwigs-
hafen mit ihren Wohnträumen der                  Personalien
Zukunft beschäftigt haben. Das Er-
                                           30    Jubilare
gebnis waren mehr als bunte Bilder
                                           30    Verstorbene
– sondern ganz konkrete Konzepte.
Oder wie es ein Junge formuliert                 Medien/Buch
hat: „So finde ich das gut. Ziehst du
                                           31    Fabian Moos SJ: Der Zukunft eine Zukunft geben.
auch mit ein?“
Stefan Weigand                                   Vorgestellt
                                           32    Safeguarding: Sensibel sein und werden

                                           34    Die besondere Bitte
                                                 Standorte der Jesuiten in Zentraleuropa

                                         Diese Druckerzeugnis wurde klimaneutral hergestellt,
                                         d.h. die mit der Produktion quantifizierten CO2-Emissionen
                                         werden durch Klimaschutzzertifikate kompensiert.
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EDITORIAL

„Glaube und Gerechtigkeit!“

Liebe Leserinnen und Leser,                       chen, dass wir Christen unter dem Anspruch
                                                  stehen, uns für Glaube und Gerechtigkeit in
diese Leitlinie aus Dekret vier der 32. Gene-     einem globalen Kontext einzusetzen.
ralkongregation von 1974/75 macht deutlich,
dass es uns Jesuiten in der Nachfolge Jesu        Heute verändern technische Innovationen und
immer um den ganzen Menschen geht: um             globale Vernetzung die Lebensbedingungen
Seele und Leib. Um ein Leben in Würde im          immer rasanter. Die Natur macht uns deutlich,
Jetzt ebenso wie um das ewige Seelenheil. Um      dass wir uns den gewohnten Raubbau an den
die einzelne Person und um gesellschaftliche      natürlichen Ressourcen nicht mehr leisten
Strukturen, die ein Leben in Würde ermög-         können. Gleichzeitig müssen wir mehr Men-
lichen. Wir tun das in praktischen Projekten      schen Teilhabe an besseren Lebensbedingun-
wie durch die Reflexion der Grundlagen einer      gen und Wohlstand ermöglichen. Viele Men-
humanen Gesellschaft: So hat sich P. Rupert       schen erleben diese Herausforderungen als
Mayer SJ zwischen den Weltkriegen in Mün-         bedrohlich. Wir denken, wir brauchen Orte,
chen in der Männerseelsorge eingesetzt für        an denen wir uns neu verständigen und aufei-
die Heerscharen alleinstehender Männer, oft       nander einstellen können. Und wir wollen Ih-
an Leib und Seele versehrt. P. Delp dachte mit-   nen solche „Zukunftslabore“ vorstellen, Pro­-
ten im Untergang mit Gleichgesinnten aller        jekte auch des Ordens, wo wir versuchen, unser
konfessionellen und politischen Lager nach        Zusammenleben als Menschen und mit der Na-
über die Grundlagen einer gerechten Gesell-       tur neu zu justieren. Wir wollen dadurch Ihre
schaftsordnung nach dem Zusammenbruch             Neugier und Ihren Optimismus wecken: Ge-
der Diktatur. P. Nell-Breuning etablierte in      meinsam können wir diese Herausforderun-
der jungen BRD eine Tradition sozialethischer     gen meistern und sogar Freude daran finden,
Reflexion neu, die bis heute wichtige Akzente     uns auf neue Perspektiven einzulassen, z.B. auf
im politischen Diskurs setzt. In der DDR setz-    Städte, die wieder mehr den Menschen ge-
ten sich Jesuiten für die Bewahrung spirituel-    hören und weniger dem Profit und den Autos.
ler Zugänge mitten im herrschenden Mate-
rialismus ein. Mit Jesuiten-Flüchtlingsdienst     Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen!
und Missionsprokur setzen wir deutliche Zei-

                 Fabian                    Fabian                  Tobias
                 Moos SJ                 Retschke SJ           Zimmermann SJ

                                                                                               1
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SCHWERPUNKT

Schokoladen-Häuser,
Schwimmbäder und
Chill-Zonen
Wie möchtet ihr wohnen? Wie soll eure Umgebung aussehen
und was ist euch wichtig? – Über diese Fragen haben Kinder
zwischen sechs und zwölf Jahren bei einer Zukunftswerkstatt
im Ludwigshafener Heinrich Pesch Haus (HPH) nachgedacht
– und erstaunliche Antworten gegeben. „Ihre Ideen werden in
die Planungen für die Heinrich-Pesch-Siedlung einfließen, die
in direkter Nachbarschaft zum HPH entsteht. Denn auch die
Meinung von Kindern ist wichtig ”, sagt Jana Sand, die Leite-
rin der Familienbildung im HPH.

Ich möchte am Rande des Waldes         Ich wünsche mir einen Spielplatz
leben und nicht in der Stadt, da ist   mit 30 Karussells, einem Kletterge-
es immer so laut.                      rüst und einer Achterbahn.

Natalia, 9 Jahre                       Moritz, 6 Jahre

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SCHWERPUNKT

Mein Haus soll aus weißer Schokola-     Ich wünsche mir mehrere Schwimm-
de und ganz vielen Keksen sein. Die     bäder, ein Jugendzentrum, Plätze
Straßen sollen aus brauner Schoko-      zum Chillen für Jugendliche und
lade und die Gehwege aus Marzipan       Spielplätze mit Angeboten für klei-
sein.                                   ne und ältere Kinder. So kann Streit
Emily, 6 Jahre                          vermieden werden.

                                        Anna, 10 Jahre

In meiner Siedlung sollen Tiere leben
und die Autos sollen gesund für die
Umwelt sein.                            Mir ist wichtig, dass man sich von den
Ahmet, 7 Jahre                          Nachbarn nicht abschließt, sondern
                                        dass man ein Gemeinschaftsding hat,
                                        einen gemeinsamen Garten zum Bei-
                                        spiel, um den sich alle kümmern. Und
                                        man sollte respektvoll miteinander

                                        umgehen.

                                        Sue, 10 Jahre
Jedes Kind sollte ein eigenes Zimmer
haben, denn jedes Kind braucht Pri-
vatsphäre. Dazu braucht man große
Wohnungen, die aber bezahlbar sein
müssen.
Lea, 10 Jahre

                                                                            3
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SCHWERPUNKT

Die sozial-ökologische
Transformation beginnt
bei uns selbst
Mit der sozial-ökologischen Transformation verbinden viele
vor allem Einschränkungen und Verzicht. Doch sie eröffnet
neue Freiräume für die persönliche Entwicklung und ein
gelingendes Miteinander.

Ich liebe es, Fahrrad zu fahren. Jedes Mal,        Transformation. Zwei Erfahrungen helfen mir,
wenn ich auf meiner Trainingsrunde in den          aus dieser Bedrohungs- und Verlustschleife
ersten Waldweg einbiege, freue ich mich. Die       herauszukommen.
Luft ist klarer und angenehmer als in der             Ich habe zwölf Jahre in Venezuela gelebt
Stadt, ich fühle mich sofort freier im Kopf, die   und als Direktor unseres Hilfswerkes Jesuiten-
Tour durch den Wald ist Entspannung und Er-        weltweit besuche ich regelmäßig Länder und

                                                                                                     © fotografixx iStock.com
holung. Auch wenn es oft nur ein flüchtiges        Projekte im globalen Süden. Dort erlebe ich
Gefühl ist, über das ich nicht weiter nachden-     immer wieder, dass Menschen mit sehr viel
ke: Es tut gut, in der Natur zu sein.              weniger Konsumgütern auskommen als bei
   Zu schützen und zu stärken, was uns gut-        uns und trotzdem ein glückliches und erfüll-
tut – das ist die Grundidee der sozial-öko-        tes Leben haben. Es geht mir nicht um eine
logischen Transformation. Es geht um Wirt-         Verklärung der Armut, sondern um eine Zufrie-
schafts-, Gesellschafts- und Lebenskonzepte,       denheit, die sich eben nicht an der Anhäu-
die keinen Raubbau an Umwelt und Mensch            fung von Gütern, sondern an menschlichen
betreiben, die nicht zerstören und ausbeuten,      Beziehungen festmacht. Daran, Teil einer Ge-
sondern sorgsam mit der Natur umgehen und          meinschaft zu sein und einer sinnvollen Be-
gleichzeitig Raum schaffen für soziale Bezie-      schäftigung nachzugehen. Lebensfreude und
hungen und die Entfaltung des Menschen.            Lebensbejahung sind oft viel greifbarer und
   In der Debatte um den Klimawandel erle-         scheinen mir auch tiefer verankert zu sein. Da-
be ich oft Abwehrreaktionen, deren Wurzel          raus erwächst eine starke Resilienz, denn oft
eigentlich Verlustängste sind: Wir müssen          fehlt die Zukunftsabsicherung und Lebens-
uns einschränken, wir sollen auf liebgewor-        umstände sind deutlich prekärer. Von diesen
dene Dinge verzichten. Das schlechte Gewis-        Erfahrungen des globalen Südens können wir
sen wird zum ständigen Begleiter, wenn wir         uns inspirieren lassen.
ins Flugzeug steigen oder Fleisch essen oder          Eine ähnliche Bewegung nehme ich auch
ein neues Auto kaufen. Mit unseren Gedanken        bei der jüngeren Generation in unseren Kul-
und Gefühlen kreisen wir um Beschränkun-           turkreisen wahr. Das eigene Wohlbefinden,
gen, die uns drohen. Wir haben Angst, etwas        der eigene Status hängt für viele Jüngere
zu verlieren. Und das blockiert einen offenen      nicht mehr am Besitz von Gütern, sondern
und positiven Blick auf die sozial-ökologische     an ihrem Gebrauch. Man kann ein Auto, ein

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SCHWERPUNKT

Ferienhaus oder eine Bohrmaschine mit meh-       Kernbereich: dem Leben in Fülle, um es theo-
reren zusammen benutzen und teilen. Sharing      logisch auszudrücken. Wir brauchen auch in-
Economy ist der Begriff dafür und es ist alles   nerhalb des Ordens unter uns Jesuiten einen
andere als freudloser Verzicht. Über Apps kann   neuen Aufbruch, einen Verzicht auf liebge-
ich mich mit Gleichgesinnten vernetzen, um       wordenen Besitz, um Freiräume zu öffnen und
Alltagsdinge und -dienste anzubieten oder zu     Experimente zu wagen. Impulsgeber können
nutzen. Neue, durchlässige und flexible For-     wir nur dann sein, wenn die sozial-ökologische
men von Gemeinschaft können so entstehen.        Transformation bei uns selbst beginnt.
   Wenn man genau hinschaut, entsprechen
beide Erfahrungen dem ursprünglichen Cha-
risma unserer Ordensgemeinschaften: Leben
in Gemeinschaft und Verzicht auf persönlichen                     Klaus Väthröder SJ
Besitz. Ordensgemeinschaften und Klöster                          war zwölf Jahre in Venezuela tätig.
                                                                  Derzeit ist er Leiter von jesuiten-
waren in der Vergangenheit immer wieder Im-
                                                                  weltweit in Nürnberg und Wien.
pulsgeber für gesellschaftliche Veränderungen.                    In der neuen Zentraleuropäischen
Die Grundanliegen der sozial-ökologischen                         Provinz der Jesuiten ist er Delegat
Transformation fallen in unseren ureigenen                        für Ökologie und Soziales.

                                                                                                    5
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SCHWERPUNKT

Das Ziel: Menschenwürdiges
Leben innerhalb planetarer
Grenzen
Um die bereits einsetzende ökologische Katastrophe zu

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stoppen, brauchen wir eine tiefgreifende Veränderung von
Wirtschaft, Gesellschaft und Lebensstilen – also eine sozial-
ökologische Transformation.

Erderhitzung und Artensterben sind nur zwei       zu können und dadurch (Selbst-)Achtung und
offensichtliche Aspekte der drohenden ökolo­      Sinn zu erfahren.
gischen Katastrophe. Zu sehr haben wir die           Wichtig sind auch reale Möglichkeiten, an
ökologischen Belastungsgrenzen unseres Pla­­      gesellschaftlichen und politischen Prozessen
neten überschritten, wie sie Johan Rockström      mitwirken zu können. All diese Voraussetzun-
im Konzept der „planetary boundaries“ be-         gen können – eine Transformation vorausge-
schrieben hat. Werden diese Grenzen weiter        setzt – verwirklicht werden, ohne die ökolo-
überschritten, drohen unabsehbare Folgen. An­­-   gischen Belastungsgrenzen zu überschreiten.
gesichts von sogenannten „Kipp-Punkten“ und       Das kann für manche mit einem quantitativ-
Dominoeffekten könnten diese verheerenden         materiellen „Weniger“ verbunden sein, ist aber
Folgen noch schneller eintreten als bislang ge-   mit hoher Lebensqualität durchaus vereinbar.
dacht. Die Rede von der „Katastrophe“ ist kein    Werden Ressourcen menschen- und umweltge-
übertriebener Alarmismus, sondern schlicht        recht verteilt, können alle Menschen genug ha-
realistisch. Die Lage ist todernst – für die      ben für ein Leben, das sie selbst als gut empfin-
Menschen, aber auch für viele Mitgeschöpfe.       den und das zugleich die Schöpfung bewahrt.
   Eine ethisch anspruchsvolle sozial-ökologi-       Obwohl immer mehr Menschen die Dring-
sche Transformation hat nicht „nur“ das Ziel,     lichkeit der Transformation erkennen, fehlt es
die endgültige ökologische Katastrophe abzu-      ihr an Tempo und Intensität. Noch blockieren
wenden und das Überleben der Menschheit zu        machtvoll vertretene Partikularinteressen, ein
sichern. Es geht ihr darum, allen Menschen –      unzureichender (auch globaler) Ordnungsrah-
weltweit und auch in Zukunft – ein menschen-      men, strukturelle Beharrungskräfte, teils irre-
würdiges Leben innerhalb planetarer Grenzen       führende gesellschaftlich-kulturelle Leitbilder
zu ermöglichen. Zu den Voraussetzungen eines      und eingefahrene Verhaltensroutinen die not-
menschenwürdigen Lebens gehören aus einer         wendigen Veränderungen. Was also tun?
menschenrechtlichen Perspektive neben der            Politisch muss ein Ordnungsrahmen ge-
unbedingt zu sichernden Umweltqualität die        schaffen werden, der gemeinwohlschädliche
angemessene Befriedigung aller Grundbedürf-       Partikularinteressen zurückdrängt, umwelt-
nisse, aber auch Teilhabe- und Handlungs-         freundliche Infrastruktur fördert und Anreize
chancen, um an vielfältigen Bezügen teilha-       für ökologisch verantwortbares Handeln setzt.
ben, sich in ihnen einbringen und entfalten       Besonders wichtig ist hier die Bepreisung von

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SCHWERPUNKT

 CO2-Emissionen und generell von umwelt-           nen Bewusstseins- und Verhaltenswandel. So
 schädlichen Handlungsweisen. Es darf nicht        braucht es z. B. Persönlichkeitsbildung, in der
 sein, dass die Folgekosten auf Dritte abgewälzt   ein gutes Leben jenseits der Wohlstands- und
werden. So eine Bepreisung ist ein effektives      Statussteigerung eingeübt wird, oder auch eine
 Lenkungsmittel. Sie muss freilich auch sozial     politische Bildung, die nicht nur Wissen oder
 ausgewogen gestaltet werden – Konzepte da-        Appelle vermittelt, sondern unsere Vorstel-
 für liegen längst auf dem Tisch. Klimaschutz      lungskraft und unser Empfinden dafür stärkt,
 und soziale Gerechtigkeit sind vereinbar! Zum     wie sehr wir mit Menschen in anderen Teilen der
 Ordnungsrahmen gehören aber auch Verbo-           Welt und auch in der Zukunft verbunden sind.
te und Begrenzungen besonders schädlicher             All dies gelingt nur, wenn sich die Menschen
 Handlungsweisen. Wer hier sogleich gegen          aktiv beteiligen können und wenn sie mit ihren
„Verbotspolitik“ wettert, übersieht, dass wir      Erfahrungen und Kompetenzen, Sorgen und
 auch sonst Verbote akzeptieren, wenn es           Problemen, aber auch Werten und Vorstellun-
 um gravierende Verletzungen grundlegender         gen eines guten Lebens ernstgenommen wer-
 Rechte von Menschen geht.                         den. Die Ergebnisse der Transformation sind
    Wir brauchen wissenschaftliche, technolo-      nur dann gerecht, wenn diese auch im Prozess
 gische und soziale Innovationen, die helfen,      den Anforderungen der Beteiligungsgerechtig-
 alte, allzu oft umwelt- und klimaschädliche       keit genügt. Keine sozial-ökologische Trans-
 Pfade zu verlassen, anders zu produzieren und     formation ohne Partizipation!
 zu bauen, zu konsumieren, sich zu bewegen,
 sich zu ernähren und das Zusammenleben zu
 gestalten. Hier bedarf es kreativer unterneh-
 merischer, zivilgesellschaftlicher und per­   -
 sönlicher Initiative sowie eines politisch ge-                      Dr. Thomas Steinforth
 setzten Rahmens, der Innovationen erleichtert                       verantwortet im Ludwigshafener
 und hilft, wertvolle Praxiserfahrungen in Ni­                       Heinrich Pesch Haus den
 schen für die Gesellschaft fruchtbar zu machen.                     Themenschwerpunkt „Sozial-
                                                                     Ökologische Transformation“
    Nicht zuletzt besteht die Transformation in
                                                                     und ist zugleich Wiss. Mitarbeiter
 der Arbeit an gesellschaftlich-kulturell veran-                     im Zentrum für Globale Fragen
 kerten Leitbildern und in der Bildung für ei-                       der Hochschule für Philosophie.

                                                                                                          7
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SCHWERPUNKT

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SCHWERPUNKT

                          Gemeinsam leben –
                          gemeinsam entscheiden
                          Wenn Menschen zusammenleben, gibt es häufig unterschied-
                          liche Meinungen. Adela Mahling hat eine Lösung entwickelt:
                          das systemische Konsensieren, kurz SK-Prinzip.
                          Darf ich mich vorstellen? Ich bin Konsenslot-     gegeben werden, sie zu adressieren. So wird ein
                          sin und begleite Gruppen auf dem Weg zu ei-       konsensorientierter konstruktiver Dialog geför-
                          ner tragfähigen Lösung. Besonders gern werde      dert. Nein zu sagen und zu hören verliert seine
                          ich von Lebens- und Wohngemeinschaften, so-       Bedrohlichkeit, denn wir können diesen Wider-
                          wie Eigentümer*innen-Gemeinschaften ange-         stand als kreatives Potential nutzen, ohne die
                          fragt. Menschen, die zusammenleben, haben         Ent­scheidungsfähigkeit zu verlieren. Wir wer-
                          beschlos­sen, viele existenzielle Entscheidun-    den motiviert, die Anliegen aller zu beachten,
                          gen gemeinsam zu fällen. Sie haben viel Erfah-    statt ihre Bedenken durch Machtkämpfe un-
                          rung mit mühsamen oder gescheiterten Pro-         wirksam zu machen. Die Würdigung einer Per-
                          zessen gemacht und sind auf der Suche nach        son zeige sich in der Würdigung ihres Neins, wie
                          neuen Ansätzen.                                   der Ko-Entwickler des Verfahrens, Erich Visot-
                             Ich arbeite mit dem SK-Prinzip® (SK für        schnig, sagte.
                          Systemisches Konsensieren). Dieses regt einen         So oft habe ich erlebt, wie Co-Housing-Grup-
                          heilsamen Paradigmenwechsel an: Vom Erfolgs­      pen erleichtert aufatmen, denn die Streitigkei-
                          faktor Dominanz zur Gemeinwohlorien­tierung.      ten sind beigelegt, ein gangbarer Weg hat sich
                          Damit gelingt es auch heterogenen Gruppen         herauskristallisiert und die bis dato blockierte
                          in verhältnismäßig kurzer Zeit, gute Lösungen     Umsetzungsenergie freigesetzt. Ob es nun um
                          statt lauer Kompromisse zu entwickeln. Wenn       die neue Nutzungsordnung, die längst fälligen
                          wir mit dem SK-Prinzip entscheiden, gehen wir     Baumaßnahmen oder die Vergütung von Eigen-
                          zunächst in eine kreative Lösungssuche. Dann      leistungen geht: Entscheiden ist entscheidend.
                          messen wir die verbleibende Unzufriedenheit       Es hat Einfluss auf die Qualität und die Tragfä-
                          aller Beteiligten – und das zu jedem Vorschlag,   higkeit des Beschlusses. Es ist Zeit, dass wir uns
                          einschließlich dem, untätig zu bleiben. So er-    dessen bewusstwerden und Verfahren nutzen,
                          hält die Gruppe drei wichtige Informationen:      die unserer Gesellschaft und ihren Herausforde-
                          1) Welchen Weg muss sie einschlagen, um die       rungen gewachsen sind und unser Zusammen-
                             Unzufriedenheit am kleinsten zu halten?        leben fördern, statt es zu erschweren.
                          2) Wie viel Verbesserung würde dieser Weg
                             bringen im Vergleich dazu, es beim Alten
© BrasilNut1 iStock.com

                             zu lassen?                                                         Adela Mahling
                          3) Wie weit ist dieser Weg noch von einer Lö-
                                                                                                Adela Mahling, lebt in Berlin und
                             sung, mit der alle restlos zufrieden sind,                         ist freiberufliche Moderatorin,
                             entfernt?                                                          Prozessbegleiterin und Ausbilderin
                          Wenn es sinnvoll ist, können Vorbehalte be­                           für das SK-Prinzip. Partizipation
                          trachtet werden und der Gruppe die Möglichkeit                        liegt ihr am Herzen.
                                                                                                www.konsenslotsen.de

                                                                                                                                 9
SCHWERPUNKT

Menschen ein Zuhause geben
In Ludwigshafen haben sich die katholische Kirche und ein
katholisches Bildungshaus zusammengetan, um eine Sied-
lung zu bauen, in der es um mehr als nur Wohnen geht.
Die ersten Bagger rollen bereits auf dem Gelän-          Von Anfang an war klar, dass in einer Stadt wie
de der zukünftigen Heinrich-Pesch-Siedlung in            Ludwigshafen mit einem hohen Migrantenan-
Ludwigshafen. In direkter Nachbarschaft zum              teil kein klassisches Siedlungsgebiet mit einer
Heinrich Pesch Haus (HPH) entsteht hier auf              homogenen Gesellschaft entstehen würde, son­
mehr als zehn Hektar ein urbanes Gebiet, in              dern ein sehr heterogenes Gebiet – und genau
dem Arbeiten, Wohnen, Bildung und Sozia-                 das ist in Ludwigshafen gefordert und notwendig.
les miteinander verzahnt werden. Zentrales
Konzept ist eine soziale Durchmischung, in               Ein Beitrag zur Integration
der neue Wohnformen und Nachbarschaf-
ten entwickelt werden. Die Siedlung soll zu               Johann Spermann SJ

einem Ort vielfältiger Gemeinschaft werden,
                                                          P. Johann Spermann SJ ist Theologe
die ein lebendiges Miteinander der 1.500 Be-                               und Psychologe. In seiner Zeit als
wohner*innen fördert und zugleich Raum für                                 Direktor des Heinrich Pesch Hauses
Individualität lässt. Die Initiator*innen der                              initiierte er das Projekt der Siedlung.
Siedlung geben Einblicke in die Entstehung                                 Aktuell arbeitet er als Provinz­-
und Schwerpunkte dieses visionären Projekts.                               ökonom der Jesuiten in Zentraleuropa.

                                                         Was können wir Jesuiten beitragen? Diese Fra-
Warum Kirche eine Siedlung baut                          ge hat mich während der Flüchtlingskrise sehr
                                                         bewegt. Dann kam die Chance, als wir gefragt
 Dekan Alban Meißner
		                                                       wurden, ob wir Menschen aufnehmen könn-

 Wohnen sieht er als originären 		                       ten. Schnell haben wir in Gesprächen heraus-
                  Auftrag des Christentums. Alban 		     gefunden, dass wir uns etwas Dauerhaftes
                  Meißner ist Dekan der Katholischen     wünschten. Wir wollten einen Beitrag leisten,
		Kirche in Ludwigshafen und gehört                      dass Integration gelingt – und zwar weit über
                  zu den Initiator*innen der Heinrich-   die Flüchtlingskrise hinaus. Es ging uns da-
                  Pesch-Siedlung in Ludwigshafen.        rum: Wie kann in Ludwigshafen das Zusam-
                                                         menleben in so einer multikulturellen Gesell-
Eines der großen Probleme der Gesellschaft ist           schaft gut gelingen – von Menschen, denen es
seit einiger Zeit die Wohnungsnot. Als Kirche            im Leben schlechter geht, und denen, die es
greifen wir dieses Problem auf und versuchen, für        gut haben; Menschen verschiedener Weltzu-
die Gesellschaft Wohnraum zu schaffen. Denn              gänge und Möglichkeiten? Wie schaffen wir es,
es ist der Auftrag von Kirche, etwas für die Ge-         Vorurteile abzulegen? Wie schaffen wir es, auf-
sellschaft zu tun. Mit dem Siedlungsbau wollen           einander zuzugehen und dass die Menschen,
wir zu einem besseren Miteinander in Ludwigs­            die etwas haben, bereit sind, denen in Not et-
hafen beitragen. Zum einen möchten wir Men­              was abzugeben. Danke an alle, die sich auf den
schen eine Heimat geben, zum anderen ihnen               Weg gemacht haben, auf das zu schauen, was
Perspektiven aufzeigen, wo es hingehen kann.             Gesellschaft und Menschen zusammenhält.

10
SCHWERPUNKT

Von der Idee zum Projekt                                    Ein Zuhause für alle
 Dr. Michael Böhmer
		                                                           Ulrike Gentner

 Als Wirtschaftsprüfer und Steuer-		                                          Die Theologin und Pädagogin
                 berater ist er für die finanzielle Seite                     prägt das Heinrich Pesch Haus
                 der Heinrich-Pesch-Siedlung zustän-                          in Ludwigshafen als stellv. Direktorin.
                 dig. Der Ludwigshafener gehört zu                            Sie gehört zu den Initiator*innen
                 den Initiator*innen der Siedlung.                            der Heinrich-Pesch-Siedlung.

Die Anfrage der Ludwigshafener Stadtverwal­                 Es gibt nicht oft im Leben die Möglichkeit, auf
tung während der Flüchtlingskrise, ob wir auf               einer grünen Wiese ein Dorf zu bauen. Die
unserem Grundstück Container oder Einfach­                  Grund­ frage war für uns: Wie gestalten Men-
häuser aufstellen könnten, war die Initialzün­              schen ihr Zusammenleben? Wir haben ange­
dung. Wir haben begonnen, über die wert­                    fangen, die Vision einer Siedlung zu entwickeln,
schöp­­fende Nutzung der Grundstücke neben                  in der Wohnen und Arbeiten, Bildung und
dem HPH nachzudenken. Früh haben wir Ex-                    Soziales gute Synergien finden. Die Heinrich-
pert*innen für Wohnsoziologie und städtebau-                Pesch-Siedlung ist intergenerationell, inklusiv
liche Entwicklung hinzugezogen. Außerdem                    und interkulturell – die Menschen sollen mehr
haben wir uns viele bestehende Projekte ange-               haben als eine Adresse: einen Ort, an dem
schaut und gelernt, dass das Zusammenleben                  sie zuhause sind. Wir haben dann im März
von unterschiedlichen Menschen mit Unter­                   2018 eine „Kerngruppe Soziales“ gegründet,
stüt­
    zungsmaßnahmen noch verbessert wer-                     die Prinzipien entwickelt hat, wie Zusammen-
den kann. Daher haben wir sehr früh die so-                 leben gelingen kann. Dazu gehören baulich
ziale Dimension in den Vordergrund gestellt.                bei­spielsweise Innenhöfe und Gemeinschafts-
Außerdem haben wir entschieden, die Grund-                  gärten als Begegnungsräume, Quartiersmana­
stücke mit Erbbaurecht an die Investoren zu                 gement, ein Begegnungshaus und eine Nach-
vergeben, verknüpft mit klaren Auflagen ent-                barschafts-App, aber auch Bildungsmaßnah-
                                                            ­
sprechend unserer Projektziele.                             men und Kulturprojekte, die das Miteinander
                                                            fördern. Vielfalt fordert heraus und bereichert
                                                            das Zusammenleben.

                                                                                                                 11
SCHWERPUNKT

Erneuertes Zusammenleben
in Wuppertal
Wie kann es gelingen, eine Stadt in die Zukunft zu führen?
Prof. Dr. Uwe Schneidewind, Transformationsforscher
und neuerdings Oberbürgermeister von Wuppertal,
über zahlreiche Aufbrüche der Stadt im Ruhrgebiet.

Herr Schneidewind, was hat sozialökologi-        Ein drittes Projekt ist das Klimaquartier Arren-
sche Transformation mit dem Zusammenle-          berg, ursprünglich eher ein Problemviertel, wo
ben zu tun?                                      sich unternehmerisch und sozial engagierte
   Für mich ist das eine Weise, „nachhaltige     Akteur*innen ein hochambitioniertes Ziel ge-
Entwicklung“ zu konkretisieren, und die ist      steckt haben: ein klimaneutrales Quartier zu
ja kein technologisches Projekt, sondern die     schaffen. Dazu muss man ganz viele mitneh-
Frage, wie wir unser Zusammenleben in einer      men, und entscheidend sind dann gerade die
Welt mit bald 10 Milliarden Menschen orga-       Begegnungsorte, z. B. eine umgebaute Haupt-
nisieren wollen. Dahinter steht eine faszinie-   schule mit einem wunderbaren Hinterhof, der
rende Vision: dass jeder Mensch den gleichen     ein zentraler Anlaufort für die ist, die im Stadt-
Wert hat und die Chance haben sollte, sich zu    quartier wohnen.
entfalten und ein gutes Leben mitzugestalten.
                                                 Wie kann hier Stadtpolitik unterstützend wir-
Können Sie uns dazu einige konkrete Projek-      ken?

                                                                                                      © fotografixx iStock.com
te in Wuppertal beschreiben?                         Eine der wichtigsten Aufgaben von Politik
    Am berühmtesten ist die Utopia-Stadt. Auf    ist, Freiräume für solche Initiativen zu schaf-
fast 30.000 m2 Fläche entsteht dort eine Fül-    fen, denn es sind ja Bereiche, die klassischer-
le von Bottom-up-Initiativen, und die Selbst-    weise nach ganz anderen Planungs- und Ver-
beschreibung ist: „Wir sind ein andauernder      wertungslogiken funktionieren. Es war z. B. für
Gesellschaftskongress mit Ambition und Wir­      die Utopia-Stadt entscheidend, in einem Schul­
kung“. Ich finde das wunderschön, denn es geht   terschluss zwischen Stadt, Verwaltung, Spar-
um eine Form des Zusammenlebens, die demo-       kasse und gemeinwohlorientierten Privatin-
kratisches Aushandeln ins Zentrum rückt.         vestor*innen eine solche Fläche dauerhaft zu
    Dann die „Nordbahntrasse“, eine über 20 km   sichern, auch wenn sich viele Immobilienun-
lange ehemalige Bahntrasse, die nun als Rad-     ternehmen vermutlich die Hände reiben wür-
trasse über viele Viadukte und durch Tunnel      den, wenn sie auf diesen Flächen hochwerti-
führt und völlig neue Einblicke in die Stadt     gen Wohnungsbau machen dürften.
ermöglicht. Dadurch entsteht ein Naherho-            Und dann sind wir natürlich auch Vernet-
lungsraum, und auch manche abgehängten           zungsplattform. Denn die Organisationska-
Stadtviertel werden erschlossen. Auf den Weg     pazitäten solcher Initiativen reichen ja meist
gebracht wurde dieses Projekt durch die zivil-   gerade aus, das eigene Projekt voranzutrei-
gesellschaftliche „Wuppertal-Bewegung“.          ben, aber wenn man Erfahrungsaustausch or-

12
SCHWERPUNKT

ganisieren will, kann die Stadt eine wichtige   sen. Transformation lebt davon, dass sie mit
Katalysator-Rolle spielen.                      den guten und kraftvollen Energien geht. Ein
                                                ordentliches Stück Selbst- und Gottvertrauen
Wenn ich nun in meiner Stadt die Nachbar-       ist da sehr hilfreich. Dazu ist es gut, viel ins
schaft stärken will, wo kann ich da konkret     Gespräch zu gehen mit Menschen, die einen
anfangen?                                       gut kennen, und solchen, die in verschiedenen
   Man sollte einfach den Mut haben, dort, wo   Initiativen aktiv sind. Im Austausch mit ande-
es sich auch vom Bauch her interessant an-      ren kommt einem auch eine Kraft zu, denn das
fühlt, einzutauchen, sich einzubringen, sich    zeigen ja diese vielen Gemeinschaften des Zu-
aber auch nicht forcieren zu lassen, sondern    sammenlebens: dass sich solche Dynamiken
sich auf diesem Weg ein Stück leiten zu las-    gegenseitig verstärken.

                                                                                             13
SCHWERPUNKT

14
SCHWERPUNKT

                       Das „Drumherum“ für die
                       innere Transformation
                       In Frankreich gibt es südlich von Paris einen ganz besonderen Ort:
                       den Campus de la Transition. Hier treffen sich Ökonomie, Ökologie
                       und Humanismus. Fabian Moos SJ gibt Einblicke in den Alltag.
                       Der Campus de la Transition ist ein alternati-    gerade geht, und darauf wird ein weisheitli-
                       ver Hochschul-Campus 70 Kilometer südlich         cher, religiöser oder poetischer Text vorgele-
                       von Paris. Seit 2018 kommen Studierende und       sen, auf den nochmals eine Stille folgt. Die Zu-
                       Young Professionals für mehrere Tage oder         sammenkunft wird mit einem Gruppenspiel
                       Wochen zu Ausbildungskursen und machen            beendet (Evolutionsspiel oder Ähnliches),
                       dabei eine „Immersion“-Erfahrung: Vorlesun-       wodurch der Tag nicht selten mit einem herz-
                       gen, angewandte Forschungsprojekte, aber          lichen Lachen beginnt.
                       auch einfaches vegetarisches Essen, Mithelfen        Die akademischen Inhalte der Kurse sind
                       beim Kochen, Putzen, Gemüseanbau, ein offe-       auf höchstem Niveau. Entscheidend ist für die
                       nes Abendprogramm, Austausch- und Arbeits-        meisten aber wohl eher das „Drumherum“.
                       gruppen.                                          Viele, die hier ankommen, haben den Kopf
                          Das eigentlich Besondere ist aber die Tat-     bereits voller Ideen, wie sie die Welt retten
                       sache, dass der Campus auch ein vielfältiger      wollen. Das, was der Campus bietet, ist ein
                       Lebensort ist. Es wohnen etwa 30 Menschen         Anstoß zu einer „inneren Transformation“,
                       in dem alten Schloss des Assumptionistinnen-      hin zu einer anderen Weise, in Beziehung
                       Ordens. Rundherum gibt es einen Gemüse-           zu treten. Dazu braucht es Orte und Zeiten
                       garten, eine Obstplantage, eine große Wiese       der Begegnung, aber auch der persönlichen
                       für Zelte von Kursteilnehmenden oder für          und gemeinschaftlichen Reflexion. Ich will
                       weidende Schafe. Neben den „Schlossbewoh-         nichts idealisieren, es gibt auch Konflikte und
                       ner*innen“ sind je nach Kurs und (Corona-)        Schwierigkeiten, und nicht alle lassen sich
                       Saison noch Dutzende oder Hunderte andere         auf eine solche ganzheitliche oder spirituelle
                       Menschen da.                                      Erfahrung ein. Unterm Strich aber erlebe ich,
                          Persönlich habe ich mich zwei Jahre lang       dass Wachstum stattfindet, wo Menschen sich
                       auf dem Campus engagiert und seit Kurzem          begegnen. Als Christ glaube ich, dass genau
                       wohne ich auch selbst als Teil der zehnköp-       da auch Gott seine Finger im Spiel hat.
                       figen Stammkommunität dort – das ist die
                       Gruppe derjenigen, die für mindestens ein
                       Jahr bleiben. Was mich fasziniert, sind vor al-
                       lem die zahlreichen Elemente, die dafür sor-
                       gen, dass die Menschen sich auf einer tieferen                       Fabian Moos SJ
© boonsom iStock.com

                       Ebene begegnen. Für alle beginnt beispiels-                          studiert Theologie in Paris. Neben
                       weise jeder Tag mit dem „Wort am Morgen“:                            seinem Studium engagiert er sich für
                                                                                            die sozialökologische Transformation.
                       Nach einem Gongschlag gibt es eine kurze
                                                                                            Er ist ausgebildeter Gymnasiallehrer für
                       Stille zur Besinnung, dann ein „Check-in“, wo                        die Fächer Französisch und Spanisch.
                       jede*r in einem Satz sagt, wie es ihm oder ihr

                                                                                                                                15
SCHWERPUNKT

Blick in die Werkstatt
Studierende denken über die Gestaltung von
sozial-ökologischem Wohnen nach.

Wie kann zukünftig unser Wohnen aussehen?        Längswänden, die per Stecksystem einfach zu
Wie groß sollen Wohnungen sein und wie kön-      montieren sind.
nen Menschen gut zusammenleben? Wohnen              Unter dem Namen „Smartbox“ präsen-
neu denken, ohne Vorgaben, ohne Budgets –        tierten die Studierenden eine Idee, bei der
dazu hatten Studierende bei einer Sommer-        Wohnen in bewegte, installierte und ruhige
akademie die Gelegenheit.                        Zonen unterteilt wird. Die einzelnen Zonen
   Bauen und Wohnen neu denken, kreativ          lassen sich verdichten und überlagern. Umge-
und visionär – das ist das Ziel der Sommer-      setzt wird die „Smartbox“ mit fest installier-
akademie der Architektur, die vor einigen Jah-   ten Boxen sowie Raummodulen, die variable
ren von der GAG, dem städtischen Wohnungs-       Grundrissformen und stapelbare Gebäude er-
bauunternehmen in Ludwigshafen, ins Leben        möglichen. Klappbare oder eingebaute Möbel
gerufen wurde. 2016 beschäftigten sich die       tragen ebenfalls zur Platzoptimierung bei.
teilnehmenden Studierenden mit dem noch             Neben dem Wohnen befassten sich die
unerschlossenen Areal der zukünftigen Hein-      Workshop-Teilnehmenden auch mit dem Zu-
rich-Pesch-Siedlung. Im Mittelpunkt stand die    sammenleben der Bewohner*innen. Um In-
Erstellung neuer Initiativen und Impulse bei     klusion, Integration und das Miteinander der
der Schaffung von bezahlbarem Wohnraum.          verschiedenen Menschen zu erreichen, sahen
   Dazu entwickelten Studierende der Hoch-       die Studierenden Orte für Begegnungen wie
schulen Mainz, Ludwigshafen, Heidelberg und      einen zentralen Platz und Innenhöfe vor. Das
Kaiserslautern flächenoptimierte Lösungen        neue Stadtquartier wurde zudem in drei Zo-
für den Wohnungsbau. Auch eine kleine Woh-       nen „Wohnen, Bildung und ein gewerblich ge-
nung kann alle notwendigen Funktionen ha-        nutztes Gebiet“ aufgeteilt. Die Studierenden
ben – das zeigten die Studierenden mit ihrer     schlugen vor, die Siedlung autofrei zu gestal-
Idee des „Mikro-Wohnens“. Dazu konzipierten      ten und planten ein Parkhaus entlang der an-
sie ein Gebäude mit einer Skelettstruktur, in    grenzenden Hauptstraße.
das gleich große Boxen beliebig hineingescho-       All diese Impulse ließ Prof. Rolo Fütterer
ben werden können. Die Wohnboxen bieten          von der Hochschule Kaiserslautern in einen
auf knapp 14 Quadratmetern Platz für Bett        ersten Entwurf für den Masterplan für die
und Bad. In ihnen können Singles, Paare oder     Heinrich-Pesch-Siedlung einfließen, der die
zwei Kinder wohnen. Wohnen, Kochen und Es-       Grundlage für die weiteren Planungen wurde.
sen finden in Gemeinschaftsräumen statt. Die
Boxen können beliebig zusammen- und auch                           Ernst Meckel
wieder zurückgebaut werden.                                        Der Diplom-Ingenieur ist
   Auch mit „Wohn-Bau-Kästen“ kann Wohn-                           Geschäfts­führer der HPS GmbH
                                                                                                   © Anette Konrad - HPH

raum weitestgehend minimiert und immer                             & Co. KG. Zuvor war der
                                                                   Ludwigshafener Vorstand der
wieder den verschiedenen Wohnbedürfnissen
                                                                   GAG Ludwigshafen und Bau-
angepasst werden. Die Studierenden entwar-                         und Umweltdezernent der Stadt
fen hier einen Bauteilekatalog mit Quer- und                       Ludwigshafen.

16
SCHWERPUNKT

        17
SCHWERPUNKT

Auf gute Nachbarschaft
„Gute Nachbarn“ gehören zu einem Zuhause.          terschiedlicher sozialer Milieus und Kulturen.
Wie sehen für Sie „gute Nachbarn“ aus? Für         Wie kann gutes Zusammenleben gelingen?
mich gehen sie achtsam mit den Menschen            Diese Frage ist für den sozialen Frieden einer
ihrer Umgebung um. Ihre Freundlichkeit lässt       Stadtgesellschaft zukünftig genauso wichtig
andere spüren, dass sie willkommen sind. Sie       wie die Planung und Organisation eines städti-
 schauen nicht weg, wenn Hilfe gefragt ist. Gute   schen Lebens, das die natürlichen Ressourcen
Nachbarschaften sind kein Allheilmittel. Aber      nachhaltig schont. Das eine wird ohne das
unter guten Nachbarn braucht es Entschlos­         andere nicht gelingen.
 sen­heit, um zu vereinsamen. In guter Nachbar-       Gute Nachbarn können wir uns nicht backen.
 schaft kann ich mich auch zurückziehen, ohne      Aber wir können Stadtquartiere so planen
meine Privatsphäre ständig vor Neugier schüt-      und das Zusammenleben so organisieren, dass
zen zu müssen.                                     Begegnungen gefördert werden und Konflikte
    Nachbarschaften sind Bausteine am Fun-         ihre Bedrohlichkeit verlieren. Bewohner*in-
 dament der Gesellschaft. Sie tragen bei zu Le-    nen werden damit nicht allein gelassen. Dafür
bensqualität und Integration von Menschen          haben die Projektinitiatoren*innen der Hein-
in die Stadtgesellschaft. Dafür machen wir         rich-Pesch-Siedlung bereits in einer frühen
uns erstaunlich wenig Gedanken über ihr Ge-        Ent­wicklungsphase begonnen, gemeinsam mit
lingen. Dabei machen zunehmende Individua-         Verbündeten aus Wissenschaft, Sozialarbeit
lisierung und Vielfalt der Gesellschaft das Zu-    und Stadtverwaltung ein soziales Konzept zur
 sammenleben nicht unbedingt einfacher. Die        Förderung guter Nachbarschaften zu planen
meisten von uns schätzen die Freiräume für         und maßgebliche Akteure zu vernetzen. Auf
Individualität und die kulturelle Vielfalt unse-   der Basis einer „Charta des Zusammenlebens“,
rer Gesellschaft. Aber abweichende Lebens-         die geprägt ist von den christlichen Wertvor-
rhythmen, fremde Gerüche und ungewohnte            stellungen der kirchlichen Projektträger wie
Sitten bringen uns dann doch schnell aus dem       von Erkenntnissen der Sozialwissenschaft,
Konzept und an unsere Grenzen. Das betrifft        wenden sie sich an alle Menschen und Ini-
 das Zusammenleben unterschiedlicher Gene-         tiativen guten Willens, mit ihren Ideen, ihren
rationen ebenso wie das von Menschen un-           Überzeugungen und ihrem Engagement bei-
© RyanJLane iStock.com

18
SCHWERPUNKT

zutragen zum Gelingen des Zusammenle­bens         zubringen in die Gestaltung „ihres“ Viertels.
in der Heinrich-Pesch-Siedlung. Es ist ein Mo­    Dem dient auch ein professionelles Quar-
dell­projekt, dessen Er­f­ahrungen auch auf an-   tiersmanagement. Anders als in vergleichba-
dere Stadtquartiere übertragen werden sollen.     ren Projekten sind damit jedoch nicht Einzel-
   Welche Aufmerksamkeit der Förderung von        kämpfer*innen gemeint, die erst Netzwerke
Nachbarschaft und Begegnung real geschenkt        mit sozialen Diensten, Bildungseinrichtungen
wird, drückt sich bereits in Flächennutzung       und kulturellen Anbietern aufbauen müssen.
und Raumkonzepten aus: Die Heinrich-Pesch-        In der Heinrich-Pesch-Siedlung wird das Quar-
Siedlung verzichtet auf die maximale Verdich-     tiersmanagement selbst von Anfang an von
tung des bebaubaren Raums, also auf Profit,       den multiprofessionellen und gut vernetzten
zugunsten von viel öffentlichem Raum, der         Teams von Caritas und Heinrich Pesch Haus
zur Begegnung einlädt; Innenhöfe, Spielplät-      konzipiert und aufgebaut. Ein Team wird Be-
ze, Mietergärten und Grünzüge, mit denen die      wohner*innen für gemeinsame Initiativen
Natur Rückzugsräume inmitten des städti-          zur Gestaltung des Zusammenlebens im Be-
schen Quartiers erhält. Die Diversität der Bau-   wohner*innenverein gewinnen, Menschen in
formate vom Einfamilienhaus über das Stadt-       Krisen beraten und Konflikte schlichten. Und
haus bis hin zum Mehrfamilienhaus, sorgt          weil der Reichtum von kultureller und sozia-
dafür, dass die erwünschte soziale Mischung       ler Vielfalt vor allem dort aufscheint, wo Men-
von Menschen aller Einkommen erreicht wer-        schen einander ihre Geschichten erzählen,
den kann. Die Anforderung, dass alle Häuser       wird in der Heinrich-Pesch-Siedlung neben
und öffentlichen Einrichtungen barrierefrei       Bildungsangeboten, Sport und Spiel die Kultur
sein müssen, verhindert, dass Menschen auf-       des Geschichten-Erzählens eine zentrale Rolle
grund ihres Alters oder eines Handicaps vom       spielen. Alle, die das Heinrich Pesch Haus ken-
Leben im Quartier ausgeschlossen werden.          nen, wissen, das ist uns ein Herzensanliegen.
   Baulich bildet der Platz mit einem „Begeg-
nungshaus“ das markante Zentrum. Errich-                             Tobias Zimmermann SJ
tung und Unterhalt werden ebenso wie die
                                                                     ist Direktor des Heinrich Pesch
anderen sozialen Einrichtungen finanziert aus                        Hauses in Ludwigshafen und
den Erträgen der HPS Projektgesellschaft. Sie                        Prokurist der Heinrich-Pesch-
alle dienen subsidiär dazu, die Bewohnerin-                          Siedlung GmbH & Co. KG. Pater
nen und Bewohner zu ermutigen, sich selbst                           Zimmermann ist außerdem Chef-
                                                                     redakteur des JESUITEN-Magazins
mit ihren Ideen und ihrem Engagement ein-                            und leidenschaftlicher Künstler.

                                                                                                 19
SCHWERPUNKT

Nachhaltig bauen –
eine positive Antwort geben
Wie müssen wir bauen, wenn wir sozial und          Bepflanzung eine hohe Biodiversität. Ermög-
ökologisch verträglich zusammenleben wol-          licht wird solch ein Freiraum durch ein Mobi-
len? Diesen Fragen stellen sich die Mitwir-        litätskonzept, das den Schwerpunkt auf den
kenden der Heinrich-Pesch-Siedlung bei der         Fußgänger- und Fahrradkomfort legt und dem
Planung des neuen Quartiers, das in Ludwigs-       Auto an den Rändern der Siedlung Platz ein-
hafen entstehen soll. Das Ziel der sozialen        räumt. Der Versieglungsanteil wird minimiert
Ausrichtung ist es, Wohnraum für alle Einkom­      und das Regenwassermanagement kann lokal
mensschichten zu bieten und den gesellschaft­      gelöst werden. Das Regenwasser kann als Ge-
lichen Zusammenhalt mit einem Quartiersma-         staltungselement im Freiraum zu einem ange-
nagement zu stärken.                               nehmen Mikroklima im Quartier beitragen.
   Um die Siedlung auch ökologisch nach-               Für die Gebäude wird eine ressourcenscho-
haltig zu gestalten, werden Konzepte zu den        nende Bauweise mit einer guten Ökobilanz
Schwerpunktthemen Energie, Mobilität, Grün-        durch die Optimierung des Materialverbrauchs
raum, Wasser und Kreislaufwirtschaft unter-        der konventionellen Bauweisen angestrebt.
sucht.                                             Überlegungen zur Brauchwassernutzung, z. B.
   Die Planung einer Siedlung ist komplex.         für die WC-Spülung, haben das Potenzial, den
Viele Themen müssen beachtet werden und            Trinkwasserverbrauch stark zu reduzieren und
be­einflussen sich gegenseitig. Die Klimakrise     den Abwasseranfall zu verringern.
und die notwendige ökologische und soziale             Das Ziel, nachhaltig zu bauen, wäre er-
Transformation betreffen nahezu alle Aspekte       reicht, wenn wir auf die Frage: „Können mit
unseres Lebens und Arbeitens. Die Suche nach       dem Quartier positive Effekte für Mensch und
Lösungen kann deshalb nicht reibungslos ver-       Umwelt erreicht werden?“ nach der Realisie-
laufen, aber es ist wichtig, dass wir jetzt be-    rung eine positive Antwort geben können.
ginnen.
   Die Grundlage für eine emissionsarme Sied­
lung sind eine nachhaltige Energieversorgung
und Gebäude, die wenig Energie im Betrieb
verbrauchen. Erneuerbare Energie mit Photo-
voltaik-Anlagen an Gebäuden lokal zu erzeu-
gen, eine Wärmeversorgung über den Rück-
lauf der Fernwärme und eine Pilotanlage zur
Erzeugung von Wasserstoff aus Solarenergie                          Uta Ehrhardt
bilden die Bausteine.                                               Die Architektin arbeitete zu-
   Der Freiraum ist ein zentrales Element, der                      nächst als Entwurfsarchitektin in
                                                                    Darmstadt und Amsterdam. Sie
viele Weichen für soziale und ökologische
                                                                    absolvierte ein Aufbaustudium
Qualitäten stellt. Ein großer Anteil an Grünflä-                    „Architektur und Umwelt“ und ist
chen sorgt für viel Aufenthaltsqualität für die                     seit 2014 als Nachhaltigkeitsbera-
Bewohner und erreicht mit einer artenreichen                        terin tätig.

20
SCHWERPUNKT

Die Kuh gegen eine
Ziege tauschen
Hier verbinden sich Ökologie und Gerechtigkeit: Im Februar
2020 hat die Gesellschaft Jesu in Valladolid einen offenen
Gemeinschaftsort für Jesuiten, Laien und Geflüchtete eröffnet.
In den letzten zwölf Jahren hat die Gesellschaft    jetzt angelangt waren. Aber die Wahrheit ist,
Jesu in Valladolid viele Projekte rund um Öko-      dass die Ziege sehr produktiv ist. Für uns gilt:
logie und die Arbeit mit Migrantinnen und Mi-      „Wer verliert, gewinnt“. Wir erleben die Tatsa-
granten initiiert. Das Einzige, was sich nicht      che, das Leben so mit anderen zu teilen, als
geändert hatte, war unsere persönliche und          ein unverdientes Geschenk. Eine Familie hat
gemeinschaftliche Lebensweise: der gleiche          bereits wieder zu einem normalen sozialen Le-
Lebensort, die gleiche Art, miteinander in Be-      ben zurückgefunden. Immer wieder kommen
ziehung zu treten… Es war Zeit für eine radi-       Menschen, um ein paar Tage bei uns zu ver-
kalere Entscheidung, die unser eigenes Leben        bringen, sich auszutauschen, ein Stück Leben
betraf. So hat uns eine gemeinsame Unter-           zu teilen ... Wir haben Platz, um sie willkom-
scheidung dazu gebracht, einen offenen Ge-          men zu heißen.
meinschaftsort zu gründen, in dem Jesuiten             Nach dieser Zeit könnten wir in den Son-
und Laien zusammenleben und in dem wir              nengesang des Heiligen Franz von Assisi ein-
Migrantenfamilien in Notsituationen oder Ge-        schwingen und beten: „Gelobt seist du, mein
flüchtete aufnehmen können. Im Februar 2020         Herr, für die Schwester Ziege, die Milch gibt
haben wir mit 16 Leuten angefangen.                wie die beste aller Kühe und die du unverdien-
   Das ist unser Projekt namens „Ecología y        termaßen an unsere Seite gestellt hast, um die
Acogida Ana Leal“: Ein Ort zur Aufnahme von         kostbaren Dinge des Lebens zu erfahren, die
Migrantenfamilien, aber offen für alle, die eine    uns mit Sinn erfüllen“. Der Motor dieses Pro-
Erfahrung der sozial-ökologischen Transfor-         jekts ist ein Aufruf, in Liebe und Respekt vor
mation oder Umkehr machen wollen. Und das           der Schöpfung und den Geschöpfen zu leben.
in dem außergewöhnlichen Kontext von INEA,          Das ist es, was Papst Franziskus als Ganzheit-
der jesuitischen Bio-Agrar-Hochschule in Val-       liche Ökologie bezeichnet. Um sich auf alter-
ladolid, mit ihren zahlreichen Projekten wie        native Erfahrungen einzulassen, bedarf es aber
etwa den 430 ökologischen Gartenparzellen           einer bewussten Entscheidung, denn der Ruf
für ältere Menschen (www.ecoinea.org).              ergeht an uns alle.
   Das vergangene Jahr hat uns geholfen,
unsere Entscheidung zügig umzusetzen und
unsere ersten Erfahrungen zu machen. Ein                             Félix Revilla SJ
Mitbruder benutzte ein Gleichnis, um auf un-                         Direktor des Bio-Agraringenieur-
sere Situation hinzuweisen: „Du hast die Kuh                         Instituts INEA, Mitglied des
gegen eine Ziege ausgetauscht“, um anzudeu-                          Wohnprojekts "Ecología y Acogida
                                                                     Ana Leal", Valladolid, Spanien.
ten, wie gut es uns vorher ging und wo wir

                                                                                                  21
Geistlicher
Prophetisch leben                                                           Impuls

Am Doppelgebot der Liebe „hängen das gan-         begeistert in die ihnen von Gott gestellte Auf-
ze Gesetz und die Propheten“, sagt Jesus (Mt      gabe hineingehen. Ihnen droht in der Regel Är-
22,40). Diese beiden Säulen der religiösen        ger wegen ihrer Botschaft.
Tradition des jüdischen Volkes definiert Jesus       Aber es geht ihnen ja auch nicht darum, sel-
 damit neu. Die Auseinandersetzung mit dem        ber Recht mit der eigenen Meinung zu haben.
„Gesetz“ geht weiter. Heute streiten wir über     Der Knackpunkt ist, dass sie gewiss sind, ver-
gewichtige Probleme der Kirchenstrukturen         standen zu haben, was Gott von ihnen und in
und des Kirchenrechts. Und die prophetische       unserer Welt will und sich dann gesandt wis-
Seite?                                            sen, dafür einzutreten. In der Bibel findet dies
    Oder bei der Taufe: Laut                                            für die besonders Berufe-
 dem Gebet bei der Chri-                                                nen oft in einem direkten
 samsalbung wird der Täuf-      Wer ist heute ein                       Gespräch mit Gott statt,
ling hineingenommen in                                                  in dem Gott oft auch erst
 das dreifache Amt Christi,     Prophet, eine                           die Einwände des Prophe-
 des Königs, Priesters und                                              ten zerstreuen muss.
Propheten. Das allgemeine       Prophetin? Sind                            Und als getaufter
Priestertum und die Wür-                                                Mensch heute das „all-
 de der Getauften und aller
                                Sie prophetisch?                        gemeine Prophet-Sein“
Menschen – also das „all-       Bin ich es?                             zu leben: Was heißt das
gemeine Königtum“ – sind                                                nun? Jede*r Getaufte ist
breit akzeptiert. Und das                                               grundsätzlich hineinge-
„allgemeine Prophet/in-Sein“ aller Getauften?     nommen in diese Dynamik, auch wenn nicht
    Es geht sicher nicht darum, wer die besten    jede*r öffentlich auftreten und für Gott und die
Vorhersagen macht, wer etwa Wahlen gewinnt,       Gerechtigkeit kämpfen muss.

                                                                                                     © Anette Konrad - HPH
wie sich die Pandemie entwickelt oder wie            Entscheidend ist der zuletzt genannte
 es mit der Kirche weitergeht,… Es geht auch      Punkt: Wie verstehe ich, was Gott von mir will?
nicht darum, im allgemeinen Meinungsstreit        Wo sehe ich seine Herausforderung an mich
besonders profilierte Positionen zu vertreten     und unsere Welt in den Zeichen der Zeit? Und
 oder mit anderen als Pressure-Group Themen       lasse ich mich dann, wenn auch vielleicht erst
zu setzen und voranzubringen.                     nach einer gewissen Überwindung, dazu her-
    Biblisch sind die Propheten solche, die den   ausfordern, mich aktiv dafür einzusetzen?
Mund aufmachen, weil sie spüren, dass das            Hilfreich sind die ignatianischen Grund-
Volk oder die Mächtigen oder die religiösen       prinzipien, wie Ignatius sie in den Exerzitien
Autoritäten Gottes Willen nicht mehr suchen       einzuüben hilft: das Bemühen, indifferent zu
und nicht mehr aus der Nähe zu ihm leben.         werden gegenüber allem, woran ich gerne
Sie reden gegen den Mainstream als Mah-           mein Herz hänge; der nüchterne Blick auf die
ner gegen Oberflächlichkeit, gegen die Ver-       eigene Person, wie ich vor dem barmherzigen
führung durch Wohlstand und Macht, gegen          Gott stehe; die Unterscheidung der Geister,
Ungerechtigkeit und gegen Gottvergessen-          was in den vielen Stimmen der Welt wirklich
heit. Oder sie sind die Vermittler großer Hoff-   vom guten Geist ist; die wachsende Bereit-
nungsbilder in Zeiten der Not oder des Exils.     schaft, sich senden zu lassen in den guten
In der Regel sind es Einzelpersonen, die nicht    Kampf.

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GEISTLICHER IMPULS

   Am Ende steht alles dann unter dem Lie-
besgebot Jesu. Daran hängen ja nicht nur das
Gesetz, das menschlich und gerecht bleiben       Bernd Günther SJ
muss, sondern auch die Propheten. Nur aus
                                                 Pater Bernd Günther SJ ist 1986
der Liebe zu Gott und den Menschen heraus        in den Jesuitenorden eingetreten.
kann ich verantwortungsvoll und frei von         Nach seiner Priesterweihe war er
Eigeninteressen kämpfen für Glauben und          Flüchtlingsseelsorger in Berlin und
Gerechtigkeit, gegen Ausgrenzungen und           gründete dort das deutsche Büro
                                                 des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes.
Gottvergessenheit. Nur in der realistischen
                                                 Inzwischen ist er Kirchenrektor
Ehrlichkeit der Liebe kann ich die große Hoff-   von St. Ignatius in Frankfurt und
nung aufzeigen, die trägt.                       Delegat für Pastoral..

                                                                                   23
Was macht
                                         eigentlich …?

                         Ludger Joos SJ
                         Die Augen leuchten, als Ludger Joos SJ von
                         seiner „Sardinenbüchse auf drei Rädern“
                         schwärmt. Erst vor kurzem bekam er den
                         dreirädrigen Kastenwagen geschenkt: „Da-
                         mit werde ich auf den Marktplatz fahren, mit
                         großem Logo vom ‚Mittagstisch‘ drauf. Was
                         ich dann genau mache, weiß ich noch nicht.“
                         Der 53-jährige Jesuit betreut seit 2017 die Je-
                         suitenpfarrei Sankt Michael in Göttingen, zu
                         der auch der Mittagstisch gehört. Eine Ein-
                         richtung, die täglich 40 bis 70 Gäste mit einer
                         warmen Mittagsmahlzeit und Lebensmitteln
                         versorgt – auch in Coronazeiten.
                            Der Jesuit bezeichnet sich selbst als Ma-
                         cher. Das habe er von seinem Vater, einem
                         Lehrer, der Pfadfinderstämme gründete, sich
                         politisch engagierte und mit 45 Jahren be-
                         gann, in den Vogesen eigenhändig einen
                         verfallenen Hof in ein Ferienhaus zu verwan-
                         deln. Von seiner Mutter komme ein kreatives
                         Moment: „Ich mag rum friemeln, aufbauen,
                         kreativ sein!“ Nach einem zweijährigen Auf-
                         enthalt in Polen organisiert Joos für den
                         Weltjugendtag 2005 in Köln das ignatianische
                         Vorprogramm „Magis“, das bis heute jeden
                         Weltjugendtag mit Ignatianischen Experi-
                         menten begleitet: „Das hat uns an die Grenze
                         gebracht, wir waren nur vier Leute. Aber ich
                         will es nicht missen!“

                         „Ich wollte nie
                         Pfarrer werden,
                         aber jetzt liebe
                         ich diesen Job.“
     Bilder: © SJ-Bild
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WAS MACHT EIGENTLICH...?

   2007 kehrt der gebürtige Freiburger und
Gymnasiallehrer zurück in den Südwesten und
wird Kollegsseelsorger in St. Blasien im Hoch-
schwarzwald. Dort ging es ihm darum, den
Schüler*innen und Eltern, geistliche Erfah-
rungen zu ermöglichen, eine Verwurzelung im
Glauben. Ein wichtiges Werkzeug dafür sind
die Exerzitien, die Joos an die Lebenswelt der
Jugendlichen anpasst.
   Die Pastoral in Göttingen ist bunter, das
Repertoire an Begegnungen breiter. „Mein
Alltag ist sehr geprägt vom Kirchenjahr, wird
aber immer wieder von Taufen und Beerdi-
gungen oder Besonderheiten der City-Kirche
durchkreuzt“, so der Jesuitenpfarrer. Ein Bei-
spiel für diesen Eigencharakter der Innen-
stadtkirche ist der Saint-Patrick’s-Day: Mitten   Von einer Dienstleistungskirche zu einer, wo
in der Fastenzeit ein knallgrüner Gottesdienst    die Gaben aller integriert sind.“ Es ginge da-
mit Dudelsack und Trommeln.                       rum, Räume zu bereiten, die noch nicht da
   Die Pfarrei ist ein Gemeinschaftsprojekt.      sind. „Ein Wandel mit Katzenjammer, aber
„Es geht um die Frage, wie wir Kirche in ei-      spannend“, schmunzelt Joos.
nem Umbruch aufbauen und mitgestalten.               Auch die fünfköpfige Jesuitenkommunität
                                                  trägt die Gemeinde mit, vor allem durch den
                                                  Schatz der gemeinsamen Exerzitienspirituali-
                                                  tät: „Wir sprechen eine Sprache, wenn auch
                                                  in Dialekten.“ Diese Spiritualität, gesendet
                                                  in eine grundsätzlich liebenswerte Welt, bil-
                                                  de die Grundlage für die Seelsorge, um Men-
                                                  schen aufzufangen, ihnen bei Wahrnehmung
                                                  und Unterscheidung zu helfen und dabei,
                                                  ihre eigenen Widersprüche auszuhalten. Die-
                                                  se innere Freiheit hat auch Ludger Joos vor
                                                  25 Jahren angelockt und trägt ihn bis heute:
                                                  „Kirche, Welt, ich selbst, Orden – das ist alles
                                                  liebenswert.“

                                                  Dag Heinrichowski SJ

                                                                                               25
NACHRICHTEN

Neues aus dem
Jesuitenorden
Papst zum Ignatius-Gedenkjahr:                   als Volksmissionar wirkte, nichts mehr im Weg.
Bekehrung geschieht im Dialog                       „Es ist für uns etwas Besonderes, dass ei-
                                                 nem unserer Mitbrüder diese Ehre zuteil wird“,
Papst Franziskus hat den Beginn des „Igna-       sagte Provinzial P. Bernhard Bürgler SJ. „Im
tianischen Jahres 2021/2022“ mit einer Video-    Ignatianischen Jahr, in dem wir uns an die Be-
botschaft gewürdigt. Jesuiten-Gründer Igna-      kehrung des Ignatius vor 500 Jahren erinnern,
tius von Loyola (1491-1556) habe Christus in     ist dies für uns alle ein großes Geschenk.“
den Mittelpunkt seines Lebens gestellt, sagte        Der am 5. Januar 1642 in Eichstätt gebo-
das Kirchenoberhaupt in dem Clip. Dies habe      rene und 1663 in den Jesuitenorden einge-
der Baske durch Unterscheidung geschafft.        tretene Philipp Jeningen sah sich nach dem
    Unterscheidung bedeute nicht immer, dass     Vorbild des Hl. Franz Xaver als Missionar be-
man von Anfang an erfolgreich sei. Es gehe       rufen. Der Orden wies ihm jedoch die Ostalb
vielmehr darum, aufzubrechen, in Bewegung        im Süden Deutschlands als Missionsgebiet zu.
zu bleiben und sich vom Heiligen Geist leiten    Von dort aus war er als Volksmissionar in den
zu lassen. Der Weg dieser Pilgerreise könne      Bistümern Augsburg, Eichstätt und Würzburg
viele Wendungen haben, aber am Ende führe        tätig. Er starb am 8. Februar 1704 und ist in der
er zu Gott. Wichtig sei es, sich mithilfe der    Basilika St. Vitus in Ellwangen bestattet.
Mitmenschen immer wieder von Neuem zu                Der Seligsprechungsprozess wurde bereits
bekehren. „Denn Bekehrung geschieht stets        1945 eingeleitet, der so genannten „heroische
im Dialog“, betonte der Papst.                   Tugendgrad“ 1989 festgestellt. Entscheidend
    Der Jesuitenorden, dem auch Franziskus
angehört, erinnert 2021 und 2022 an die Be-
kehrung seines Gründers vor 500 Jahren. Of-
fiziell eröffnet wurde das Gedenkjahr bereits
am 20. Mai im spanischen Pamplona. Nach
einer Schlacht vor der baskischen Stadt hat-
te sich der schwer verwundete Ignatius 1521
für ein geistliches Leben entschieden. Das Ge-
denkjahr endet am 31. Juli 2022, dem Todes-
tag des Heiligen.
                                                                                                 © SJ-Bild

Jesuiten freuen sich über Selig­
sprechung von P. Philipp Jeningen                Pater Philipp Jeningen SJ

Der Jesuitenorden freut sich über die Nach-      für das Plazet des Papstes war eine „nicht er-
richt, dass Papst Franziskus ein Pater Philipp   klärbare Heilung“ eines Mannes aus der Di-
Jeningen SJ zugeschriebenes Wunder an-           özese Rottenburg-Stuttgart von einer unheil-
 erkennt. Damit steht der Seligsprechung des     baren Krankheit aufgrund der Fürbitten seiner
„guten Pater Philipp“, der im 17. Jahrhundert    Verwandten zu Pater Jeningen.

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