Jesuiten Zukunftslabore des Zusammenlebens - Jesuiten.org
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Jesuiten 2021-3 1 Editorial Schwerpunkt 2 Schokoladen-Häuser, Schwimmbäder und Chill-Zonen 4 Die sozial-ökologische Transformation beginnt bei uns selbst 6 Ziel: Menschenwürdiges Leben innerhalb planetarer Grenzen 8 Gemeinsam leben – gemeinsam entscheiden 10 Menschen ein Zuhause geben 12 Erneuertes Zusammenleben in Wuppertal Titelbild © fotografixx iStock.com 15 Das „Drumherum“ für die innere Transformation 17 Blick in die Werkstatt Wie wollen wir eigentlich zusammen- 18 Auf gute Nachbarschaft leben ... als einzelne Menschen mit anderen, als Familie, als generations- 20 Nachhaltig bauen – eine positive Antwort geben übergreifende Gruppe? Die Bilder 21 Die Kuh gegen eine Ziege tauschen in diesem Heft zeigen, wie Menschen mit dieser Frage umgehen. Da sind Geistlicher Impuls Erwachsene, die neue Formen aus- 22 Prophetisch leben probieren und das Dach einer Indus- Was macht eigentlich? trieanlage zum Garten machen. 24 Ludger Joos SJ Oder die Wand zur vertikalen Oase. Und da sind Kinder, die sich im Nachrichten Sommer während einer Ferienwoche 26 Neues aus dem Jesuitenorden im Heinrich Pesch Haus in Ludwigs- hafen mit ihren Wohnträumen der Personalien Zukunft beschäftigt haben. Das Er- 30 Jubilare gebnis waren mehr als bunte Bilder 30 Verstorbene – sondern ganz konkrete Konzepte. Oder wie es ein Junge formuliert Medien/Buch hat: „So finde ich das gut. Ziehst du 31 Fabian Moos SJ: Der Zukunft eine Zukunft geben. auch mit ein?“ Stefan Weigand Vorgestellt 32 Safeguarding: Sensibel sein und werden 34 Die besondere Bitte Standorte der Jesuiten in Zentraleuropa Diese Druckerzeugnis wurde klimaneutral hergestellt, d.h. die mit der Produktion quantifizierten CO2-Emissionen werden durch Klimaschutzzertifikate kompensiert.
EDITORIAL „Glaube und Gerechtigkeit!“ Liebe Leserinnen und Leser, chen, dass wir Christen unter dem Anspruch stehen, uns für Glaube und Gerechtigkeit in diese Leitlinie aus Dekret vier der 32. Gene- einem globalen Kontext einzusetzen. ralkongregation von 1974/75 macht deutlich, dass es uns Jesuiten in der Nachfolge Jesu Heute verändern technische Innovationen und immer um den ganzen Menschen geht: um globale Vernetzung die Lebensbedingungen Seele und Leib. Um ein Leben in Würde im immer rasanter. Die Natur macht uns deutlich, Jetzt ebenso wie um das ewige Seelenheil. Um dass wir uns den gewohnten Raubbau an den die einzelne Person und um gesellschaftliche natürlichen Ressourcen nicht mehr leisten Strukturen, die ein Leben in Würde ermög- können. Gleichzeitig müssen wir mehr Men- lichen. Wir tun das in praktischen Projekten schen Teilhabe an besseren Lebensbedingun- wie durch die Reflexion der Grundlagen einer gen und Wohlstand ermöglichen. Viele Men- humanen Gesellschaft: So hat sich P. Rupert schen erleben diese Herausforderungen als Mayer SJ zwischen den Weltkriegen in Mün- bedrohlich. Wir denken, wir brauchen Orte, chen in der Männerseelsorge eingesetzt für an denen wir uns neu verständigen und aufei- die Heerscharen alleinstehender Männer, oft nander einstellen können. Und wir wollen Ih- an Leib und Seele versehrt. P. Delp dachte mit- nen solche „Zukunftslabore“ vorstellen, Pro- ten im Untergang mit Gleichgesinnten aller jekte auch des Ordens, wo wir versuchen, unser konfessionellen und politischen Lager nach Zusammenleben als Menschen und mit der Na- über die Grundlagen einer gerechten Gesell- tur neu zu justieren. Wir wollen dadurch Ihre schaftsordnung nach dem Zusammenbruch Neugier und Ihren Optimismus wecken: Ge- der Diktatur. P. Nell-Breuning etablierte in meinsam können wir diese Herausforderun- der jungen BRD eine Tradition sozialethischer gen meistern und sogar Freude daran finden, Reflexion neu, die bis heute wichtige Akzente uns auf neue Perspektiven einzulassen, z.B. auf im politischen Diskurs setzt. In der DDR setz- Städte, die wieder mehr den Menschen ge- ten sich Jesuiten für die Bewahrung spirituel- hören und weniger dem Profit und den Autos. ler Zugänge mitten im herrschenden Mate- rialismus ein. Mit Jesuiten-Flüchtlingsdienst Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen! und Missionsprokur setzen wir deutliche Zei- Fabian Fabian Tobias Moos SJ Retschke SJ Zimmermann SJ 1
SCHWERPUNKT Schokoladen-Häuser, Schwimmbäder und Chill-Zonen Wie möchtet ihr wohnen? Wie soll eure Umgebung aussehen und was ist euch wichtig? – Über diese Fragen haben Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren bei einer Zukunftswerkstatt im Ludwigshafener Heinrich Pesch Haus (HPH) nachgedacht – und erstaunliche Antworten gegeben. „Ihre Ideen werden in die Planungen für die Heinrich-Pesch-Siedlung einfließen, die in direkter Nachbarschaft zum HPH entsteht. Denn auch die Meinung von Kindern ist wichtig ”, sagt Jana Sand, die Leite- rin der Familienbildung im HPH. Ich möchte am Rande des Waldes Ich wünsche mir einen Spielplatz leben und nicht in der Stadt, da ist mit 30 Karussells, einem Kletterge- es immer so laut. rüst und einer Achterbahn. Natalia, 9 Jahre Moritz, 6 Jahre 2
SCHWERPUNKT Mein Haus soll aus weißer Schokola- Ich wünsche mir mehrere Schwimm- de und ganz vielen Keksen sein. Die bäder, ein Jugendzentrum, Plätze Straßen sollen aus brauner Schoko- zum Chillen für Jugendliche und lade und die Gehwege aus Marzipan Spielplätze mit Angeboten für klei- sein. ne und ältere Kinder. So kann Streit Emily, 6 Jahre vermieden werden. Anna, 10 Jahre In meiner Siedlung sollen Tiere leben und die Autos sollen gesund für die Umwelt sein. Mir ist wichtig, dass man sich von den Ahmet, 7 Jahre Nachbarn nicht abschließt, sondern dass man ein Gemeinschaftsding hat, einen gemeinsamen Garten zum Bei- spiel, um den sich alle kümmern. Und man sollte respektvoll miteinander umgehen. Sue, 10 Jahre Jedes Kind sollte ein eigenes Zimmer haben, denn jedes Kind braucht Pri- vatsphäre. Dazu braucht man große Wohnungen, die aber bezahlbar sein müssen. Lea, 10 Jahre 3
SCHWERPUNKT Die sozial-ökologische Transformation beginnt bei uns selbst Mit der sozial-ökologischen Transformation verbinden viele vor allem Einschränkungen und Verzicht. Doch sie eröffnet neue Freiräume für die persönliche Entwicklung und ein gelingendes Miteinander. Ich liebe es, Fahrrad zu fahren. Jedes Mal, Transformation. Zwei Erfahrungen helfen mir, wenn ich auf meiner Trainingsrunde in den aus dieser Bedrohungs- und Verlustschleife ersten Waldweg einbiege, freue ich mich. Die herauszukommen. Luft ist klarer und angenehmer als in der Ich habe zwölf Jahre in Venezuela gelebt Stadt, ich fühle mich sofort freier im Kopf, die und als Direktor unseres Hilfswerkes Jesuiten- Tour durch den Wald ist Entspannung und Er- weltweit besuche ich regelmäßig Länder und © fotografixx iStock.com holung. Auch wenn es oft nur ein flüchtiges Projekte im globalen Süden. Dort erlebe ich Gefühl ist, über das ich nicht weiter nachden- immer wieder, dass Menschen mit sehr viel ke: Es tut gut, in der Natur zu sein. weniger Konsumgütern auskommen als bei Zu schützen und zu stärken, was uns gut- uns und trotzdem ein glückliches und erfüll- tut – das ist die Grundidee der sozial-öko- tes Leben haben. Es geht mir nicht um eine logischen Transformation. Es geht um Wirt- Verklärung der Armut, sondern um eine Zufrie- schafts-, Gesellschafts- und Lebenskonzepte, denheit, die sich eben nicht an der Anhäu- die keinen Raubbau an Umwelt und Mensch fung von Gütern, sondern an menschlichen betreiben, die nicht zerstören und ausbeuten, Beziehungen festmacht. Daran, Teil einer Ge- sondern sorgsam mit der Natur umgehen und meinschaft zu sein und einer sinnvollen Be- gleichzeitig Raum schaffen für soziale Bezie- schäftigung nachzugehen. Lebensfreude und hungen und die Entfaltung des Menschen. Lebensbejahung sind oft viel greifbarer und In der Debatte um den Klimawandel erle- scheinen mir auch tiefer verankert zu sein. Da- be ich oft Abwehrreaktionen, deren Wurzel raus erwächst eine starke Resilienz, denn oft eigentlich Verlustängste sind: Wir müssen fehlt die Zukunftsabsicherung und Lebens- uns einschränken, wir sollen auf liebgewor- umstände sind deutlich prekärer. Von diesen dene Dinge verzichten. Das schlechte Gewis- Erfahrungen des globalen Südens können wir sen wird zum ständigen Begleiter, wenn wir uns inspirieren lassen. ins Flugzeug steigen oder Fleisch essen oder Eine ähnliche Bewegung nehme ich auch ein neues Auto kaufen. Mit unseren Gedanken bei der jüngeren Generation in unseren Kul- und Gefühlen kreisen wir um Beschränkun- turkreisen wahr. Das eigene Wohlbefinden, gen, die uns drohen. Wir haben Angst, etwas der eigene Status hängt für viele Jüngere zu verlieren. Und das blockiert einen offenen nicht mehr am Besitz von Gütern, sondern und positiven Blick auf die sozial-ökologische an ihrem Gebrauch. Man kann ein Auto, ein 4
SCHWERPUNKT Ferienhaus oder eine Bohrmaschine mit meh- Kernbereich: dem Leben in Fülle, um es theo- reren zusammen benutzen und teilen. Sharing logisch auszudrücken. Wir brauchen auch in- Economy ist der Begriff dafür und es ist alles nerhalb des Ordens unter uns Jesuiten einen andere als freudloser Verzicht. Über Apps kann neuen Aufbruch, einen Verzicht auf liebge- ich mich mit Gleichgesinnten vernetzen, um wordenen Besitz, um Freiräume zu öffnen und Alltagsdinge und -dienste anzubieten oder zu Experimente zu wagen. Impulsgeber können nutzen. Neue, durchlässige und flexible For- wir nur dann sein, wenn die sozial-ökologische men von Gemeinschaft können so entstehen. Transformation bei uns selbst beginnt. Wenn man genau hinschaut, entsprechen beide Erfahrungen dem ursprünglichen Cha- risma unserer Ordensgemeinschaften: Leben in Gemeinschaft und Verzicht auf persönlichen Klaus Väthröder SJ Besitz. Ordensgemeinschaften und Klöster war zwölf Jahre in Venezuela tätig. Derzeit ist er Leiter von jesuiten- waren in der Vergangenheit immer wieder Im- weltweit in Nürnberg und Wien. pulsgeber für gesellschaftliche Veränderungen. In der neuen Zentraleuropäischen Die Grundanliegen der sozial-ökologischen Provinz der Jesuiten ist er Delegat Transformation fallen in unseren ureigenen für Ökologie und Soziales. 5
SCHWERPUNKT Das Ziel: Menschenwürdiges Leben innerhalb planetarer Grenzen Um die bereits einsetzende ökologische Katastrophe zu © Anette Konrad - HPH stoppen, brauchen wir eine tiefgreifende Veränderung von Wirtschaft, Gesellschaft und Lebensstilen – also eine sozial- ökologische Transformation. Erderhitzung und Artensterben sind nur zwei zu können und dadurch (Selbst-)Achtung und offensichtliche Aspekte der drohenden ökolo Sinn zu erfahren. gischen Katastrophe. Zu sehr haben wir die Wichtig sind auch reale Möglichkeiten, an ökologischen Belastungsgrenzen unseres Pla gesellschaftlichen und politischen Prozessen neten überschritten, wie sie Johan Rockström mitwirken zu können. All diese Voraussetzun- im Konzept der „planetary boundaries“ be- gen können – eine Transformation vorausge- schrieben hat. Werden diese Grenzen weiter setzt – verwirklicht werden, ohne die ökolo- überschritten, drohen unabsehbare Folgen. An- gischen Belastungsgrenzen zu überschreiten. gesichts von sogenannten „Kipp-Punkten“ und Das kann für manche mit einem quantitativ- Dominoeffekten könnten diese verheerenden materiellen „Weniger“ verbunden sein, ist aber Folgen noch schneller eintreten als bislang ge- mit hoher Lebensqualität durchaus vereinbar. dacht. Die Rede von der „Katastrophe“ ist kein Werden Ressourcen menschen- und umweltge- übertriebener Alarmismus, sondern schlicht recht verteilt, können alle Menschen genug ha- realistisch. Die Lage ist todernst – für die ben für ein Leben, das sie selbst als gut empfin- Menschen, aber auch für viele Mitgeschöpfe. den und das zugleich die Schöpfung bewahrt. Eine ethisch anspruchsvolle sozial-ökologi- Obwohl immer mehr Menschen die Dring- sche Transformation hat nicht „nur“ das Ziel, lichkeit der Transformation erkennen, fehlt es die endgültige ökologische Katastrophe abzu- ihr an Tempo und Intensität. Noch blockieren wenden und das Überleben der Menschheit zu machtvoll vertretene Partikularinteressen, ein sichern. Es geht ihr darum, allen Menschen – unzureichender (auch globaler) Ordnungsrah- weltweit und auch in Zukunft – ein menschen- men, strukturelle Beharrungskräfte, teils irre- würdiges Leben innerhalb planetarer Grenzen führende gesellschaftlich-kulturelle Leitbilder zu ermöglichen. Zu den Voraussetzungen eines und eingefahrene Verhaltensroutinen die not- menschenwürdigen Lebens gehören aus einer wendigen Veränderungen. Was also tun? menschenrechtlichen Perspektive neben der Politisch muss ein Ordnungsrahmen ge- unbedingt zu sichernden Umweltqualität die schaffen werden, der gemeinwohlschädliche angemessene Befriedigung aller Grundbedürf- Partikularinteressen zurückdrängt, umwelt- nisse, aber auch Teilhabe- und Handlungs- freundliche Infrastruktur fördert und Anreize chancen, um an vielfältigen Bezügen teilha- für ökologisch verantwortbares Handeln setzt. ben, sich in ihnen einbringen und entfalten Besonders wichtig ist hier die Bepreisung von 6
SCHWERPUNKT CO2-Emissionen und generell von umwelt- nen Bewusstseins- und Verhaltenswandel. So schädlichen Handlungsweisen. Es darf nicht braucht es z. B. Persönlichkeitsbildung, in der sein, dass die Folgekosten auf Dritte abgewälzt ein gutes Leben jenseits der Wohlstands- und werden. So eine Bepreisung ist ein effektives Statussteigerung eingeübt wird, oder auch eine Lenkungsmittel. Sie muss freilich auch sozial politische Bildung, die nicht nur Wissen oder ausgewogen gestaltet werden – Konzepte da- Appelle vermittelt, sondern unsere Vorstel- für liegen längst auf dem Tisch. Klimaschutz lungskraft und unser Empfinden dafür stärkt, und soziale Gerechtigkeit sind vereinbar! Zum wie sehr wir mit Menschen in anderen Teilen der Ordnungsrahmen gehören aber auch Verbo- Welt und auch in der Zukunft verbunden sind. te und Begrenzungen besonders schädlicher All dies gelingt nur, wenn sich die Menschen Handlungsweisen. Wer hier sogleich gegen aktiv beteiligen können und wenn sie mit ihren „Verbotspolitik“ wettert, übersieht, dass wir Erfahrungen und Kompetenzen, Sorgen und auch sonst Verbote akzeptieren, wenn es Problemen, aber auch Werten und Vorstellun- um gravierende Verletzungen grundlegender gen eines guten Lebens ernstgenommen wer- Rechte von Menschen geht. den. Die Ergebnisse der Transformation sind Wir brauchen wissenschaftliche, technolo- nur dann gerecht, wenn diese auch im Prozess gische und soziale Innovationen, die helfen, den Anforderungen der Beteiligungsgerechtig- alte, allzu oft umwelt- und klimaschädliche keit genügt. Keine sozial-ökologische Trans- Pfade zu verlassen, anders zu produzieren und formation ohne Partizipation! zu bauen, zu konsumieren, sich zu bewegen, sich zu ernähren und das Zusammenleben zu gestalten. Hier bedarf es kreativer unterneh- merischer, zivilgesellschaftlicher und per - sönlicher Initiative sowie eines politisch ge- Dr. Thomas Steinforth setzten Rahmens, der Innovationen erleichtert verantwortet im Ludwigshafener und hilft, wertvolle Praxiserfahrungen in Ni Heinrich Pesch Haus den schen für die Gesellschaft fruchtbar zu machen. Themenschwerpunkt „Sozial- Ökologische Transformation“ Nicht zuletzt besteht die Transformation in und ist zugleich Wiss. Mitarbeiter der Arbeit an gesellschaftlich-kulturell veran- im Zentrum für Globale Fragen kerten Leitbildern und in der Bildung für ei- der Hochschule für Philosophie. 7
SCHWERPUNKT Gemeinsam leben – gemeinsam entscheiden Wenn Menschen zusammenleben, gibt es häufig unterschied- liche Meinungen. Adela Mahling hat eine Lösung entwickelt: das systemische Konsensieren, kurz SK-Prinzip. Darf ich mich vorstellen? Ich bin Konsenslot- gegeben werden, sie zu adressieren. So wird ein sin und begleite Gruppen auf dem Weg zu ei- konsensorientierter konstruktiver Dialog geför- ner tragfähigen Lösung. Besonders gern werde dert. Nein zu sagen und zu hören verliert seine ich von Lebens- und Wohngemeinschaften, so- Bedrohlichkeit, denn wir können diesen Wider- wie Eigentümer*innen-Gemeinschaften ange- stand als kreatives Potential nutzen, ohne die fragt. Menschen, die zusammenleben, haben Entscheidungsfähigkeit zu verlieren. Wir wer- beschlossen, viele existenzielle Entscheidun- den motiviert, die Anliegen aller zu beachten, gen gemeinsam zu fällen. Sie haben viel Erfah- statt ihre Bedenken durch Machtkämpfe un- rung mit mühsamen oder gescheiterten Pro- wirksam zu machen. Die Würdigung einer Per- zessen gemacht und sind auf der Suche nach son zeige sich in der Würdigung ihres Neins, wie neuen Ansätzen. der Ko-Entwickler des Verfahrens, Erich Visot- Ich arbeite mit dem SK-Prinzip® (SK für schnig, sagte. Systemisches Konsensieren). Dieses regt einen So oft habe ich erlebt, wie Co-Housing-Grup- heilsamen Paradigmenwechsel an: Vom Erfolgs pen erleichtert aufatmen, denn die Streitigkei- faktor Dominanz zur Gemeinwohlorientierung. ten sind beigelegt, ein gangbarer Weg hat sich Damit gelingt es auch heterogenen Gruppen herauskristallisiert und die bis dato blockierte in verhältnismäßig kurzer Zeit, gute Lösungen Umsetzungsenergie freigesetzt. Ob es nun um statt lauer Kompromisse zu entwickeln. Wenn die neue Nutzungsordnung, die längst fälligen wir mit dem SK-Prinzip entscheiden, gehen wir Baumaßnahmen oder die Vergütung von Eigen- zunächst in eine kreative Lösungssuche. Dann leistungen geht: Entscheiden ist entscheidend. messen wir die verbleibende Unzufriedenheit Es hat Einfluss auf die Qualität und die Tragfä- aller Beteiligten – und das zu jedem Vorschlag, higkeit des Beschlusses. Es ist Zeit, dass wir uns einschließlich dem, untätig zu bleiben. So er- dessen bewusstwerden und Verfahren nutzen, hält die Gruppe drei wichtige Informationen: die unserer Gesellschaft und ihren Herausforde- 1) Welchen Weg muss sie einschlagen, um die rungen gewachsen sind und unser Zusammen- Unzufriedenheit am kleinsten zu halten? leben fördern, statt es zu erschweren. 2) Wie viel Verbesserung würde dieser Weg bringen im Vergleich dazu, es beim Alten © BrasilNut1 iStock.com zu lassen? Adela Mahling 3) Wie weit ist dieser Weg noch von einer Lö- Adela Mahling, lebt in Berlin und sung, mit der alle restlos zufrieden sind, ist freiberufliche Moderatorin, entfernt? Prozessbegleiterin und Ausbilderin Wenn es sinnvoll ist, können Vorbehalte be für das SK-Prinzip. Partizipation trachtet werden und der Gruppe die Möglichkeit liegt ihr am Herzen. www.konsenslotsen.de 9
SCHWERPUNKT Menschen ein Zuhause geben In Ludwigshafen haben sich die katholische Kirche und ein katholisches Bildungshaus zusammengetan, um eine Sied- lung zu bauen, in der es um mehr als nur Wohnen geht. Die ersten Bagger rollen bereits auf dem Gelän- Von Anfang an war klar, dass in einer Stadt wie de der zukünftigen Heinrich-Pesch-Siedlung in Ludwigshafen mit einem hohen Migrantenan- Ludwigshafen. In direkter Nachbarschaft zum teil kein klassisches Siedlungsgebiet mit einer Heinrich Pesch Haus (HPH) entsteht hier auf homogenen Gesellschaft entstehen würde, son mehr als zehn Hektar ein urbanes Gebiet, in dern ein sehr heterogenes Gebiet – und genau dem Arbeiten, Wohnen, Bildung und Sozia- das ist in Ludwigshafen gefordert und notwendig. les miteinander verzahnt werden. Zentrales Konzept ist eine soziale Durchmischung, in Ein Beitrag zur Integration der neue Wohnformen und Nachbarschaf- ten entwickelt werden. Die Siedlung soll zu Johann Spermann SJ einem Ort vielfältiger Gemeinschaft werden, P. Johann Spermann SJ ist Theologe die ein lebendiges Miteinander der 1.500 Be- und Psychologe. In seiner Zeit als wohner*innen fördert und zugleich Raum für Direktor des Heinrich Pesch Hauses Individualität lässt. Die Initiator*innen der initiierte er das Projekt der Siedlung. Siedlung geben Einblicke in die Entstehung Aktuell arbeitet er als Provinz- und Schwerpunkte dieses visionären Projekts. ökonom der Jesuiten in Zentraleuropa. Was können wir Jesuiten beitragen? Diese Fra- Warum Kirche eine Siedlung baut ge hat mich während der Flüchtlingskrise sehr bewegt. Dann kam die Chance, als wir gefragt Dekan Alban Meißner wurden, ob wir Menschen aufnehmen könn- Wohnen sieht er als originären ten. Schnell haben wir in Gesprächen heraus- Auftrag des Christentums. Alban gefunden, dass wir uns etwas Dauerhaftes Meißner ist Dekan der Katholischen wünschten. Wir wollten einen Beitrag leisten, Kirche in Ludwigshafen und gehört dass Integration gelingt – und zwar weit über zu den Initiator*innen der Heinrich- die Flüchtlingskrise hinaus. Es ging uns da- Pesch-Siedlung in Ludwigshafen. rum: Wie kann in Ludwigshafen das Zusam- menleben in so einer multikulturellen Gesell- Eines der großen Probleme der Gesellschaft ist schaft gut gelingen – von Menschen, denen es seit einiger Zeit die Wohnungsnot. Als Kirche im Leben schlechter geht, und denen, die es greifen wir dieses Problem auf und versuchen, für gut haben; Menschen verschiedener Weltzu- die Gesellschaft Wohnraum zu schaffen. Denn gänge und Möglichkeiten? Wie schaffen wir es, es ist der Auftrag von Kirche, etwas für die Ge- Vorurteile abzulegen? Wie schaffen wir es, auf- sellschaft zu tun. Mit dem Siedlungsbau wollen einander zuzugehen und dass die Menschen, wir zu einem besseren Miteinander in Ludwigs die etwas haben, bereit sind, denen in Not et- hafen beitragen. Zum einen möchten wir Men was abzugeben. Danke an alle, die sich auf den schen eine Heimat geben, zum anderen ihnen Weg gemacht haben, auf das zu schauen, was Perspektiven aufzeigen, wo es hingehen kann. Gesellschaft und Menschen zusammenhält. 10
SCHWERPUNKT Von der Idee zum Projekt Ein Zuhause für alle Dr. Michael Böhmer Ulrike Gentner Als Wirtschaftsprüfer und Steuer- Die Theologin und Pädagogin berater ist er für die finanzielle Seite prägt das Heinrich Pesch Haus der Heinrich-Pesch-Siedlung zustän- in Ludwigshafen als stellv. Direktorin. dig. Der Ludwigshafener gehört zu Sie gehört zu den Initiator*innen den Initiator*innen der Siedlung. der Heinrich-Pesch-Siedlung. Die Anfrage der Ludwigshafener Stadtverwal Es gibt nicht oft im Leben die Möglichkeit, auf tung während der Flüchtlingskrise, ob wir auf einer grünen Wiese ein Dorf zu bauen. Die unserem Grundstück Container oder Einfach Grund frage war für uns: Wie gestalten Men- häuser aufstellen könnten, war die Initialzün schen ihr Zusammenleben? Wir haben ange dung. Wir haben begonnen, über die wert fangen, die Vision einer Siedlung zu entwickeln, schöpfende Nutzung der Grundstücke neben in der Wohnen und Arbeiten, Bildung und dem HPH nachzudenken. Früh haben wir Ex- Soziales gute Synergien finden. Die Heinrich- pert*innen für Wohnsoziologie und städtebau- Pesch-Siedlung ist intergenerationell, inklusiv liche Entwicklung hinzugezogen. Außerdem und interkulturell – die Menschen sollen mehr haben wir uns viele bestehende Projekte ange- haben als eine Adresse: einen Ort, an dem schaut und gelernt, dass das Zusammenleben sie zuhause sind. Wir haben dann im März von unterschiedlichen Menschen mit Unter 2018 eine „Kerngruppe Soziales“ gegründet, stüt zungsmaßnahmen noch verbessert wer- die Prinzipien entwickelt hat, wie Zusammen- den kann. Daher haben wir sehr früh die so- leben gelingen kann. Dazu gehören baulich ziale Dimension in den Vordergrund gestellt. beispielsweise Innenhöfe und Gemeinschafts- Außerdem haben wir entschieden, die Grund- gärten als Begegnungsräume, Quartiersmana stücke mit Erbbaurecht an die Investoren zu gement, ein Begegnungshaus und eine Nach- vergeben, verknüpft mit klaren Auflagen ent- barschafts-App, aber auch Bildungsmaßnah- sprechend unserer Projektziele. men und Kulturprojekte, die das Miteinander fördern. Vielfalt fordert heraus und bereichert das Zusammenleben. 11
SCHWERPUNKT Erneuertes Zusammenleben in Wuppertal Wie kann es gelingen, eine Stadt in die Zukunft zu führen? Prof. Dr. Uwe Schneidewind, Transformationsforscher und neuerdings Oberbürgermeister von Wuppertal, über zahlreiche Aufbrüche der Stadt im Ruhrgebiet. Herr Schneidewind, was hat sozialökologi- Ein drittes Projekt ist das Klimaquartier Arren- sche Transformation mit dem Zusammenle- berg, ursprünglich eher ein Problemviertel, wo ben zu tun? sich unternehmerisch und sozial engagierte Für mich ist das eine Weise, „nachhaltige Akteur*innen ein hochambitioniertes Ziel ge- Entwicklung“ zu konkretisieren, und die ist steckt haben: ein klimaneutrales Quartier zu ja kein technologisches Projekt, sondern die schaffen. Dazu muss man ganz viele mitneh- Frage, wie wir unser Zusammenleben in einer men, und entscheidend sind dann gerade die Welt mit bald 10 Milliarden Menschen orga- Begegnungsorte, z. B. eine umgebaute Haupt- nisieren wollen. Dahinter steht eine faszinie- schule mit einem wunderbaren Hinterhof, der rende Vision: dass jeder Mensch den gleichen ein zentraler Anlaufort für die ist, die im Stadt- Wert hat und die Chance haben sollte, sich zu quartier wohnen. entfalten und ein gutes Leben mitzugestalten. Wie kann hier Stadtpolitik unterstützend wir- Können Sie uns dazu einige konkrete Projek- ken? © fotografixx iStock.com te in Wuppertal beschreiben? Eine der wichtigsten Aufgaben von Politik Am berühmtesten ist die Utopia-Stadt. Auf ist, Freiräume für solche Initiativen zu schaf- fast 30.000 m2 Fläche entsteht dort eine Fül- fen, denn es sind ja Bereiche, die klassischer- le von Bottom-up-Initiativen, und die Selbst- weise nach ganz anderen Planungs- und Ver- beschreibung ist: „Wir sind ein andauernder wertungslogiken funktionieren. Es war z. B. für Gesellschaftskongress mit Ambition und Wir die Utopia-Stadt entscheidend, in einem Schul kung“. Ich finde das wunderschön, denn es geht terschluss zwischen Stadt, Verwaltung, Spar- um eine Form des Zusammenlebens, die demo- kasse und gemeinwohlorientierten Privatin- kratisches Aushandeln ins Zentrum rückt. vestor*innen eine solche Fläche dauerhaft zu Dann die „Nordbahntrasse“, eine über 20 km sichern, auch wenn sich viele Immobilienun- lange ehemalige Bahntrasse, die nun als Rad- ternehmen vermutlich die Hände reiben wür- trasse über viele Viadukte und durch Tunnel den, wenn sie auf diesen Flächen hochwerti- führt und völlig neue Einblicke in die Stadt gen Wohnungsbau machen dürften. ermöglicht. Dadurch entsteht ein Naherho- Und dann sind wir natürlich auch Vernet- lungsraum, und auch manche abgehängten zungsplattform. Denn die Organisationska- Stadtviertel werden erschlossen. Auf den Weg pazitäten solcher Initiativen reichen ja meist gebracht wurde dieses Projekt durch die zivil- gerade aus, das eigene Projekt voranzutrei- gesellschaftliche „Wuppertal-Bewegung“. ben, aber wenn man Erfahrungsaustausch or- 12
SCHWERPUNKT ganisieren will, kann die Stadt eine wichtige sen. Transformation lebt davon, dass sie mit Katalysator-Rolle spielen. den guten und kraftvollen Energien geht. Ein ordentliches Stück Selbst- und Gottvertrauen Wenn ich nun in meiner Stadt die Nachbar- ist da sehr hilfreich. Dazu ist es gut, viel ins schaft stärken will, wo kann ich da konkret Gespräch zu gehen mit Menschen, die einen anfangen? gut kennen, und solchen, die in verschiedenen Man sollte einfach den Mut haben, dort, wo Initiativen aktiv sind. Im Austausch mit ande- es sich auch vom Bauch her interessant an- ren kommt einem auch eine Kraft zu, denn das fühlt, einzutauchen, sich einzubringen, sich zeigen ja diese vielen Gemeinschaften des Zu- aber auch nicht forcieren zu lassen, sondern sammenlebens: dass sich solche Dynamiken sich auf diesem Weg ein Stück leiten zu las- gegenseitig verstärken. 13
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SCHWERPUNKT Das „Drumherum“ für die innere Transformation In Frankreich gibt es südlich von Paris einen ganz besonderen Ort: den Campus de la Transition. Hier treffen sich Ökonomie, Ökologie und Humanismus. Fabian Moos SJ gibt Einblicke in den Alltag. Der Campus de la Transition ist ein alternati- gerade geht, und darauf wird ein weisheitli- ver Hochschul-Campus 70 Kilometer südlich cher, religiöser oder poetischer Text vorgele- von Paris. Seit 2018 kommen Studierende und sen, auf den nochmals eine Stille folgt. Die Zu- Young Professionals für mehrere Tage oder sammenkunft wird mit einem Gruppenspiel Wochen zu Ausbildungskursen und machen beendet (Evolutionsspiel oder Ähnliches), dabei eine „Immersion“-Erfahrung: Vorlesun- wodurch der Tag nicht selten mit einem herz- gen, angewandte Forschungsprojekte, aber lichen Lachen beginnt. auch einfaches vegetarisches Essen, Mithelfen Die akademischen Inhalte der Kurse sind beim Kochen, Putzen, Gemüseanbau, ein offe- auf höchstem Niveau. Entscheidend ist für die nes Abendprogramm, Austausch- und Arbeits- meisten aber wohl eher das „Drumherum“. gruppen. Viele, die hier ankommen, haben den Kopf Das eigentlich Besondere ist aber die Tat- bereits voller Ideen, wie sie die Welt retten sache, dass der Campus auch ein vielfältiger wollen. Das, was der Campus bietet, ist ein Lebensort ist. Es wohnen etwa 30 Menschen Anstoß zu einer „inneren Transformation“, in dem alten Schloss des Assumptionistinnen- hin zu einer anderen Weise, in Beziehung Ordens. Rundherum gibt es einen Gemüse- zu treten. Dazu braucht es Orte und Zeiten garten, eine Obstplantage, eine große Wiese der Begegnung, aber auch der persönlichen für Zelte von Kursteilnehmenden oder für und gemeinschaftlichen Reflexion. Ich will weidende Schafe. Neben den „Schlossbewoh- nichts idealisieren, es gibt auch Konflikte und ner*innen“ sind je nach Kurs und (Corona-) Schwierigkeiten, und nicht alle lassen sich Saison noch Dutzende oder Hunderte andere auf eine solche ganzheitliche oder spirituelle Menschen da. Erfahrung ein. Unterm Strich aber erlebe ich, Persönlich habe ich mich zwei Jahre lang dass Wachstum stattfindet, wo Menschen sich auf dem Campus engagiert und seit Kurzem begegnen. Als Christ glaube ich, dass genau wohne ich auch selbst als Teil der zehnköp- da auch Gott seine Finger im Spiel hat. figen Stammkommunität dort – das ist die Gruppe derjenigen, die für mindestens ein Jahr bleiben. Was mich fasziniert, sind vor al- lem die zahlreichen Elemente, die dafür sor- gen, dass die Menschen sich auf einer tieferen Fabian Moos SJ © boonsom iStock.com Ebene begegnen. Für alle beginnt beispiels- studiert Theologie in Paris. Neben weise jeder Tag mit dem „Wort am Morgen“: seinem Studium engagiert er sich für die sozialökologische Transformation. Nach einem Gongschlag gibt es eine kurze Er ist ausgebildeter Gymnasiallehrer für Stille zur Besinnung, dann ein „Check-in“, wo die Fächer Französisch und Spanisch. jede*r in einem Satz sagt, wie es ihm oder ihr 15
SCHWERPUNKT Blick in die Werkstatt Studierende denken über die Gestaltung von sozial-ökologischem Wohnen nach. Wie kann zukünftig unser Wohnen aussehen? Längswänden, die per Stecksystem einfach zu Wie groß sollen Wohnungen sein und wie kön- montieren sind. nen Menschen gut zusammenleben? Wohnen Unter dem Namen „Smartbox“ präsen- neu denken, ohne Vorgaben, ohne Budgets – tierten die Studierenden eine Idee, bei der dazu hatten Studierende bei einer Sommer- Wohnen in bewegte, installierte und ruhige akademie die Gelegenheit. Zonen unterteilt wird. Die einzelnen Zonen Bauen und Wohnen neu denken, kreativ lassen sich verdichten und überlagern. Umge- und visionär – das ist das Ziel der Sommer- setzt wird die „Smartbox“ mit fest installier- akademie der Architektur, die vor einigen Jah- ten Boxen sowie Raummodulen, die variable ren von der GAG, dem städtischen Wohnungs- Grundrissformen und stapelbare Gebäude er- bauunternehmen in Ludwigshafen, ins Leben möglichen. Klappbare oder eingebaute Möbel gerufen wurde. 2016 beschäftigten sich die tragen ebenfalls zur Platzoptimierung bei. teilnehmenden Studierenden mit dem noch Neben dem Wohnen befassten sich die unerschlossenen Areal der zukünftigen Hein- Workshop-Teilnehmenden auch mit dem Zu- rich-Pesch-Siedlung. Im Mittelpunkt stand die sammenleben der Bewohner*innen. Um In- Erstellung neuer Initiativen und Impulse bei klusion, Integration und das Miteinander der der Schaffung von bezahlbarem Wohnraum. verschiedenen Menschen zu erreichen, sahen Dazu entwickelten Studierende der Hoch- die Studierenden Orte für Begegnungen wie schulen Mainz, Ludwigshafen, Heidelberg und einen zentralen Platz und Innenhöfe vor. Das Kaiserslautern flächenoptimierte Lösungen neue Stadtquartier wurde zudem in drei Zo- für den Wohnungsbau. Auch eine kleine Woh- nen „Wohnen, Bildung und ein gewerblich ge- nung kann alle notwendigen Funktionen ha- nutztes Gebiet“ aufgeteilt. Die Studierenden ben – das zeigten die Studierenden mit ihrer schlugen vor, die Siedlung autofrei zu gestal- Idee des „Mikro-Wohnens“. Dazu konzipierten ten und planten ein Parkhaus entlang der an- sie ein Gebäude mit einer Skelettstruktur, in grenzenden Hauptstraße. das gleich große Boxen beliebig hineingescho- All diese Impulse ließ Prof. Rolo Fütterer ben werden können. Die Wohnboxen bieten von der Hochschule Kaiserslautern in einen auf knapp 14 Quadratmetern Platz für Bett ersten Entwurf für den Masterplan für die und Bad. In ihnen können Singles, Paare oder Heinrich-Pesch-Siedlung einfließen, der die zwei Kinder wohnen. Wohnen, Kochen und Es- Grundlage für die weiteren Planungen wurde. sen finden in Gemeinschaftsräumen statt. Die Boxen können beliebig zusammen- und auch Ernst Meckel wieder zurückgebaut werden. Der Diplom-Ingenieur ist Auch mit „Wohn-Bau-Kästen“ kann Wohn- Geschäftsführer der HPS GmbH © Anette Konrad - HPH raum weitestgehend minimiert und immer & Co. KG. Zuvor war der Ludwigshafener Vorstand der wieder den verschiedenen Wohnbedürfnissen GAG Ludwigshafen und Bau- angepasst werden. Die Studierenden entwar- und Umweltdezernent der Stadt fen hier einen Bauteilekatalog mit Quer- und Ludwigshafen. 16
SCHWERPUNKT 17
SCHWERPUNKT Auf gute Nachbarschaft „Gute Nachbarn“ gehören zu einem Zuhause. terschiedlicher sozialer Milieus und Kulturen. Wie sehen für Sie „gute Nachbarn“ aus? Für Wie kann gutes Zusammenleben gelingen? mich gehen sie achtsam mit den Menschen Diese Frage ist für den sozialen Frieden einer ihrer Umgebung um. Ihre Freundlichkeit lässt Stadtgesellschaft zukünftig genauso wichtig andere spüren, dass sie willkommen sind. Sie wie die Planung und Organisation eines städti- schauen nicht weg, wenn Hilfe gefragt ist. Gute schen Lebens, das die natürlichen Ressourcen Nachbarschaften sind kein Allheilmittel. Aber nachhaltig schont. Das eine wird ohne das unter guten Nachbarn braucht es Entschlos andere nicht gelingen. senheit, um zu vereinsamen. In guter Nachbar- Gute Nachbarn können wir uns nicht backen. schaft kann ich mich auch zurückziehen, ohne Aber wir können Stadtquartiere so planen meine Privatsphäre ständig vor Neugier schüt- und das Zusammenleben so organisieren, dass zen zu müssen. Begegnungen gefördert werden und Konflikte Nachbarschaften sind Bausteine am Fun- ihre Bedrohlichkeit verlieren. Bewohner*in- dament der Gesellschaft. Sie tragen bei zu Le- nen werden damit nicht allein gelassen. Dafür bensqualität und Integration von Menschen haben die Projektinitiatoren*innen der Hein- in die Stadtgesellschaft. Dafür machen wir rich-Pesch-Siedlung bereits in einer frühen uns erstaunlich wenig Gedanken über ihr Ge- Entwicklungsphase begonnen, gemeinsam mit lingen. Dabei machen zunehmende Individua- Verbündeten aus Wissenschaft, Sozialarbeit lisierung und Vielfalt der Gesellschaft das Zu- und Stadtverwaltung ein soziales Konzept zur sammenleben nicht unbedingt einfacher. Die Förderung guter Nachbarschaften zu planen meisten von uns schätzen die Freiräume für und maßgebliche Akteure zu vernetzen. Auf Individualität und die kulturelle Vielfalt unse- der Basis einer „Charta des Zusammenlebens“, rer Gesellschaft. Aber abweichende Lebens- die geprägt ist von den christlichen Wertvor- rhythmen, fremde Gerüche und ungewohnte stellungen der kirchlichen Projektträger wie Sitten bringen uns dann doch schnell aus dem von Erkenntnissen der Sozialwissenschaft, Konzept und an unsere Grenzen. Das betrifft wenden sie sich an alle Menschen und Ini- das Zusammenleben unterschiedlicher Gene- tiativen guten Willens, mit ihren Ideen, ihren rationen ebenso wie das von Menschen un- Überzeugungen und ihrem Engagement bei- © RyanJLane iStock.com 18
SCHWERPUNKT zutragen zum Gelingen des Zusammenlebens zubringen in die Gestaltung „ihres“ Viertels. in der Heinrich-Pesch-Siedlung. Es ist ein Mo Dem dient auch ein professionelles Quar- dellprojekt, dessen Erfahrungen auch auf an- tiersmanagement. Anders als in vergleichba- dere Stadtquartiere übertragen werden sollen. ren Projekten sind damit jedoch nicht Einzel- Welche Aufmerksamkeit der Förderung von kämpfer*innen gemeint, die erst Netzwerke Nachbarschaft und Begegnung real geschenkt mit sozialen Diensten, Bildungseinrichtungen wird, drückt sich bereits in Flächennutzung und kulturellen Anbietern aufbauen müssen. und Raumkonzepten aus: Die Heinrich-Pesch- In der Heinrich-Pesch-Siedlung wird das Quar- Siedlung verzichtet auf die maximale Verdich- tiersmanagement selbst von Anfang an von tung des bebaubaren Raums, also auf Profit, den multiprofessionellen und gut vernetzten zugunsten von viel öffentlichem Raum, der Teams von Caritas und Heinrich Pesch Haus zur Begegnung einlädt; Innenhöfe, Spielplät- konzipiert und aufgebaut. Ein Team wird Be- ze, Mietergärten und Grünzüge, mit denen die wohner*innen für gemeinsame Initiativen Natur Rückzugsräume inmitten des städti- zur Gestaltung des Zusammenlebens im Be- schen Quartiers erhält. Die Diversität der Bau- wohner*innenverein gewinnen, Menschen in formate vom Einfamilienhaus über das Stadt- Krisen beraten und Konflikte schlichten. Und haus bis hin zum Mehrfamilienhaus, sorgt weil der Reichtum von kultureller und sozia- dafür, dass die erwünschte soziale Mischung ler Vielfalt vor allem dort aufscheint, wo Men- von Menschen aller Einkommen erreicht wer- schen einander ihre Geschichten erzählen, den kann. Die Anforderung, dass alle Häuser wird in der Heinrich-Pesch-Siedlung neben und öffentlichen Einrichtungen barrierefrei Bildungsangeboten, Sport und Spiel die Kultur sein müssen, verhindert, dass Menschen auf- des Geschichten-Erzählens eine zentrale Rolle grund ihres Alters oder eines Handicaps vom spielen. Alle, die das Heinrich Pesch Haus ken- Leben im Quartier ausgeschlossen werden. nen, wissen, das ist uns ein Herzensanliegen. Baulich bildet der Platz mit einem „Begeg- nungshaus“ das markante Zentrum. Errich- Tobias Zimmermann SJ tung und Unterhalt werden ebenso wie die ist Direktor des Heinrich Pesch anderen sozialen Einrichtungen finanziert aus Hauses in Ludwigshafen und den Erträgen der HPS Projektgesellschaft. Sie Prokurist der Heinrich-Pesch- alle dienen subsidiär dazu, die Bewohnerin- Siedlung GmbH & Co. KG. Pater nen und Bewohner zu ermutigen, sich selbst Zimmermann ist außerdem Chef- redakteur des JESUITEN-Magazins mit ihren Ideen und ihrem Engagement ein- und leidenschaftlicher Künstler. 19
SCHWERPUNKT Nachhaltig bauen – eine positive Antwort geben Wie müssen wir bauen, wenn wir sozial und Bepflanzung eine hohe Biodiversität. Ermög- ökologisch verträglich zusammenleben wol- licht wird solch ein Freiraum durch ein Mobi- len? Diesen Fragen stellen sich die Mitwir- litätskonzept, das den Schwerpunkt auf den kenden der Heinrich-Pesch-Siedlung bei der Fußgänger- und Fahrradkomfort legt und dem Planung des neuen Quartiers, das in Ludwigs- Auto an den Rändern der Siedlung Platz ein- hafen entstehen soll. Das Ziel der sozialen räumt. Der Versieglungsanteil wird minimiert Ausrichtung ist es, Wohnraum für alle Einkom und das Regenwassermanagement kann lokal mensschichten zu bieten und den gesellschaft gelöst werden. Das Regenwasser kann als Ge- lichen Zusammenhalt mit einem Quartiersma- staltungselement im Freiraum zu einem ange- nagement zu stärken. nehmen Mikroklima im Quartier beitragen. Um die Siedlung auch ökologisch nach- Für die Gebäude wird eine ressourcenscho- haltig zu gestalten, werden Konzepte zu den nende Bauweise mit einer guten Ökobilanz Schwerpunktthemen Energie, Mobilität, Grün- durch die Optimierung des Materialverbrauchs raum, Wasser und Kreislaufwirtschaft unter- der konventionellen Bauweisen angestrebt. sucht. Überlegungen zur Brauchwassernutzung, z. B. Die Planung einer Siedlung ist komplex. für die WC-Spülung, haben das Potenzial, den Viele Themen müssen beachtet werden und Trinkwasserverbrauch stark zu reduzieren und beeinflussen sich gegenseitig. Die Klimakrise den Abwasseranfall zu verringern. und die notwendige ökologische und soziale Das Ziel, nachhaltig zu bauen, wäre er- Transformation betreffen nahezu alle Aspekte reicht, wenn wir auf die Frage: „Können mit unseres Lebens und Arbeitens. Die Suche nach dem Quartier positive Effekte für Mensch und Lösungen kann deshalb nicht reibungslos ver- Umwelt erreicht werden?“ nach der Realisie- laufen, aber es ist wichtig, dass wir jetzt be- rung eine positive Antwort geben können. ginnen. Die Grundlage für eine emissionsarme Sied lung sind eine nachhaltige Energieversorgung und Gebäude, die wenig Energie im Betrieb verbrauchen. Erneuerbare Energie mit Photo- voltaik-Anlagen an Gebäuden lokal zu erzeu- gen, eine Wärmeversorgung über den Rück- lauf der Fernwärme und eine Pilotanlage zur Erzeugung von Wasserstoff aus Solarenergie Uta Ehrhardt bilden die Bausteine. Die Architektin arbeitete zu- Der Freiraum ist ein zentrales Element, der nächst als Entwurfsarchitektin in Darmstadt und Amsterdam. Sie viele Weichen für soziale und ökologische absolvierte ein Aufbaustudium Qualitäten stellt. Ein großer Anteil an Grünflä- „Architektur und Umwelt“ und ist chen sorgt für viel Aufenthaltsqualität für die seit 2014 als Nachhaltigkeitsbera- Bewohner und erreicht mit einer artenreichen terin tätig. 20
SCHWERPUNKT Die Kuh gegen eine Ziege tauschen Hier verbinden sich Ökologie und Gerechtigkeit: Im Februar 2020 hat die Gesellschaft Jesu in Valladolid einen offenen Gemeinschaftsort für Jesuiten, Laien und Geflüchtete eröffnet. In den letzten zwölf Jahren hat die Gesellschaft jetzt angelangt waren. Aber die Wahrheit ist, Jesu in Valladolid viele Projekte rund um Öko- dass die Ziege sehr produktiv ist. Für uns gilt: logie und die Arbeit mit Migrantinnen und Mi- „Wer verliert, gewinnt“. Wir erleben die Tatsa- granten initiiert. Das Einzige, was sich nicht che, das Leben so mit anderen zu teilen, als geändert hatte, war unsere persönliche und ein unverdientes Geschenk. Eine Familie hat gemeinschaftliche Lebensweise: der gleiche bereits wieder zu einem normalen sozialen Le- Lebensort, die gleiche Art, miteinander in Be- ben zurückgefunden. Immer wieder kommen ziehung zu treten… Es war Zeit für eine radi- Menschen, um ein paar Tage bei uns zu ver- kalere Entscheidung, die unser eigenes Leben bringen, sich auszutauschen, ein Stück Leben betraf. So hat uns eine gemeinsame Unter- zu teilen ... Wir haben Platz, um sie willkom- scheidung dazu gebracht, einen offenen Ge- men zu heißen. meinschaftsort zu gründen, in dem Jesuiten Nach dieser Zeit könnten wir in den Son- und Laien zusammenleben und in dem wir nengesang des Heiligen Franz von Assisi ein- Migrantenfamilien in Notsituationen oder Ge- schwingen und beten: „Gelobt seist du, mein flüchtete aufnehmen können. Im Februar 2020 Herr, für die Schwester Ziege, die Milch gibt haben wir mit 16 Leuten angefangen. wie die beste aller Kühe und die du unverdien- Das ist unser Projekt namens „Ecología y termaßen an unsere Seite gestellt hast, um die Acogida Ana Leal“: Ein Ort zur Aufnahme von kostbaren Dinge des Lebens zu erfahren, die Migrantenfamilien, aber offen für alle, die eine uns mit Sinn erfüllen“. Der Motor dieses Pro- Erfahrung der sozial-ökologischen Transfor- jekts ist ein Aufruf, in Liebe und Respekt vor mation oder Umkehr machen wollen. Und das der Schöpfung und den Geschöpfen zu leben. in dem außergewöhnlichen Kontext von INEA, Das ist es, was Papst Franziskus als Ganzheit- der jesuitischen Bio-Agrar-Hochschule in Val- liche Ökologie bezeichnet. Um sich auf alter- ladolid, mit ihren zahlreichen Projekten wie native Erfahrungen einzulassen, bedarf es aber etwa den 430 ökologischen Gartenparzellen einer bewussten Entscheidung, denn der Ruf für ältere Menschen (www.ecoinea.org). ergeht an uns alle. Das vergangene Jahr hat uns geholfen, unsere Entscheidung zügig umzusetzen und unsere ersten Erfahrungen zu machen. Ein Félix Revilla SJ Mitbruder benutzte ein Gleichnis, um auf un- Direktor des Bio-Agraringenieur- sere Situation hinzuweisen: „Du hast die Kuh Instituts INEA, Mitglied des gegen eine Ziege ausgetauscht“, um anzudeu- Wohnprojekts "Ecología y Acogida Ana Leal", Valladolid, Spanien. ten, wie gut es uns vorher ging und wo wir 21
Geistlicher Prophetisch leben Impuls Am Doppelgebot der Liebe „hängen das gan- begeistert in die ihnen von Gott gestellte Auf- ze Gesetz und die Propheten“, sagt Jesus (Mt gabe hineingehen. Ihnen droht in der Regel Är- 22,40). Diese beiden Säulen der religiösen ger wegen ihrer Botschaft. Tradition des jüdischen Volkes definiert Jesus Aber es geht ihnen ja auch nicht darum, sel- damit neu. Die Auseinandersetzung mit dem ber Recht mit der eigenen Meinung zu haben. „Gesetz“ geht weiter. Heute streiten wir über Der Knackpunkt ist, dass sie gewiss sind, ver- gewichtige Probleme der Kirchenstrukturen standen zu haben, was Gott von ihnen und in und des Kirchenrechts. Und die prophetische unserer Welt will und sich dann gesandt wis- Seite? sen, dafür einzutreten. In der Bibel findet dies Oder bei der Taufe: Laut für die besonders Berufe- dem Gebet bei der Chri- nen oft in einem direkten samsalbung wird der Täuf- Wer ist heute ein Gespräch mit Gott statt, ling hineingenommen in in dem Gott oft auch erst das dreifache Amt Christi, Prophet, eine die Einwände des Prophe- des Königs, Priesters und ten zerstreuen muss. Propheten. Das allgemeine Prophetin? Sind Und als getaufter Priestertum und die Wür- Mensch heute das „all- de der Getauften und aller Sie prophetisch? gemeine Prophet-Sein“ Menschen – also das „all- Bin ich es? zu leben: Was heißt das gemeine Königtum“ – sind nun? Jede*r Getaufte ist breit akzeptiert. Und das grundsätzlich hineinge- „allgemeine Prophet/in-Sein“ aller Getauften? nommen in diese Dynamik, auch wenn nicht Es geht sicher nicht darum, wer die besten jede*r öffentlich auftreten und für Gott und die Vorhersagen macht, wer etwa Wahlen gewinnt, Gerechtigkeit kämpfen muss. © Anette Konrad - HPH wie sich die Pandemie entwickelt oder wie Entscheidend ist der zuletzt genannte es mit der Kirche weitergeht,… Es geht auch Punkt: Wie verstehe ich, was Gott von mir will? nicht darum, im allgemeinen Meinungsstreit Wo sehe ich seine Herausforderung an mich besonders profilierte Positionen zu vertreten und unsere Welt in den Zeichen der Zeit? Und oder mit anderen als Pressure-Group Themen lasse ich mich dann, wenn auch vielleicht erst zu setzen und voranzubringen. nach einer gewissen Überwindung, dazu her- Biblisch sind die Propheten solche, die den ausfordern, mich aktiv dafür einzusetzen? Mund aufmachen, weil sie spüren, dass das Hilfreich sind die ignatianischen Grund- Volk oder die Mächtigen oder die religiösen prinzipien, wie Ignatius sie in den Exerzitien Autoritäten Gottes Willen nicht mehr suchen einzuüben hilft: das Bemühen, indifferent zu und nicht mehr aus der Nähe zu ihm leben. werden gegenüber allem, woran ich gerne Sie reden gegen den Mainstream als Mah- mein Herz hänge; der nüchterne Blick auf die ner gegen Oberflächlichkeit, gegen die Ver- eigene Person, wie ich vor dem barmherzigen führung durch Wohlstand und Macht, gegen Gott stehe; die Unterscheidung der Geister, Ungerechtigkeit und gegen Gottvergessen- was in den vielen Stimmen der Welt wirklich heit. Oder sie sind die Vermittler großer Hoff- vom guten Geist ist; die wachsende Bereit- nungsbilder in Zeiten der Not oder des Exils. schaft, sich senden zu lassen in den guten In der Regel sind es Einzelpersonen, die nicht Kampf. 22
GEISTLICHER IMPULS Am Ende steht alles dann unter dem Lie- besgebot Jesu. Daran hängen ja nicht nur das Gesetz, das menschlich und gerecht bleiben Bernd Günther SJ muss, sondern auch die Propheten. Nur aus Pater Bernd Günther SJ ist 1986 der Liebe zu Gott und den Menschen heraus in den Jesuitenorden eingetreten. kann ich verantwortungsvoll und frei von Nach seiner Priesterweihe war er Eigeninteressen kämpfen für Glauben und Flüchtlingsseelsorger in Berlin und Gerechtigkeit, gegen Ausgrenzungen und gründete dort das deutsche Büro des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes. Gottvergessenheit. Nur in der realistischen Inzwischen ist er Kirchenrektor Ehrlichkeit der Liebe kann ich die große Hoff- von St. Ignatius in Frankfurt und nung aufzeigen, die trägt. Delegat für Pastoral.. 23
Was macht eigentlich …? Ludger Joos SJ Die Augen leuchten, als Ludger Joos SJ von seiner „Sardinenbüchse auf drei Rädern“ schwärmt. Erst vor kurzem bekam er den dreirädrigen Kastenwagen geschenkt: „Da- mit werde ich auf den Marktplatz fahren, mit großem Logo vom ‚Mittagstisch‘ drauf. Was ich dann genau mache, weiß ich noch nicht.“ Der 53-jährige Jesuit betreut seit 2017 die Je- suitenpfarrei Sankt Michael in Göttingen, zu der auch der Mittagstisch gehört. Eine Ein- richtung, die täglich 40 bis 70 Gäste mit einer warmen Mittagsmahlzeit und Lebensmitteln versorgt – auch in Coronazeiten. Der Jesuit bezeichnet sich selbst als Ma- cher. Das habe er von seinem Vater, einem Lehrer, der Pfadfinderstämme gründete, sich politisch engagierte und mit 45 Jahren be- gann, in den Vogesen eigenhändig einen verfallenen Hof in ein Ferienhaus zu verwan- deln. Von seiner Mutter komme ein kreatives Moment: „Ich mag rum friemeln, aufbauen, kreativ sein!“ Nach einem zweijährigen Auf- enthalt in Polen organisiert Joos für den Weltjugendtag 2005 in Köln das ignatianische Vorprogramm „Magis“, das bis heute jeden Weltjugendtag mit Ignatianischen Experi- menten begleitet: „Das hat uns an die Grenze gebracht, wir waren nur vier Leute. Aber ich will es nicht missen!“ „Ich wollte nie Pfarrer werden, aber jetzt liebe ich diesen Job.“ Bilder: © SJ-Bild 24
WAS MACHT EIGENTLICH...? 2007 kehrt der gebürtige Freiburger und Gymnasiallehrer zurück in den Südwesten und wird Kollegsseelsorger in St. Blasien im Hoch- schwarzwald. Dort ging es ihm darum, den Schüler*innen und Eltern, geistliche Erfah- rungen zu ermöglichen, eine Verwurzelung im Glauben. Ein wichtiges Werkzeug dafür sind die Exerzitien, die Joos an die Lebenswelt der Jugendlichen anpasst. Die Pastoral in Göttingen ist bunter, das Repertoire an Begegnungen breiter. „Mein Alltag ist sehr geprägt vom Kirchenjahr, wird aber immer wieder von Taufen und Beerdi- gungen oder Besonderheiten der City-Kirche durchkreuzt“, so der Jesuitenpfarrer. Ein Bei- spiel für diesen Eigencharakter der Innen- stadtkirche ist der Saint-Patrick’s-Day: Mitten Von einer Dienstleistungskirche zu einer, wo in der Fastenzeit ein knallgrüner Gottesdienst die Gaben aller integriert sind.“ Es ginge da- mit Dudelsack und Trommeln. rum, Räume zu bereiten, die noch nicht da Die Pfarrei ist ein Gemeinschaftsprojekt. sind. „Ein Wandel mit Katzenjammer, aber „Es geht um die Frage, wie wir Kirche in ei- spannend“, schmunzelt Joos. nem Umbruch aufbauen und mitgestalten. Auch die fünfköpfige Jesuitenkommunität trägt die Gemeinde mit, vor allem durch den Schatz der gemeinsamen Exerzitienspirituali- tät: „Wir sprechen eine Sprache, wenn auch in Dialekten.“ Diese Spiritualität, gesendet in eine grundsätzlich liebenswerte Welt, bil- de die Grundlage für die Seelsorge, um Men- schen aufzufangen, ihnen bei Wahrnehmung und Unterscheidung zu helfen und dabei, ihre eigenen Widersprüche auszuhalten. Die- se innere Freiheit hat auch Ludger Joos vor 25 Jahren angelockt und trägt ihn bis heute: „Kirche, Welt, ich selbst, Orden – das ist alles liebenswert.“ Dag Heinrichowski SJ 25
NACHRICHTEN Neues aus dem Jesuitenorden Papst zum Ignatius-Gedenkjahr: als Volksmissionar wirkte, nichts mehr im Weg. Bekehrung geschieht im Dialog „Es ist für uns etwas Besonderes, dass ei- nem unserer Mitbrüder diese Ehre zuteil wird“, Papst Franziskus hat den Beginn des „Igna- sagte Provinzial P. Bernhard Bürgler SJ. „Im tianischen Jahres 2021/2022“ mit einer Video- Ignatianischen Jahr, in dem wir uns an die Be- botschaft gewürdigt. Jesuiten-Gründer Igna- kehrung des Ignatius vor 500 Jahren erinnern, tius von Loyola (1491-1556) habe Christus in ist dies für uns alle ein großes Geschenk.“ den Mittelpunkt seines Lebens gestellt, sagte Der am 5. Januar 1642 in Eichstätt gebo- das Kirchenoberhaupt in dem Clip. Dies habe rene und 1663 in den Jesuitenorden einge- der Baske durch Unterscheidung geschafft. tretene Philipp Jeningen sah sich nach dem Unterscheidung bedeute nicht immer, dass Vorbild des Hl. Franz Xaver als Missionar be- man von Anfang an erfolgreich sei. Es gehe rufen. Der Orden wies ihm jedoch die Ostalb vielmehr darum, aufzubrechen, in Bewegung im Süden Deutschlands als Missionsgebiet zu. zu bleiben und sich vom Heiligen Geist leiten Von dort aus war er als Volksmissionar in den zu lassen. Der Weg dieser Pilgerreise könne Bistümern Augsburg, Eichstätt und Würzburg viele Wendungen haben, aber am Ende führe tätig. Er starb am 8. Februar 1704 und ist in der er zu Gott. Wichtig sei es, sich mithilfe der Basilika St. Vitus in Ellwangen bestattet. Mitmenschen immer wieder von Neuem zu Der Seligsprechungsprozess wurde bereits bekehren. „Denn Bekehrung geschieht stets 1945 eingeleitet, der so genannten „heroische im Dialog“, betonte der Papst. Tugendgrad“ 1989 festgestellt. Entscheidend Der Jesuitenorden, dem auch Franziskus angehört, erinnert 2021 und 2022 an die Be- kehrung seines Gründers vor 500 Jahren. Of- fiziell eröffnet wurde das Gedenkjahr bereits am 20. Mai im spanischen Pamplona. Nach einer Schlacht vor der baskischen Stadt hat- te sich der schwer verwundete Ignatius 1521 für ein geistliches Leben entschieden. Das Ge- denkjahr endet am 31. Juli 2022, dem Todes- tag des Heiligen. © SJ-Bild Jesuiten freuen sich über Selig sprechung von P. Philipp Jeningen Pater Philipp Jeningen SJ Der Jesuitenorden freut sich über die Nach- für das Plazet des Papstes war eine „nicht er- richt, dass Papst Franziskus ein Pater Philipp klärbare Heilung“ eines Mannes aus der Di- Jeningen SJ zugeschriebenes Wunder an- özese Rottenburg-Stuttgart von einer unheil- erkennt. Damit steht der Seligsprechung des baren Krankheit aufgrund der Fürbitten seiner „guten Pater Philipp“, der im 17. Jahrhundert Verwandten zu Pater Jeningen. 26
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