DIE BERLINER VERKEHRSWENDE - ANALYSEN - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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ANALYSEN

NACHHALTIGKEIT

DIE BERLINER
VERKEHRSWENDE
VON DER AUTO- ZUR MOBILITÄTS­
GERECHTEN STADT

HENDRIK SANDER
INHALT

1 Einleitung                                                   3

2 Autogesellschaft, Neue Mobilität und Verkehrswende           4
2.1 Krise und Stabilität der auto­mobilen Gesellschaft         4
2.2 Mobilität als Dienstleistung                               5
2.3 Die Mobilitätswende                                        6
2.4 Städte als Vorreiter des Wandels                           7

3 Mobilitätsgerechtigkeit                                       9
3.1 Mobilitätsmuster und ­Mobilitätsarmut                       9
3.2 Umweltungerechtigkeit: Die ­Opfer der Autogesellschaft     13
3.3 Arbeitsbedingungen                                         16
3.4 Zwischenfazit: Wie gerecht ist die autogerechte Stadt?     17

4 Das Berliner Mobilitätsgesetz                                17
4.1 Geschichte der Berliner Verkehrs­politik                   17
4.2 Vom Volksentscheid Fahrrad zum Berliner Mobilitätsgesetz   18
4.3 Inhalte des Gesetzes                                       20

5 Konfliktfelder der Berliner Mobilitätswende                  23
5.1 Der öffentliche Personen­nahverkehr                        23
5.2 Fahrrad- und Fußverkehr                                    27
5.3 Der motorisierte Individual­verkehr                        30
5.4 Der Kampf um die Kieze                                     34

6 Synthese: Die Beharrungskräfte der Autogesellschaft          37

7 Strategien für ein mobilitätsgerechtes Berlin                44

Literatur                                                      48
1 EINLEITUNG                                                                                 3

Die Berliner Verkehrspolitik ist in Be-        turen der Verwaltung, die ambitionierte
wegung. Im Juni 2016 hat die Initiative        Veränderungen ausbremsen. Zum ande-
Volksentscheid Fahrrad nach nur einem          ren wollen viele Autobesitzer*innen ihren
Monat mehr als 100.000 Unterschrif-            Pkw nicht aufgeben. Einige wehren sich,
ten eingereicht, obwohl nur 20.000 not-        wenn der Umbau des Verkehrssystems
wendig waren. Ihr Ziel griff die kurze Zeit    in ihren Kiezen konkret wird. Die Berli-
später gebildete rot-rot-grüne Berliner        ner Mobilitätswende geht weiter, droht in
Landesregierung auf: Sie erarbeitete in        den mühsamen Auseinandersetzungen
einem partizipativen Prozess ein Mobi-         um jede einzelne Maßnahme und jeden
litätsgesetz, das bundesweit als Vorbild       Kiez aber ihre anfängliche Dynamik und
gilt. Das neuartige Gesetz räumt Bus und       Aufbruchsstimmung zu verlieren.
Bahn, Rad- und Fußverkehr klaren Vor-          In der vorliegenden Analyse werden die
rang vor dem motorisierten Individual-         Debatten um Autogesellschaft, neue Mo-
verkehr ein und formuliert dafür zahlrei-      bilitätsdienstleistungen und Verkehrs-
che Maßnahmen. Damit nimmt sich die            wende wiedergegeben und empirische
Koalition nichts weniger als den Umbau         Erkenntnisse zur Mobilitätsungerech-
der autogerechten Stadt zu einer Metro-        tigkeit in Deutschland und Berlin prä-
pole des Umweltverbunds vor, das heißt         sentiert. Darauf aufbauend werden die
des öffentlicher Nahverkehrs sowie des         Entstehungsgeschichte sowie die we-
Rad- und Fußverkehrs. Das ist ein wich-        sentlichen Inhalte des Mobilitätsgeset-
tiger Schritt zu mehr Mobilitätsgerech-        zes vorgestellt. Im Hauptteil der Analyse
tigkeit. Denn Wohlhabende, Männer und          werden die zentralen Konfliktpunkte der
Erwerbstätige fahren überdurchschnitt-         Berliner Verkehrswende in den Feldern öf-
lich viel Auto, während Ärmere, Frauen,        fentlicher Personennahverkehr (ÖPNV),
Junge und Alte stärker den öffentlichen        Rad- und Fußverkehr sowie motorisier-
Nahverkehr nutzen. Gleichzeitig sind vor       ter Individualverkehr nachgezeichnet und
allem ärmere Menschen aus abgehäng-            am Beispiel besonders umkämpfter Kieze
ten Quartieren von den zahlreichen nega-       veranschaulicht. Abschließend wird eine
tiven sozial-ökologischen Folgen des Au-       theoretisch informierte Analyse der politi-
toverkehrs betroffen.                          schen Potenziale und Widerstände gegen
Ein großer Teil der Berliner*innen will die    die Berliner Mobilitätswende vorgenom-
Verkehrswende, die Fahrradbewegung             men. Und es werden strategische Emp-
ist stark, die Presse berichtet positiv über   fehlungen formuliert, wie sich die Blo-
deren Anliegen und auch Rot-Rot-Grün           ckaden überwinden ließen. Die Analyse
trägt das Projekt. Doch die Umsetzung          basiert auf einer Auswertung von Fachli-
des Mobilitätsgesetzes kommt nicht vo-         teratur, Presseartikeln und 13 eigens ge-
ran. Sie stößt auf viele Hindernisse und       führten Interviews mit Vertreter*innen von
Konflikte. Die verkehrspolitischen Initiati-   umwelt- und verkehrspolitischen Initiati-
ven kritisieren, dass die einzelnen Projek-    ven und Nichtregierungsorganisationen
te des Gesetzes nur schleppend und un-         (NGO), Gewerkschaften und Wirtschafts-
genügend umgesetzt werden. Das liegt           verbänden, Parteien und Behörden sowie
zum einen an den eingespielten Struk-          der kritischen Verkehrswissenschaft.
4   2 AUTOGESELLSCHAFT, NEUE MOBILITÄT
    UND VERKEHRSWENDE

    Nach wir vor dominiert das Auto Ber-         Großteil der Bevölkerung ist das Au-
    lin und ganz Deutschland – eine Ent-         to nicht nur unverzichtbar im Alltag ge-
    wicklung, die in den letzten 100 Jah-        worden, sondern auch ein Symbol für
    ren politisch durchgesetzt wurde. In         Unabhängigkeit und Wohlstand. Die-
    den aktuellen Krisenprozessen der Au-        se «Komplizenschaft zwischen Herstel-
    togesellschaft zeichnet sich allerdings      lern, Staat und Verbrauchern» (Canzler/
    ein neues Mobilitätsregime ab, das auf       Knie 2018: 91) erklärt die hohe Stabili-
    Elektroauto, Plattformökonomie und in-       tät der Autogesellschaft. Bereits Anfang
    telligenter Vernetzung basiert. Doch für     der 1970er Jahre wurde allerdings Kritik
    einen grundlegenden Wandel des Ver-          an den zerstörerischen Folgen des Au-
    kehrs ist eine umfassende Mobilitäts-        tos laut: Treibhausgase, Ölkrisen/Peak
    wende nötig, die vor allem auf den Zu-       Oil und sozial-ökologische Verheerun-
    gang aller zu Bahn, Bus und Fahrrad          gen beim Rohstoffabbau; Luftschadstof-
    setzt. Vorreiter dieses Wandels sind eini-   fe und Lärm; Unfälle und Verkehrstote;
    ge Großstädte in Europa.                     Bodenversiegelung, Zersiedelung und
                                                 Zerstörung der urbanen Lebensräume
    2.1 Krise und Stabilität der auto­           (Mohnheim 2011; Wolf 2011; Misereor
    mobilen Gesellschaft                         u. a. 2018). Die Autokonzerne reagierten
    Im Laufe des 20. Jahrhunderts löste das      mit einer partiellen Modernisierung ihrer
    Auto Eisenbahn, Tram und Fahrrad als         Geschäftsmodelle und Fahrzeuge. Doch
    ursprünglich zentrale Verkehrsmittel der     sie sind auf die Produktion von Verbren-
    kapitalistischen Gesellschaften ab. War      nungsmotoren geeicht und machen da-
    das Auto in der ersten Hälfte des zurück-    mit weiterhin ihre Profite.
    liegenden Jahrhunderts noch (kurioses)       Trotz aller Krisen und Umbrüche der
    Statussymbol von Reichen und Projek-         letzten Jahre sind sie ökonomisch stark
    tionsfläche visionärer Stadt- und Ver-       aufgestellt und können ihren weltwei-
    kehrsplaner, setzten sich die propagier-     ten Absatz – vor allem in den sogenann-
    te private Massenmotorisierung sowie         ten Schwellenländern – weiter steigern
    die funktionale und autogerechte Stadt       (Balsmeyer/Knierim 2018). Zum ande-
    in Deutschland erst ab den 1960er Jah-       ren nimmt die Zahl der zugelassenen
    ren durch. Dafür wurden die bisherigen       Pkw in der Bundesrepublik jedes Jahr
    Verkehrsmittel systematisch zerstört und     um eine halbe Million zu und erreicht
    an den Straßenrand gedrängt (Mohn-           jedes Mal neue Rekorde – zuletzt gut
    heim 2011; Wolf 2011; Haas 2018b).           47 Millionen Fahrzeuge Anfang 2020
    Auf diese Weise entwickelten sich die        (KBA 2020). Im Jahr 2017 kamen auf
    deutschen Autokonzerne zur mächtigs-         1.000 Einwohner*innen 527 Autos. Rund
    ten Leitindustrie in der Bundesrepublik      78 Prozent der privaten Haushalte ver-
    mit einem Umsatz von 436 Milliarden          fügten über mindestens einen Pkw. Die
    Euro, 820.000 Beschäftigten und über         Deutschen legen noch immer 57 Pro-
    16 Millionen produzierten Pkw (Zah-          zent aller Wege und 75 Prozent ihrer Ki-
    len von 2019) (BMWi 2020). Für einen         lometer mit dem Auto zurück (Nobis/
Kuhnimhof 2018).1 Der Traum vom pri-          Dieses wird mit Schlagworten wie «Neue                          5
vaten Auto scheint bei vielen Menschen        Mobilität» oder «Mobilität als Dienstleis-
im Kern ungebrochen. Gleichzeitig geriet      tung» bezeichnet und lässt sich als Teil
das Auto zuletzt verstärkt in die Kritik –    eines digitalen und grünen Plattformka-
und die Konzerne gerieten in die Defen-       pitalismus verstehen. Mobilität soll «on
sive. Der Dieselskandal und die folgen-       demand» funktionieren und alle Ver-
den Milliardenstrafen und Fahrverbote         kehrsträger intelligent und intermodal
erschütterten die Branche. Sogenannte         miteinander verknüpfen (Daum 2018).
SUVs (Sport Utility Vehicles) sind in Tei-    Neben dem E-Auto ist ein wesentliches
len der Öffentlichkeit zum Symbol für         Merkmal der neuen Mobilität, dass die
eine rückwärtsgewandte Technologie            Menschen Verkehrsmittel (vor allem das
geworden und die Internationale Auto-         Auto) nicht mehr individuell besitzen,
mobil-Ausstellung (IAA) in Frankfurt am       sondern flexibel nutzen werden. Sie lei-
Main wird – forciert von massenhaften         hen geteilte Fahrräder, Elektrofahrräder
Protesten – aufgegeben. Unter dem Ein-        (Pedelecs), E-Scooter und Autos. Und
druck der erstarkenden Klimabewegung          sie buchen Shuttles und Mitfahrgelegen-
verabschiedete die Europäische Union          heiten – für kurze oder längere Strecken.
(EU) trotz der geballten Lobbymacht der       Ferner sollen alle Fahrzeuge digital mit-
Autoindustrie relativ ambitionierte CO2 -     einander vernetzt werden und dadurch
Grenzwerte (Sander/Haas 2019). Und der        eine optimale Verfügbarkeit und einen
derzeit wichtigste politische Vertreter der   reibungslosen Verkehrsfluss gewähr-
Branche, Bundesverkehrsminister An­           leisten. Die Krönung dieser Entwicklung
dreas Scheuer, sah sich gezwungen, ein        soll das voll autonome Fahren sein, das
milliardenschweres Klimaschutzpaket           komplexe Algorithmen erfordert und vie-
aufzusetzen, das den Umweltverbund            le Daten produziert (PWC 2017–2018;
fördern soll – auch wenn es nicht ausrei-     Canzler/Knie 2018).
chen wird, die deutschen Klimaziele zu        Allerdings zeigen die aktuellen Zahlen,
erreichen.                                    dass der Trend zu neuen Mobilitätsfor-
                                              men bisher insgesamt eine Nischener-
2.2 Mobilität als Dienstleistung              scheinung ist. Zwar stieg in den letzten
Vor allem das Elektroauto könnte zum          Jahren beispielsweise die Zahl der Car-
«Game Changer» werden. Nachdem das            sharing-Mitgliedschaften und -Fahrzeu-
deutsche Autokapital lange an seinem          ge deutlich. Inzwischen gibt es in fünf
Kerngeschäft, dem Bau hochwertiger            Prozent aller Haushalte mindestens eine
Verbrennungsmotoren, festgehalten hat,        Person, die Mitglied in einer Carsharing-
beginnt vor dem Hintergrund des Elek­         Organisation ist. Jedoch weniger als ein
troauto-Booms (vor allem in China) nun        Promille aller Wege und etwa zwei Pro-
auch in den deutschen Konzernzentralen        mille der Personenkilometer werden
ein strategisches Umschwenken (Haas/
Jürgens 2019). Aufgrund seiner Einbin-        1 Besonders rasant stieg in den letzten Jahren der Anteil von
dung in digitale Netzwerke und ein neues      SUV und schweren Geländewagen. Im Jahr 2019 machten sie
                                              bereits knapp ein Drittel der Neuzulassungen aus. Dieser Boom
Energiesystem markiert das E-Auto be-         kann als Ausdruck einer reaktionären Verarbeitung aktueller
reits den Übergang zu einem neuen Mo-         gesellschaftlicher Krisen verstanden werden: Die Privatpanzer
                                              versprechen scheinbar Überlegenheit und Abschottung in ei-
bilitätsregime.                               ner immer unsicherer werdenden Welt (Haas 2018a).
6   mit einem geteilten Auto zurückgelegt.           werden. Die oben vorgestellten Ansätze
    Menschen aus autofreien Haushalten               neuer Mobilität können ein nachhaltiges
    nutzen Carsharing etwas häufiger. Doch           Mobilitätssystem ergänzen und vervoll-
    auch die regelmäßigen Nutzer*innen               ständigen, wo individuelle motorisierte
    greifen nur für vier Prozent ihrer Wege          Verkehre nicht zu vermeiden sind, spie-
    auf diese Option zurück (Nobis/Kuhnim-           len aber nur eine untergeordnete Rolle.
    hof 2018).                                       Insofern kann Elektromobilität in Zukunft
    Das System Auto als solches ist das Pro-         das Straßenbild durchaus auch prägen –
    blem, das mit dem E-Mobil fortbesteht.           aber vor allem in Gestalt von E-Scooter,
    Mit ihm droht die notwendige Verkehrs-           Pedelec, Tram und Trolleybus (Schwe-
    wende zu einer Antriebswende zu ver-             des 2011). Für diese verkehrspolitische
    kümmern (Schwedes 2011). 2 Die so-               Vision müsste der motorisierte Indivi-
    genannte neue Mobilität suggeriert,              dualverkehr, also insbesondere das Au-
    alle Widersprüche des Verkehrssystems            to, stark an den Rand gedrängt werden.
    durch smarte Lösungen aufzuheben –               Die Zahl der Autos und die damit zurück-
    Hightech als «technological fix».                gelegten Kilometer sollten deutlich re-
                                                     duziert werden. 3 Bis dahin ist es noch
    2.3 Die Mobilitätswende                          ein weiter Weg: Von einem niedrigen
    Notwendig ist angesichts der vielfältigen        Niveau aus erlebte der öffentliche Ver-
    Krisen und Herausforderungen des Ver-            kehr in den letzten Jahren ein gewisses
    kehrssystems ein grundlegender Wan-              Wachstum. Aktuell haben 15 Prozent der
    del. Dafür ist eine Unterscheidung es-           Deutschen (ab einem Alter von 14 Jah-
    senziell: Es geht darum, die vielfältigen        ren) – und sogar ein Drittel derjenigen
    Bedürfnisse aller Menschen nach Mobi-            aus autofreien Haushalten – eine Zeitkar-
    lität umfassend zu befriedigen. Gleich-          te für den öffentlichen Verkehr. Ein Viertel
    zeitig sollte das auf eine Weise gestaltet       der Menschen nutzt regelmäßig Bus und
    sein, dass möglichst wenig Verkehr nö-           Bahn. Insgesamt entfallen gut 10 Pro-
    tig ist. Die Stichworte sind Entschleuni-        zent der Wege und 19 Prozent der Ver-
    gung und Verkehrsvermeidung statt Ge-            kehrsleistung auf die Öffentlichen. Fahr-
    schwindigkeit und Wachstum. Mobilität            räder gibt es in Deutschland insgesamt
    sollte Klima, Umwelt und Ressourcen              über 75 Millionen, mit denen die Leute
    schonen und sie müsste öffentlich, gut           durchschnittlich 10 Prozent der Wege
    finanziert, für alle bezahlbar und barrie-       und 3 Prozent ihrer Kilometer zurück-
    refrei sein. Sie sollte leise, sicher und zu-    legen. 76 Prozent der Haushalte haben
    verlässig sein – kollektiv organisiert, intel-
    ligent vernetzt und geteilt (Leidig 2011;        2 Das E-Auto hat einige ökologische Vorteile gegenüber dem
                                                     klassischen Verbrennungsmotor: Es verfeuert kein Öl mehr und
    Schwedes 2017).                                  verursacht – je nach Strommix – etwas weniger Treibhausgase.
    Der verbleibende Verkehr müsste massiv           Davon abgesehen teilt es alle Nachteile mit Benziner und Die-
                                                     sel. Vor allem braucht es Unmengen wertvoller Rohstoffe wie
    auf Bus, Bahn, Fahrrad und die eigenen           Kobalt und Lithium aus Ländern des Globalen Südens. Auch
                                                     seine Lärm- und Feinstaubemissionen sind nur etwas geringer
    Füße verlagert werden. Dafür wären die           als die des Verbrenners (Balsmeyer/Knierim 2018; Misereor
    Infrastrukturen für den öffentlichen und         u. a. 2018). 3 Um Brüche aufseiten der Beschäftigten in der
                                                     Autoindustrie zu vermeiden, wären die Betriebe im Sinne einer
    nicht motorisierten Verkehr massiv aus-          «Just Transition» und Konversion umzubauen und neue Jobs in
    zubauen. Dem Umweltverbund sollte po-            nachhaltigen Produktionszweigen zu schaffen. Dabei müssten
                                                     Beschäftigte, Betriebsräte und Gewerkschaften eng eingebun-
    litisch konsequent Vorfahrt eingeräumt           den werden (Candeias 2011; Urban 2011).
mindestens ein Rad. Ein gutes Drittel der   Städter*innen statistisch etwas weniger      7
Menschen zählt zu den regelmäßigen          Pkw als der Durchschnitt. Doch nirgend-
Fahrradfahrer*innen (mindestens einmal      wo türmen sich derart die Autos und ma-
in der Woche). Ein knappes Drittel sind     chen öffentliche Räume zu unwirtlichen
Gelegenheitsfahrer*innen und das letz-      Orten. Gleichzeitig verfügen viele Städ-
te Drittel nutzt fast nie ein Rad. Zu Fuß   te noch über einen prinzipiell gut ausge-
gehen die Bürger*innen 22 Prozent aller     bauten ÖPNV. In urbanen Räumen lassen
Wege und 3 Prozent der zurückgelegten       sich aufgrund der nahräumlichen Sied-
Kilometer (Nobis/Kuhnimhof 2018).           lungsstrukturen am einfachsten Ange-
Damit die Menschen die Umstellung des       bote für mehr Fuß- und Fahrradverkehr,
Mobilitätssystems auf den Umweltver-        einen besseren ÖPNV und neue Mobili-
bund annehmen, müssten Räume und            tätsdienstleistungen etablieren, die eine
Zeiten gesellschaftlich umgestaltet wer-    reale Option für viele Bewohner*innen
den. Gleichzeitig kann der Umbau die        sind. Die junge Generation, die neu-
Nutzungsqualität und Souveränität über      en Formen der Multimodalität gegen-
Räume und Zeiten erheblich steigern: Die    über aufgeschlossen ist, konzentriert
zersiedelte und funktionale Stadt wird      sich in den urbanen Zentren. Auch vie-
grundlegend umgestaltet in kompakte         le Fahrradpionier*innen und -initiativen
und vielfältige Quartiere mit kurzen We-    sind dort aktiv.
gen; nahräumliche Angebote des Woh-         Und tatsächlich gelten mehrere Städte
nens, Arbeitens, Einkaufens und der Frei-   in Europa als Vorbilder für die Verkehrs-
zeit machen viele Verkehre überflüssig      wende. Amsterdam und Kopenhagen
und ohne fahrende und parkende Autos        sind Vorreiter in Sachen Fahrradverkehr.
sind Straßen wieder Orte der Begegnung      Die dänische Hauptstadt hat durch eine
und des Spiels, des Spazierens und Ver-     systematische Privilegierung des Fahr-
weilens. Insgesamt kann die Lebensqua-      rads in den Straßenräumen erreicht,
lität so deutlich steigen. Die Menschen     dass mittlerweile fast zwei Drittel der
gewinnen nicht nur Zeit hinzu, durch eine   Stadtbewohner*innen mit dem Rad zu
Veränderung von Zeitregimes, die mehr       Arbeit und Ausbildung fahren. In Wien
und flexiblere Zeit für das Leben gewäh-    müssen die Menschen nur 365 Euro für
ren und weniger für die Arbeit erfordern,   ein Jahresticket für den gut ausgebau-
können sie auch die neuen Möglichkei-       ten ÖPNV zahlen. In Tallinn und Luxem-
ten besser nutzen – ohne Zwang zur Be-      burg ist er inzwischen komplett kos-
schleunigung (Balsmeyer/Knierim 2018;       tenfrei. Mit einer City-Maut dämmen
Haas 2018b).                                London und Stockholm die Autoströme
                                            in ihre Stadtzentren erheblich ein. In die
2.4 Städte als Vorreiter des Wandels        Innenstadt von Oslo sollen mittelfris-
Die Schattenseiten des Autos und die        tig gar keine privaten Autos mehr fah-
Potenziale einer anderen Mobilität ver-     ren dürfen. Besonders interessant sind
dichten sich in den großen Städten. Dort    die «Superblocks» in Barcelona: Die ka-
leiden die Menschen am meisten un-          talanische Stadt sperrt jeweils mehre-
ter schlechter Luft, Lärm und den täg-      re Häuserblöcke weitgehend für den
lichen Gefahren und Zumutungen des          motorisierten Verkehr und gibt die Stra-
Straßenverkehrs. Zwar besitzen die          ßen den Bürger*innen zurück. Als Aus-
8   gleich wird ein preiswertes Bus- und           Der Anteil des ÖPNV lag 2013 bei 27 Pro-
    Radnetz geschaffen. Vorbilder der Ver-         zent – und ist damit gegenüber Anfang
    kehrswende finden sich auch in Deutsch-        der 1990er Jahre leicht zurückgegangen.
    land. Freiburg gilt als Pionier alternativer   In den letzten Jahren sind allerdings die
    Mobilität, weil in keiner anderen Stadt        absoluten Fahrgastzahlen zum Teil deut-
    so viele Wege mit dem Rad zurückge-            lich gestiegen – insbesondere bei der S-
    legt werden. Aber auch die Großstäd-           Bahn. Im Jahr 2015 verzeichnete die BVG
    te verändern sich: Köln fördert eine gut       ca. 1 Milliarde Fahrgäste und die S-Bahn
    verknüpfte Vielfalt nachhaltiger Ver-          gut 400 Millionen. Fahrräder gibt es rund
    kehrsmittel, Bremen wird immer fahr-           850 je 1.000 Einwohner*innen. Zwei Drit-
    radfreundlicher und in Leipzig wohnen          tel der Berliner*innen können uneinge-
    die meisten Menschen fußläufig zur             schränkt über mindestens ein Rad ver-
    nächsten Bahnhaltestelle (Greenpeace           fügen. Das nutzen sie zunehmend: So
    2017). Auch in Berlin ist das Potenzial        verdoppelte sich der Anteil der mit dem
    für die Verkehrswende groß. Allerdings         Rad zurückgelegten Wege zwischen
    gibt es dort weiterhin viele Autos – und       1992 und 2013 auf 13 Prozent. Auch der
    starke räumliche Unterschiede. So ka-          Anteil der Fußwege ist leicht auf 31 Pro-
    men 2016 in der Hauptstadt 326 Pkw             zent gestiegen (SenUVK 2017).
    auf 1.000 Einwohner*innen. Damit hat           Allerdings lassen sich klare Unterschie-
    Berlin eine im Vergleich zu anderen Or-        de zwischen Innenstadt und Randbe-
    ten relativ niedrige Motorisierungsrate.       zirken erkennen. Der Motorisierungs-
    Diese Zahl ist seit dem Jahr 2000 weitge-      grad nimmt von innen nach außen
    hend konstant. Allerdings stieg die Zahl       zu. Während in einigen Stadtrand-
    der angemeldeten Pkw proportional zum          siedlungen mehr als 500 Autos auf
    Bevölkerungswachstum der letzten Jah-          1.000 Einwohner*innen kommen, liegt
    re an, sodass rund 1,2 Millionen Autos         die Zahl in größeren Teilen von Nord-Neu-
    auf Berlins Straßen unterwegs sind – ei-       kölln, Friedrichshain-Kreuzberg, Gesund-
    ne Steigerung um 11 Prozent gegenüber          brunnen, Wedding und Moabit unter 200.
    2008. Ferner wird die verhältnismäßig          Trotzdem ereignen sich dort mehr Unfälle
    niedrige Zahl dadurch relativiert, dass        als in der Peripherie. Eine größere Dichte
    nur 40 Prozent der Haushalte keinen Pkw        des ÖPNV-Netzes, mehr Carsharing-An-
    haben, während 60 Prozent einen oder           gebote und kürzere Arbeitswege im Zen-
    mehr besitzen. Zumindest nimmt der An-         trum begünstigen die Wahl des Umwelt-
    teil der Wege, die mit dem Auto zurück-        verbunds. In der inneren Stadt nutzen die
    gelegt werden, stetig ab und liegt nun bei     Menschen nur für 17 Prozent ihrer Wege
    30 Prozent. Als Alternative zum eigenen        das Auto und für 18 Prozent das Rad. In
    Auto gewinnt Carsharing an Bedeutung:          der äußeren Stadt kommt das Auto auf
    So nahm zwischen 2008 und 2016 die             35 Prozent der Wege, das Rad nur auf
    Fahrzeugzahl stationsgebundener An-            10 Prozent zum Einsatz. Auch die Steige-
    bieter von 260 auf 663 zu – die der sta-       rungen des Radverkehrs sind vor allem
    tionsunabhängigen Dienstleister sogar          in der Innenstadt zu beobachten, in peri-
    von null auf rund 3.000.                       pheren Stadtteilen kaum.
3 MOBILITÄTSGERECHTIGKEIT                                                                                    9

Umweltbelastungen treffen vor allem är-       tät» in Form nachhaltiger Verkehrsmittel
mere Menschen, während sich die Wohl-         als Teil öffentlicher Daseinsvorsorge be-
habenden überdurchschnittlich Um-             reitstellt (Schwedes 2017).
weltressourcen aneignen können. Die           Das gegenwärtige Verkehrssystem in
Bewegung für Umweltgerechtigkeit for-         Deutschland gewährleistet das jedoch
dert deshalb, dass keine soziale Gruppe       nicht. Vielmehr ist der Zugang zu Mobi-
unter ökologischen Belastungen leiden         litätsmöglichkeiten in der Gesellschaft
sollte und alle Menschen den gleichen         sehr ungleich verteilt. Mobilitätsarmut ist
Zugang zu Umweltgütern haben müss-            als eingeschränkte Chance zu verstehen,
ten. Mobilität ist ein wichtiges Feld für     Mobilitätsbedürfnisse zu verwirklichen.
ökologische Gerechtigkeit. Aus einer          Sie kann zu gesellschaftlicher Exklusi-
linken Perspektive sollte Mobilitätsge-       on, einer verringerten Lebensqualität
rechtigkeit eine zentrale Forderung und       und Benachteiligungen in anderen Le-
strategische Orientierung in der Ver-         bensbereichen führen. Gleichzeitig sind
kehrspolitik sein. Sie kann auch ein Maß-     ohnehin benachteiligte soziale Gruppen
stab sein, um die Verkehrswendepolitik        häufiger von Mobilitätsarmut betroffen,
in der Hauptstadt Berlin zu beurteilen, die   ohne dass zwischen den beiden Diskri-
sich Umweltgerechtigkeit explizit auf ih-     minierungsformen ein deterministischer
re Agenda gesetzt hat (Sander 2019).          Zusammenhang besteht (Huber 2016).
                                              Entlang der Kategorien Einkommen, be-
3.1 Mobilitätsmuster und                      rufliche Position, Geschlecht, Alter und
­Mobilitätsarmut                              Gesundheitszustand lassen sich klare
 Mobilität ist die Möglichkeit von Men-       Unterschiede in den Mobilitätsmustern
schen, Wege zurückzulegen, um ihren           und mobilen Teilhabemöglichkeiten der
Verpflichtungen und Bedürfnissen an an-       Menschen erkennen.4
deren Orten nachzugehen. Sie ist damit        Einkommen und berufliche Posi­t io­
entscheidend für gesellschaftliche Inklu-     nen: Menschen mit hohem Einkom-
sion und Teilhabe «und eine Gesellschaft      men und Bildungsabschluss sind in je-
ist aus diesem Blickwinkel betrachtet         der Hinsicht deutlich mobiler als solche
so gerecht bzw. so ungerecht, wie die-        mit niedrigem Einkommen und wenig
se Teilhabe garantiert oder verstellt ist»    formaler Bildung. Gleiches gilt für (Voll-
(Rammler/Schwedes 2018: 8). Unab-             zeit-)Erwerbstätige im Vergleich zu Ar-
hängig von ihren persönlichen und so-         beitslosen. Die Privilegierten verlassen
zialen Merkmalen müssen alle die Mög-         häufiger das Haus und legen längere
lichkeit haben, mobil zu sein. Wichtig ist    Strecken zurück – und zwar mit allen Ver-
die Erreichbarkeit von Verkehrsangebo-
                                              4 Auch die Preisstrukturen der verschiedenen Verkehrsträ-
ten und Zielorten. Weil das Auto seinen       ger haben klare Implikationen für soziale Gerechtigkeit und
Besitzer*innen eine flexible Mobilität er-    Teilhabechancen. So kostet ein Neuwagen im Schnitt über
                                              30.000 Euro – Tendenz klar steigend. Schon die Betriebskos-
möglicht, die aber viele Nachteile für die    ten eines sparsamen Kleinwagens liegen über 300 Euro im Mo-
                                              nat. Dagegen kostet ein Monatsticket für den ÖPNV im Durch-
Allgemeinheit hat, plädiert Oliver Schwe-     schnitt deutscher Städte «nur» knapp 80 Euro. Gleichzeitig
des dafür, dass die Politik allen Men-        subventioniert die deutsche Gesellschaft jedes Auto jährlich
                                              mit rund 2.000 Euro – durch Folgekosten von Unfällen, Um-
schen einen «Hausanschluss für Mobili-        weltbelastung und CO2 -Ausstoß (vgl. Klimaretter 2012).
10   kehrsmitteln. Sie sind am häufigsten         lometer unterwegs. Erwerbstätige legten
     Pendler*innen und haben die längsten         mit allen Verkehrsmitteln täglich 26,6 Ki-
     dienstlichen Wege. 5 Vor allem verfü-        lometer zurück, Nicht-Erwerbstätige hin-
     gen sie mit höherer Wahrscheinlichkeit       gegen nur 13,1 Kilometer (Ahrens 2014).
     über ein Auto: Während 92 Prozent der        Die mittleren Einkommen derjenigen,
     Haushalte mit einem sehr hohen öko-          die in der Regel mit dem Auto zur Arbeit
     nomischen Status einen Pkw besitzen,         fahren, sind knapp 400 Euro höher als
     sind es nur 47 Prozent der mit einem         die der Bus- und Bahnfahrenden (Zahlen
     sehr niedrigen ökonomischen Status.          für 2016). Während 57 Prozent der Füh-
     Oft haben Erstere sogar mehrere Autos.       rungskräfte mit dem Privatauto zur Arbeit
     Ferner besitzen sie auch häufiger eines      kommen und nur 23 Prozent mit dem
     oder mehrere Fahrräder und sind eher         ÖPNV, nutzen Angestellte in untergeord-
     Mitglied bei einem Carsharing-Unter-         neten beruflichen Stellungen mit 45 Pro-
     nehmen (Nobis/Kuhnimhof 2018). Dem-          zent häufiger Bus und Bahn als das Auto
     gegenüber sind arme Menschen in pre-         (36 Prozent). Interessanterweise steigen
     kären Arbeits- und Lebensverhältnissen       in Berlin vor allem Beschäftigte mit ho-
     (Geringverdiener*innen, Arbeitslose) öf-     hen Einkommen für den Arbeitsweg auf
     ter von Mobilitätsarmut betroffen. Wer       das Fahrrad (Feilbach 2018).
     ein geringes Einkommen und kaum Ver-         Geschlechter: Der männlich dominier-
     mögen hat, kann bestimmte Verkehrs-          te Charakter des Autos zeigt sich auch
     mittel nur eingeschränkt oder gar nicht      in der konkreten Pkw-Nutzung durch
     benutzen. Sozial benachteiligte Grup-        die Geschlechter. So sind Männer* häu-
     pen wählen für einen deutlich größeren       figer außer Haus als Frauen* und legen
     Teil ihrer Wege den öffentlichen Verkehr     am Tag durchschnittlich längere Wege
     als wohlhabende Gruppen (Altenburg           zurück (46 im Vergleich zu 33 Kilome-
     u. a. 2009). So werden sie unfreiwillig zu   tern). Vor allem sind sie doppelt so viele
     Mobilitätspionier*innen des Umweltver-       Kilometer mit dem Auto unterwegs wie
     bunds. Zwar geben sie in absoluten Zah-      Frauen* – insbesondere als Fahrer. Die
     len relativ wenig für Mobilität aus, aber    Unterschiede gelten für alle Altersstufen.
     einen verhältnismäßig großen Anteil ih-      Während Frauen* deutlich öfter andere
     res Haushaltseinkommens. Deswegen            Menschen begleiten oder einkaufen, fah-
     können sie sich kaum an steigende Ver-       ren Männer* häufiger zur Arbeit (Nobis/
     kehrskosten anpassen (Schwedes/Dau-          Kuhnimhof 2018; Aljets 2020).
     bitz 2011).                                  In Berlin verfügen 47 Prozent der Män-
     Auch in Berlin besitzen Haushalte mit ei-    ner* uneingeschränkt über einen Pkw,
     nem Nettoeinkommen zwischen 3.600            41 Prozent haben keinen Zugang. Diese
     und 5.600 Euro je nach Haushaltsgrö-         Verfügbarkeit haben aber nur 39 Prozent
     ße durchschnittlich 0,92 bis 1,30 Au-        der Frauen*, während 47 Prozent auf
     tos, während Haushalte mit einem Ein-        kein Auto zurückgreifen können. Kom-
     kommen zwischen 500 bis 1.500 Euro           plementär dazu besitzen 44 Prozent der
     nur 0,33 bis 0,58 Pkw haben (Zahlen für
                                                  5 Beides, gesellschaftlich erfolgreich und viel unterwegs zu
     2012). Fuhren Erstere im Schnitt knapp       sein, hängt also in der deutschen Gesellschaft eng zusammen.
     20.000 Kilometer pro Jahr mit dem Au-        Es ließe sich aber auch fragen, ob es nicht ein Ausdruck von
                                                  Lebensqualität ist, am Tag nur begrenzte Strecken bzw. Zeiten
     to, waren Zweitere nur knapp 10.000 Ki-      unterwegs sein zu müssen.
Frauen*, aber nur 40 Prozent der Män-        men auch bis in mittlere Altersstufen in                           11
ner* eine Zeitkarte für den öffentlichen     Anspruch genommen werden. So nut-
Verkehr (Ahrens 2014). Dementspre-           zen 13,6 Prozent der 25- bis 45-jährigen
chend nutzt ein größerer Teil der Berline-   Berliner*innen geteilte Autos, während
rinnen als der Berliner den ÖPNV: Weib-      das weniger als ein Prozent der über
liche Erwerbstätige fahren zum Beispiel      65-jährigen Hauptstädter*innen tun (Ah-
eher mit den Öffentlichen (48 Prozent)       rens 2014). Der BerlKönig, ein urbanes
als mit dem Auto (32 Prozent) zur Arbeit.    Sammeltaxi-Projekt der Berliner Ver-
Männliche Beschäftigte bevorzugen da-        kehrsbetriebe (BVG), wurde ebenfalls
gegen den Pkw (45 Prozent) gegenüber         überwiegend von jungen, gut ausgebil-
dem ÖPNV (37 Prozent). Mit dem Fahr-         deten Innenstädter*innen genutzt, hat-
rad und zu Fuß kommen die Geschlech-         te aber Schwierigkeiten, darüber hinaus
ter etwa gleich häufig zur Arbeitsstelle.    weitere Nutzergruppen zu erreichen. In
Diese Phänomene lassen sich in allen         der mittleren Altersgruppe von 30 bis
Einkommensstufen finden (Feilbach            60 Jahren legen die Deutschen über die
2018).                                       Hälfte ihrer Wege mit dem Auto zurück.
Alter und Gesundheit: Sowohl jüngere         Von den über 40-Jährigen fahren nur
als auch ältere Menschen legen im Ver-       noch rund 10 Prozent vor allem mit dem
gleich zur mittleren Generation weniger      Rad und nutzen den ÖPNV, dann aber
und kürzere Strecken zurück. Kinder un-      deutlich längere Strecken als die Jungen
ter 10 Jahren fahren besonders viel Rad,     (Nobis/Kuhnimhof 2018). Von den 30-
allerdings radeln sie keine langen Stre-     bis 40-jährigen Berliner*innen steigen
cken. Junge Menschen bis zum Alter von       noch 16 Prozent für ihren Arbeitsweg
30 Jahren bewegen sich noch multimo-         auf das Rad. Diese Tendenz ist in allen
dal. Das heißt, sie benutzen verschiede-     Altersgruppen steigend. 45 Prozent neh-
ne Verkehrsmittel. Viele von ihnen (21       men Bus und Bahn, aber nur ein Drittel
bis 26 Prozent) nutzen eine Kombina­         nimmt das Auto. Von den über 40-jähri-
tion aus Fahrrad und öffentlichem Ver-       gen Hauptstädter*innen wählen dann
kehr, aber nur ein verhältnismäßig kleiner   nur noch 35 Prozent die Öffentlichen
Teil den motorisierten Individualverkehr     (unter Männern* ab 50 sogar nur 27 Pro-
(Nobis/Kuhnimhof 2018). In Berlin legen      zent). Mit zunehmendem Alter gewinnt
rund 60 Prozent der Erwerbstätigen un-       das Auto an Gewicht (Feilbach 2018). Ab
ter 30 Jahren (Frauen* sogar 64 Prozent)     einem Alter von 60 Jahren (insbesonde-
ihren Arbeitsweg mit dem ÖPNV zurück         re ab dem Ruhestand) nutzen die Deut-
und nur 21 Prozent mit dem Privatauto        schen wieder für weniger Wege das Au-
(Feilbach 2018).
Die Gruppe der jungen Erwachsenen in         6 Die neuen Trends korrelieren damit, dass sich in der jun-
Deutschland greift auch von allen am         gen, urbanen Generation der «Millenials» die Bedürfnisse
                                             und Ansprüche an Mobilität verändern. Für sie verliert das
häufigsten auf digitale Mobilitätsdienst-    Auto zunehmend seine Rolle als Statussymbol, die nun eher
                                             neue Technologien oder Rennräder übernehmen. Die neuen
leistungen, Leih- bzw. Mietfahrräder und     Großstädter*innen machen später ihren Führerschein, besitzen
Carsharing-Angebote zurück (Nobis/           immer seltener einen eigenen Pkw und nutzen multimodal ver-
                                             schiedene Verkehrsmittel (Daum 2018; Canzler/Knie 2018). Da-
Kuhnimhof 2018).6 Dieses Phänomen ist        rin drückt sich auch eine politisch-kulturelle Polarisierung und
auch für die Hauptstadt dokumentiert,        Ausdifferenzierung von Milieus aus: Die einen nutzen Fahrrad,
                                             ÖPNV und Smartphone für ihre Mobilität, die anderen kaufen
wobei dort die modernen Mobilitätsfor-       sich einen SUV (Haas 2018a).
12   to. Sie laufen viel mehr zu Fuß. Die über   den Menschen schwer, vom Auto umzu-
     80-Jährigen legen ein Drittel ihrer Wege    steigen (Schwedes/Daubitz 2011). Alle
     auf diese Weise zurück und fahren antei-    Haushalte müssten über eine fußläufige
     lig auch wieder mehr Fahrrad und nutzen     Anbindung an den ÖPNV oder Leihsys-
     den ÖPNV. Interessanterweise nutzen         teme (Rad, Auto etc.) verfügen. Bus und
     vor allem Senior*innen das moderne Ver-     Bahn sollten einen dichten Takt und eine
     kehrsmittel der Elektrofahrräder (Nobis/    gute Qualität haben und in ein engma-
     Kuhnimhof 2018).                            schiges Netz eingebunden sein. Dieser
     Ältere Menschen gehören überdurch-          nachhaltige Hausanschluss ist jedoch
     schnittlich oft zu den 7 Prozent der Ge-    gerade in vielen peripheren und ländli-
     samtbevölkerung, die aufgrund gesund-       chen Räumen nicht gegeben, wo er am
     heitlicher Beeinträchtigungen auch in       meisten benötigt wird. Die Folge sind
     ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Sie     Mobilitätsarmut und Exklusion (Ramm-
     bewegen sich seltener fort als gesun-       ler/Schwedes 2018). Ungenügende oder
     de Gleichaltrige, legen nur kürzere We-     fehlende ÖPNV-Angebote zwingen die
     ge zurück und sind – je nach der Form       Haushalte regelrecht in die Abhängigkeit
     ihrer Einschränkung – von der Nutzung       vom Auto. Die Menschen in diesen Re-
     bestimmter Verkehrsmittel ganz ausge-       gionen stehen dann vor dem Dilemma,
     schlossen. Über 1,5 Millionen Menschen      entweder ohne Pkw kaum noch mobil zu
     leben aus gesundheitlichen Gründen in       sein oder die hohen Kosten für einen Pkw
     Haushalten ohne Pkw. Das trifft auf die     zu tragen. Besonders betroffen sind ein-
     Hälfte der über 80-Jährigen zu, die kein    kommensarme Haushalte, die aber auf
     Auto haben.7 Oft ist der ÖPNV die letz-     ein hohes Maß an Mobilität angewiesen
     te Mobilitätsoption für sie, wenn ihnen     sind (Altenburg u. a. 2009).
     nicht bauliche Hindernisse oder fehlende    Insgesamt legen die Landbe­woh­ner*in­
     Informationssysteme den Zugang ver-         nen im Schnitt deutlich längere Wege zu-
     wehren.8 Deswegen müssen Verkehrs-          rück als die Städter*innen. In diesem Fall
     angebote niedrigschwellig und barrie-       korreliert das höhere Verkehrsaufkom-
     refrei gestaltet werden (Altenburg u. a.    men aber nicht mit einer gesellschaft-
     2009; Schwedes/Daubitz 2011).               lichen Privilegierung. Über zwei Drittel
     Räumliche und Infrastrukturen: ­Neben       der Wege werden auf dem Land mit dem
     individuellen Faktoren beeinflussen auch    Auto zurückgelegt. Während 90 Prozent
     die Qualität der Verkehrssysteme und die    der Haushalte in ländlichen Regionen
     räumliche Siedlungsstruktur die Mög-        ein Auto besitzen, sind es in Großstäd-
     lichkeit der Menschen, mobil zu sein.       ten 58 Prozent. 9 Die Metro­polen­be­woh­
     Kompakte, funktionsgemischte urba-
     ne Räume wie Berlin bieten bessere Be-      7 Haben Menschen gesundheitliche Probleme, können aber
     dingungen für den ÖPNV und nicht mo-        ihr Auto weiterhin nutzen, kann ihnen das allerdings helfen,
                                                 mobil zu bleiben. Diese Gruppe ist mobiler als die gesundheit-
     torisierten Verkehr und machen es den       lich beeinträchtigten Menschen ohne Pkw. 8 Informationen
                                                 nur in deutscher Sprache schließen Menschen ohne entspre-
     Bewohner*innen leichter, diese Formen       chende Sprachkenntnisse aus. Komplexe Systeme sind Zu-
     zu nutzen. Zersiedelte, funktional ent-     gangsschranken für Verkehrsteilnehmer*innen ohne hohes
                                                 Bildungsniveau. 9 Interessanterweise haben Ostdeutsche
     mischte und periphere Räume haben           seltener einen Pkw. In den neuen Bundesländern liegt der Mo-
     keine guten Ausgangsvoraussetzungen         torisierungsgrad rund 10 Prozent unter dem der alten Länder.
                                                 Das wird mit dem durchschnittlich höheren Alter, dem niedri-
     für den Umweltverbund und machen es         geren Einkommen und der größeren Arbeitslosigkeit erklärt.
ner*innen nutzen verschiedene Ver-          am Stadtrand. Schwerpunkte sozial-öko-       13
kehrsmittel. Sie bestreiten 62 Prozent      logischer Belastungen sind Nord-Neu-
der Wege und einen relativ großen Anteil    kölln, Gesundbrunnen, Wedding, Teile
ihrer täglichen Kilometer mit dem Um-       von Reinickendorf sowie die nördlichen
weltverbund. Ein gutes Drittel von ihnen    Kieze von Friedrichshain-Kreuzberg. Die
verfügt über eine Zeitkarte für den ÖPNV.   peripheren Belastungs-Hotspots liegen
Wer in Großstädten kein eigenes Auto        im Zentrum von Spandau und im Falken-
hat, legt stattdessen ähnliche Distanzen    hagener Feld, im Märkischen Viertel so-
mit Bus und Bahn zurück. Die Autolosen      wie in Hohenschönhausen, Marzahn und
auf dem Land sind dagegen weitgehend        Hellersdorf (Sander 2019). Die Umwelt­
immobil. Sie bewegen sich nur wenige        ungerechtigkeit zeigt sich in mehreren
Kilometer am Tag. Auch neue Mobilitäts-     Problembereichen.
dienstleistungen wie digitale Services      Luftschafstoffe: Autos sind für einen
und geteilte Autos sind weitgehend urba-    bedeutenden Teil der Stickoxid- und
ne Phänomene. So leben 85 Prozent der       Feinstaubemissionen in Deutschland
Carsharing-Mitglieder in Großstädten. In    verantwortlich. Darunter leiden vor al-
ländlichen Gegenden verfügen dagegen        lem Menschen aus sozial schwächeren
schon bis zu 10 Prozent der Haushalte       und bildungsfernen Haushalten, die öfter
über ein Elektrofahrrad. Damit sind die     an viel befahrenen Straßen wohnen. So
Pedelecs – anders als die anderen neuen     sind Kinder umso weniger Schadstoffen
Mobilitätsformen – kein urbaner Trend,      ausgesetzt, je höher der Bildungsgrad
sondern eine nachhaltige Mobilitäts­        ihrer Eltern ist (Bolte u. a. 2004). «Auf
option für Rentner*innen auf dem Land       dem Weg zur Arbeit sind es die SUVs
(Nobis/Kuhnimhof 2018).                     der Reichen, die sich durch die Quartie-
                                            re der Abgehängten schieben, die dann
3.2 Umweltungerechtigkeit:                  deren Emissionen einatmen.» (Ramm-
Die ­Opfer der Autogesellschaft             ler/Schwedes 2018: 11) In Berlin ist die
Doch nicht nur die Mobilitätschancen        Stickoxidbelastung an den Hauptstra-
sind in Deutschland sozial ungleich ver-    ßen seit Ende der 1990er Jahre nur ge-
teilt. Die Menschen sind auch unter-        ringfügig gesunken und überschreitet
schiedlich von den negativen Auswir-        immer noch regelmäßig die Grenzwerte.
kungen vor allem des Autoverkehrs           Die Feinstaubemissionen sind dagegen
betroffen. Die «Hypermobilität» der Pri-    deutlicher zurückgegangen (SenUVK
vilegierten beeinträchtigt Lebensqualität   2017). 90 Prozent der Berliner Quartie-
und Gesundheit der sozial benachteilig-     re mit großen sozialen Problemen leiden
ten Gruppen (Rammler/Schwedes 2018).        unter einer mittleren bis hohen Luftbe-
Insbesondere in sozial abgehängten          lastung – vor allem im ehemaligen West-
Quartieren in Großstädten konzentrieren     Berlin.
sich die Nachteile des dominanten Ver-      Lärm: Arme Menschen sind in Deutsch-
kehrssystems Auto. In Berlin verdichten     land auch deutlich häufiger durch den
sich soziale Probleme und Belastungen       Lärm von Autos und Lkw betroffen. Ein
durch den (Auto-)Verkehr in marginali-      Drittel der Beschäftigten in unteren be-
sierten Quartieren innerhalb des S-Bahn-    ruflichen Positionen lebt an lauten Haupt-
Rings sowie in einigen Großsiedlungen       und Durchgangsstraßen. Das trifft aber
14   nur auf rund ein Sechstel der Menschen      ter den hitzebedingten Gesundheitsge-
     in den höchsten beruflichen Stellungen      fahren (wie Herz-Kreislauf-Krankheiten)
     zu (Hoffmann u. a. 2003). In der Haupt-     leiden, aber gleichzeitig schlechtere An-
     stadt litten 2017 im Tagesmittel rund       passungsmöglichkeiten haben (Blättner
     110.000 Menschen unter hohem Lärm           u. a. 2011). Besonders betroffen sind ei-
     durch den Straßenverkehr. Aber «nur»        nige Großsiedlungen in der Berliner Pe-
     gut 5.500 Menschen waren durch die          ripherie sowie die armen Viertel in der
     Lärmkulisse von Eisenbahn, S-Bahn, U-       Innenstadt wie Wedding oder Nord-Neu-
     Bahn und Tram belastet (SenUVK 2017).       kölln. Der Klimawandel verschärft das
     Sowohl Bewohner*innen armer Quar-           Problem. Urbane Hitzewellen werden in
     tiere innerhalb des S-Bahn-Rings als        Zukunft vor allem Todesopfer unter den
     auch Hartz-IV-Empfänger*innen und           sozial schwachen Berliner*innen fordern.
     Migrant*innen sind jeweils doppelt so oft   Mangel an Grünflächen: Urbane Grün-
     von hohen Lärmbelästigungen betroffen       räume können Luftbelastung, Lärm
     wie soziale Vergleichsgruppen.              und Hitze abmildern. Können Men-
     Verkehrsunfälle: Kinder aus sozi-           schen Parks oder Gewässer in der Nähe
     al schwachen Haushalten leben in            besuchen, können sie dadurch nach-
     Deutschland eher in Quartieren mit ho-      weislich ihre Gesundheit und ihr Wohl-
     hem Autoverkehrsaufkommen. Ihre Be-         befinden verbessern. Doch gerade
     wegungsräume und Wege sind häufi-           die ohnehin stärker belasteten, ärme-
     ger von Straßen zerschnitten und von        ren Menschen wohnen oft in Quartie-
     fahrenden Autos gefährdet als die Nah-      ren mit wenig naturnahen Räumen und
     räume von Kindern aus privilegierten        können aufgrund ihrer Mobilitätsarmut
     Verhältnissen. In Berlin kommt es jedes     schwieriger weiter entfernte Naturräu-
     Jahr zu knapp 15.000 Verkehrsunfällen,      me erreichen (Jumpertz 2012). Rund
     bei denen Menschen zu Schaden kom-          270.000 Berliner*innen leben in Kiezen,
     men. Rund 60 Prozent der Verkehrsto-        die gleichzeitig durch Armut und eine
     ten waren 2015 Fußgänger*innen und          schlechte Grünversorgung gekennzeich-
     Radfahrer*innen. Seit 1996 ging die         net sind – zum Beispiel Wedding, Ge-
     Zahl der getöteten Personen zwar bin-       sundbrunnen und Nord-Neukölln.
     nen 20 Jahren bei fast allen Verkehrs-      Privatisierung des öffentlichen
     mitteln zurück, bei den Fahrrad- und        Raums: Eine wesentliche Ursache von
     Motorradfahrer*innen blieb sie aller-       Hitzeinseln wie von fehlenden Grünflä-
     dings weitgehend konstant. Die Zahl der     chen ist die Betonierung des öffentli-
     schwerverletzten Radfahrenden stieg         chen Raums – insbesondere für das Au-
     sogar deutlich. Nur ÖPNV-Nutzer*innen       to. Straßenräume werden weitgehend
     verunglücken fast nie (SenUVK 2017).        von unentgeltlich parkenden Privatautos
     Hitze: Bei sommerlichen Hitzewellen         dominiert. Damit wird eine urbane All-
     heizen sich eng bebaute Quartiere mit       mende faktisch privatisiert. 92 Prozent
     einer starken Flächenversiegelung tags-     der öffentlichen Flächen, die dem ruhen-
     über besonders stark auf und kühlen         den Verkehr zur Verfügung stehen, wer-
     nachts weniger ab. In diesen Vierteln       den von Pkw beansprucht. Für alle an-
     wohnen überdurchschnittlich häufig är-      deren Verkehrsmittel bleiben 8 Prozent.
     mere Menschen, die deshalb stärker un-      Die privaten Fahrzeuge stehen im Durch-
schnitt jeden Tag über 23 Stunden her-       tätsangeboten sind von Bedeutung für                             15
um und müssten insofern treffender als       die Frage, welche Personengruppen wel-
«Stehzeuge» bezeichnet werden. Im flie-      che Verkehrsmittel unter welchen Bedin-
ßenden Verkehr nutzen die Autos eben-        gungen nutzen oder meiden. Das hat viel
falls einen Großteil des Straßenraums für    mit alltäglichen Routinen und Gewohn-
sich, vor allem bei hohen Geschwindig-       heiten zu tun (Altenburg u. a. 2009).10 Je
keiten.                                      häufiger die einzelnen Menschen ein be-
Der politisch-juristische Rahmen und das     stimmtes Verkehrsmittel nutzen und da-
konkrete Verwaltungshandeln sichern          mit ihre Mobilitätsbedürfnisse befriedi-
diese Alltagspraxis ab und machen auch       gen, umso besser bewerten sie es – und
das massenhafte Falschparken zu einem        umgekehrt. Eine große Mehrheit der
Kavaliersdelikt. Die sozial ohnehin privi-   Autofahrer*innen schätzt die Verkehrssi-
legierten Pkw-Besitzer*innen eignen sich     tuation für den Pkw gut bis sehr gut ein.
den öffentlichen Raum an. Darunter lei-      Hohe Fixkosten kombiniert mit einer ho-
den insbesondere sozial benachteilig-        hen Nutzungsflexibilität motivieren die
te Anwohner*innen, die in besonderem         Besitzer*innen zum häufigen Fahren.
Maße ihre unmittelbare Wohnumge-             Nur ein Drittel der Bundesbürger*innen
bung als Lebensraum nutzen (würden)          fährt dagegen gern mit den Öffentli-
und selbst oft über kein eigenes «Steh-      chen. Insbesondere auf dem Land sind
zeug» verfügen (Rammler/Schwedes             die Menschen unzufrieden mit der Ange-
2018; Notz 2017). In Berlin beansprucht      botsqualität und auch die regelmäßigen
das Auto beispielsweise von der ge-          Nutzer*innen schätzen den ÖPNV kaum.
samten städtischen Verkehrsfläche al-        Ganz anders in den Großstädten: Dort
lein 40 Prozent zum Fahren und weitere       sind gut zwei Drittel der Bürger*innen
20 Prozent zum Parken (Strößenreuther/       zufrieden mit den Öffentlichen, unter
Agentur für clevere Städte 2014).            den häufigen Nutzer*innen sogar rund
Extraktivismus und Klimawandel:              80 Prozent. Fahrradfahren und Zufußge-
Nicht zuletzt sind Autos auch ein Pro-       hen sind insgesamt beliebt. Wer im Alltag
blem für die globale Umwelt- und Kli-        positive Nutzungserfahrungen mit dem
magerechtigkeit. Für die Automobile der      Umweltverbund macht, ist eher bereit,
wohlhabenden Deutschen werden vor            vom Auto umzusteigen (MID). Damit die
allem in Ländern des Globalen Südens         Betroffenen von Verkehrswendepolitiken
unter ökologisch verheerenden Bedin-         diese nicht nur erdulden, sondern sie po-
gungen Roh- und Treibstoffe gewonnen,        sitiv empfinden oder sich sogar aktiv be-
deren Verbrennung außerdem die Klima-        teiligen, ist es wichtig, die Voraussetzun-
krise befeuert. Darunter leiden überwie-     gen für Akzeptanz zu verstehen und zu
gend marginalisierte Bevölkerungsgrup-       berücksichtigen. Menschen akzeptieren
pen in den ärmeren Ländern (Misereor         dann Veränderungen der Mobilitätsan-
u. a. 2018).                                 gebote, wenn sie nicht das Gefühl haben,

Bewusstsein und Handeln                      10 Auch Vertrauen, Unsicherheiten und Ängste spielen eine
                                             wichtige Rolle beim Mobilitätsverhalten. Wer sich zum Beispiel
Auch die subjektiven (positiven wie ne-      an bestimmten Zustiegspunkten (Haltestellen, Bahnhöfe) und
gativen) Erfahrungen, Wertvorstellun-        mit einzelnen Verkehrsmitteln nicht sicher fühlt, meidet sie.
                                             Das trifft insbesondere auf Frauen* und ältere Menschen zu.
gen und Wahrnehmungen von Mobili-            Deswegen müssen Verkehrsmittel sicher und attraktiv sein.
16   die Souveränität über ihre Lebenswelt          motoren ab. Nur rund 25 bis 35 Prozent
     und -gewohnheiten würde beeinträch-            wünschen sich autofreie Innenstädte.
     tigt; wenn sie den Eindruck haben, dass        Mehr Tempo 30 wollen nur 41 Prozent,
     eine Maßnahme in ihrem Viertel passt           höhere Parkgebühren 20 Prozent. Ei-
     und dessen Lebensqualität erhöht; wenn         nerseits kann sich etwa die Hälfte der
     in ihrer Wahrnehmung die Vorteile ge-          Autofahrer*innen vorstellen, auf ein an-
     genüber den Gefahren für ihre Nachbar-         deres Verkehrsmittel umzusteigen. Nicht
     schaft überwiegen und wenn sie sowohl          wenige Menschen würden gern weni-
     die Ziele als auch die Mittel einer Verän-     ger Auto fahren und mehr zu Fuß oder
     derung als gesellschaftlich sinnvoll ein-      mit dem Rad unterwegs sein. Anderer-
     schätzen. Außerdem ist für die Zustim-         seits glauben viele, für Lohn- oder private
     mung zu einzelnen Politiken zentral, dass      Sorgearbeit auf das Auto angewiesen zu
     die Menschen Nutzen und Belastungen            sein, und halten Alternativen für teurer,
     als gerecht verteilt wahrnehmen – für          zeitintensiver und unbequemer. So mei-
     sich selbst und für die Gesellschaft. Dafür    nen drei Viertel der Autonutzer*innen,
     ist die passende Kommunikation wichtig.        grundsätzlich nicht auf das eigene Fahr-
     Entscheidend sind aber die reale Beteili-      zeug verzichten zu können (Andor u. a.
     gung der Anwohner*innen und die prak-          2019; UBA 2017; Acatech 2019).
     tische Ausgestaltung der Maßnahmen
     (Becker/Renn 2019).                            3.3 Arbeitsbedingungen
     Mehrere Umfragen zeigen, dass eine             Nicht zuletzt müssen auch die Arbeitsbe-
     große Mehrheit der Bevölkerung die Pro-        dingungen in der heterogenen Verkehrs-
     bleme des aktuellen Verkehrssystems            branche in den Blick genommen werden.
     sieht, dessen Veränderung begrüßt und          So zahlt die BVG – nach der Deutschen
     prinzipiell auch bereit ist, ihr eigenes Mo-   Bahn das größte Verkehrsunternehmen
     bilitätsverhalten zu ändern. Allerdings        in Berlin – zwar recht gute Löhne und ver-
     sinkt die Zustimmung, wenn es zu kon-          fügt über stabile Mitbestimmungsstruk-
     kreten Maßnahmen kommt, die als ein-           turen. Doch die Arbeitsbedingungen sind
     schränkend für die eigene Alltagsmobi-         hart, insbesondere im Schichtdienst. Das
     lität erlebt werden – insbesondere unter       führt zu einem hohen Krankenstand und
     den Autofahrer*innen. Grundsätzlich er-        einer starken personellen Fluktuation.
     warten 91 Prozent eine höhere Lebens-          In den letzten Jahrzehnten hat das Land
     qualität in einer weniger autozentrierten      außerdem bei der BVG massiv Personal
     Gesellschaft und 79 Prozent wünschen           abgebaut und einzelne Linien an unter-
     sich den Ausbau von Alternativen in der        tariflich bezahlte Tochterunternehmen
     eigenen Kommune. So plädieren jeweils          ausgegliedert. Das wurde erst in den letz-
     deutliche Mehrheiten für die Instandhal-       ten Jahren sukzessive rückgängig ge-
     tung und Erweiterung der Fahrradwege           macht. Ver.di setzt sich dafür ein, dass
     und eines preiswerten ÖPNV. Die Ver-           die Kolleg*innen in der Mobilitätswende
     kehrsmittel des Umweltverbunds sollen          mitgenommen werden, indem der Senat
     eigene Spuren bekommen, auch wenn              ihre belastenden Arbeitsbedingungen
     dadurch Platz für das Auto wegfällt. Die       verbessert und die geplanten Projekte
     meisten Befragten lehnen jedoch ge-            mit ausreichend Personal und Geld un-
     nerelle Fahrverbote für Verbrennungs-          terlegt.
3.4 Zwischenfazit: Wie gerecht             eignet, mobile Teilhabe zu ermöglichen.        17
ist die autogerechte Stadt?                Das Auto ist demgegenüber grundsätz-
Mobilitätsgerechtigkeit hat drei Dimen-    lich ein ungerechtes Verkehrsmittel. Aus
sionen, die eng miteinander verknüpft      einer relationalen Gerechtigkeitsper-
sind: Menschen können abhängig von         spektive ist zu kritisieren, dass die so-
ihren sozialstrukturellen Merkmalen wie    zial insgesamt privilegierte Teilgruppe
Einkommen, berufliche Position, Ge-        der Autobesitzer*innen allen Menschen
schlecht und Alter sehr unterschied-       und dabei insbesondere den überdurch-
lich an Mobilitätsformen partizipieren     schnittlich ohnehin unterprivilegierten
und sind gleichzeitig sehr unterschied-    Gruppen die negativen Folgen ihrer Mo-
lich von den negativen Auswirkungen        bilität zumutet. Prinzipiell ist es nicht zu
des Verkehrssystems betroffen. Auch        rechtfertigen, dass gesellschaftliche Mo-
räumlich sind ohnehin marginalisierte      bilität zu einem bedeutenden Teil auf ei-
Stadtviertel eher von Mobilitätsangebo-    nem Verkehrsmittel basiert, das viele
ten ausgeschlossen und stärker durch       Menschen systematisch in ihrer Lebens-
die Folgewirkungen des Verkehrs be-        qualität beeinträchtigt, sie krank macht,
lastet. Schließlich sind Bus und Bahn,     verletzt oder tötet. Der Umweltverbund
Rad- und Fußverkehr auf einer tech-        ist also sowohl ökologisch nachhaltiger
nisch-strukturellen Ebene besonders ge-    als auch sozial gerechter als das Auto.

4 DAS BERLINER MOBILITÄTSGESETZ

4.1 Geschichte der Berliner                den sollte ein dichtes Netz von Autobah-
Verkehrs­politik                           nen und -kreuzen, bestehend aus Auto-
In der Gründerzeit und den ersten Jahr-    bahnring und Tangenten, die Innenstadt
zehnten des 20. Jahrhunderts wurde in      durchziehen. Praktisch wurde die ganze
Berlin ein umfassendes ÖPNV-System         Stadt auf den Autoverkehr ausgerich-
aus Tram-, S-Bahn-, U-Bahn- und Busver-    tet. In West-Berlin wurden die Straßen-
bindungen aufgebaut, das über mehrere      bahnen vollständig abgebaut und die S-
Dekaden ein Großteil der Berliner*innen    Bahn vernachlässigt. Der verbleibende
als zentrales Verkehrsmittel benutzte.     ÖPNV konzentrierte sich auf U-Bahn und
Der Rest fuhr Fahrrad, ging zu Fuß oder    Bus, während in Ost-Berlin S-Bahn und
nutzte das Pferd. Nach dem Zweiten         Tram prägend blieben. Der einst verbrei-
Weltkrieg trieben Politik und Stadtpla-    tete urbane Radverkehr erreichte Anfang
nung (in West wie Ost) jedoch den An-      der 1970er Jahre einen historischen Tief-
satz von Flächensanierung und autoge-      punkt.
rechter Stadt voran – konzeptionell und    Auf dem Höhepunkt der autogerechten
ideologisch vor allem durch die Inter-     Stadt begannen sich allerdings Grup-
nationale Bauausstellung (IBA) 1957 in     pen der neuen städtischen Bewegungen
West-Berlin vorbereitet. Altbauten soll-   wie die Bürgerinitiative Westtangente,
ten systematisch abgerissen und durch      gegen Kahlschlagsanierung und Auto-
Neubau ersetzt werden. Damit verbun-       wahnsinn zu wehren. Mithilfe vielfältiger
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