4 Evangelische Akademie Bad Boll

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4 Evangelische Akademie Bad Boll
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Dezember 2018
                                        4

                Streitkultur: Ich habe mein ganzes Leben gegen Antisemitismus
                gekämpft ● Utopie der Freiheit im Gespräch ● Weg des Gerechten
                Friedens: Welche Schritte müssen wir gehen? ● Verkehrspolitik am
                Wendepunkt – Mobilitätskonzepte ● Lernen aus der Geschichte
4 Evangelische Akademie Bad Boll
Editorial

		                        Liebe Leserin, lieber Leser,               Problem der Revolution in Deutschland«, auf der Ernst Bloch
                                                                     und Rudi Dutschke debattierten. Die Tagung hätte allerdings
Die Tagung »Krise der Dialogfähigkeit – Shrinking Space im           nicht stattgefunden, wenn Akademiedirektor Eberhard Müller
Israel-Palästina-Konflikt« (21.-23.9.) war eine echte Herausfor-     früher von dem Vorhaben erfahren hätte (s.S. 6). Im Septem-
derung für die Akademie. Im Gegensatz zu früheren Tagungen           ber kamen einige Akteure von damals zusammen und tausch-
zu Nahost, in denen es um Menschenrechte, Besatzung u.v.a.           ten Erinnerungen aus. In erster Linie wurden aber aktuelle
ging, wurde hier die Frage gestellt, warum immer mehr Veran-         utopische Entwürfe diskutiert. Lesen Sie dazu den Beitrag von
staltungen zu dem Thema auf Druck von sogenannten Israel-            Johano Strasser (S. 12) oder die ungekürzte Online-Version.
Freunden abgesagt werden. Eingeladen waren Menschen, die
solche Absagen am eigenen Leib erlebt haben. Ferner Politiker        Auf weitere interessante Themen kann ich nur hinweisen:
und Bürgermeister, in deren Städte Veranstaltungen verhin-           Ein Beitrag von Prof. Heiner Monheim führt uns die kaum
dert wurden und viele andere. Bis auf Christine Buchholz/Die         vorstellbare Vision eines fußgängerfreundlichen Verkehrs-
LINKE sagten alle Politiker ab. Auch Journalisten blieben der        konzepts vor und Dr. Dorothee Weitbrecht berichtet vom
Tagung fern – was sie nicht daran hinderte, der Akademie und         2. Elisabeth-Käsemann-Symposium, bei dem es u.a. um die
den Referent_innen Antisemitismus und Israel-Hass vorzu-             Frage ging, ob Besuche in Gedenkstätten, die Gewalterfah-
werfen. Die Diffamierungen bezogen sich durchgehend auf              rungen zeigen, eine Läuterung der Menschen bewirke.
die Kampagne BDS (Boycott, Divestment, Sanctions), die nicht
Thema der Tagung war. Allen Widerständen zum Trotz ließ              Dr. Markus Weingardt beschäftigt sich mit den Schritten, die
Akademiedirektor Prof. Dr. Hübner die Tagung durchführen.            es für einen wirklich gerechten Frieden braucht und weist
                                                                     dabei auf die besondere Verantwortung der Religionen hin.
Mit dem Satz »Wer sich dem Dialog verweigert, verweigert sich        Dies führt wieder auf die Tagung »Shrinking Spaces« zurück,
der Demokratie«, brachte Dr. Ulrich Bausch in seinem Einfüh-         die Mut gezeigt hat. Weingardt betont, dass Friedenstif-
rungsvortrag (s.S. 28) auf den Punkt, dass unsere Demokratie         ten eine Kunst ist, die gelernt werden kann und fordert die
fundamental leidet, wenn die Meinungsfreiheit eingeschränkt          Kirchen auf, »den Austausch mit anderen Friedensakteuren
wird und eine Auseinandersetzung nicht mehr stattfindet. Sei-        zu suchen.« Ferner fordert er: »Den Mut, sich politisch zu
ner Meinung nach lenken die Anschuldigungen von dem wirk-            positionieren und damit möglicherweise Anstoß zu erregen.
lich bestehenden Problem des Rechtsradikalismus und eines            Den Mut, sich laut und vernehmbar zu artikulieren, vielleicht
immer offeneren Antisemitismus ab: »Keine Frage, es gibt an-         anzuecken, gar Hass oder Häme auf sich zu ziehen. Höfliche,
tisemitische Israelkritik und das ist ein ernstes Problem, aber      gleichgültige oder ängstliche Zurückhaltung in diesen kon-
(es gibt) auch Positionen, die in kritischer Solidarität zu Israel   fliktreichen Zeiten ist das falsche Signal und widerspricht Jesu
stehen, sich an den verbrieften Menschenrechten orientieren          Friedensbotschaft, die er in Leben und Lehre vermittelte.«
und eben nicht rassistisch motiviert sind.« Mit diesem SYM
möchte ich Sie ein wenig in diese Diskussion hineinnehmen.           Für die anstehende Adventszeit wünsche ich Ihnen viel Zeit
Das Interview mit Nirit Sommerfeld bringt ihnen eine Frau            und Muße – vielleicht auch für SYM und grüße Sie herzlich,
näher, die den beschriebenen Angriffen ausgesetzt ist. Wenn
Sie das Thema interessiert, empfehle ich Ihnen, den Links auf
S. 11 und 28 zu folgen, die auf wichtige Analysen hinweisen.
                                                                     Martina Waiblinger
Das große Vorbild für eine streitbare Akademie war und ist die
Tagung im Februar 1968 »Novus Ordo Saeculorum – oder: Das            P.S. Ich entschuldige mich für die Verspätung der Printausgabe.

2                                                                                                                         SYM 4/2018
4 Evangelische Akademie Bad Boll
Inhalt

                                                                                                25
4                                                                                               Aus der Akademie
                                                                                                ▪ Abschied von
Aktuell ...                                                                                       Dr. Claudia Mocek
▪ Akademie verleiht zum                                                                         ▪ Neu in der Akademie:
  zweiten Mal Akademiepreis                                                                       Sandy-Cheril Manton
▪ Neu: Halbjahresprogramm                                                                       ▪ Neu in der Akademie:
  2019-1                                                                                          Fabia Spachmann
▪ Orthodoxe Akademie von                                                                        ▪ Abschied von Julian Bauer
  Kreta (OAK) – fünfzig Jahre                                                                   ▪ Zur Tagung Shrinking Space:
  eucharistischer Diakonie                                                                        - Fragen an Dr. Michael Blume
                                                                                                  - Stellungnahme der Offenen

6
                                8
                                                                                                    Kirche

Akademiegeschichte                                                                              27
Das Problem mit der Revolu-     Schwerpunkt:                                                    Publikationen
tion. Von Dr. Klaus Reblin
                                Streitkultur                                                    Onlinedokumente

7                               »Ich habe mein ganzes Leben gegen Antisemitismus ge-            und Links
                                kämpft«. Interview mit Nirit Sommerfeld von Katja Buck
Kunst
                                Utopie der Freiheit. Von Johano Strasser
                                                                                                29
What remains –                                                                                  Verlosung
Markus Wilke, Malerei
                                Weg des Gerechten Friedens. Welche Schritte müssen              Impressum
                                wir auf diesem Weg gehen? Von Dr. Markus Weingardt
18                              Verkehrspolitik am Wendepunkt.                                  30
Extra:                          Von Prof. Heiner Monheim
Lernen aus der Geschichte.
                                                                                                Kommentar
Vermittlungsprozesse von                                                                        Überlegungen zur Tagung
Völkermord und Gewalterfah-
                                Der Print-Ausgabe von SYM liegt eine                            Shrinking Spaces. Von
rung an nachfolgende Gene-      Stellungnahme der Akademie bei!                                 Prof. Moshe Zuckermann
rationen. Von Dr. Dorothee
Weitbrecht
                                Titelbild
                                                                                                31
                                                                                                Meditation
20                              Dr. Ulrich Bausch, Leiter der VHS Reutlingen und Mitglied
                                                                                                Fürchtet Euch nicht.
Vorschau                        im Kuratorium der Akademie und Dr. Michael Blume,
                                                                                                Meditation von
                                Antisemitismusbeauftragter der Landesregierung und
Tagungen von 3.12.2018                                                                          Pfr. Gerhard Vöhringer
                                in einem Beirat der Akademie, im Streitgespräch bei der
bis 31.3.2019
                                Tagung »Shrinking Spaces« (s.a. S. 8 ff., 11, 27,28, 30, 31).

                                Foto von Martina Waiblinger

SYM 4/2018                                                                                                                 3
4 Evangelische Akademie Bad Boll
Aktuell

                          Akademie verleiht zum                                              Bausch beeindruckte vor allem das Zusammenspiel
                          zweiten Mal Akademiepreis                                          unterschiedlicher Akteure: »Eine Baugenossen-
                                                                                             schaft, eine Kirchengemeinde, die Stadt Tettnang
                                                                                             und eine Stiftung haben sich zusammengeschlos-
                                                                                             sen, um das neue St. Anna-Quartier zu schaffen.
                                                                                             Wir sehen, es ist möglich, neuen integrativen
                                                                                             Wohnraum zu schaffen.« Das St. Anna Quartier soll
                                                                                             in ca. einem Jahr bezugsfertig sein. Zur Preisverlei-
                                                                                             hung waren Sebastian Merkle, Geschäftsführer der
                                                                                             Familienheim Schwarzwald-Baar-Heuberg eG für
                                                                                             die Bauherrengemeinschaft genossenschaftliches
                                                                                             Wohnen (BGWo), Diakon Michael Hagelstein von
                                                                                             der katholischen Kirche St. Gallus und Lothar
                                                                                             Reger vom Bau- und Sparverein Ravensburg eG
                                                                                             gekommen. Sebastian Merkle sagte zur Preisverlei-
                                                                                             hung: »Als überzeugter Vertreter der Wohnungs-
                                                                                             baugenossenschaften sage ich mit Gewissheit, dass
                                                                                             die Genossenschaft sich hier in diesem Quartier
                                                                                             dauerhaft engagieren will, damit diese Initiative
Von li.: Thomas Weise vom Förderverein, Lothar Reger (Bau- und Sparverein Ravensburg         nicht zu einem Strohfeuer, sondern einem Leucht-
eG), Diakon Michael Hagelstein (Kath. Kirche St. Gallus, Tettnang), Sebastian Merkle (Bau-   turm mit langer Strahlkraft wird.«
genossenschaft Familienheim Villingen-Schwenningen), Akademiedirektor Jörg Hübner
und Ulrich Bausch bei der Verleihung des Akademiepreises.

Projekt S. Anna
                          Das Projekt St. Anna Quartier in Tettnang »Leben                   Neu: Halbjahresprogramm 2019-1
Quartier in Tettnang
                          und Wohnen in Vielfalt« wurde am 30. September                     44 Tagungen zu aktuellen Fragen und Problemen
Seit März 2018 wird       mit dem Akademiepreis ausgezeichnet. Der Preis                     stehen im ersten Halbjahr 2019 auf dem Programm
unter dem Motto           wurde zum zweiten Mal beim 73. Gründungs-                          der Evangelischen Akademie Bad Boll: Informieren
»Leben und Wohnen         fest der Akademie verliehen. Er ist mit 3000 Euro                  Sie sich zum Beispiel, was sich in der Quartiers-
in Vielfalt« rund um      dotiert. Um die Auszeichnung unter dem Motto                       entwicklung im Rahmen der Strategie »Quartier
die St. Anna Kapelle      »Werte leben – Zukunft gestalten« hatten sich 29                   2020« tut, vernetzen Sie sich mit anderen Teilneh-
das St. Anna Quartier
                          Initiativen und Projekte beworben. Eine Jury aus                   menden beim 3. Frauenmahl zum Thema »100
mit 127 genossen-
schaftlichen Miet-        Vertretern der Direktion, des Kuratoriums und des                  Jahre Frauenwahlrecht« und tauschen Sie sich mit
wohnungen realisiert,     Förderkreises der Evangelischen Akademie hat mit                   Experten über die Grenzen der pharmakologischen
deren Mietpreise bei      diesem Projekt den Bewerber ausgewählt, der sich                   Behandlung und alternative Ansätze aus. Nehmen
50 Prozent der Woh-       am überzeugendsten dafür einsetzt, dass Menschen                   Sie Anregungen und Ideen für Ihren Arbeitsalltag
nungen deutlich unter     mit geringem und mittlerem Einkommen bezahl-                       mit – ob beim Hebammenfachtag, beim baden-
dem durchschnittlichen    baren Wohnraum finden.                                             württembergischen Streitschlichterkongress oder
Niveau der 11,68€/m2
                                                                                             bei einer Tagung, in der Sie lernen, Plakate und
der Stadt liegen. Mit
30 Prozent Sozialwoh-     In seiner Laudatio wies Kuratoriumsmitglied                        Flip-Charts bei Bürgerprozessen zu gestalten.
nungen, 20 Prozent        Dr. Ulrich Bausch darauf hin, dass die Armut in                    Auf der Suche nach einer nachhaltigen und sozial
mietpreisreduzier-        Deutschland zunehme: »Innerhalb der OECD gibt                      verträglichen Lebensweise finden Sie viele Anre-
ten Wohnungen für         es kein Land, in welchem die Schere zwischen                       gungen, wenn zum Beispiel über »Wege zu einer
Schwellenhaushalte, 4     Reichtum und Armut sich so schnell und dyna-                       anderen Ökonomie« diskutiert wird oder wenn
Wohngemeinschaften        misch öffnet wie in Deutschland, komplementär ist                  es um Nachhaltigkeitsziele und Religionen geht.
für Menschen mit
                          die Zahl der Obdachlosen Jahr für Jahr gestiegen.                  Beim Thema Wirtschaft finden Sie auch Tagungen
Handicap sowie einem
Quartierstreff über-      Der Irrglaube, der Markt könne alles richten, wird                 zum »Bedingungslosen Grundeinkommen«, zum
nimmt das St. Anna        uns zum Verhängnis. Das Thema Wohnungsnot                          »Demografischen Wandel und Rentensystem«
Quartier eine hohe        ist inzwischen auch in der Mittelschicht ange-                     und zum »Rechtspopulismus in der Arbeitswelt«.
soziokulturelle und in-   kommen; in unseren Ballungszentren können                          Profitieren Sie von Impulsvorträgen, wenn es um
tegrative Funktion für    Stellen für Krankenschwestern, Polizisten oder                     die Umsetzung von Kinder- und Jugendrechten in
die Stadtgesellschaft     Altenpfleger häufig nicht besetzt werden, weil für                 der Jugendhilfe geht oder um Digitalisierung und
Tettnangs.
                          diese Zielgruppen kein bezahlbarer Wohnraum zur                    Schule. Oder interessieren Sie sich für eine Aka-
www.bgwo.de
                          Verfügung steht.«                                                  demiereise nach Bosnien, für die Ausstellungen

4                                                                                                                                     SYM 4/2018
4 Evangelische Akademie Bad Boll
Aktuell

in der Akademie, eine Archäologietagung oder
die Inszenierung des »Prinz von Homburg« durch
die Stuttgarter Staatsoper? Alles ist möglich in der
Akademie – selbst Kera Rachel Deiß, ehemaliges
Germany’s Next Top-Model-Kandidatin kommt
nach Bad Boll – zum Thema »Glücklich ist das neue
Schön – Hungern war gestern«. Das HJP ist im
Internet verfügbar oder zu bestellen bei Reinhard
Becker, reinhard.becker@ev-akademie-boll.de

Orthodoxe Akademie von Kreta (OAK) –
Fünfzig Jahre eucharistische Diakonie
                                                                                                                       Bild: Bei den Feier-
»Wir danken Gott allezeit für euch alle und ge-         tet, mit den »Worten des ewigen Lebens«, um das                lichkeiten in der OAK
denken euer in unsern Gebeten und denken ohne           bittere Wasser in süßes zu verwandeln (Ex. 15,23).
Unterlass vor Gott, unserm Vater, an euer Werk                                                                         Spende der Akademie
im Glauben und an eure Arbeit in der Liebe und          Zur Feier von 50 Jahren eucharistischer Diakonie
an eure Geduld in der Hoffnung auf unsern Herrn         und Dienst am Menschen kamen am 3. Oktober                     Akademiedirektor Prof.
                                                                                                                       Dr. Jörg Hübner konnte
Jesus Christus«. (1. Thess. 1,2-3) Dieser Text des      der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel
                                                                                                                       während der Feierlich-
Apostels Paulus spiegelt die Arbeit der Orthodoxen      Bartholomaios, unter dessen Schirmherrschaft die               keiten zum 50-jährigen
Akademie wider: als ein »Werk des Glaubens«             OAK steht wie auch der Präsident Griechenlands                 Jubiläum der OAK eine
in der »Bemühung der Hoffnung«. Der Apostel             Prokopis Pavlopoulos. Ferner kamen Vertreter aller             Spende der Akademie
zentriert diese Arbeit in einem Wort: der Liebe als     öffentlichen Instanzen, von anderen Kirchen und                in Höhe von 500,00 €
Grundstein für alles, als »Liebe im Glauben«. Aber      Organisationen, mit denen die OAK zusammenar-                  für die Photovoltaik-
ein Glaube, der ohne Taten ist, ist betrügerisch, so    beitet. Das Jubiläum begann am Morgen mit einer                anlage überreichen, die
                                                                                                                       auf den Dächern der
nach den Worten des Jakobus: »Werdet aber Täter         Liturgie im benachbarten Kloster Gonia, auf dessen
                                                                                                                       OAK installiert ist. Das
des Wortes und nicht nur Hörer, sonst betrügt ihr       Gelände die Akademie vor 50 Jahren gebaut wurde.               Ziel ist, die 2015 durch
euch selbst!« (Jak. 1,22) Der heutige Mensch dür-       Am Ende der Liturgie folgte eine Totengedenkfeier              die großzügige Spen-
stet nach Liebe, Frieden, Gerechtigkeit, Harmonie,      für alle Mitglieder des Akademierates und ehema-               denbereitschaft von
usw., aber er bekommt nur ein bitteres Wasser zu        liger verstorbener Mitarbeiter. Darauf folgte die be-          Teilnehmenden einer
trinken. Dieses Wasser hat viele Namen: Krieg,          sondere Auszeichnung des Generaldirektors zum                  Tagung zur Erinne-
Armut, Hunger, Ungerechtigkeit, Terror, Nationa-        »Archon-Ypomnimographon« des Ökumenischen                      rung an Elisabeth und
                                                                                                                       Werner Simpfendörfer
lismus, Demagogie, usw. Wir leben in dieser ge-         Patriarchats – eine Ehren-Auszeichnung des Öku-
                                                                                                                       (früherer Akademiestu-
waltsamen ewigen Last der Sünde: das menschliche        menischen Patriarchates auch für seine Funktion                dienleiter und General-
Leben und die lebendigen Bilder Gottes werden           als Generaldirektor der OAK.                                   sekretär der Ökumeni-
billig in den Weltökonomien und politischen Märk-                                                                      schen Vereinigung der
ten abgewertet.                                         Am Tag davor haben die Ehrenmitglieder der                     Akademien) realisierten
                                                        Akademie unter der Präsidentschaft von Seiner All-             8 kW auf 50 kW So-
Die Orthodoxe Akademie von Kreta trägt in einer         heiligkeit, dem Ökumenischen Patriarchen, getagt.              larenergie zu steigern.
                                                                                                                       Die OAK möchte damit
unaufhörlichen Weise dazu bei, dieses bittere Was-      Es war das dritte Treffen dieser Gruppe, die bei
                                                                                                                       das Vorzeigeprojekt für
ser in ein lebendiges Wasser zu verwandeln, damit       dieser Sitzung entschieden hat, neben dem Institut             Solarenergie in ganz
die Welt lebe! Es ist die Weiterführung der Liturgie,   für Theologie und Ökologie auch ein Institut für               Kreta werden. Es soll
dem Herzstück der Orthodoxie, in eine »liturgische      Bioethik zu gründen, das unter dem Dach der Aka-               aufgezeigt werden,
Diakonie«, wie es der Mitbegründer der Akademie         demie arbeiten soll. Ehrenmitglied der Akademie                dass ein Gebäude na-
und langjähriger Generaldirektor Dr. Alexandros         war auch der Begründer der Evangelischen Akade-                hezu energie-autonom
Papaderos betont. Als Werk des Glaubens ist die         mie von Bad Boll, Eberhard Müller. Präsent waren               bewirtschaftet werden
                                                                                                                       kann und eine große
Kirche präsent in dieser Welt, obwohl sie nicht von     auch ökumenische Gäste, wie der Generalsekretär
                                                                                                                       Reduktion an CO2
dieser Welt ist (Joh. 17,15-17) und sie muss spre-      der Konferenz Europäischer Kirchen, Fr. Heikki                 Emission möglich ist.
chen, wenn ein Volk gezwungen ist zu schweigen.         Huttunen, der stellvertretende Sekretär des Ökume-
Und wenn die Kirche zum heutigen Menschen               nischen Rates der Kirchen, Fr. Ioan Sauca, und der             S.a. Spendenaufruf
sprechen will, dann ist es höchst wichtig, dass die     jetzige Direktor von Bad Boll, Jörg Hübner.                    auf der Rückseite.
Kirche mit ihrem eigenen Lebensvorschlag antwor-                     Katerina Karkala-Zorba, Studienleiterin der OAK

SYM 4/2018                                                                                                                                     5
4 Evangelische Akademie Bad Boll
Akademiegeschichte

Das Problem mit der Revolution
Erinnerungen an die Tagung mit Ernst Bloch und Rudi Dutschke im Februar 1968 »Novus Ordo Saecularum«

Von Dr. Klaus Reblin                       wäre. … Kaum war das Programm in            Podium attestiert Bloch der Jugend ein
                                           der Welt, hagelte es Proteste. Ein schwä-   Recht auf Revolte, spricht aber auch von
Vom 9. bis 11. Februar 1968 fand in Bad    bischer Omnibusbauer, der Akademie          Unklarheiten in deren Konzeption, gar
Boll eine Tagung statt, die sich den       eng verbunden, forderte die sofortige       von »Nebel«, und schließlich von der
damaligen Studentenunruhen widmete:        Ausladung Dutschkes. Und ein schwä-         »ungeheuren Aufgabe, die Unklarheiten
»Novus Ordo Saeculorum – das Problem       bischer Oberbürgermeister fragte an, ob     mit allen Mitteln, mit militantem Opti-
der Revolution in Deutschland«. Die        es zutreffe, dass Dutschke ein beson-       mismus zu bereinigen«. Dutschke, wie
Tagung war mit mehr als 250 Teil-          ders hohes Honorar bezöge. Von 2.000        Bloch einst Bürger der DDR, hört zu wie
nehmern die bis dahin größte in der        Mark sei die Rede gewesen. Die von der      selten. Flechtheim, der Gewaltlosigkeit
Akademiegeschichte. Sie wurde bestrit-     Akademie der Presse übergebene Kopie        von ihm fordert, Marsch, der für bedin-
ten von den Professoren Ernst Bloch,       der Abrechnung mit Dutschke lautete:        gungslose Toleranz plädiert, Maihofer,
(Philosoph, Uni Tübingen), Ossip K.        die üblichen 50 Mark für die Beteiligung    der ihn auffordert, seine Gesinnungs-
Flechtheim (Politologe, FU Berlin),        an einem Podiumsgespräch, dazu die          genossen in die Ordnung zu führen, die
Werner Maihofer (Staatsrechtler, Rektor    Flugkosten. Die Teilnehmer der Tagung       die Demokratie für jede Auseinanderset-
der Uni Saarbrücken), Wolf-Dieter          kamen aus allen Schichten der Bevölke-      zung vorschreibt. Und Dutschke? Sagt
Marsch (Theologe, Kirchliche Hoch-         rung, aus allen Berufen, vom Studenten      dem kommunistischen System des
schule Wuppertal), dem Studenten Rudi      jedweder ideologischen Couleur über         Ostens ab. Erklärt sich gegen jede Ge-
Dutschke (Sozialistischer Deutscher Stu-   Lehrer, Ärzte, Richter und Ingenieure       walt. Bekennt sich auch zu Fehlern sei-
dentenbund SDS), sowie Dr. Eberhard        bis hin zum Ministerialdirigenten und       ner Bewegung. Und Bloch? Resümiert:
Müller (Direktor der Ev. Akademie). Ich    zum emeritierten Bundesverfassungs-         »Wir haben Warmes, nicht im mindesten
war verantwortlicher Studienleiter.        richter. Die Teilnehmerliste verschweigt    Sektiererisches, Breites in tiefer Toleranz
Die Idee zur Tagung »Novus Ordo            indessen vier Teilnehmer: die Botschaf-     gehört, das ein neuer Ton ist auch in der
Saeculorum« entstand während meiner        ter der USA und Englands mit ihren Gat-     revolutionären Bewegung.« Es war ein
Beschäftigung mit mehreren grund-          tinnen. Die hohen Damen und Herren,         dichtes Gespräch, ohne Zwischenrufe,
sätzlichen Büchern zum Thema: mit          neugierig auf den Revolutionär mit den      ohne den gefürchteten Radau, sicher
Hanna Arendts »Über die Revolution«        langen Haaren, haben sich jedenfalls        voller Gegensätze, aber von Anfang bis
(1963), mit Ernst Blochs »Thomas           köstlich amüsiert.                          Ende geprägt von der Bereitschaft zuzu-
Müntzer als Theologe der Revolution«,                                                  hören, auch Neues wahrzunehmen, sich
mit Eugen Rosenstock-Huessys »Die          Am Freitag abend las Ernst Bloch            selbst zu korrigieren.
Europäischen Revolutionen und der          aus seinem »Thomas Müntzer« vor.
Charakter der Nationen« (1951) sowie       Am Samstag folgten die Vorträge von         Am späteren Abend trinkt man sogar
mit dessen zweibändiger »Soziologie«       Marsch, Maihofer und Flechtheim.            noch ein Viertele. Einer der vielen anwe-
(1958). Bei der Lektüre dieser Bücher      Marsch beleuchtete das Verhältnis von       senden Journalisten schrieb hinterher,
entstand die Idee, über meinen Freund      christlicher Hoffnung und revolutio-        die Akademie habe an jenem Abend
Hans Holländer bei Ernst Bloch und         närem Bewusstsein, Maihofer stellte         einen tiefen »Blick in den Abgrund«
gleichzeitig bei Rudi Dutschke voran-      sich der These der Studenten, dass die      getan. Hat »Novus Ordo Saeculorum«
zufragen, ob sie zu einer Mitarbeit bei    freiheitliche Demokratie am Ende sei,       der Widerspenstigen Zähmung bewirkt?
einer Revolutions-Tagung bereit wären.     und Flechtheim kritisierte das unreflek-    Dies muss bezweifelt werden. Der An-
Die Antwort Dutschkes kam schnell und      tierte Verhältnis der Studentenrevolte      schlag auf Rudi Dutschke zwei Monate
positiv, handschriftlich auf Postkarte,    zur Gewalt. Im Sonntagsgottesdienst         später bewirkte das Gegenteil. Er ereig-
mit dem chilenischen Gruß: »Vencere-       ging es um das Spannungsverhältnis          nete sich während unserer Ostertagung
mos!« Und auch Bloch war von der Idee      von Freiheit und Ordnung anhand bibli-      1968. Als die Studenten davon erfuhren,
angetan. Daraufhin war es ein Leich-       scher Texte – Ordnung trägt im Unter-       beschlossen sie einstimmig, unsere
tes, weitere prominente Referenten zu      schied zur Freiheit keinen Selbstwert in    Tagung zu unterbrechen, um sich an der
gewinnen. Als freilich Direktor Eberhard   sich, Ordnung ist einzig und allein der     Blockade der Auslieferung der Wochen-
Müller von meinem Plan erfuhr, war er      Raum, wenn auch der unabdingbare,           endzeitungen des Springerkonzerns für
äußerst ungehalten, sah aber ein, dass     für den bestimmten Freiheitsinhalt,         Süddeutschland zu beteiligen. Sie waren
eine Ausladung Blochs und Dutschkes        Freiheit ist immer das Primäre, Ord-        nicht zu halten. Und das zu Recht.
und der anderen Herren hoch delikat        nung immer das Sekundäre. Auf dem                             Siehe auch S. 12-13, 28, 29

6                                                                                                                     SYM 4/2018
4 Evangelische Akademie Bad Boll
Ausstellung

What Remains
Markus Wilke, Malerei

Die aktuelle Malerei von Markus Wilke basiert
auf selbst fotografierten Abbildungen von
Schrott, Verpackungsmüll und Industrieab-
fällen. Die sortierten Sammlungen seiner
Funktion beraubten Materials mit ihrem
plastischen und farblichen Eigenwert dienen
als Grundlage für seine bildnerische Ausein-
andersetzung mit der Gesellschaft und der
Kunst. Die Serie »What remains« verdeutlicht
den Prozess der Zerstörung und Transforma-
tion.

Dabei ist die Intention des Künstlers nicht die
gleichsam dokumentarische fotorealistische
Wiedergabe, sondern eine produktive Irrita-
tion des Blicks und Weitung der Wahrneh-
mung durch klaren kompositorischen Aufbau
und ein subtiles Spiel mit Farbnuancen. Die
Aufmerksamkeit für die Aufhäufungen alltäg-
lich abgetanen Materials führt dabei wie von
selbst zur Abstraktion der Darstellung.

Schon in den Neunzigern war der Künstler
Markus Wilke mehrmals in Bad Boll tätig.          Weit über die Thematisierung von Nachhal-             »Cross Shadow«,
Aufgefallen durch seine »Sozialkritik in          tigkeit (hinaus) wirft diese widersprüchliche         Acryl auf Leinwand
                                                                                                        115 x 115 cm
Schaufenstern« wurde er zur Visualisierung        Bildsprache beim Betrachter Fragen zur
interner Themen herangezogen. In Work-            Wahrnehmung und Identität auf. In diesem
shops unterstützte er Brainstormings oder         Sinne wird sich Markus Wilke für seine
entwickelte Konzepte zu Seminarinhalten.          Präsentation von den örtlichen Gegeben-
So bereicherte er ein Seminar zu »Öko Drive«      heiten leiten lassen. Die Werke werden so
mit einer Installation in der Außenanlage der     in Wechselwirkung zum Architektonischen,
Akademie mittels Schrottteilen und Hinter-        aber auch funktionalen Örtlichkeiten treten
glas-Graffitis.                                   und damit den Dialog anregen.
                                                                        Prof. Dr. Hans-Ulrich Gehring

                                                                                                        Vernissage:
                                                                                                        Sonntag, 17. Februar 2019,
 Markus Wilke                                                                                           15.00 Uhr im Café Heuss
                                                                                                        Leitung:
 Seit 1983 selbständig als freischaffender Künstler                                                     Prof. Dr. Hans-Ulrich Gehring
 1988 Gründung der Firma »Kunst vor Ort« mit Schaufensterinstallationen
                                                                                                        Information: Jacqueline Detzel,
 in Süddeutschland und der Schweiz                                                                      Tel. 07164 79-307
                                                                                                        jacqueline.detzel@ev-akademie-boll.de
 1995 Dozenturen an verschiedenen Akademien u.a. in Bad Boll
 2006 Aufenthalt in Kuba, Kooperationen mit der lokalen Kunstszene                                      Dauer der Ausstellung:
                                                                                                        17. Februar bis 7. April 2019
 Seit 2014 Mitglied des Verbandes Bildender Künstler und Künstlerinnen
 Baden-Württemberg (VBKW)
 Zahlreiche Ausstellungen in der Region Neckar-Alb, ferner in Stuttgart, Freiburg,
 Weil am Rhein, Bad Hersfeld und Berlin

SYM 4/2018                                                                                                                               7
4 Evangelische Akademie Bad Boll
Nirit Sommerfeld

Ich habe mein ganzes Leben
gegen Antisemitismus gekämpft
Interview mit Nirit Sommerfeld             Ist es Unwissenheit oder auch Vorsatz?       Da kann sich jeder aus erster Quelle
von Katja Buck                             Beides. Der pauschale Antisemitismus-        informieren.
                                           Vorwurf ist jedenfalls ein infames Mittel,
Macht es Sie eher wütend oder eher         um Kritik an der Politik Israels zum         Hört man Ihnen zu? Ja, aber oft muss
traurig, wenn Sie als Antisemitin          Schweigen zu bringen.                        ich sagen: I’m preaching to the conver-
bezeichnet werden? Es macht mich                                                        ted. In bestimmten Kreisen hört man
überhaupt nicht traurig. Es empört         Wie wehren Sie sich dagegen? Durch           mir gerne zu. Diejenigen, die mich als
mich. Anfangs war ich entsetzt über        Klarstellung und Aufklärung, um was          Antisemitin bezeichnen, hören mir
diese unverschämte Anschuldigung. Ich      es mir eigentlich geht. Auf keinen Fall      weder zu noch reden sie mit mir.
habe mein Leben lang gegen Antisemi-       nehme ich eine Rechtfertigungshaltung
tismus gekämpft. Mein Großvater und        ein. Ich wehre mich nicht gegen die          Sie müssen sich immer wieder gegen
die halbe Familie sind von den Nazis in    Vorwürfe, weil ich in diese Diskussion       den Vorwurf wehren, BDS zu unter-
Konzentrationslagern ermordet worden.      gar nicht erst einsteigen will. Ich will     stützen. Wie erklären Sie sich, dass
Und dann soll ausgerechnet ich Anti-       über die Menschenrechtsverletzungen          Ihnen dies bereits mehrfach unterstellt
semitin sein! Das ist absurd. Was mich     in meiner Heimat Israel sprechen und         wurde, obwohl Sie an verschiedenen
traurig macht, ist die große Unwissen-     nicht erklären, warum ich keine Anti-        Stellen öffentlich klargestellt haben,
heit, aus der heraus der Begriff Antise-   semitin bin. Deswegen ist mir meine          dass Sie mit BDS nichts zu tun haben?
mitismus benutzt wird.                     eigene Website sehr wichtig, auf der ich     Die Unterstellung der BDS-Nähe ist eine
                                           formulieren kann, wofür ich einstehe.        sehr erfolgreiche Strategie, um Leute

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4 Evangelische Akademie Bad Boll
Nirit Sommerfeld

Nirit Sommerfeld hat nach ihrer Schauspielaus-
bildung als Schauspielerin, Musikerin, Sprecherin   mit ins Boot zu holen. Wir können ihnen
und Moderatorin gearbeitet. Einen besonders         Ressourcen geben, sie unterstützen und sie
schöner Song »Alles Schein« kann man auf ihrer      an unserer Erfahrung teilhaben lassen. Dann
Website hören. www.niritsommerfeld.com              müssen wir sie aber auch machen lassen.
mundtot zu machen. In Deutschland hat man
BDS sehr schnell mit dem Attribut »antise-          Sie waren Referentin bei der Tagung »Shrin-
mitisch« belegt – ein großer Fehler, wie ich        king Spaces« in Bad Boll. Wie haben Sie die
finde. Boykott ist ein legitimes gewaltfreies       Diskussionskultur während der Tagung
Mittel, dafür und für die Meinungsfreiheit          wahrgenommen? Das lief alles in einer sehr
müssen wir einstehen, auch wenn ich selbst          freundlichen Atmosphäre ab. Die Leute
nicht BDS-Aktivistin bin. Mit der diffusen          haben sich ausreden lassen, haben einander
                                                                                                      Nirit Sommerfeld ist 1961 in
Unterstellung, jemand unterstütze BDS, kann         zugehört, haben nicht gleichzeitig geredet.
                                                                                                      Israel geboren und in Ostafrika
man jetzt Menschen, die auf die Menschen-           Nur einmal wurde im Publikum bei einem
                                                                                                      und Deutschland aufgewach-
rechtsverletzungen an den Palästinensern            Beitrag etwas hämisch gelacht. Deutschland
                                                                                                      sen. Heute lebt sie bei Mün-
hinweisen, massiv in die Bredouille bringen.        ist wirklich ein gutes Pflaster für fruchtbare
                                                                                                      chen. Sie ist Schauspielerin,
Diese Technik ist eigentlich ganz einfach. Das      und auch kontroverse Diskussionen. Man ist
                                                                                                      Autorin, macht Musik und ist
kann man in jedem Werbestudium lernen.              es gewöhnt, die Dinge auszudiskutieren –
                                                                                                      in vielen Bereichen der Kunst
                                                    diese Chance müsste man gerade bei diesem
                                                                                                      unterwegs. Von 2007 bis 2009
Überlegen Sie manchmal, ob Ihre Mittel, sich        Thema mehr nutzen.
                                                                                                      hat sie mit ihrer Familie in Tel
gegen Verleumdung und Unterstellung zu
                                                                                                      Aviv gelebt. Seit 2010 orga-
wehren, ausreichen bzw. die richtigen sind?         Haben Sie eine Erklärung dafür, warum es in
                                                                                                      nisiert sie politische Reisen
Ich denke Tag und Nacht darüber nach, wie           Deutschland immer schwieriger wird, über
                                                                                                      nach Israel und Palästina, um
ich die Dinge sagen muss, damit sie bei den         den Nahostkonflikt miteinander zu spre-
                                                                                                      Menschen einen differenzierten
Menschen ankommen. Dabei geht es mir                chen? Das liegt an einer guten Propaganda-
                                                                                                      Blick auf die aktuelle Situation
nicht um die Unterstellungen gegen mich,            arbeit derjenigen, die zwar genau wissen, was
                                                                                                      in der Region zu ermöglichen.
sondern um das, was in Israel passiert. Ich         in Israel schlecht läuft, aber alles dafür tun,
                                                                                                      Zusammen mit Rupert Neu-
wünsche mir, dass es einmal möglich wird,           um die »schmutzige Wäsche« nicht außer
                                                                                                      deck, Rolf Verleger und anderen
dass Politiker und Medienleute, die bisher          Landes und in der Öffentlichkeit zu waschen.
                                                                                                      hat sie 2016 das Bündnis
nur die israelische Seite sehen wollten, auch       Deutsche Nicht-Juden beugen sich diesem
                                                                                                      Beendigung der israelischen
einmal auf das schauen, was mit den Palästi-        Druck, weil – gewissermaßen zu Recht –
                                                                                                      Besatzung BIB e.V. (www.bib-
nensern passiert und dann – meinetwegen             nichts schädlicher für Ruf und Karriere ist,
                                                                                                      jetzt.de) gegründet. Im Februar
hinter verschlossenen Türen – sagen, ja, 51         als für antisemitisch gehalten zu werden.
                                                                                                      2018 hatte sie einen Vortrag im
Jahre Besatzung sind wirklich genug. Dann           Unterstützt wird das auch durch die jüdischen
                                                                                                      Veranstaltungszentrum Gasteig
können wir gemeinsam überlegen, wie sich            Gemeinden in Deutschland. Sie bekennen
                                                                                                      in München über die Rückkehr
die Dinge so ändern lassen, damit es allen          sich hundertprozentig zum Staate Israel, sie
                                                                                                      in ihr Heimatland Israel und
gut geht.                                           empfinden Kritik an Israel als Gefährdung
                                                                                                      die folgende Rückkehr in ihre
                                                    ihres »sicheren Hafens«. Nun wird aber die
                                                                                                      zweite Heimat Deutschland
Mit welchen Mitteln könnte dies vielleicht          Besatzungsrealität in Israel und Palästina
                                                                                                      geplant gehabt. Der Gasteig
erreicht werden? Ich habe das Bündnis zur           immer schlimmer, und dies zu verheimli-
                                                                                                      lehnte diese Veranstaltung
Beendigung der israelischen Besatzung BIB           chen, wird immer schwerer. Da greift der
                                                                                                      aufgrund eines Beschlusses
e.V. mitgegründet; wir publizieren wöchent-         Vorwurf des Antisemitismus hervorragend.
                                                                                                      des Münchner Stadtrats ab,
lich einen Blog, haben eine Konferenz abge-         Entsprechend wird nach Anzeichen gesucht,
                                                                                                      der damit gegen Antisemiten
halten und einiges mehr. Ich selbst reise mit       die dieses Bild bestätigen.
                                                                                                      vorgehen wollte.
Meinungsbildnern nach Israel und Palästina,
                                                                                                      www.niritisommerfeld.com
biete Fakten-Workshops an, bei denen es             Aber es gibt doch Antisemitismus. Selbstver-
darum geht zu lernen, zwischen Fakten und           ständlich gibt es Antisemitismus. Mir selbst
Mythen zu unterscheiden. Als Künstlerin             ist er allerdings in Deutschland erst ein oder
habe ich meine Programme, ich schreibe,             zwei Mal begegnet. Viel öfter erlebe ich an
stehe auf der Bühne und singe Lieder. Damit         mir und anderen andere Formen von Rassis-
möchte ich die Leute unmittelbar berühren,          mus. Aber wenn ständig über die Gefahr des
sie erreichen und aufrütteln. Ich habe mich         Antisemitismus geredet wird, verstärkt sich
neulich mit ein paar jungen Leuten in Berlin        das Bild von einer Welt, die per se antisemi-
getroffen. Es macht Spaß, mit ihnen in die          tisch ist.
Zukunft zu denken. Und es ist wichtig, sie

SYM 4/2018                                                                                                                          9
4 Evangelische Akademie Bad Boll
Nirit Sommerfeld

                                                                                       Palästina-Freunde wesentlich dialogbereiter
                                                                                       als die andere Seite, wie man ja auch bei der
                                                                                       Tagung in Bad Boll erleben konnte.

                                                                                       Was müsste Ihrer Meinung nach passieren,
                                                                                       damit Israelaktivisten und Palästinaakti-
                                                                                       visten in Deutschland wieder konstruktiv
BDS                                                                                    miteinander diskutieren? Als allererstes
                                                                                       müsste gelten, dass, wer Freund von Israel
Boycott, Divestment and                                                                ist, auch Freund von den Palästinensern sein
Sanctions (deutsch »Boykott,                                                           muss und anders herum. Wichtig ist auch
Desinvestitionen und Sank-                                                             der respektvolle Umgang miteinander, damit
tionen«, abgekürzt BDS) ist                                                            überhaupt ein Gespräch zustande kommt.
eine Kampagne, die 2005 von                                                            Und schließlich sollte man sich bemühen,
170 palästinensischen Nicht-                                                           ein gemeinsames Ziel zu definieren. Sind die
                                  Nirit Sommerfeld bei der Tagung »Shrinking Spaces«
regierungsgruppen gegründet       in der Akademie Bad Boll auf dem Podium              Menschenrechte der kleinste gemeinsame
wurde. BDS ist inzwischen                                                              Nenner? Sind Gewaltfreiheit und Gleichbe-
eine weltweite Initiative, die    Sie sprechen von der jüdischen Gemeinschaft          rechtigung gemeinsame Nenner? Können
für Boykott, Desinvestitionen     in Deutschland. Gibt es auch Nicht-Juden,            wir uns darauf einigen, dass ein Volk nicht
und Sanktionen gegenüber          die ihren Anteil daran tragen, dass die Dis-         ein anderes mehr als ein halbes Jahrhundert
dem Staat Israel aufruft. Die     kussion um den Nahostkonflikt in Deutsch-            unter Besatzung halten darf ? Solche Fragen
Befürworter der Kampagne          land immer schwieriger wird? Man darf die            müssen diskutiert werden. Auch muss das
sagen: Nachdem alle Versuche      deutsch-jüdische Geschichte nicht vergessen.         Bedürfnis der Israelis nach Sicherheit ernst
gescheitert sind, die Entste-     Die spielt überall eine Rolle. Ich kann immer        genommen werden – aber genau dasselbe
hung eines palästinensischen      nur wieder betonen, dass es eine deutsch-            Bedürfnis haben eben auch Palästinenser.
Staats Wirklichkeit werden        jüdische und keine deutsch-israelische               Dann kann ein gemeinsamer Wertekanon
zu lassen und die Besatzung       Geschichte ist. Bei meinen Veranstaltungen           erstellt werden, auf dem alles Weitere basiert.
zu beenden, soll – inspiriert     mache ich klar, dass die Leute vor mir ihr           Natürlich gibt es unterschiedliche Interes-
von dem Boykott gegen den         Päckchen mit dem Erbe der Schuld ihrer               sen, und auch darüber muss geredet werden.
Apartheidstaat Südafrika,         Vorväter tragen. Ich wiederum trage mein             Aber die gemeinsame Basis, von der aus man
der dort zur Beendigung der       geerbtes Päckchen als Nachfolgerin der Op-           agiert, muss stimmen.
Apartheid beigetragen hat         fer. Das müssen wir gemeinsam aufarbeiten,
– versucht werden, mittels        am besten durch Dialog, Forschung oder bei           Was braucht es Ihrer Meinung nach für eine
Boykottmaßnahmen zum              Gedenkveranstaltungen. Eine Diskussion               gute Streitkultur? Es braucht Räume und Zeit,
gewünschten Ziel zu kommen.       über die Politik in Israel ist ein anderes The-      man muss zuhören können und ausreden
Es gibt dabei ganz verschie-      ma. Zum Beispiel empört es mich, dass die            lassen. Es macht mir große Sorgen, dass es
dene Meinungen darüber, wie       wenigen der noch lebenden Holocaust-Opfer            heute einen Trend gibt, Meinungen nicht ein-
der Boykott aussehen soll. Die    in Israel zum Teil an der Armutsgrenze leben.        mal mehr hören zu wollen. Das ist gefährlich.
Gegner der Kampagne sind der      Warum wird in Deutschland nicht daran gear-          Andererseits lohnt es sich dafür zu kämpfen,
Meinung, dass Boykotte nicht      beitet, dass es einen Fonds gibt, aus dem sie        dass man überall in Deutschland so diskutie-
hilfreich sind und zum Beispiel   die Mittel bekommen, damit sie endlich das           ren kann wie in Bad Boll.
bei Kulturaustauschprogram-       beste Leben führen können? Stattdessen ver-                                         Siehe auch S.11, 30
men negative Auswirkungen         schenkt Deutschland U-Boote und diskutiert
haben. Auch hier gibt es ganz     über Wiedergutmachungszahlungen.
verschiedene Abstufungen
der Gegnerschaft – manche         Was spricht dagegen? Das, was damals
                                                                                                               Katja Dorothea Buck ist
brandmarken die Kampagne          passiert ist, kann man nicht »wieder-gut-
                                                                                                               Religionswissenschaftlerin
als antisemitisch. Die Akade-     machen«. Diese Schuld lässt sich nicht tilgen.                               und Politologin. Seit vielen
mie teilt das Ansinnen von        Man kann sich aber dafür einsetzen, die                                      Jahren veröffentlicht sie
BDS nicht und unterstützt die     Verhältnisse besser zu machen.                                               in verschiedenen deutsch-
                                                                                                               sprachigen und internatio-
Kampagne nicht.
                                                                                                               nalen Medien Artikel zum
                                  Welche Anteile sehen Sie auf der Seite der                                   Thema Religion im Nahen
                                  Palästina-Freunde, warum die Fronten so                                      Osten.
                                  verhärtet sind? Aus meiner Sicht sind die

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Kaleidoskop

BDS-Kampagne: Soll und darf man Israel boykottieren?
Obwohl BDS (Boycott, Divestment, Sanctions ) auf der Tagung »Shrinking Spaces« (s. a. S. 8-10,
11, 28, 30) nicht thematisiert wurde, war das Kürzel allgegenwärtig – vor allem in den Reden der
Kritiker der Tagung. Im August hat der Guardian eine ausführliche Analyse zu BDS veröffent-
licht, verfasst von dem amerikanischen Journalisten und Autor Nathan Thrall. Die deutsche Über-
setzung kann bei derFreitagdigital, Ausgabe 44 vom 1. November gekauft werden. Lohnt sich!
Thrall arbeitet für die International Crisis Group (ICG) im Bereich Gaza, Israel und Westbank mit
Sitz in Jerusalem. Die ICG ist eine Nichtregierungsorganisation, die Analysen und Lösungsvor-
schläge zu internationalen Konflikten liefert. Sie wird wesentlich von westlichen Regierungen,
Stiftungen und Konzernen finanziert und ist Ansprechpartner für Regierungen und internationa-
le Organisationen wie die Europäische Union, die Vereinten Nationen und die Weltbank.

Vortrag von Andreas Zumach zum Thema »Israel, Palästina und die Grenzen des Sagbaren«.
                           Am 7. November sprach Andreas Zumach an der Universität München (LMU) auf Einladung von Prof.
                           Dr. Michael Meyen, Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung. Zumach ist
                           Journalist und langjähriger Korrespondent aus den UN-Gremien in Genf für deutsche Medien, u.a.
                           die taz. 2009 hat er den Göttinger Friedenspreis erhalten. Er ist auch im Beirat des Vereins »Bünd-
                           nis zur Beendigung der israelischen Besatzung« (BIB). Sein Vortrag thematisierte die Angriffe auf
                           die Meinungsfreiheit durch sogenannte Israel-Freunde. Im Vorfeld gab es heftige Kritik wegen der
                           Veranstaltung. Das Präsidium der LMU hielt aber an der akademischen Freiheit fest. Zum Vortrag
                           kamen bei über 300 Personen, darunter 20-30 lautstarke Gegner der Veranstaltung. Zumachs Analyse
                           ist vielleicht in der Lage, die vergiftete Debatte auf faktenbasierte Füße zu stellen. Sehr zu empfehlen:
                           https://bit.ly/2TesbMF

Neuerscheinung: Gretchen Dutschke: 1968 – Worauf wir stolz sein dürfen
                           Auch Gretchen Dutschke, gebürtige Amerikanerin und Ehefrau von Rudi Dutschke, war im Februar
                           1968 mit in Bad Boll. Sie konnte nicht so intensiv an der Tagung teilnehmen, weil sie sich um das
                           gemeinsame erste Kind, Sohn Hosea Che, kümmern musste. Jetzt, 50 Jahre nach der legendären
                           Tagung kam sie als Referentin zurück nach Bad Boll (s.a. S. 12-13). 2018 wurde ein Buch von Gret-
                           chen Dutschke mit einer persönlichen und kritischen Bilanz des gesellschaftlichen Aufbruchs im Jahr
                           1968 veröffentlicht. Stichworte der Themen, die vorkommen: Studentenbewegung, Demonstratio-
                           nen gegen den Vietnamkrieg, Lockerung der Sexualmoral, Auseinandersetzung der Jugend mit der
                           Nazi-Vergangenheit der Elterngeneration, der Ost-West-Konflikt, der im Mauerbau 1961 gipfelte und
                           zu Stellvertreterkriegen führte und Gegenentwürfe zur bürgerlichen Gesellschaft, die sich in Experi-
                           menten wie der Kommune 1 zeigten. Dies alles – aber auch persönliche Erinnerungen von Gretchen
                           Dutschke sowie ihrer kritischen Bewertung – findet man in dem spannenden Buch. S.a. S. 12-13, 29

Zwei Papiere der EKD, die zu den Themen im Heft passen.
Im August 2017 veröffentlichte die EKD zehn Impulse zum Thema »Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung«.
Die Kammer für Öffentliche Verantwortung möchte damit die Diskussion zu aktuellen Herausforderungen der Demokratie in
Deutschland unterstützen. Es geht um Themen wie z.B. »Christliche Freiheit und Demokratie als Lebensform«, »Demokratische
Streitkultur«, »Wer ist zugehörig?« und »Grenzen der Auseinandersetzung«. Download der 32-seitigen Broschüre: www.ekd.de/
publikationen oder bestellen: versand@ekd.de. Beim zweiten Papier handelt es sich um das Impulspapier der Kammer der EKD
für nachhaltige Entwicklung »Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben – Die Agenda 2030 als Herausforderung für die Kirchen«.
Auf 78 Seiten werden unter anderem die Kapitel »Was wir erwarten« und »Was zu tun ist« behandelt. Im zuletzt genannten Kapi-
tel geht es konkret um die Bekämpfung des Hungers, um nachhaltige Landwirtschaft, um nachhaltige(n) Produktion und Kon-
sum, um die Überwindung von Ungleichheiten, um Klimaschutz, Kohleausstieg und nachhaltige Mobilität. Download: www.
ekd.de/ekd_de/ds_doc/ekd_texte_130_2018.pdf. Prof. Heiner Monheim wird sich freuen – in seinem Beitrag (S. 16-17) berichtet
er noch von zu geringen Anstrengungen der Kirchen in diesem Bereich.

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Utopie

                                                                                      Evangelische Akademie Bad Boll, 1968.

Utopie der Freiheit
                                                                                      Von li.: Wolf-Dieter Marsch, Ernst Bloch,
                                                                                      Klaus Reblin und Rudi Dutschke

Johano Strasser war Referent bei           dass die aggregierten Wirkungen ganz       des globalisierten Marktradikalismus
der Tagung »Gesellschaft morgen            alltäglicher Handlungen von Tausen-        nur mit immer mehr Gewalt, Unter-
denken – zur Aktualität utopischer         den und Abertausenden ganz normaler        drückung, Krieg und kriegsähnlichen
Entwürfe« (7.-9. September), die           Menschen mehr und mehr und immer           Interventionen gesichert werden kann.
an die berühmte Tagung im Februar          schneller die natürlichen Lebensgrund-
                                           lagen zerstören, zunächst vor allem im     So richtig es also ist, dass im Laufe der
1968 angeknüpft hat, bei der sich
                                           globalen Süden, zunehmend aber auch        Geschichte oftmals im Namen uto-
der Philosoph Ernst Bloch und der          bei uns selbst. Zunehmend wird die im      pischer Verheißungen großes Unheil
Studentenführer Rudi Dutschke in           Namen ideologiefreier Wissenschaft         über die Menschen gebracht wurde, so
der Akademie zum Austausch trafen.         vorangetriebene radikale Ökonomi-          falsch ist es zu glauben, alles käme von
Der gesamte Beitrag von Johano             sierung der Lebenswelten und die von       selbst ins Lot, wenn wir nur die Träume
Strasser ist auf der Akademie Web-         Genetikern und Soziobiologen im Bünd-      von einer besseren Welt fahren ließen.
site als Online-Dokument verfügbar.        nis mit dem medizinisch-industriellen      Die sich weitende Kluft zwischen Arm
                                           Komplex verfolgte Perfektionierung         und Reich treibt die Welt immer tiefer
Von Johano Strasser                        des Menschen und die damit einherge-       in die Friedlosigkeit, erzeugt Elend
                                           hende Vermarktung des Humanums als         und Hass und untergräbt den gesell-
Es gehört zu den Grunderfahrungen          neue totalitäre Bedrohung empfunden.       schaftlichen Zusammenhang. Der
unserer Zeit, dass das wissenschaftlich-   Immer offensichtlicher wird es, dass die   kapitalistische Wachstumszwang und
technisch-ökonomische Projekt, dem         Normalität der westlich-kapitalistischen   der ihm entsprechende konsumistische
wir uns im nunmehr weltweiten Westen       Lebensweise und die damit einherge-        Lebensstil droht die Lebensgrundlagen
– ganz nüchtern und unideologisch,         hende Demütigung anderer Kulturen          der Menschheit zu zerstören. Wer Augen
wie wir zumeist meinen – verschrieben      den Boden für terroristische Gewalt        hat zu sehen, erkennt, dass die vielbe-
haben, neue gewaltige Risiken birgt,       bereitet, dass die schöne neue Welt        schworene Normalität des Lebens selbst

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Utopie

eine verhängnisvolle Schlagseite ins Katas-       ▪ alle Energiedienstleistungen mit regene-
trophische hat.                                   rierbaren Primärenergien, d.h. letztlich mit
                                                  Sonnenenergie, zu bewerkstelligen;
Heute haben wir es mit zwei verschiedenen         ▪ alle verwendeten Stoffe im Sinne einer
antiutopischen Strömungen zu tun. Die             emissionsfreien Kreislaufwirtschaft der
eine verklärt den status quo, proklamiert         Wiederverwertung im Techniksystem oder             Gesellschaft morgen denken
das ›Ende der Geschichte‹ und behauptet,          als Nährstoff dem Biosystem zuzuführen;
dass alle über die Normalität des Erreichten      ▪ die Energie- und Stoffeffizienz so weit          Die Sommerakademie widmete
hinausgehenden Ambitionen des Teufels             wie möglich zu erhöhen;                            sich vom 7. bis 9. September
sind. Die andere sieht gerade in der Norma-       ▪ Schäden nach Möglichkeit vorbeugend              2018 der Aktualität utopi-
lität des status quo zerstörerische utopische     zu vermeiden, statt sie nachträglich zu            schen Denkens. 50 Jahre nach
Kräfte am Werk, gegen die die nüchterne           kompensieren;                                      den Aufbrüchen der ›68er-Be-
Ethik des Verzichts und der Selbstbegrenzung      ▪ alle Bereiche der Versorgung und                 wegung, 100 Jahre nach Aus-
mobilisiert werden müsse. Einig sind sich         Verwaltung so weit wie möglich funktional          rufung der Republik und 200
beide Strömungen darin, daß der Geist der         zu dezentralisieren, um die Resilienz der          Jahre nach Karl Marx‹ Geburt
Utopie ein böser Geist ist, der die Menschheit    Gesellschaft zu erhöhen und den Sicherheits-       suchten die Teilnehmer_innen
ins Verderben lockt. Demgegenüber auf der         aufwand zu senken;                                 nach zukunftsweisenden An-
Unschuld der Utopie und des utopischen            ▪ die Rationalisierungsgewinne nicht mehr          sätzen zur humanen Gestal-
Denkens schlechthin zu bestehen, halte ich        zur ständig beschleunigten Produktinnovati-        tung einer globalisierten Welt.
für falsch. Denn es gibt in der Tat einen Typus   on und zur Steigerung des Konsums, sondern         Den Auftakt bildete ein Blick
utopischen Denkens und an ihm sich aus-           vor allem zur Schaffung von mehr frei verfüg-      zurück auf die Begegnung von
richtender Praxis, der freiheitsfeindlich und     barer Zeit für alle zu verwenden;                  Ernst Bloch und Rudi Dutschke
zerstörerisch ist.                                ▪ die materiellen Güter, die Erwerbsarbeit         im Rahmen einer Akademie-
                                                  und die Lebenschancen insgesamt innerge-           tagung des Jahres 1968. Der
Gegenüber den auf der Illusion fortwäh-           sellschaftlich und global möglichst gleich zu      ehemalige Assistent und Schü-
renden ökonomischen Wachstums und einer           verteilen;                                         ler von Bloch und langjährige
alles beherrschenden Technik beruhenden           ▪ den öffentlichen Sektor – den staatlichen        Ordinarius für Rhetorik, Gert
Utopien wäre eine neue Sozialutopie, ein          und den zivilgesellschaftlichen – zu rehabi-       Ueding, leitete am zweiten Tag
neues Leitbild einer Gesellschaft der gelebten    litieren und die Bereitstellung öffentlicher       eine intensive Lektüre von Aus-
Fülle zu etablieren, das die Freiheit und den     Güter und den allgemeinen Zugang zu ihnen          schnitten aus Blochs ›Tübinger
Eigensinn der Menschen ernst nimmt, statt         zu fördern;                                        Einleitung in die Philosophie‹
sie im Namen der Sicherheit zu ersticken,         ▪ die Arbeitsbedingungen im monetären              an. Am abschließenden dritten
das uns nicht in die Sackgasse ökologischer       Sektor kontinuierlich zu verbessern;               Tag standen Fragen nach der
Verwüstung führt, das nicht das Glück einer       ▪ die Bedingungen für die nicht-monetär            Aktualität der Blochschen Ge-
Minderheit zu sichern trachtet, indem es die      vermittelte Arbeit (Care-Arbeit, Eigenarbeit,      danken und nach Konkretionen
Verelendung der Mehrheit in Kauf nimmt,           Gemeinwesenarbeit, Non-Profit-Arbeit etc.)         in den komplexen Zusammen-
das allen Menschen auf der Welt, auch den         zu verbessern;                                     hängen des 21. Jahrhunderts
künftigen Generationen, ein würdiges Leben        ▪ das Verständnis dafür zu fördern, dass           im Vordergrund. Johano Stras-
ermöglicht und das Leben, die menschliche         Spiel und Muße, kollektive Feste und Kunst-        ser nahm in seinem Vortrag
Existenz nicht szientistisch verengt. Dieses      genuss, Freundschaft und Liebe wichtigere          dabei vor allem Chancen zu
Leitbild wäre als eine im Pichtschen Sinn         Quellen menschlichen Glücks sind als bloßer        einer fairen Neugestaltung
»aufgeklärte« Utopie zu denken, eine Utopie       Warenkonsum.                                       der Arbeitswelt in den Blick.
der Freiheit, die eine neue demokratisch-                                                            Kontrovers wurde diskutiert, ob
kooperative Praxis anleitet und dabei sich                                                           und in wie weit Parteipolitik
auch selbst Veränderungen und Korrekturen                                                            heute (noch) zu einer visionär
unterwirft. Sie erwächst aus den Realbedin-                                 Johano Strasser ist
                                                                                                     geleiteten Gestaltung der Ge-
gungen der modernen Zivilisation selbst, die                                Politologe, Publizist    sellschaft beitragen kann.
neben großen Gefahren eben auch die Mög-                                    und Schriftsteller. Ab
lichkeit einer neuen Freiheit bieten. Wenn ich                              1995 war er Gene-                     Hans-Ulrich Gehring,
                                                                            ralsekretär des PEN-               Studienleiter der Tagung
gefragt werden würde, an welchen Zielen sich                                Zentrums Deutschland
die neue befreiende Praxis orientieren sollte,                              und von 2002 bis
würde ich folgende Punkte nennen:                                           2013 sein Präsident.
                                                                            S.a. Verlosung S. 29.

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Gerechter Friede

Weg des Gerechten Friedens
Welche Schritte müssen wir auf diesem Weg gehen?

Von Dr. Markus Weingardt                    vielfältigen Engagements für Frieden,      ten wie konkrete Beispiele religiöser
                                            Gerechtigkeit und die Überwindung          Friedensstifter oder -initiativen. Alle
Die friedenspolitische Bedeutung der        von Gewalt, klafft in allen Religionsge-   Religionen bergen eine Fülle versöh-
Religionsgemeinschaften ist von höchs-      meinschaften eine Lücke zwischen dem       nungsorientierter Überlieferungen und
ter Aktualität und Relevanz. Zahlreiche     theologischen Friedensanspruch und         Beispiele gewaltfreier Konfliktlösung,
Gewaltkonflikte, massive weltweite Auf-     der friedenspolitischen Praxis. Das ist    die aber weithin unbekannt sind. Wer
rüstung und unberechenbare politische       theologisch unglaubwürdig und poli-        kennt denn die Geschichte des Prophe-
Führer verunsichern viele Menschen.         tisch unverantwortlich. Daher sind alle    ten Oded, von David und Abigail oder
Kriege und Ungerechtigkeit zwingen          Religionsgemeinschaften und so auch        die Lösung des ersten Konfliktes der
Millionen von Menschen zur Flucht. Eu-      die Kirchen gefordert, ihre Friedens-      christlichen Urgemeinde? Und wer weiß
ropa befindet sich in einer Zerreißprobe,   kompetenzen auszubauen. Was ist zu         vom Widerstand der ruandischen Mus-
Rechtspopulismus macht sich breit.          tun?                                       lime 1994, vom Engagement Bischof de
Ein »gerechter Friede« scheint in weiter                                               Souzas in Benin, von Maha Ghosanan-
Ferne. Doch Frieden ist kein Zustand,       Erkennen: Zunächst gilt es, sowohl die     das Versöhnungsarbeit in Kambodscha?
sondern ein Geschehen, ein Weg. Die-        friedensorientierten Ressourcen in den     Die Kenntnis der eigenen Quellen,
sen Weg des Gerechten Friedens gilt es      eigenen Quellen und in der eigenen         Traditionen und Vorbilder kann ermuti-
einzuschlagen, und die Kirchen sollen       Geschichte zu erkennen und wahrzu-         gen und Orientierung geben, während
mutig vorangehen. Das ist ihr Anspruch      nehmen. Dazu gehören ebenso Über-          das Wissen um die eigenen Irrtümer
und ihre Verantwortung. Doch trotz          lieferungen in den religiösen Schrif-      und Verfehlungen vor Irrwegen schüt-

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Gerechter Friede

zen mag. Wer sich darüber hinaus mit den                                                 ren spezifischen Kompetenzen und Zugangs-
Schriften und Beispielen anderer Religionen                                              weisen ergänzen. Kompetenzen in konstruk-
                                                 »Der Friede auf Erden wird
beschäftigt, wird außerdem starke Parallelen                                             tiver Konfliktbearbeitung sind dazu freilich
                                                 in einem ganz anderen Maß
erkennen: Mitmenschlichkeit, Gewaltlosig-                                                unverzichtbar, aber nicht hinreichend. Sich in
                                                 auch zu einer Aufgabe der
keit und Gerechtigkeit sind Werte, die sich in                                           politische Prozesse einzubringen, erfordert
                                                 Kirche werden als bisher. Wir
allen Religionen finden lassen.                                                          von den Kirchen außerdem Mut: Den Mut,
                                                 werden ihm dienen in weit
                                                                                         sich politisch zu positionieren und damit
                                                 größerer Unabhängigkeit
Entwickeln: Jeder Konflikt ist anders und                                                möglicherweise Anstoß zu erregen. Den Mut,
                                                 von den Interessen unseres
bedarf anderer Instrumente oder Methoden,                                                sich laut und vernehmbar zu artikulieren,
                                                 Staates oder anderer Staaten.
im zwischenmenschlichen wie in der »gro-                                                 vielleicht anzuecken, gar Hass oder Häme auf
                                                 Und wir werden neue Formen
ßen Politik«. Darum müssen die vorhandenen                                               sich zu ziehen. Höfliche, gleichgültige oder
                                                 unseres Eintretens für den
Kompetenzen nicht nur wahrgenommen,                                                      ängstliche Zurückhaltung in diesen konflikt-
                                                 Frieden finden müssen. Da
sondern auch analysiert und weiterentwickelt                                             reichen Zeiten ist das falsche Signal und
                                                 gibt es bereits beachtliche
werden. Frieden zu stiften ist manchmal harte                                            widerspricht Jesu Friedensbotschaft, die er in
                                                 Anfänge. Die Gerechtigkeit auf
Arbeit, immer aber eine Kunst. Doch diese                                                Leben und Lehre vermittelte. Doch Friedens-
                                                 dieser Erde wird sich zu einer
Kunst kann gelernt werden, und also muss                                                 arbeit ergibt sich nicht zwangsläufig oder
                                                 der zentralen Aufgaben der
sie auch gelehrt werden: in Kindergarten und                                             zufällig, sie kann und muss bewusst gewollt
                                                 Kirche entwickeln. Und auch
Schule, in Religions- und Konfirmationsun-                                               und aktiv umgesetzt werden. Die Entwicklung
                                                 hier werden wir viel unbe-
terricht, besonders auch in Theologiestudium                                             von Konflikten, ob international oder in un-
                                                 kümmerter auch gegen unsere
und anderen kirchlichen Ausbildungsgängen.                                               serer Gesellschaft, darf nicht den Gewaltak-
                                                 eigenen deutschen wirtschaft-
Hier wird das Interesse geweckt, werden                                                  teuren überlassen werden, und die öffentliche
                                                 lichen Interessen denken und
Offenheit und Sensibilität entwickelt. Und                                               Aufmerksamkeit nicht den Angstpredigern
                                                 reden und handeln müssen als
hier können Grundlagen vermittelt werden,                                                und geistigen Brandstiftern, seien sie säkular
                                                 bisher.« Jörg Zink: Die evange-
wie auf kluge und konstruktive Weise mit                                                 oder religiös. Das verlangt nicht weniger, als
                                                 lische Kirche auf ihrem Weg
Konflikten umgegangen werden kann – in                                                   dass Friedenspolitik und -engagement – auch
                                                 ins 21. Jahrhundert. Vortrag
und außerhalb der Kirche. Bei alldem tun die                                             und gerade aus religiös-theologischer Motiva-
                                                 am 14.10.1995 in Stuttgart
Kirchen gut daran, den Austausch mit ande-                                               tion – konsequent als vornehmste Aufgabe
ren Friedensakteuren zu suchen, mit religi-                                              der Kirchen und jeder Religionsgemeinschaft
ösen oder nichtreligiösen zivilgesellschaftli-                                           begriffen und praktiziert wird.
chen Organisationen, mit andersreligiösen
Akteuren, mit Wissenschaft und Politik. Alle                                             Als gesellschaftliche Großinstitutionen
diese Akteure haben jeweils spezifische Mög-                                             tragen die Religionsgemeinschaften, res-
lichkeiten, Fähigkeiten und Erfahrungen, die                                             pektive die christlichen Kirchen in Europa,
sich ergänzen können. Es gilt, voneinander                                               eine Mitverantwortung für politische und
zu lernen und die eigenen Konfliktbearbei-                                               gesellschaftliche Entwicklungen. Ihre Stim-
tungsfähigkeiten inhaltlich und institutionell                                           me wird gehört, wenn sie klar und deutlich
zu stärken, auch zu professionalisieren. Das                                             erhoben wird, und ihr wird geglaubt, wenn
erfordert eine klare theologische und politi-                                            Taten folgen. Die Kirchen haben Einfluss,
sche Präferenz für Frieden und Versöhnung,                                               geben vielen Menschen Orientierung und
aber natürlich auch den Einsatz entspre-                                                 genießen weithin Vertrauen. Ihre friedens-
chender Finanzmittel. Denn Frieden ist nicht                                             stiftenden Fähigkeiten und Erfahrungen
eines unter vielen kirchlichen Arbeitsfeldern,                                           bergen enormes Potenzial für gegenwärtige
es ist für die Kirchen »ein herausragendes                                               und zukünftige Konflikte. Das ist eine große
Thema öffentlicher Verantwortung« und eine                                               Chance. Wird sie vergeben, so werden die
»immerwährende Aufgabe«, wie die EKD-                                                    Kirchen weiter an gesellschaftlicher Relevanz
                                                 Dr. Markus Weingardt ist Friedens-
Friedensdenkschrift von 2007 betont.             und Konfliktforscher und Mitarbeiter    und Anziehungskraft verlieren. Wenn die
                                                 bei der Stiftung Weltethos, Tübingen.   Kirchen aber vorangehen auf dem Weg eines
Einbringen: Sind durch Erkennen und Entwi-       Er war Referent bei der Tagung Er       Gerechten Friedens, mutig, entschlossen
ckeln der Friedenskompetenzen die nötigen        war Referent bei der Tagung »Auf        und glaubwürdig, dann wird dies Beachtung
                                                 dem Weg des Gerechten Friedens.
Voraussetzungen gegeben, so müssen religi-       Kirche und Gesellschaft 100 Jahre       und Mitstreiter finden. Manches ist auf dem
öse Akteure ihre Expertise in Konflikt- und      nach dem Ende des 1. Weltkrieges«,      Wege, vieles bleibt noch zu tun. Wir stehen
Friedensprozessen anbieten, sich einbringen.     23.-24.11.2018.                         erst am Anfang.
Religiöse Friedensakteure sind kein Ersatz für
säkulare Kräfte, aber sie können diese mit ih-

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