4 Evangelische Akademie Bad Boll
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www.ev-akademie-boll.de Dezember 2018 4 Streitkultur: Ich habe mein ganzes Leben gegen Antisemitismus gekämpft ● Utopie der Freiheit im Gespräch ● Weg des Gerechten Friedens: Welche Schritte müssen wir gehen? ● Verkehrspolitik am Wendepunkt – Mobilitätskonzepte ● Lernen aus der Geschichte
Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, Problem der Revolution in Deutschland«, auf der Ernst Bloch und Rudi Dutschke debattierten. Die Tagung hätte allerdings Die Tagung »Krise der Dialogfähigkeit – Shrinking Space im nicht stattgefunden, wenn Akademiedirektor Eberhard Müller Israel-Palästina-Konflikt« (21.-23.9.) war eine echte Herausfor- früher von dem Vorhaben erfahren hätte (s.S. 6). Im Septem- derung für die Akademie. Im Gegensatz zu früheren Tagungen ber kamen einige Akteure von damals zusammen und tausch- zu Nahost, in denen es um Menschenrechte, Besatzung u.v.a. ten Erinnerungen aus. In erster Linie wurden aber aktuelle ging, wurde hier die Frage gestellt, warum immer mehr Veran- utopische Entwürfe diskutiert. Lesen Sie dazu den Beitrag von staltungen zu dem Thema auf Druck von sogenannten Israel- Johano Strasser (S. 12) oder die ungekürzte Online-Version. Freunden abgesagt werden. Eingeladen waren Menschen, die solche Absagen am eigenen Leib erlebt haben. Ferner Politiker Auf weitere interessante Themen kann ich nur hinweisen: und Bürgermeister, in deren Städte Veranstaltungen verhin- Ein Beitrag von Prof. Heiner Monheim führt uns die kaum dert wurden und viele andere. Bis auf Christine Buchholz/Die vorstellbare Vision eines fußgängerfreundlichen Verkehrs- LINKE sagten alle Politiker ab. Auch Journalisten blieben der konzepts vor und Dr. Dorothee Weitbrecht berichtet vom Tagung fern – was sie nicht daran hinderte, der Akademie und 2. Elisabeth-Käsemann-Symposium, bei dem es u.a. um die den Referent_innen Antisemitismus und Israel-Hass vorzu- Frage ging, ob Besuche in Gedenkstätten, die Gewalterfah- werfen. Die Diffamierungen bezogen sich durchgehend auf rungen zeigen, eine Läuterung der Menschen bewirke. die Kampagne BDS (Boycott, Divestment, Sanctions), die nicht Thema der Tagung war. Allen Widerständen zum Trotz ließ Dr. Markus Weingardt beschäftigt sich mit den Schritten, die Akademiedirektor Prof. Dr. Hübner die Tagung durchführen. es für einen wirklich gerechten Frieden braucht und weist dabei auf die besondere Verantwortung der Religionen hin. Mit dem Satz »Wer sich dem Dialog verweigert, verweigert sich Dies führt wieder auf die Tagung »Shrinking Spaces« zurück, der Demokratie«, brachte Dr. Ulrich Bausch in seinem Einfüh- die Mut gezeigt hat. Weingardt betont, dass Friedenstif- rungsvortrag (s.S. 28) auf den Punkt, dass unsere Demokratie ten eine Kunst ist, die gelernt werden kann und fordert die fundamental leidet, wenn die Meinungsfreiheit eingeschränkt Kirchen auf, »den Austausch mit anderen Friedensakteuren wird und eine Auseinandersetzung nicht mehr stattfindet. Sei- zu suchen.« Ferner fordert er: »Den Mut, sich politisch zu ner Meinung nach lenken die Anschuldigungen von dem wirk- positionieren und damit möglicherweise Anstoß zu erregen. lich bestehenden Problem des Rechtsradikalismus und eines Den Mut, sich laut und vernehmbar zu artikulieren, vielleicht immer offeneren Antisemitismus ab: »Keine Frage, es gibt an- anzuecken, gar Hass oder Häme auf sich zu ziehen. Höfliche, tisemitische Israelkritik und das ist ein ernstes Problem, aber gleichgültige oder ängstliche Zurückhaltung in diesen kon- (es gibt) auch Positionen, die in kritischer Solidarität zu Israel fliktreichen Zeiten ist das falsche Signal und widerspricht Jesu stehen, sich an den verbrieften Menschenrechten orientieren Friedensbotschaft, die er in Leben und Lehre vermittelte.« und eben nicht rassistisch motiviert sind.« Mit diesem SYM möchte ich Sie ein wenig in diese Diskussion hineinnehmen. Für die anstehende Adventszeit wünsche ich Ihnen viel Zeit Das Interview mit Nirit Sommerfeld bringt ihnen eine Frau und Muße – vielleicht auch für SYM und grüße Sie herzlich, näher, die den beschriebenen Angriffen ausgesetzt ist. Wenn Sie das Thema interessiert, empfehle ich Ihnen, den Links auf S. 11 und 28 zu folgen, die auf wichtige Analysen hinweisen. Martina Waiblinger Das große Vorbild für eine streitbare Akademie war und ist die Tagung im Februar 1968 »Novus Ordo Saeculorum – oder: Das P.S. Ich entschuldige mich für die Verspätung der Printausgabe. 2 SYM 4/2018
Inhalt 25 4 Aus der Akademie ▪ Abschied von Aktuell ... Dr. Claudia Mocek ▪ Akademie verleiht zum ▪ Neu in der Akademie: zweiten Mal Akademiepreis Sandy-Cheril Manton ▪ Neu: Halbjahresprogramm ▪ Neu in der Akademie: 2019-1 Fabia Spachmann ▪ Orthodoxe Akademie von ▪ Abschied von Julian Bauer Kreta (OAK) – fünfzig Jahre ▪ Zur Tagung Shrinking Space: eucharistischer Diakonie - Fragen an Dr. Michael Blume - Stellungnahme der Offenen 6 8 Kirche Akademiegeschichte 27 Das Problem mit der Revolu- Schwerpunkt: Publikationen tion. Von Dr. Klaus Reblin Streitkultur Onlinedokumente 7 »Ich habe mein ganzes Leben gegen Antisemitismus ge- und Links kämpft«. Interview mit Nirit Sommerfeld von Katja Buck Kunst Utopie der Freiheit. Von Johano Strasser 29 What remains – Verlosung Markus Wilke, Malerei Weg des Gerechten Friedens. Welche Schritte müssen Impressum wir auf diesem Weg gehen? Von Dr. Markus Weingardt 18 Verkehrspolitik am Wendepunkt. 30 Extra: Von Prof. Heiner Monheim Lernen aus der Geschichte. Kommentar Vermittlungsprozesse von Überlegungen zur Tagung Völkermord und Gewalterfah- Der Print-Ausgabe von SYM liegt eine Shrinking Spaces. Von rung an nachfolgende Gene- Stellungnahme der Akademie bei! Prof. Moshe Zuckermann rationen. Von Dr. Dorothee Weitbrecht Titelbild 31 Meditation 20 Dr. Ulrich Bausch, Leiter der VHS Reutlingen und Mitglied Fürchtet Euch nicht. Vorschau im Kuratorium der Akademie und Dr. Michael Blume, Meditation von Antisemitismusbeauftragter der Landesregierung und Tagungen von 3.12.2018 Pfr. Gerhard Vöhringer in einem Beirat der Akademie, im Streitgespräch bei der bis 31.3.2019 Tagung »Shrinking Spaces« (s.a. S. 8 ff., 11, 27,28, 30, 31). Foto von Martina Waiblinger SYM 4/2018 3
Aktuell Akademie verleiht zum Bausch beeindruckte vor allem das Zusammenspiel zweiten Mal Akademiepreis unterschiedlicher Akteure: »Eine Baugenossen- schaft, eine Kirchengemeinde, die Stadt Tettnang und eine Stiftung haben sich zusammengeschlos- sen, um das neue St. Anna-Quartier zu schaffen. Wir sehen, es ist möglich, neuen integrativen Wohnraum zu schaffen.« Das St. Anna Quartier soll in ca. einem Jahr bezugsfertig sein. Zur Preisverlei- hung waren Sebastian Merkle, Geschäftsführer der Familienheim Schwarzwald-Baar-Heuberg eG für die Bauherrengemeinschaft genossenschaftliches Wohnen (BGWo), Diakon Michael Hagelstein von der katholischen Kirche St. Gallus und Lothar Reger vom Bau- und Sparverein Ravensburg eG gekommen. Sebastian Merkle sagte zur Preisverlei- hung: »Als überzeugter Vertreter der Wohnungs- baugenossenschaften sage ich mit Gewissheit, dass die Genossenschaft sich hier in diesem Quartier dauerhaft engagieren will, damit diese Initiative Von li.: Thomas Weise vom Förderverein, Lothar Reger (Bau- und Sparverein Ravensburg nicht zu einem Strohfeuer, sondern einem Leucht- eG), Diakon Michael Hagelstein (Kath. Kirche St. Gallus, Tettnang), Sebastian Merkle (Bau- turm mit langer Strahlkraft wird.« genossenschaft Familienheim Villingen-Schwenningen), Akademiedirektor Jörg Hübner und Ulrich Bausch bei der Verleihung des Akademiepreises. Projekt S. Anna Das Projekt St. Anna Quartier in Tettnang »Leben Neu: Halbjahresprogramm 2019-1 Quartier in Tettnang und Wohnen in Vielfalt« wurde am 30. September 44 Tagungen zu aktuellen Fragen und Problemen Seit März 2018 wird mit dem Akademiepreis ausgezeichnet. Der Preis stehen im ersten Halbjahr 2019 auf dem Programm unter dem Motto wurde zum zweiten Mal beim 73. Gründungs- der Evangelischen Akademie Bad Boll: Informieren »Leben und Wohnen fest der Akademie verliehen. Er ist mit 3000 Euro Sie sich zum Beispiel, was sich in der Quartiers- in Vielfalt« rund um dotiert. Um die Auszeichnung unter dem Motto entwicklung im Rahmen der Strategie »Quartier die St. Anna Kapelle »Werte leben – Zukunft gestalten« hatten sich 29 2020« tut, vernetzen Sie sich mit anderen Teilneh- das St. Anna Quartier Initiativen und Projekte beworben. Eine Jury aus menden beim 3. Frauenmahl zum Thema »100 mit 127 genossen- schaftlichen Miet- Vertretern der Direktion, des Kuratoriums und des Jahre Frauenwahlrecht« und tauschen Sie sich mit wohnungen realisiert, Förderkreises der Evangelischen Akademie hat mit Experten über die Grenzen der pharmakologischen deren Mietpreise bei diesem Projekt den Bewerber ausgewählt, der sich Behandlung und alternative Ansätze aus. Nehmen 50 Prozent der Woh- am überzeugendsten dafür einsetzt, dass Menschen Sie Anregungen und Ideen für Ihren Arbeitsalltag nungen deutlich unter mit geringem und mittlerem Einkommen bezahl- mit – ob beim Hebammenfachtag, beim baden- dem durchschnittlichen baren Wohnraum finden. württembergischen Streitschlichterkongress oder Niveau der 11,68€/m2 bei einer Tagung, in der Sie lernen, Plakate und der Stadt liegen. Mit 30 Prozent Sozialwoh- In seiner Laudatio wies Kuratoriumsmitglied Flip-Charts bei Bürgerprozessen zu gestalten. nungen, 20 Prozent Dr. Ulrich Bausch darauf hin, dass die Armut in Auf der Suche nach einer nachhaltigen und sozial mietpreisreduzier- Deutschland zunehme: »Innerhalb der OECD gibt verträglichen Lebensweise finden Sie viele Anre- ten Wohnungen für es kein Land, in welchem die Schere zwischen gungen, wenn zum Beispiel über »Wege zu einer Schwellenhaushalte, 4 Reichtum und Armut sich so schnell und dyna- anderen Ökonomie« diskutiert wird oder wenn Wohngemeinschaften misch öffnet wie in Deutschland, komplementär ist es um Nachhaltigkeitsziele und Religionen geht. für Menschen mit die Zahl der Obdachlosen Jahr für Jahr gestiegen. Beim Thema Wirtschaft finden Sie auch Tagungen Handicap sowie einem Quartierstreff über- Der Irrglaube, der Markt könne alles richten, wird zum »Bedingungslosen Grundeinkommen«, zum nimmt das St. Anna uns zum Verhängnis. Das Thema Wohnungsnot »Demografischen Wandel und Rentensystem« Quartier eine hohe ist inzwischen auch in der Mittelschicht ange- und zum »Rechtspopulismus in der Arbeitswelt«. soziokulturelle und in- kommen; in unseren Ballungszentren können Profitieren Sie von Impulsvorträgen, wenn es um tegrative Funktion für Stellen für Krankenschwestern, Polizisten oder die Umsetzung von Kinder- und Jugendrechten in die Stadtgesellschaft Altenpfleger häufig nicht besetzt werden, weil für der Jugendhilfe geht oder um Digitalisierung und Tettnangs. diese Zielgruppen kein bezahlbarer Wohnraum zur Schule. Oder interessieren Sie sich für eine Aka- www.bgwo.de Verfügung steht.« demiereise nach Bosnien, für die Ausstellungen 4 SYM 4/2018
Aktuell in der Akademie, eine Archäologietagung oder die Inszenierung des »Prinz von Homburg« durch die Stuttgarter Staatsoper? Alles ist möglich in der Akademie – selbst Kera Rachel Deiß, ehemaliges Germany’s Next Top-Model-Kandidatin kommt nach Bad Boll – zum Thema »Glücklich ist das neue Schön – Hungern war gestern«. Das HJP ist im Internet verfügbar oder zu bestellen bei Reinhard Becker, reinhard.becker@ev-akademie-boll.de Orthodoxe Akademie von Kreta (OAK) – Fünfzig Jahre eucharistische Diakonie Bild: Bei den Feier- »Wir danken Gott allezeit für euch alle und ge- tet, mit den »Worten des ewigen Lebens«, um das lichkeiten in der OAK denken euer in unsern Gebeten und denken ohne bittere Wasser in süßes zu verwandeln (Ex. 15,23). Unterlass vor Gott, unserm Vater, an euer Werk Spende der Akademie im Glauben und an eure Arbeit in der Liebe und Zur Feier von 50 Jahren eucharistischer Diakonie an eure Geduld in der Hoffnung auf unsern Herrn und Dienst am Menschen kamen am 3. Oktober Akademiedirektor Prof. Dr. Jörg Hübner konnte Jesus Christus«. (1. Thess. 1,2-3) Dieser Text des der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel während der Feierlich- Apostels Paulus spiegelt die Arbeit der Orthodoxen Bartholomaios, unter dessen Schirmherrschaft die keiten zum 50-jährigen Akademie wider: als ein »Werk des Glaubens« OAK steht wie auch der Präsident Griechenlands Jubiläum der OAK eine in der »Bemühung der Hoffnung«. Der Apostel Prokopis Pavlopoulos. Ferner kamen Vertreter aller Spende der Akademie zentriert diese Arbeit in einem Wort: der Liebe als öffentlichen Instanzen, von anderen Kirchen und in Höhe von 500,00 € Grundstein für alles, als »Liebe im Glauben«. Aber Organisationen, mit denen die OAK zusammenar- für die Photovoltaik- ein Glaube, der ohne Taten ist, ist betrügerisch, so beitet. Das Jubiläum begann am Morgen mit einer anlage überreichen, die auf den Dächern der nach den Worten des Jakobus: »Werdet aber Täter Liturgie im benachbarten Kloster Gonia, auf dessen OAK installiert ist. Das des Wortes und nicht nur Hörer, sonst betrügt ihr Gelände die Akademie vor 50 Jahren gebaut wurde. Ziel ist, die 2015 durch euch selbst!« (Jak. 1,22) Der heutige Mensch dür- Am Ende der Liturgie folgte eine Totengedenkfeier die großzügige Spen- stet nach Liebe, Frieden, Gerechtigkeit, Harmonie, für alle Mitglieder des Akademierates und ehema- denbereitschaft von usw., aber er bekommt nur ein bitteres Wasser zu liger verstorbener Mitarbeiter. Darauf folgte die be- Teilnehmenden einer trinken. Dieses Wasser hat viele Namen: Krieg, sondere Auszeichnung des Generaldirektors zum Tagung zur Erinne- Armut, Hunger, Ungerechtigkeit, Terror, Nationa- »Archon-Ypomnimographon« des Ökumenischen rung an Elisabeth und Werner Simpfendörfer lismus, Demagogie, usw. Wir leben in dieser ge- Patriarchats – eine Ehren-Auszeichnung des Öku- (früherer Akademiestu- waltsamen ewigen Last der Sünde: das menschliche menischen Patriarchates auch für seine Funktion dienleiter und General- Leben und die lebendigen Bilder Gottes werden als Generaldirektor der OAK. sekretär der Ökumeni- billig in den Weltökonomien und politischen Märk- schen Vereinigung der ten abgewertet. Am Tag davor haben die Ehrenmitglieder der Akademien) realisierten Akademie unter der Präsidentschaft von Seiner All- 8 kW auf 50 kW So- Die Orthodoxe Akademie von Kreta trägt in einer heiligkeit, dem Ökumenischen Patriarchen, getagt. larenergie zu steigern. Die OAK möchte damit unaufhörlichen Weise dazu bei, dieses bittere Was- Es war das dritte Treffen dieser Gruppe, die bei das Vorzeigeprojekt für ser in ein lebendiges Wasser zu verwandeln, damit dieser Sitzung entschieden hat, neben dem Institut Solarenergie in ganz die Welt lebe! Es ist die Weiterführung der Liturgie, für Theologie und Ökologie auch ein Institut für Kreta werden. Es soll dem Herzstück der Orthodoxie, in eine »liturgische Bioethik zu gründen, das unter dem Dach der Aka- aufgezeigt werden, Diakonie«, wie es der Mitbegründer der Akademie demie arbeiten soll. Ehrenmitglied der Akademie dass ein Gebäude na- und langjähriger Generaldirektor Dr. Alexandros war auch der Begründer der Evangelischen Akade- hezu energie-autonom Papaderos betont. Als Werk des Glaubens ist die mie von Bad Boll, Eberhard Müller. Präsent waren bewirtschaftet werden kann und eine große Kirche präsent in dieser Welt, obwohl sie nicht von auch ökumenische Gäste, wie der Generalsekretär Reduktion an CO2 dieser Welt ist (Joh. 17,15-17) und sie muss spre- der Konferenz Europäischer Kirchen, Fr. Heikki Emission möglich ist. chen, wenn ein Volk gezwungen ist zu schweigen. Huttunen, der stellvertretende Sekretär des Ökume- Und wenn die Kirche zum heutigen Menschen nischen Rates der Kirchen, Fr. Ioan Sauca, und der S.a. Spendenaufruf sprechen will, dann ist es höchst wichtig, dass die jetzige Direktor von Bad Boll, Jörg Hübner. auf der Rückseite. Kirche mit ihrem eigenen Lebensvorschlag antwor- Katerina Karkala-Zorba, Studienleiterin der OAK SYM 4/2018 5
Akademiegeschichte Das Problem mit der Revolution Erinnerungen an die Tagung mit Ernst Bloch und Rudi Dutschke im Februar 1968 »Novus Ordo Saecularum« Von Dr. Klaus Reblin wäre. … Kaum war das Programm in Podium attestiert Bloch der Jugend ein der Welt, hagelte es Proteste. Ein schwä- Recht auf Revolte, spricht aber auch von Vom 9. bis 11. Februar 1968 fand in Bad bischer Omnibusbauer, der Akademie Unklarheiten in deren Konzeption, gar Boll eine Tagung statt, die sich den eng verbunden, forderte die sofortige von »Nebel«, und schließlich von der damaligen Studentenunruhen widmete: Ausladung Dutschkes. Und ein schwä- »ungeheuren Aufgabe, die Unklarheiten »Novus Ordo Saeculorum – das Problem bischer Oberbürgermeister fragte an, ob mit allen Mitteln, mit militantem Opti- der Revolution in Deutschland«. Die es zutreffe, dass Dutschke ein beson- mismus zu bereinigen«. Dutschke, wie Tagung war mit mehr als 250 Teil- ders hohes Honorar bezöge. Von 2.000 Bloch einst Bürger der DDR, hört zu wie nehmern die bis dahin größte in der Mark sei die Rede gewesen. Die von der selten. Flechtheim, der Gewaltlosigkeit Akademiegeschichte. Sie wurde bestrit- Akademie der Presse übergebene Kopie von ihm fordert, Marsch, der für bedin- ten von den Professoren Ernst Bloch, der Abrechnung mit Dutschke lautete: gungslose Toleranz plädiert, Maihofer, (Philosoph, Uni Tübingen), Ossip K. die üblichen 50 Mark für die Beteiligung der ihn auffordert, seine Gesinnungs- Flechtheim (Politologe, FU Berlin), an einem Podiumsgespräch, dazu die genossen in die Ordnung zu führen, die Werner Maihofer (Staatsrechtler, Rektor Flugkosten. Die Teilnehmer der Tagung die Demokratie für jede Auseinanderset- der Uni Saarbrücken), Wolf-Dieter kamen aus allen Schichten der Bevölke- zung vorschreibt. Und Dutschke? Sagt Marsch (Theologe, Kirchliche Hoch- rung, aus allen Berufen, vom Studenten dem kommunistischen System des schule Wuppertal), dem Studenten Rudi jedweder ideologischen Couleur über Ostens ab. Erklärt sich gegen jede Ge- Dutschke (Sozialistischer Deutscher Stu- Lehrer, Ärzte, Richter und Ingenieure walt. Bekennt sich auch zu Fehlern sei- dentenbund SDS), sowie Dr. Eberhard bis hin zum Ministerialdirigenten und ner Bewegung. Und Bloch? Resümiert: Müller (Direktor der Ev. Akademie). Ich zum emeritierten Bundesverfassungs- »Wir haben Warmes, nicht im mindesten war verantwortlicher Studienleiter. richter. Die Teilnehmerliste verschweigt Sektiererisches, Breites in tiefer Toleranz Die Idee zur Tagung »Novus Ordo indessen vier Teilnehmer: die Botschaf- gehört, das ein neuer Ton ist auch in der Saeculorum« entstand während meiner ter der USA und Englands mit ihren Gat- revolutionären Bewegung.« Es war ein Beschäftigung mit mehreren grund- tinnen. Die hohen Damen und Herren, dichtes Gespräch, ohne Zwischenrufe, sätzlichen Büchern zum Thema: mit neugierig auf den Revolutionär mit den ohne den gefürchteten Radau, sicher Hanna Arendts »Über die Revolution« langen Haaren, haben sich jedenfalls voller Gegensätze, aber von Anfang bis (1963), mit Ernst Blochs »Thomas köstlich amüsiert. Ende geprägt von der Bereitschaft zuzu- Müntzer als Theologe der Revolution«, hören, auch Neues wahrzunehmen, sich mit Eugen Rosenstock-Huessys »Die Am Freitag abend las Ernst Bloch selbst zu korrigieren. Europäischen Revolutionen und der aus seinem »Thomas Müntzer« vor. Charakter der Nationen« (1951) sowie Am Samstag folgten die Vorträge von Am späteren Abend trinkt man sogar mit dessen zweibändiger »Soziologie« Marsch, Maihofer und Flechtheim. noch ein Viertele. Einer der vielen anwe- (1958). Bei der Lektüre dieser Bücher Marsch beleuchtete das Verhältnis von senden Journalisten schrieb hinterher, entstand die Idee, über meinen Freund christlicher Hoffnung und revolutio- die Akademie habe an jenem Abend Hans Holländer bei Ernst Bloch und närem Bewusstsein, Maihofer stellte einen tiefen »Blick in den Abgrund« gleichzeitig bei Rudi Dutschke voran- sich der These der Studenten, dass die getan. Hat »Novus Ordo Saeculorum« zufragen, ob sie zu einer Mitarbeit bei freiheitliche Demokratie am Ende sei, der Widerspenstigen Zähmung bewirkt? einer Revolutions-Tagung bereit wären. und Flechtheim kritisierte das unreflek- Dies muss bezweifelt werden. Der An- Die Antwort Dutschkes kam schnell und tierte Verhältnis der Studentenrevolte schlag auf Rudi Dutschke zwei Monate positiv, handschriftlich auf Postkarte, zur Gewalt. Im Sonntagsgottesdienst später bewirkte das Gegenteil. Er ereig- mit dem chilenischen Gruß: »Vencere- ging es um das Spannungsverhältnis nete sich während unserer Ostertagung mos!« Und auch Bloch war von der Idee von Freiheit und Ordnung anhand bibli- 1968. Als die Studenten davon erfuhren, angetan. Daraufhin war es ein Leich- scher Texte – Ordnung trägt im Unter- beschlossen sie einstimmig, unsere tes, weitere prominente Referenten zu schied zur Freiheit keinen Selbstwert in Tagung zu unterbrechen, um sich an der gewinnen. Als freilich Direktor Eberhard sich, Ordnung ist einzig und allein der Blockade der Auslieferung der Wochen- Müller von meinem Plan erfuhr, war er Raum, wenn auch der unabdingbare, endzeitungen des Springerkonzerns für äußerst ungehalten, sah aber ein, dass für den bestimmten Freiheitsinhalt, Süddeutschland zu beteiligen. Sie waren eine Ausladung Blochs und Dutschkes Freiheit ist immer das Primäre, Ord- nicht zu halten. Und das zu Recht. und der anderen Herren hoch delikat nung immer das Sekundäre. Auf dem Siehe auch S. 12-13, 28, 29 6 SYM 4/2018
Ausstellung What Remains Markus Wilke, Malerei Die aktuelle Malerei von Markus Wilke basiert auf selbst fotografierten Abbildungen von Schrott, Verpackungsmüll und Industrieab- fällen. Die sortierten Sammlungen seiner Funktion beraubten Materials mit ihrem plastischen und farblichen Eigenwert dienen als Grundlage für seine bildnerische Ausein- andersetzung mit der Gesellschaft und der Kunst. Die Serie »What remains« verdeutlicht den Prozess der Zerstörung und Transforma- tion. Dabei ist die Intention des Künstlers nicht die gleichsam dokumentarische fotorealistische Wiedergabe, sondern eine produktive Irrita- tion des Blicks und Weitung der Wahrneh- mung durch klaren kompositorischen Aufbau und ein subtiles Spiel mit Farbnuancen. Die Aufmerksamkeit für die Aufhäufungen alltäg- lich abgetanen Materials führt dabei wie von selbst zur Abstraktion der Darstellung. Schon in den Neunzigern war der Künstler Markus Wilke mehrmals in Bad Boll tätig. Weit über die Thematisierung von Nachhal- »Cross Shadow«, Aufgefallen durch seine »Sozialkritik in tigkeit (hinaus) wirft diese widersprüchliche Acryl auf Leinwand 115 x 115 cm Schaufenstern« wurde er zur Visualisierung Bildsprache beim Betrachter Fragen zur interner Themen herangezogen. In Work- Wahrnehmung und Identität auf. In diesem shops unterstützte er Brainstormings oder Sinne wird sich Markus Wilke für seine entwickelte Konzepte zu Seminarinhalten. Präsentation von den örtlichen Gegeben- So bereicherte er ein Seminar zu »Öko Drive« heiten leiten lassen. Die Werke werden so mit einer Installation in der Außenanlage der in Wechselwirkung zum Architektonischen, Akademie mittels Schrottteilen und Hinter- aber auch funktionalen Örtlichkeiten treten glas-Graffitis. und damit den Dialog anregen. Prof. Dr. Hans-Ulrich Gehring Vernissage: Sonntag, 17. Februar 2019, Markus Wilke 15.00 Uhr im Café Heuss Leitung: Seit 1983 selbständig als freischaffender Künstler Prof. Dr. Hans-Ulrich Gehring 1988 Gründung der Firma »Kunst vor Ort« mit Schaufensterinstallationen Information: Jacqueline Detzel, in Süddeutschland und der Schweiz Tel. 07164 79-307 jacqueline.detzel@ev-akademie-boll.de 1995 Dozenturen an verschiedenen Akademien u.a. in Bad Boll 2006 Aufenthalt in Kuba, Kooperationen mit der lokalen Kunstszene Dauer der Ausstellung: 17. Februar bis 7. April 2019 Seit 2014 Mitglied des Verbandes Bildender Künstler und Künstlerinnen Baden-Württemberg (VBKW) Zahlreiche Ausstellungen in der Region Neckar-Alb, ferner in Stuttgart, Freiburg, Weil am Rhein, Bad Hersfeld und Berlin SYM 4/2018 7
Nirit Sommerfeld Ich habe mein ganzes Leben gegen Antisemitismus gekämpft Interview mit Nirit Sommerfeld Ist es Unwissenheit oder auch Vorsatz? Da kann sich jeder aus erster Quelle von Katja Buck Beides. Der pauschale Antisemitismus- informieren. Vorwurf ist jedenfalls ein infames Mittel, Macht es Sie eher wütend oder eher um Kritik an der Politik Israels zum Hört man Ihnen zu? Ja, aber oft muss traurig, wenn Sie als Antisemitin Schweigen zu bringen. ich sagen: I’m preaching to the conver- bezeichnet werden? Es macht mich ted. In bestimmten Kreisen hört man überhaupt nicht traurig. Es empört Wie wehren Sie sich dagegen? Durch mir gerne zu. Diejenigen, die mich als mich. Anfangs war ich entsetzt über Klarstellung und Aufklärung, um was Antisemitin bezeichnen, hören mir diese unverschämte Anschuldigung. Ich es mir eigentlich geht. Auf keinen Fall weder zu noch reden sie mit mir. habe mein Leben lang gegen Antisemi- nehme ich eine Rechtfertigungshaltung tismus gekämpft. Mein Großvater und ein. Ich wehre mich nicht gegen die Sie müssen sich immer wieder gegen die halbe Familie sind von den Nazis in Vorwürfe, weil ich in diese Diskussion den Vorwurf wehren, BDS zu unter- Konzentrationslagern ermordet worden. gar nicht erst einsteigen will. Ich will stützen. Wie erklären Sie sich, dass Und dann soll ausgerechnet ich Anti- über die Menschenrechtsverletzungen Ihnen dies bereits mehrfach unterstellt semitin sein! Das ist absurd. Was mich in meiner Heimat Israel sprechen und wurde, obwohl Sie an verschiedenen traurig macht, ist die große Unwissen- nicht erklären, warum ich keine Anti- Stellen öffentlich klargestellt haben, heit, aus der heraus der Begriff Antise- semitin bin. Deswegen ist mir meine dass Sie mit BDS nichts zu tun haben? mitismus benutzt wird. eigene Website sehr wichtig, auf der ich Die Unterstellung der BDS-Nähe ist eine formulieren kann, wofür ich einstehe. sehr erfolgreiche Strategie, um Leute 8 SYM 4/2018
Nirit Sommerfeld Nirit Sommerfeld hat nach ihrer Schauspielaus- bildung als Schauspielerin, Musikerin, Sprecherin mit ins Boot zu holen. Wir können ihnen und Moderatorin gearbeitet. Einen besonders Ressourcen geben, sie unterstützen und sie schöner Song »Alles Schein« kann man auf ihrer an unserer Erfahrung teilhaben lassen. Dann Website hören. www.niritsommerfeld.com müssen wir sie aber auch machen lassen. mundtot zu machen. In Deutschland hat man BDS sehr schnell mit dem Attribut »antise- Sie waren Referentin bei der Tagung »Shrin- mitisch« belegt – ein großer Fehler, wie ich king Spaces« in Bad Boll. Wie haben Sie die finde. Boykott ist ein legitimes gewaltfreies Diskussionskultur während der Tagung Mittel, dafür und für die Meinungsfreiheit wahrgenommen? Das lief alles in einer sehr müssen wir einstehen, auch wenn ich selbst freundlichen Atmosphäre ab. Die Leute nicht BDS-Aktivistin bin. Mit der diffusen haben sich ausreden lassen, haben einander Nirit Sommerfeld ist 1961 in Unterstellung, jemand unterstütze BDS, kann zugehört, haben nicht gleichzeitig geredet. Israel geboren und in Ostafrika man jetzt Menschen, die auf die Menschen- Nur einmal wurde im Publikum bei einem und Deutschland aufgewach- rechtsverletzungen an den Palästinensern Beitrag etwas hämisch gelacht. Deutschland sen. Heute lebt sie bei Mün- hinweisen, massiv in die Bredouille bringen. ist wirklich ein gutes Pflaster für fruchtbare chen. Sie ist Schauspielerin, Diese Technik ist eigentlich ganz einfach. Das und auch kontroverse Diskussionen. Man ist Autorin, macht Musik und ist kann man in jedem Werbestudium lernen. es gewöhnt, die Dinge auszudiskutieren – in vielen Bereichen der Kunst diese Chance müsste man gerade bei diesem unterwegs. Von 2007 bis 2009 Überlegen Sie manchmal, ob Ihre Mittel, sich Thema mehr nutzen. hat sie mit ihrer Familie in Tel gegen Verleumdung und Unterstellung zu Aviv gelebt. Seit 2010 orga- wehren, ausreichen bzw. die richtigen sind? Haben Sie eine Erklärung dafür, warum es in nisiert sie politische Reisen Ich denke Tag und Nacht darüber nach, wie Deutschland immer schwieriger wird, über nach Israel und Palästina, um ich die Dinge sagen muss, damit sie bei den den Nahostkonflikt miteinander zu spre- Menschen einen differenzierten Menschen ankommen. Dabei geht es mir chen? Das liegt an einer guten Propaganda- Blick auf die aktuelle Situation nicht um die Unterstellungen gegen mich, arbeit derjenigen, die zwar genau wissen, was in der Region zu ermöglichen. sondern um das, was in Israel passiert. Ich in Israel schlecht läuft, aber alles dafür tun, Zusammen mit Rupert Neu- wünsche mir, dass es einmal möglich wird, um die »schmutzige Wäsche« nicht außer deck, Rolf Verleger und anderen dass Politiker und Medienleute, die bisher Landes und in der Öffentlichkeit zu waschen. hat sie 2016 das Bündnis nur die israelische Seite sehen wollten, auch Deutsche Nicht-Juden beugen sich diesem Beendigung der israelischen einmal auf das schauen, was mit den Palästi- Druck, weil – gewissermaßen zu Recht – Besatzung BIB e.V. (www.bib- nensern passiert und dann – meinetwegen nichts schädlicher für Ruf und Karriere ist, jetzt.de) gegründet. Im Februar hinter verschlossenen Türen – sagen, ja, 51 als für antisemitisch gehalten zu werden. 2018 hatte sie einen Vortrag im Jahre Besatzung sind wirklich genug. Dann Unterstützt wird das auch durch die jüdischen Veranstaltungszentrum Gasteig können wir gemeinsam überlegen, wie sich Gemeinden in Deutschland. Sie bekennen in München über die Rückkehr die Dinge so ändern lassen, damit es allen sich hundertprozentig zum Staate Israel, sie in ihr Heimatland Israel und gut geht. empfinden Kritik an Israel als Gefährdung die folgende Rückkehr in ihre ihres »sicheren Hafens«. Nun wird aber die zweite Heimat Deutschland Mit welchen Mitteln könnte dies vielleicht Besatzungsrealität in Israel und Palästina geplant gehabt. Der Gasteig erreicht werden? Ich habe das Bündnis zur immer schlimmer, und dies zu verheimli- lehnte diese Veranstaltung Beendigung der israelischen Besatzung BIB chen, wird immer schwerer. Da greift der aufgrund eines Beschlusses e.V. mitgegründet; wir publizieren wöchent- Vorwurf des Antisemitismus hervorragend. des Münchner Stadtrats ab, lich einen Blog, haben eine Konferenz abge- Entsprechend wird nach Anzeichen gesucht, der damit gegen Antisemiten halten und einiges mehr. Ich selbst reise mit die dieses Bild bestätigen. vorgehen wollte. Meinungsbildnern nach Israel und Palästina, www.niritisommerfeld.com biete Fakten-Workshops an, bei denen es Aber es gibt doch Antisemitismus. Selbstver- darum geht zu lernen, zwischen Fakten und ständlich gibt es Antisemitismus. Mir selbst Mythen zu unterscheiden. Als Künstlerin ist er allerdings in Deutschland erst ein oder habe ich meine Programme, ich schreibe, zwei Mal begegnet. Viel öfter erlebe ich an stehe auf der Bühne und singe Lieder. Damit mir und anderen andere Formen von Rassis- möchte ich die Leute unmittelbar berühren, mus. Aber wenn ständig über die Gefahr des sie erreichen und aufrütteln. Ich habe mich Antisemitismus geredet wird, verstärkt sich neulich mit ein paar jungen Leuten in Berlin das Bild von einer Welt, die per se antisemi- getroffen. Es macht Spaß, mit ihnen in die tisch ist. Zukunft zu denken. Und es ist wichtig, sie SYM 4/2018 9
Nirit Sommerfeld Palästina-Freunde wesentlich dialogbereiter als die andere Seite, wie man ja auch bei der Tagung in Bad Boll erleben konnte. Was müsste Ihrer Meinung nach passieren, damit Israelaktivisten und Palästinaakti- visten in Deutschland wieder konstruktiv BDS miteinander diskutieren? Als allererstes müsste gelten, dass, wer Freund von Israel Boycott, Divestment and ist, auch Freund von den Palästinensern sein Sanctions (deutsch »Boykott, muss und anders herum. Wichtig ist auch Desinvestitionen und Sank- der respektvolle Umgang miteinander, damit tionen«, abgekürzt BDS) ist überhaupt ein Gespräch zustande kommt. eine Kampagne, die 2005 von Und schließlich sollte man sich bemühen, 170 palästinensischen Nicht- ein gemeinsames Ziel zu definieren. Sind die Nirit Sommerfeld bei der Tagung »Shrinking Spaces« regierungsgruppen gegründet in der Akademie Bad Boll auf dem Podium Menschenrechte der kleinste gemeinsame wurde. BDS ist inzwischen Nenner? Sind Gewaltfreiheit und Gleichbe- eine weltweite Initiative, die Sie sprechen von der jüdischen Gemeinschaft rechtigung gemeinsame Nenner? Können für Boykott, Desinvestitionen in Deutschland. Gibt es auch Nicht-Juden, wir uns darauf einigen, dass ein Volk nicht und Sanktionen gegenüber die ihren Anteil daran tragen, dass die Dis- ein anderes mehr als ein halbes Jahrhundert dem Staat Israel aufruft. Die kussion um den Nahostkonflikt in Deutsch- unter Besatzung halten darf ? Solche Fragen Befürworter der Kampagne land immer schwieriger wird? Man darf die müssen diskutiert werden. Auch muss das sagen: Nachdem alle Versuche deutsch-jüdische Geschichte nicht vergessen. Bedürfnis der Israelis nach Sicherheit ernst gescheitert sind, die Entste- Die spielt überall eine Rolle. Ich kann immer genommen werden – aber genau dasselbe hung eines palästinensischen nur wieder betonen, dass es eine deutsch- Bedürfnis haben eben auch Palästinenser. Staats Wirklichkeit werden jüdische und keine deutsch-israelische Dann kann ein gemeinsamer Wertekanon zu lassen und die Besatzung Geschichte ist. Bei meinen Veranstaltungen erstellt werden, auf dem alles Weitere basiert. zu beenden, soll – inspiriert mache ich klar, dass die Leute vor mir ihr Natürlich gibt es unterschiedliche Interes- von dem Boykott gegen den Päckchen mit dem Erbe der Schuld ihrer sen, und auch darüber muss geredet werden. Apartheidstaat Südafrika, Vorväter tragen. Ich wiederum trage mein Aber die gemeinsame Basis, von der aus man der dort zur Beendigung der geerbtes Päckchen als Nachfolgerin der Op- agiert, muss stimmen. Apartheid beigetragen hat fer. Das müssen wir gemeinsam aufarbeiten, – versucht werden, mittels am besten durch Dialog, Forschung oder bei Was braucht es Ihrer Meinung nach für eine Boykottmaßnahmen zum Gedenkveranstaltungen. Eine Diskussion gute Streitkultur? Es braucht Räume und Zeit, gewünschten Ziel zu kommen. über die Politik in Israel ist ein anderes The- man muss zuhören können und ausreden Es gibt dabei ganz verschie- ma. Zum Beispiel empört es mich, dass die lassen. Es macht mir große Sorgen, dass es dene Meinungen darüber, wie wenigen der noch lebenden Holocaust-Opfer heute einen Trend gibt, Meinungen nicht ein- der Boykott aussehen soll. Die in Israel zum Teil an der Armutsgrenze leben. mal mehr hören zu wollen. Das ist gefährlich. Gegner der Kampagne sind der Warum wird in Deutschland nicht daran gear- Andererseits lohnt es sich dafür zu kämpfen, Meinung, dass Boykotte nicht beitet, dass es einen Fonds gibt, aus dem sie dass man überall in Deutschland so diskutie- hilfreich sind und zum Beispiel die Mittel bekommen, damit sie endlich das ren kann wie in Bad Boll. bei Kulturaustauschprogram- beste Leben führen können? Stattdessen ver- Siehe auch S.11, 30 men negative Auswirkungen schenkt Deutschland U-Boote und diskutiert haben. Auch hier gibt es ganz über Wiedergutmachungszahlungen. verschiedene Abstufungen der Gegnerschaft – manche Was spricht dagegen? Das, was damals Katja Dorothea Buck ist brandmarken die Kampagne passiert ist, kann man nicht »wieder-gut- Religionswissenschaftlerin als antisemitisch. Die Akade- machen«. Diese Schuld lässt sich nicht tilgen. und Politologin. Seit vielen mie teilt das Ansinnen von Man kann sich aber dafür einsetzen, die Jahren veröffentlicht sie BDS nicht und unterstützt die Verhältnisse besser zu machen. in verschiedenen deutsch- sprachigen und internatio- Kampagne nicht. nalen Medien Artikel zum Welche Anteile sehen Sie auf der Seite der Thema Religion im Nahen Palästina-Freunde, warum die Fronten so Osten. verhärtet sind? Aus meiner Sicht sind die 10 SYM 4/2018
Kaleidoskop BDS-Kampagne: Soll und darf man Israel boykottieren? Obwohl BDS (Boycott, Divestment, Sanctions ) auf der Tagung »Shrinking Spaces« (s. a. S. 8-10, 11, 28, 30) nicht thematisiert wurde, war das Kürzel allgegenwärtig – vor allem in den Reden der Kritiker der Tagung. Im August hat der Guardian eine ausführliche Analyse zu BDS veröffent- licht, verfasst von dem amerikanischen Journalisten und Autor Nathan Thrall. Die deutsche Über- setzung kann bei derFreitagdigital, Ausgabe 44 vom 1. November gekauft werden. Lohnt sich! Thrall arbeitet für die International Crisis Group (ICG) im Bereich Gaza, Israel und Westbank mit Sitz in Jerusalem. Die ICG ist eine Nichtregierungsorganisation, die Analysen und Lösungsvor- schläge zu internationalen Konflikten liefert. Sie wird wesentlich von westlichen Regierungen, Stiftungen und Konzernen finanziert und ist Ansprechpartner für Regierungen und internationa- le Organisationen wie die Europäische Union, die Vereinten Nationen und die Weltbank. Vortrag von Andreas Zumach zum Thema »Israel, Palästina und die Grenzen des Sagbaren«. Am 7. November sprach Andreas Zumach an der Universität München (LMU) auf Einladung von Prof. Dr. Michael Meyen, Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung. Zumach ist Journalist und langjähriger Korrespondent aus den UN-Gremien in Genf für deutsche Medien, u.a. die taz. 2009 hat er den Göttinger Friedenspreis erhalten. Er ist auch im Beirat des Vereins »Bünd- nis zur Beendigung der israelischen Besatzung« (BIB). Sein Vortrag thematisierte die Angriffe auf die Meinungsfreiheit durch sogenannte Israel-Freunde. Im Vorfeld gab es heftige Kritik wegen der Veranstaltung. Das Präsidium der LMU hielt aber an der akademischen Freiheit fest. Zum Vortrag kamen bei über 300 Personen, darunter 20-30 lautstarke Gegner der Veranstaltung. Zumachs Analyse ist vielleicht in der Lage, die vergiftete Debatte auf faktenbasierte Füße zu stellen. Sehr zu empfehlen: https://bit.ly/2TesbMF Neuerscheinung: Gretchen Dutschke: 1968 – Worauf wir stolz sein dürfen Auch Gretchen Dutschke, gebürtige Amerikanerin und Ehefrau von Rudi Dutschke, war im Februar 1968 mit in Bad Boll. Sie konnte nicht so intensiv an der Tagung teilnehmen, weil sie sich um das gemeinsame erste Kind, Sohn Hosea Che, kümmern musste. Jetzt, 50 Jahre nach der legendären Tagung kam sie als Referentin zurück nach Bad Boll (s.a. S. 12-13). 2018 wurde ein Buch von Gret- chen Dutschke mit einer persönlichen und kritischen Bilanz des gesellschaftlichen Aufbruchs im Jahr 1968 veröffentlicht. Stichworte der Themen, die vorkommen: Studentenbewegung, Demonstratio- nen gegen den Vietnamkrieg, Lockerung der Sexualmoral, Auseinandersetzung der Jugend mit der Nazi-Vergangenheit der Elterngeneration, der Ost-West-Konflikt, der im Mauerbau 1961 gipfelte und zu Stellvertreterkriegen führte und Gegenentwürfe zur bürgerlichen Gesellschaft, die sich in Experi- menten wie der Kommune 1 zeigten. Dies alles – aber auch persönliche Erinnerungen von Gretchen Dutschke sowie ihrer kritischen Bewertung – findet man in dem spannenden Buch. S.a. S. 12-13, 29 Zwei Papiere der EKD, die zu den Themen im Heft passen. Im August 2017 veröffentlichte die EKD zehn Impulse zum Thema »Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung«. Die Kammer für Öffentliche Verantwortung möchte damit die Diskussion zu aktuellen Herausforderungen der Demokratie in Deutschland unterstützen. Es geht um Themen wie z.B. »Christliche Freiheit und Demokratie als Lebensform«, »Demokratische Streitkultur«, »Wer ist zugehörig?« und »Grenzen der Auseinandersetzung«. Download der 32-seitigen Broschüre: www.ekd.de/ publikationen oder bestellen: versand@ekd.de. Beim zweiten Papier handelt es sich um das Impulspapier der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung »Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben – Die Agenda 2030 als Herausforderung für die Kirchen«. Auf 78 Seiten werden unter anderem die Kapitel »Was wir erwarten« und »Was zu tun ist« behandelt. Im zuletzt genannten Kapi- tel geht es konkret um die Bekämpfung des Hungers, um nachhaltige Landwirtschaft, um nachhaltige(n) Produktion und Kon- sum, um die Überwindung von Ungleichheiten, um Klimaschutz, Kohleausstieg und nachhaltige Mobilität. Download: www. ekd.de/ekd_de/ds_doc/ekd_texte_130_2018.pdf. Prof. Heiner Monheim wird sich freuen – in seinem Beitrag (S. 16-17) berichtet er noch von zu geringen Anstrengungen der Kirchen in diesem Bereich. SYM 4/2018 11
Utopie Evangelische Akademie Bad Boll, 1968. Utopie der Freiheit Von li.: Wolf-Dieter Marsch, Ernst Bloch, Klaus Reblin und Rudi Dutschke Johano Strasser war Referent bei dass die aggregierten Wirkungen ganz des globalisierten Marktradikalismus der Tagung »Gesellschaft morgen alltäglicher Handlungen von Tausen- nur mit immer mehr Gewalt, Unter- denken – zur Aktualität utopischer den und Abertausenden ganz normaler drückung, Krieg und kriegsähnlichen Entwürfe« (7.-9. September), die Menschen mehr und mehr und immer Interventionen gesichert werden kann. an die berühmte Tagung im Februar schneller die natürlichen Lebensgrund- lagen zerstören, zunächst vor allem im So richtig es also ist, dass im Laufe der 1968 angeknüpft hat, bei der sich globalen Süden, zunehmend aber auch Geschichte oftmals im Namen uto- der Philosoph Ernst Bloch und der bei uns selbst. Zunehmend wird die im pischer Verheißungen großes Unheil Studentenführer Rudi Dutschke in Namen ideologiefreier Wissenschaft über die Menschen gebracht wurde, so der Akademie zum Austausch trafen. vorangetriebene radikale Ökonomi- falsch ist es zu glauben, alles käme von Der gesamte Beitrag von Johano sierung der Lebenswelten und die von selbst ins Lot, wenn wir nur die Träume Strasser ist auf der Akademie Web- Genetikern und Soziobiologen im Bünd- von einer besseren Welt fahren ließen. site als Online-Dokument verfügbar. nis mit dem medizinisch-industriellen Die sich weitende Kluft zwischen Arm Komplex verfolgte Perfektionierung und Reich treibt die Welt immer tiefer Von Johano Strasser des Menschen und die damit einherge- in die Friedlosigkeit, erzeugt Elend hende Vermarktung des Humanums als und Hass und untergräbt den gesell- Es gehört zu den Grunderfahrungen neue totalitäre Bedrohung empfunden. schaftlichen Zusammenhang. Der unserer Zeit, dass das wissenschaftlich- Immer offensichtlicher wird es, dass die kapitalistische Wachstumszwang und technisch-ökonomische Projekt, dem Normalität der westlich-kapitalistischen der ihm entsprechende konsumistische wir uns im nunmehr weltweiten Westen Lebensweise und die damit einherge- Lebensstil droht die Lebensgrundlagen – ganz nüchtern und unideologisch, hende Demütigung anderer Kulturen der Menschheit zu zerstören. Wer Augen wie wir zumeist meinen – verschrieben den Boden für terroristische Gewalt hat zu sehen, erkennt, dass die vielbe- haben, neue gewaltige Risiken birgt, bereitet, dass die schöne neue Welt schworene Normalität des Lebens selbst 12 SYM 4/2018
Utopie eine verhängnisvolle Schlagseite ins Katas- ▪ alle Energiedienstleistungen mit regene- trophische hat. rierbaren Primärenergien, d.h. letztlich mit Sonnenenergie, zu bewerkstelligen; Heute haben wir es mit zwei verschiedenen ▪ alle verwendeten Stoffe im Sinne einer antiutopischen Strömungen zu tun. Die emissionsfreien Kreislaufwirtschaft der eine verklärt den status quo, proklamiert Wiederverwertung im Techniksystem oder Gesellschaft morgen denken das ›Ende der Geschichte‹ und behauptet, als Nährstoff dem Biosystem zuzuführen; dass alle über die Normalität des Erreichten ▪ die Energie- und Stoffeffizienz so weit Die Sommerakademie widmete hinausgehenden Ambitionen des Teufels wie möglich zu erhöhen; sich vom 7. bis 9. September sind. Die andere sieht gerade in der Norma- ▪ Schäden nach Möglichkeit vorbeugend 2018 der Aktualität utopi- lität des status quo zerstörerische utopische zu vermeiden, statt sie nachträglich zu schen Denkens. 50 Jahre nach Kräfte am Werk, gegen die die nüchterne kompensieren; den Aufbrüchen der ›68er-Be- Ethik des Verzichts und der Selbstbegrenzung ▪ alle Bereiche der Versorgung und wegung, 100 Jahre nach Aus- mobilisiert werden müsse. Einig sind sich Verwaltung so weit wie möglich funktional rufung der Republik und 200 beide Strömungen darin, daß der Geist der zu dezentralisieren, um die Resilienz der Jahre nach Karl Marx‹ Geburt Utopie ein böser Geist ist, der die Menschheit Gesellschaft zu erhöhen und den Sicherheits- suchten die Teilnehmer_innen ins Verderben lockt. Demgegenüber auf der aufwand zu senken; nach zukunftsweisenden An- Unschuld der Utopie und des utopischen ▪ die Rationalisierungsgewinne nicht mehr sätzen zur humanen Gestal- Denkens schlechthin zu bestehen, halte ich zur ständig beschleunigten Produktinnovati- tung einer globalisierten Welt. für falsch. Denn es gibt in der Tat einen Typus on und zur Steigerung des Konsums, sondern Den Auftakt bildete ein Blick utopischen Denkens und an ihm sich aus- vor allem zur Schaffung von mehr frei verfüg- zurück auf die Begegnung von richtender Praxis, der freiheitsfeindlich und barer Zeit für alle zu verwenden; Ernst Bloch und Rudi Dutschke zerstörerisch ist. ▪ die materiellen Güter, die Erwerbsarbeit im Rahmen einer Akademie- und die Lebenschancen insgesamt innerge- tagung des Jahres 1968. Der Gegenüber den auf der Illusion fortwäh- sellschaftlich und global möglichst gleich zu ehemalige Assistent und Schü- renden ökonomischen Wachstums und einer verteilen; ler von Bloch und langjährige alles beherrschenden Technik beruhenden ▪ den öffentlichen Sektor – den staatlichen Ordinarius für Rhetorik, Gert Utopien wäre eine neue Sozialutopie, ein und den zivilgesellschaftlichen – zu rehabi- Ueding, leitete am zweiten Tag neues Leitbild einer Gesellschaft der gelebten litieren und die Bereitstellung öffentlicher eine intensive Lektüre von Aus- Fülle zu etablieren, das die Freiheit und den Güter und den allgemeinen Zugang zu ihnen schnitten aus Blochs ›Tübinger Eigensinn der Menschen ernst nimmt, statt zu fördern; Einleitung in die Philosophie‹ sie im Namen der Sicherheit zu ersticken, ▪ die Arbeitsbedingungen im monetären an. Am abschließenden dritten das uns nicht in die Sackgasse ökologischer Sektor kontinuierlich zu verbessern; Tag standen Fragen nach der Verwüstung führt, das nicht das Glück einer ▪ die Bedingungen für die nicht-monetär Aktualität der Blochschen Ge- Minderheit zu sichern trachtet, indem es die vermittelte Arbeit (Care-Arbeit, Eigenarbeit, danken und nach Konkretionen Verelendung der Mehrheit in Kauf nimmt, Gemeinwesenarbeit, Non-Profit-Arbeit etc.) in den komplexen Zusammen- das allen Menschen auf der Welt, auch den zu verbessern; hängen des 21. Jahrhunderts künftigen Generationen, ein würdiges Leben ▪ das Verständnis dafür zu fördern, dass im Vordergrund. Johano Stras- ermöglicht und das Leben, die menschliche Spiel und Muße, kollektive Feste und Kunst- ser nahm in seinem Vortrag Existenz nicht szientistisch verengt. Dieses genuss, Freundschaft und Liebe wichtigere dabei vor allem Chancen zu Leitbild wäre als eine im Pichtschen Sinn Quellen menschlichen Glücks sind als bloßer einer fairen Neugestaltung »aufgeklärte« Utopie zu denken, eine Utopie Warenkonsum. der Arbeitswelt in den Blick. der Freiheit, die eine neue demokratisch- Kontrovers wurde diskutiert, ob kooperative Praxis anleitet und dabei sich und in wie weit Parteipolitik auch selbst Veränderungen und Korrekturen heute (noch) zu einer visionär unterwirft. Sie erwächst aus den Realbedin- Johano Strasser ist geleiteten Gestaltung der Ge- gungen der modernen Zivilisation selbst, die Politologe, Publizist sellschaft beitragen kann. neben großen Gefahren eben auch die Mög- und Schriftsteller. Ab lichkeit einer neuen Freiheit bieten. Wenn ich 1995 war er Gene- Hans-Ulrich Gehring, ralsekretär des PEN- Studienleiter der Tagung gefragt werden würde, an welchen Zielen sich Zentrums Deutschland die neue befreiende Praxis orientieren sollte, und von 2002 bis würde ich folgende Punkte nennen: 2013 sein Präsident. S.a. Verlosung S. 29. SYM 4/2018 13
Gerechter Friede Weg des Gerechten Friedens Welche Schritte müssen wir auf diesem Weg gehen? Von Dr. Markus Weingardt vielfältigen Engagements für Frieden, ten wie konkrete Beispiele religiöser Gerechtigkeit und die Überwindung Friedensstifter oder -initiativen. Alle Die friedenspolitische Bedeutung der von Gewalt, klafft in allen Religionsge- Religionen bergen eine Fülle versöh- Religionsgemeinschaften ist von höchs- meinschaften eine Lücke zwischen dem nungsorientierter Überlieferungen und ter Aktualität und Relevanz. Zahlreiche theologischen Friedensanspruch und Beispiele gewaltfreier Konfliktlösung, Gewaltkonflikte, massive weltweite Auf- der friedenspolitischen Praxis. Das ist die aber weithin unbekannt sind. Wer rüstung und unberechenbare politische theologisch unglaubwürdig und poli- kennt denn die Geschichte des Prophe- Führer verunsichern viele Menschen. tisch unverantwortlich. Daher sind alle ten Oded, von David und Abigail oder Kriege und Ungerechtigkeit zwingen Religionsgemeinschaften und so auch die Lösung des ersten Konfliktes der Millionen von Menschen zur Flucht. Eu- die Kirchen gefordert, ihre Friedens- christlichen Urgemeinde? Und wer weiß ropa befindet sich in einer Zerreißprobe, kompetenzen auszubauen. Was ist zu vom Widerstand der ruandischen Mus- Rechtspopulismus macht sich breit. tun? lime 1994, vom Engagement Bischof de Ein »gerechter Friede« scheint in weiter Souzas in Benin, von Maha Ghosanan- Ferne. Doch Frieden ist kein Zustand, Erkennen: Zunächst gilt es, sowohl die das Versöhnungsarbeit in Kambodscha? sondern ein Geschehen, ein Weg. Die- friedensorientierten Ressourcen in den Die Kenntnis der eigenen Quellen, sen Weg des Gerechten Friedens gilt es eigenen Quellen und in der eigenen Traditionen und Vorbilder kann ermuti- einzuschlagen, und die Kirchen sollen Geschichte zu erkennen und wahrzu- gen und Orientierung geben, während mutig vorangehen. Das ist ihr Anspruch nehmen. Dazu gehören ebenso Über- das Wissen um die eigenen Irrtümer und ihre Verantwortung. Doch trotz lieferungen in den religiösen Schrif- und Verfehlungen vor Irrwegen schüt- 14 SYM 4/2018
Gerechter Friede zen mag. Wer sich darüber hinaus mit den ren spezifischen Kompetenzen und Zugangs- Schriften und Beispielen anderer Religionen weisen ergänzen. Kompetenzen in konstruk- »Der Friede auf Erden wird beschäftigt, wird außerdem starke Parallelen tiver Konfliktbearbeitung sind dazu freilich in einem ganz anderen Maß erkennen: Mitmenschlichkeit, Gewaltlosig- unverzichtbar, aber nicht hinreichend. Sich in auch zu einer Aufgabe der keit und Gerechtigkeit sind Werte, die sich in politische Prozesse einzubringen, erfordert Kirche werden als bisher. Wir allen Religionen finden lassen. von den Kirchen außerdem Mut: Den Mut, werden ihm dienen in weit sich politisch zu positionieren und damit größerer Unabhängigkeit Entwickeln: Jeder Konflikt ist anders und möglicherweise Anstoß zu erregen. Den Mut, von den Interessen unseres bedarf anderer Instrumente oder Methoden, sich laut und vernehmbar zu artikulieren, Staates oder anderer Staaten. im zwischenmenschlichen wie in der »gro- vielleicht anzuecken, gar Hass oder Häme auf Und wir werden neue Formen ßen Politik«. Darum müssen die vorhandenen sich zu ziehen. Höfliche, gleichgültige oder unseres Eintretens für den Kompetenzen nicht nur wahrgenommen, ängstliche Zurückhaltung in diesen konflikt- Frieden finden müssen. Da sondern auch analysiert und weiterentwickelt reichen Zeiten ist das falsche Signal und gibt es bereits beachtliche werden. Frieden zu stiften ist manchmal harte widerspricht Jesu Friedensbotschaft, die er in Anfänge. Die Gerechtigkeit auf Arbeit, immer aber eine Kunst. Doch diese Leben und Lehre vermittelte. Doch Friedens- dieser Erde wird sich zu einer Kunst kann gelernt werden, und also muss arbeit ergibt sich nicht zwangsläufig oder der zentralen Aufgaben der sie auch gelehrt werden: in Kindergarten und zufällig, sie kann und muss bewusst gewollt Kirche entwickeln. Und auch Schule, in Religions- und Konfirmationsun- und aktiv umgesetzt werden. Die Entwicklung hier werden wir viel unbe- terricht, besonders auch in Theologiestudium von Konflikten, ob international oder in un- kümmerter auch gegen unsere und anderen kirchlichen Ausbildungsgängen. serer Gesellschaft, darf nicht den Gewaltak- eigenen deutschen wirtschaft- Hier wird das Interesse geweckt, werden teuren überlassen werden, und die öffentliche lichen Interessen denken und Offenheit und Sensibilität entwickelt. Und Aufmerksamkeit nicht den Angstpredigern reden und handeln müssen als hier können Grundlagen vermittelt werden, und geistigen Brandstiftern, seien sie säkular bisher.« Jörg Zink: Die evange- wie auf kluge und konstruktive Weise mit oder religiös. Das verlangt nicht weniger, als lische Kirche auf ihrem Weg Konflikten umgegangen werden kann – in dass Friedenspolitik und -engagement – auch ins 21. Jahrhundert. Vortrag und außerhalb der Kirche. Bei alldem tun die und gerade aus religiös-theologischer Motiva- am 14.10.1995 in Stuttgart Kirchen gut daran, den Austausch mit ande- tion – konsequent als vornehmste Aufgabe ren Friedensakteuren zu suchen, mit religi- der Kirchen und jeder Religionsgemeinschaft ösen oder nichtreligiösen zivilgesellschaftli- begriffen und praktiziert wird. chen Organisationen, mit andersreligiösen Akteuren, mit Wissenschaft und Politik. Alle Als gesellschaftliche Großinstitutionen diese Akteure haben jeweils spezifische Mög- tragen die Religionsgemeinschaften, res- lichkeiten, Fähigkeiten und Erfahrungen, die pektive die christlichen Kirchen in Europa, sich ergänzen können. Es gilt, voneinander eine Mitverantwortung für politische und zu lernen und die eigenen Konfliktbearbei- gesellschaftliche Entwicklungen. Ihre Stim- tungsfähigkeiten inhaltlich und institutionell me wird gehört, wenn sie klar und deutlich zu stärken, auch zu professionalisieren. Das erhoben wird, und ihr wird geglaubt, wenn erfordert eine klare theologische und politi- Taten folgen. Die Kirchen haben Einfluss, sche Präferenz für Frieden und Versöhnung, geben vielen Menschen Orientierung und aber natürlich auch den Einsatz entspre- genießen weithin Vertrauen. Ihre friedens- chender Finanzmittel. Denn Frieden ist nicht stiftenden Fähigkeiten und Erfahrungen eines unter vielen kirchlichen Arbeitsfeldern, bergen enormes Potenzial für gegenwärtige es ist für die Kirchen »ein herausragendes und zukünftige Konflikte. Das ist eine große Thema öffentlicher Verantwortung« und eine Chance. Wird sie vergeben, so werden die »immerwährende Aufgabe«, wie die EKD- Kirchen weiter an gesellschaftlicher Relevanz Dr. Markus Weingardt ist Friedens- Friedensdenkschrift von 2007 betont. und Konfliktforscher und Mitarbeiter und Anziehungskraft verlieren. Wenn die bei der Stiftung Weltethos, Tübingen. Kirchen aber vorangehen auf dem Weg eines Einbringen: Sind durch Erkennen und Entwi- Er war Referent bei der Tagung Er Gerechten Friedens, mutig, entschlossen ckeln der Friedenskompetenzen die nötigen war Referent bei der Tagung »Auf und glaubwürdig, dann wird dies Beachtung dem Weg des Gerechten Friedens. Voraussetzungen gegeben, so müssen religi- Kirche und Gesellschaft 100 Jahre und Mitstreiter finden. Manches ist auf dem öse Akteure ihre Expertise in Konflikt- und nach dem Ende des 1. Weltkrieges«, Wege, vieles bleibt noch zu tun. Wir stehen Friedensprozessen anbieten, sich einbringen. 23.-24.11.2018. erst am Anfang. Religiöse Friedensakteure sind kein Ersatz für säkulare Kräfte, aber sie können diese mit ih- SYM 4/2018 15
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