DIE BERLINER VERKEHRSWENDE - ANALYSEN - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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ANALYSEN NACHHALTIGKEIT DIE BERLINER VERKEHRSWENDE VON DER AUTO- ZUR MOBILITÄTS GERECHTEN STADT HENDRIK SANDER
INHALT 1 Einleitung 3 2 Autogesellschaft, Neue Mobilität und Verkehrswende 4 2.1 Krise und Stabilität der automobilen Gesellschaft 4 2.2 Mobilität als Dienstleistung 5 2.3 Die Mobilitätswende 6 2.4 Städte als Vorreiter des Wandels 7 3 Mobilitätsgerechtigkeit 9 3.1 Mobilitätsmuster und Mobilitätsarmut 9 3.2 Umweltungerechtigkeit: Die Opfer der Autogesellschaft 13 3.3 Arbeitsbedingungen 16 3.4 Zwischenfazit: Wie gerecht ist die autogerechte Stadt? 17 4 Das Berliner Mobilitätsgesetz 17 4.1 Geschichte der Berliner Verkehrspolitik 17 4.2 Vom Volksentscheid Fahrrad zum Berliner Mobilitätsgesetz 18 4.3 Inhalte des Gesetzes 20 5 Konfliktfelder der Berliner Mobilitätswende 23 5.1 Der öffentliche Personennahverkehr 23 5.2 Fahrrad- und Fußverkehr 27 5.3 Der motorisierte Individualverkehr 30 5.4 Der Kampf um die Kieze 34 6 Synthese: Die Beharrungskräfte der Autogesellschaft 37 7 Strategien für ein mobilitätsgerechtes Berlin 44 Literatur 48
1 EINLEITUNG 3 Die Berliner Verkehrspolitik ist in Be- turen der Verwaltung, die ambitionierte wegung. Im Juni 2016 hat die Initiative Veränderungen ausbremsen. Zum ande- Volksentscheid Fahrrad nach nur einem ren wollen viele Autobesitzer*innen ihren Monat mehr als 100.000 Unterschrif- Pkw nicht aufgeben. Einige wehren sich, ten eingereicht, obwohl nur 20.000 not- wenn der Umbau des Verkehrssystems wendig waren. Ihr Ziel griff die kurze Zeit in ihren Kiezen konkret wird. Die Berli- später gebildete rot-rot-grüne Berliner ner Mobilitätswende geht weiter, droht in Landesregierung auf: Sie erarbeitete in den mühsamen Auseinandersetzungen einem partizipativen Prozess ein Mobi- um jede einzelne Maßnahme und jeden litätsgesetz, das bundesweit als Vorbild Kiez aber ihre anfängliche Dynamik und gilt. Das neuartige Gesetz räumt Bus und Aufbruchsstimmung zu verlieren. Bahn, Rad- und Fußverkehr klaren Vor- In der vorliegenden Analyse werden die rang vor dem motorisierten Individual- Debatten um Autogesellschaft, neue Mo- verkehr ein und formuliert dafür zahlrei- bilitätsdienstleistungen und Verkehrs- che Maßnahmen. Damit nimmt sich die wende wiedergegeben und empirische Koalition nichts weniger als den Umbau Erkenntnisse zur Mobilitätsungerech- der autogerechten Stadt zu einer Metro- tigkeit in Deutschland und Berlin prä- pole des Umweltverbunds vor, das heißt sentiert. Darauf aufbauend werden die des öffentlicher Nahverkehrs sowie des Entstehungsgeschichte sowie die we- Rad- und Fußverkehrs. Das ist ein wich- sentlichen Inhalte des Mobilitätsgeset- tiger Schritt zu mehr Mobilitätsgerech- zes vorgestellt. Im Hauptteil der Analyse tigkeit. Denn Wohlhabende, Männer und werden die zentralen Konfliktpunkte der Erwerbstätige fahren überdurchschnitt- Berliner Verkehrswende in den Feldern öf- lich viel Auto, während Ärmere, Frauen, fentlicher Personennahverkehr (ÖPNV), Junge und Alte stärker den öffentlichen Rad- und Fußverkehr sowie motorisier- Nahverkehr nutzen. Gleichzeitig sind vor ter Individualverkehr nachgezeichnet und allem ärmere Menschen aus abgehäng- am Beispiel besonders umkämpfter Kieze ten Quartieren von den zahlreichen nega- veranschaulicht. Abschließend wird eine tiven sozial-ökologischen Folgen des Au- theoretisch informierte Analyse der politi- toverkehrs betroffen. schen Potenziale und Widerstände gegen Ein großer Teil der Berliner*innen will die die Berliner Mobilitätswende vorgenom- Verkehrswende, die Fahrradbewegung men. Und es werden strategische Emp- ist stark, die Presse berichtet positiv über fehlungen formuliert, wie sich die Blo- deren Anliegen und auch Rot-Rot-Grün ckaden überwinden ließen. Die Analyse trägt das Projekt. Doch die Umsetzung basiert auf einer Auswertung von Fachli- des Mobilitätsgesetzes kommt nicht vo- teratur, Presseartikeln und 13 eigens ge- ran. Sie stößt auf viele Hindernisse und führten Interviews mit Vertreter*innen von Konflikte. Die verkehrspolitischen Initiati- umwelt- und verkehrspolitischen Initiati- ven kritisieren, dass die einzelnen Projek- ven und Nichtregierungsorganisationen te des Gesetzes nur schleppend und un- (NGO), Gewerkschaften und Wirtschafts- genügend umgesetzt werden. Das liegt verbänden, Parteien und Behörden sowie zum einen an den eingespielten Struk- der kritischen Verkehrswissenschaft.
4 2 AUTOGESELLSCHAFT, NEUE MOBILITÄT UND VERKEHRSWENDE Nach wir vor dominiert das Auto Ber- Großteil der Bevölkerung ist das Au- lin und ganz Deutschland – eine Ent- to nicht nur unverzichtbar im Alltag ge- wicklung, die in den letzten 100 Jah- worden, sondern auch ein Symbol für ren politisch durchgesetzt wurde. In Unabhängigkeit und Wohlstand. Die- den aktuellen Krisenprozessen der Au- se «Komplizenschaft zwischen Herstel- togesellschaft zeichnet sich allerdings lern, Staat und Verbrauchern» (Canzler/ ein neues Mobilitätsregime ab, das auf Knie 2018: 91) erklärt die hohe Stabili- Elektroauto, Plattformökonomie und in- tät der Autogesellschaft. Bereits Anfang telligenter Vernetzung basiert. Doch für der 1970er Jahre wurde allerdings Kritik einen grundlegenden Wandel des Ver- an den zerstörerischen Folgen des Au- kehrs ist eine umfassende Mobilitäts- tos laut: Treibhausgase, Ölkrisen/Peak wende nötig, die vor allem auf den Zu- Oil und sozial-ökologische Verheerun- gang aller zu Bahn, Bus und Fahrrad gen beim Rohstoffabbau; Luftschadstof- setzt. Vorreiter dieses Wandels sind eini- fe und Lärm; Unfälle und Verkehrstote; ge Großstädte in Europa. Bodenversiegelung, Zersiedelung und Zerstörung der urbanen Lebensräume 2.1 Krise und Stabilität der auto (Mohnheim 2011; Wolf 2011; Misereor mobilen Gesellschaft u. a. 2018). Die Autokonzerne reagierten Im Laufe des 20. Jahrhunderts löste das mit einer partiellen Modernisierung ihrer Auto Eisenbahn, Tram und Fahrrad als Geschäftsmodelle und Fahrzeuge. Doch ursprünglich zentrale Verkehrsmittel der sie sind auf die Produktion von Verbren- kapitalistischen Gesellschaften ab. War nungsmotoren geeicht und machen da- das Auto in der ersten Hälfte des zurück- mit weiterhin ihre Profite. liegenden Jahrhunderts noch (kurioses) Trotz aller Krisen und Umbrüche der Statussymbol von Reichen und Projek- letzten Jahre sind sie ökonomisch stark tionsfläche visionärer Stadt- und Ver- aufgestellt und können ihren weltwei- kehrsplaner, setzten sich die propagier- ten Absatz – vor allem in den sogenann- te private Massenmotorisierung sowie ten Schwellenländern – weiter steigern die funktionale und autogerechte Stadt (Balsmeyer/Knierim 2018). Zum ande- in Deutschland erst ab den 1960er Jah- ren nimmt die Zahl der zugelassenen ren durch. Dafür wurden die bisherigen Pkw in der Bundesrepublik jedes Jahr Verkehrsmittel systematisch zerstört und um eine halbe Million zu und erreicht an den Straßenrand gedrängt (Mohn- jedes Mal neue Rekorde – zuletzt gut heim 2011; Wolf 2011; Haas 2018b). 47 Millionen Fahrzeuge Anfang 2020 Auf diese Weise entwickelten sich die (KBA 2020). Im Jahr 2017 kamen auf deutschen Autokonzerne zur mächtigs- 1.000 Einwohner*innen 527 Autos. Rund ten Leitindustrie in der Bundesrepublik 78 Prozent der privaten Haushalte ver- mit einem Umsatz von 436 Milliarden fügten über mindestens einen Pkw. Die Euro, 820.000 Beschäftigten und über Deutschen legen noch immer 57 Pro- 16 Millionen produzierten Pkw (Zah- zent aller Wege und 75 Prozent ihrer Ki- len von 2019) (BMWi 2020). Für einen lometer mit dem Auto zurück (Nobis/
Kuhnimhof 2018).1 Der Traum vom pri- Dieses wird mit Schlagworten wie «Neue 5 vaten Auto scheint bei vielen Menschen Mobilität» oder «Mobilität als Dienstleis- im Kern ungebrochen. Gleichzeitig geriet tung» bezeichnet und lässt sich als Teil das Auto zuletzt verstärkt in die Kritik – eines digitalen und grünen Plattformka- und die Konzerne gerieten in die Defen- pitalismus verstehen. Mobilität soll «on sive. Der Dieselskandal und die folgen- demand» funktionieren und alle Ver- den Milliardenstrafen und Fahrverbote kehrsträger intelligent und intermodal erschütterten die Branche. Sogenannte miteinander verknüpfen (Daum 2018). SUVs (Sport Utility Vehicles) sind in Tei- Neben dem E-Auto ist ein wesentliches len der Öffentlichkeit zum Symbol für Merkmal der neuen Mobilität, dass die eine rückwärtsgewandte Technologie Menschen Verkehrsmittel (vor allem das geworden und die Internationale Auto- Auto) nicht mehr individuell besitzen, mobil-Ausstellung (IAA) in Frankfurt am sondern flexibel nutzen werden. Sie lei- Main wird – forciert von massenhaften hen geteilte Fahrräder, Elektrofahrräder Protesten – aufgegeben. Unter dem Ein- (Pedelecs), E-Scooter und Autos. Und druck der erstarkenden Klimabewegung sie buchen Shuttles und Mitfahrgelegen- verabschiedete die Europäische Union heiten – für kurze oder längere Strecken. (EU) trotz der geballten Lobbymacht der Ferner sollen alle Fahrzeuge digital mit- Autoindustrie relativ ambitionierte CO2 - einander vernetzt werden und dadurch Grenzwerte (Sander/Haas 2019). Und der eine optimale Verfügbarkeit und einen derzeit wichtigste politische Vertreter der reibungslosen Verkehrsfluss gewähr- Branche, Bundesverkehrsminister An leisten. Die Krönung dieser Entwicklung dreas Scheuer, sah sich gezwungen, ein soll das voll autonome Fahren sein, das milliardenschweres Klimaschutzpaket komplexe Algorithmen erfordert und vie- aufzusetzen, das den Umweltverbund le Daten produziert (PWC 2017–2018; fördern soll – auch wenn es nicht ausrei- Canzler/Knie 2018). chen wird, die deutschen Klimaziele zu Allerdings zeigen die aktuellen Zahlen, erreichen. dass der Trend zu neuen Mobilitätsfor- men bisher insgesamt eine Nischener- 2.2 Mobilität als Dienstleistung scheinung ist. Zwar stieg in den letzten Vor allem das Elektroauto könnte zum Jahren beispielsweise die Zahl der Car- «Game Changer» werden. Nachdem das sharing-Mitgliedschaften und -Fahrzeu- deutsche Autokapital lange an seinem ge deutlich. Inzwischen gibt es in fünf Kerngeschäft, dem Bau hochwertiger Prozent aller Haushalte mindestens eine Verbrennungsmotoren, festgehalten hat, Person, die Mitglied in einer Carsharing- beginnt vor dem Hintergrund des Elek Organisation ist. Jedoch weniger als ein troauto-Booms (vor allem in China) nun Promille aller Wege und etwa zwei Pro- auch in den deutschen Konzernzentralen mille der Personenkilometer werden ein strategisches Umschwenken (Haas/ Jürgens 2019). Aufgrund seiner Einbin- 1 Besonders rasant stieg in den letzten Jahren der Anteil von dung in digitale Netzwerke und ein neues SUV und schweren Geländewagen. Im Jahr 2019 machten sie bereits knapp ein Drittel der Neuzulassungen aus. Dieser Boom Energiesystem markiert das E-Auto be- kann als Ausdruck einer reaktionären Verarbeitung aktueller reits den Übergang zu einem neuen Mo- gesellschaftlicher Krisen verstanden werden: Die Privatpanzer versprechen scheinbar Überlegenheit und Abschottung in ei- bilitätsregime. ner immer unsicherer werdenden Welt (Haas 2018a).
6 mit einem geteilten Auto zurückgelegt. werden. Die oben vorgestellten Ansätze Menschen aus autofreien Haushalten neuer Mobilität können ein nachhaltiges nutzen Carsharing etwas häufiger. Doch Mobilitätssystem ergänzen und vervoll- auch die regelmäßigen Nutzer*innen ständigen, wo individuelle motorisierte greifen nur für vier Prozent ihrer Wege Verkehre nicht zu vermeiden sind, spie- auf diese Option zurück (Nobis/Kuhnim- len aber nur eine untergeordnete Rolle. hof 2018). Insofern kann Elektromobilität in Zukunft Das System Auto als solches ist das Pro- das Straßenbild durchaus auch prägen – blem, das mit dem E-Mobil fortbesteht. aber vor allem in Gestalt von E-Scooter, Mit ihm droht die notwendige Verkehrs- Pedelec, Tram und Trolleybus (Schwe- wende zu einer Antriebswende zu ver- des 2011). Für diese verkehrspolitische kümmern (Schwedes 2011). 2 Die so- Vision müsste der motorisierte Indivi- genannte neue Mobilität suggeriert, dualverkehr, also insbesondere das Au- alle Widersprüche des Verkehrssystems to, stark an den Rand gedrängt werden. durch smarte Lösungen aufzuheben – Die Zahl der Autos und die damit zurück- Hightech als «technological fix». gelegten Kilometer sollten deutlich re- duziert werden. 3 Bis dahin ist es noch 2.3 Die Mobilitätswende ein weiter Weg: Von einem niedrigen Notwendig ist angesichts der vielfältigen Niveau aus erlebte der öffentliche Ver- Krisen und Herausforderungen des Ver- kehr in den letzten Jahren ein gewisses kehrssystems ein grundlegender Wan- Wachstum. Aktuell haben 15 Prozent der del. Dafür ist eine Unterscheidung es- Deutschen (ab einem Alter von 14 Jah- senziell: Es geht darum, die vielfältigen ren) – und sogar ein Drittel derjenigen Bedürfnisse aller Menschen nach Mobi- aus autofreien Haushalten – eine Zeitkar- lität umfassend zu befriedigen. Gleich- te für den öffentlichen Verkehr. Ein Viertel zeitig sollte das auf eine Weise gestaltet der Menschen nutzt regelmäßig Bus und sein, dass möglichst wenig Verkehr nö- Bahn. Insgesamt entfallen gut 10 Pro- tig ist. Die Stichworte sind Entschleuni- zent der Wege und 19 Prozent der Ver- gung und Verkehrsvermeidung statt Ge- kehrsleistung auf die Öffentlichen. Fahr- schwindigkeit und Wachstum. Mobilität räder gibt es in Deutschland insgesamt sollte Klima, Umwelt und Ressourcen über 75 Millionen, mit denen die Leute schonen und sie müsste öffentlich, gut durchschnittlich 10 Prozent der Wege finanziert, für alle bezahlbar und barrie- und 3 Prozent ihrer Kilometer zurück- refrei sein. Sie sollte leise, sicher und zu- legen. 76 Prozent der Haushalte haben verlässig sein – kollektiv organisiert, intel- ligent vernetzt und geteilt (Leidig 2011; 2 Das E-Auto hat einige ökologische Vorteile gegenüber dem klassischen Verbrennungsmotor: Es verfeuert kein Öl mehr und Schwedes 2017). verursacht – je nach Strommix – etwas weniger Treibhausgase. Der verbleibende Verkehr müsste massiv Davon abgesehen teilt es alle Nachteile mit Benziner und Die- sel. Vor allem braucht es Unmengen wertvoller Rohstoffe wie auf Bus, Bahn, Fahrrad und die eigenen Kobalt und Lithium aus Ländern des Globalen Südens. Auch seine Lärm- und Feinstaubemissionen sind nur etwas geringer Füße verlagert werden. Dafür wären die als die des Verbrenners (Balsmeyer/Knierim 2018; Misereor Infrastrukturen für den öffentlichen und u. a. 2018). 3 Um Brüche aufseiten der Beschäftigten in der Autoindustrie zu vermeiden, wären die Betriebe im Sinne einer nicht motorisierten Verkehr massiv aus- «Just Transition» und Konversion umzubauen und neue Jobs in zubauen. Dem Umweltverbund sollte po- nachhaltigen Produktionszweigen zu schaffen. Dabei müssten Beschäftigte, Betriebsräte und Gewerkschaften eng eingebun- litisch konsequent Vorfahrt eingeräumt den werden (Candeias 2011; Urban 2011).
mindestens ein Rad. Ein gutes Drittel der Städter*innen statistisch etwas weniger 7 Menschen zählt zu den regelmäßigen Pkw als der Durchschnitt. Doch nirgend- Fahrradfahrer*innen (mindestens einmal wo türmen sich derart die Autos und ma- in der Woche). Ein knappes Drittel sind chen öffentliche Räume zu unwirtlichen Gelegenheitsfahrer*innen und das letz- Orten. Gleichzeitig verfügen viele Städ- te Drittel nutzt fast nie ein Rad. Zu Fuß te noch über einen prinzipiell gut ausge- gehen die Bürger*innen 22 Prozent aller bauten ÖPNV. In urbanen Räumen lassen Wege und 3 Prozent der zurückgelegten sich aufgrund der nahräumlichen Sied- Kilometer (Nobis/Kuhnimhof 2018). lungsstrukturen am einfachsten Ange- Damit die Menschen die Umstellung des bote für mehr Fuß- und Fahrradverkehr, Mobilitätssystems auf den Umweltver- einen besseren ÖPNV und neue Mobili- bund annehmen, müssten Räume und tätsdienstleistungen etablieren, die eine Zeiten gesellschaftlich umgestaltet wer- reale Option für viele Bewohner*innen den. Gleichzeitig kann der Umbau die sind. Die junge Generation, die neu- Nutzungsqualität und Souveränität über en Formen der Multimodalität gegen- Räume und Zeiten erheblich steigern: Die über aufgeschlossen ist, konzentriert zersiedelte und funktionale Stadt wird sich in den urbanen Zentren. Auch vie- grundlegend umgestaltet in kompakte le Fahrradpionier*innen und -initiativen und vielfältige Quartiere mit kurzen We- sind dort aktiv. gen; nahräumliche Angebote des Woh- Und tatsächlich gelten mehrere Städte nens, Arbeitens, Einkaufens und der Frei- in Europa als Vorbilder für die Verkehrs- zeit machen viele Verkehre überflüssig wende. Amsterdam und Kopenhagen und ohne fahrende und parkende Autos sind Vorreiter in Sachen Fahrradverkehr. sind Straßen wieder Orte der Begegnung Die dänische Hauptstadt hat durch eine und des Spiels, des Spazierens und Ver- systematische Privilegierung des Fahr- weilens. Insgesamt kann die Lebensqua- rads in den Straßenräumen erreicht, lität so deutlich steigen. Die Menschen dass mittlerweile fast zwei Drittel der gewinnen nicht nur Zeit hinzu, durch eine Stadtbewohner*innen mit dem Rad zu Veränderung von Zeitregimes, die mehr Arbeit und Ausbildung fahren. In Wien und flexiblere Zeit für das Leben gewäh- müssen die Menschen nur 365 Euro für ren und weniger für die Arbeit erfordern, ein Jahresticket für den gut ausgebau- können sie auch die neuen Möglichkei- ten ÖPNV zahlen. In Tallinn und Luxem- ten besser nutzen – ohne Zwang zur Be- burg ist er inzwischen komplett kos- schleunigung (Balsmeyer/Knierim 2018; tenfrei. Mit einer City-Maut dämmen Haas 2018b). London und Stockholm die Autoströme in ihre Stadtzentren erheblich ein. In die 2.4 Städte als Vorreiter des Wandels Innenstadt von Oslo sollen mittelfris- Die Schattenseiten des Autos und die tig gar keine privaten Autos mehr fah- Potenziale einer anderen Mobilität ver- ren dürfen. Besonders interessant sind dichten sich in den großen Städten. Dort die «Superblocks» in Barcelona: Die ka- leiden die Menschen am meisten un- talanische Stadt sperrt jeweils mehre- ter schlechter Luft, Lärm und den täg- re Häuserblöcke weitgehend für den lichen Gefahren und Zumutungen des motorisierten Verkehr und gibt die Stra- Straßenverkehrs. Zwar besitzen die ßen den Bürger*innen zurück. Als Aus-
8 gleich wird ein preiswertes Bus- und Der Anteil des ÖPNV lag 2013 bei 27 Pro- Radnetz geschaffen. Vorbilder der Ver- zent – und ist damit gegenüber Anfang kehrswende finden sich auch in Deutsch- der 1990er Jahre leicht zurückgegangen. land. Freiburg gilt als Pionier alternativer In den letzten Jahren sind allerdings die Mobilität, weil in keiner anderen Stadt absoluten Fahrgastzahlen zum Teil deut- so viele Wege mit dem Rad zurückge- lich gestiegen – insbesondere bei der S- legt werden. Aber auch die Großstäd- Bahn. Im Jahr 2015 verzeichnete die BVG te verändern sich: Köln fördert eine gut ca. 1 Milliarde Fahrgäste und die S-Bahn verknüpfte Vielfalt nachhaltiger Ver- gut 400 Millionen. Fahrräder gibt es rund kehrsmittel, Bremen wird immer fahr- 850 je 1.000 Einwohner*innen. Zwei Drit- radfreundlicher und in Leipzig wohnen tel der Berliner*innen können uneinge- die meisten Menschen fußläufig zur schränkt über mindestens ein Rad ver- nächsten Bahnhaltestelle (Greenpeace fügen. Das nutzen sie zunehmend: So 2017). Auch in Berlin ist das Potenzial verdoppelte sich der Anteil der mit dem für die Verkehrswende groß. Allerdings Rad zurückgelegten Wege zwischen gibt es dort weiterhin viele Autos – und 1992 und 2013 auf 13 Prozent. Auch der starke räumliche Unterschiede. So ka- Anteil der Fußwege ist leicht auf 31 Pro- men 2016 in der Hauptstadt 326 Pkw zent gestiegen (SenUVK 2017). auf 1.000 Einwohner*innen. Damit hat Allerdings lassen sich klare Unterschie- Berlin eine im Vergleich zu anderen Or- de zwischen Innenstadt und Randbe- ten relativ niedrige Motorisierungsrate. zirken erkennen. Der Motorisierungs- Diese Zahl ist seit dem Jahr 2000 weitge- grad nimmt von innen nach außen hend konstant. Allerdings stieg die Zahl zu. Während in einigen Stadtrand- der angemeldeten Pkw proportional zum siedlungen mehr als 500 Autos auf Bevölkerungswachstum der letzten Jah- 1.000 Einwohner*innen kommen, liegt re an, sodass rund 1,2 Millionen Autos die Zahl in größeren Teilen von Nord-Neu- auf Berlins Straßen unterwegs sind – ei- kölln, Friedrichshain-Kreuzberg, Gesund- ne Steigerung um 11 Prozent gegenüber brunnen, Wedding und Moabit unter 200. 2008. Ferner wird die verhältnismäßig Trotzdem ereignen sich dort mehr Unfälle niedrige Zahl dadurch relativiert, dass als in der Peripherie. Eine größere Dichte nur 40 Prozent der Haushalte keinen Pkw des ÖPNV-Netzes, mehr Carsharing-An- haben, während 60 Prozent einen oder gebote und kürzere Arbeitswege im Zen- mehr besitzen. Zumindest nimmt der An- trum begünstigen die Wahl des Umwelt- teil der Wege, die mit dem Auto zurück- verbunds. In der inneren Stadt nutzen die gelegt werden, stetig ab und liegt nun bei Menschen nur für 17 Prozent ihrer Wege 30 Prozent. Als Alternative zum eigenen das Auto und für 18 Prozent das Rad. In Auto gewinnt Carsharing an Bedeutung: der äußeren Stadt kommt das Auto auf So nahm zwischen 2008 und 2016 die 35 Prozent der Wege, das Rad nur auf Fahrzeugzahl stationsgebundener An- 10 Prozent zum Einsatz. Auch die Steige- bieter von 260 auf 663 zu – die der sta- rungen des Radverkehrs sind vor allem tionsunabhängigen Dienstleister sogar in der Innenstadt zu beobachten, in peri- von null auf rund 3.000. pheren Stadtteilen kaum.
3 MOBILITÄTSGERECHTIGKEIT 9 Umweltbelastungen treffen vor allem är- tät» in Form nachhaltiger Verkehrsmittel mere Menschen, während sich die Wohl- als Teil öffentlicher Daseinsvorsorge be- habenden überdurchschnittlich Um- reitstellt (Schwedes 2017). weltressourcen aneignen können. Die Das gegenwärtige Verkehrssystem in Bewegung für Umweltgerechtigkeit for- Deutschland gewährleistet das jedoch dert deshalb, dass keine soziale Gruppe nicht. Vielmehr ist der Zugang zu Mobi- unter ökologischen Belastungen leiden litätsmöglichkeiten in der Gesellschaft sollte und alle Menschen den gleichen sehr ungleich verteilt. Mobilitätsarmut ist Zugang zu Umweltgütern haben müss- als eingeschränkte Chance zu verstehen, ten. Mobilität ist ein wichtiges Feld für Mobilitätsbedürfnisse zu verwirklichen. ökologische Gerechtigkeit. Aus einer Sie kann zu gesellschaftlicher Exklusi- linken Perspektive sollte Mobilitätsge- on, einer verringerten Lebensqualität rechtigkeit eine zentrale Forderung und und Benachteiligungen in anderen Le- strategische Orientierung in der Ver- bensbereichen führen. Gleichzeitig sind kehrspolitik sein. Sie kann auch ein Maß- ohnehin benachteiligte soziale Gruppen stab sein, um die Verkehrswendepolitik häufiger von Mobilitätsarmut betroffen, in der Hauptstadt Berlin zu beurteilen, die ohne dass zwischen den beiden Diskri- sich Umweltgerechtigkeit explizit auf ih- minierungsformen ein deterministischer re Agenda gesetzt hat (Sander 2019). Zusammenhang besteht (Huber 2016). Entlang der Kategorien Einkommen, be- 3.1 Mobilitätsmuster und rufliche Position, Geschlecht, Alter und Mobilitätsarmut Gesundheitszustand lassen sich klare Mobilität ist die Möglichkeit von Men- Unterschiede in den Mobilitätsmustern schen, Wege zurückzulegen, um ihren und mobilen Teilhabemöglichkeiten der Verpflichtungen und Bedürfnissen an an- Menschen erkennen.4 deren Orten nachzugehen. Sie ist damit Einkommen und berufliche Posit io entscheidend für gesellschaftliche Inklu- nen: Menschen mit hohem Einkom- sion und Teilhabe «und eine Gesellschaft men und Bildungsabschluss sind in je- ist aus diesem Blickwinkel betrachtet der Hinsicht deutlich mobiler als solche so gerecht bzw. so ungerecht, wie die- mit niedrigem Einkommen und wenig se Teilhabe garantiert oder verstellt ist» formaler Bildung. Gleiches gilt für (Voll- (Rammler/Schwedes 2018: 8). Unab- zeit-)Erwerbstätige im Vergleich zu Ar- hängig von ihren persönlichen und so- beitslosen. Die Privilegierten verlassen zialen Merkmalen müssen alle die Mög- häufiger das Haus und legen längere lichkeit haben, mobil zu sein. Wichtig ist Strecken zurück – und zwar mit allen Ver- die Erreichbarkeit von Verkehrsangebo- 4 Auch die Preisstrukturen der verschiedenen Verkehrsträ- ten und Zielorten. Weil das Auto seinen ger haben klare Implikationen für soziale Gerechtigkeit und Besitzer*innen eine flexible Mobilität er- Teilhabechancen. So kostet ein Neuwagen im Schnitt über 30.000 Euro – Tendenz klar steigend. Schon die Betriebskos- möglicht, die aber viele Nachteile für die ten eines sparsamen Kleinwagens liegen über 300 Euro im Mo- nat. Dagegen kostet ein Monatsticket für den ÖPNV im Durch- Allgemeinheit hat, plädiert Oliver Schwe- schnitt deutscher Städte «nur» knapp 80 Euro. Gleichzeitig des dafür, dass die Politik allen Men- subventioniert die deutsche Gesellschaft jedes Auto jährlich mit rund 2.000 Euro – durch Folgekosten von Unfällen, Um- schen einen «Hausanschluss für Mobili- weltbelastung und CO2 -Ausstoß (vgl. Klimaretter 2012).
10 kehrsmitteln. Sie sind am häufigsten lometer unterwegs. Erwerbstätige legten Pendler*innen und haben die längsten mit allen Verkehrsmitteln täglich 26,6 Ki- dienstlichen Wege. 5 Vor allem verfü- lometer zurück, Nicht-Erwerbstätige hin- gen sie mit höherer Wahrscheinlichkeit gegen nur 13,1 Kilometer (Ahrens 2014). über ein Auto: Während 92 Prozent der Die mittleren Einkommen derjenigen, Haushalte mit einem sehr hohen öko- die in der Regel mit dem Auto zur Arbeit nomischen Status einen Pkw besitzen, fahren, sind knapp 400 Euro höher als sind es nur 47 Prozent der mit einem die der Bus- und Bahnfahrenden (Zahlen sehr niedrigen ökonomischen Status. für 2016). Während 57 Prozent der Füh- Oft haben Erstere sogar mehrere Autos. rungskräfte mit dem Privatauto zur Arbeit Ferner besitzen sie auch häufiger eines kommen und nur 23 Prozent mit dem oder mehrere Fahrräder und sind eher ÖPNV, nutzen Angestellte in untergeord- Mitglied bei einem Carsharing-Unter- neten beruflichen Stellungen mit 45 Pro- nehmen (Nobis/Kuhnimhof 2018). Dem- zent häufiger Bus und Bahn als das Auto gegenüber sind arme Menschen in pre- (36 Prozent). Interessanterweise steigen kären Arbeits- und Lebensverhältnissen in Berlin vor allem Beschäftigte mit ho- (Geringverdiener*innen, Arbeitslose) öf- hen Einkommen für den Arbeitsweg auf ter von Mobilitätsarmut betroffen. Wer das Fahrrad (Feilbach 2018). ein geringes Einkommen und kaum Ver- Geschlechter: Der männlich dominier- mögen hat, kann bestimmte Verkehrs- te Charakter des Autos zeigt sich auch mittel nur eingeschränkt oder gar nicht in der konkreten Pkw-Nutzung durch benutzen. Sozial benachteiligte Grup- die Geschlechter. So sind Männer* häu- pen wählen für einen deutlich größeren figer außer Haus als Frauen* und legen Teil ihrer Wege den öffentlichen Verkehr am Tag durchschnittlich längere Wege als wohlhabende Gruppen (Altenburg zurück (46 im Vergleich zu 33 Kilome- u. a. 2009). So werden sie unfreiwillig zu tern). Vor allem sind sie doppelt so viele Mobilitätspionier*innen des Umweltver- Kilometer mit dem Auto unterwegs wie bunds. Zwar geben sie in absoluten Zah- Frauen* – insbesondere als Fahrer. Die len relativ wenig für Mobilität aus, aber Unterschiede gelten für alle Altersstufen. einen verhältnismäßig großen Anteil ih- Während Frauen* deutlich öfter andere res Haushaltseinkommens. Deswegen Menschen begleiten oder einkaufen, fah- können sie sich kaum an steigende Ver- ren Männer* häufiger zur Arbeit (Nobis/ kehrskosten anpassen (Schwedes/Dau- Kuhnimhof 2018; Aljets 2020). bitz 2011). In Berlin verfügen 47 Prozent der Män- Auch in Berlin besitzen Haushalte mit ei- ner* uneingeschränkt über einen Pkw, nem Nettoeinkommen zwischen 3.600 41 Prozent haben keinen Zugang. Diese und 5.600 Euro je nach Haushaltsgrö- Verfügbarkeit haben aber nur 39 Prozent ße durchschnittlich 0,92 bis 1,30 Au- der Frauen*, während 47 Prozent auf tos, während Haushalte mit einem Ein- kein Auto zurückgreifen können. Kom- kommen zwischen 500 bis 1.500 Euro plementär dazu besitzen 44 Prozent der nur 0,33 bis 0,58 Pkw haben (Zahlen für 5 Beides, gesellschaftlich erfolgreich und viel unterwegs zu 2012). Fuhren Erstere im Schnitt knapp sein, hängt also in der deutschen Gesellschaft eng zusammen. 20.000 Kilometer pro Jahr mit dem Au- Es ließe sich aber auch fragen, ob es nicht ein Ausdruck von Lebensqualität ist, am Tag nur begrenzte Strecken bzw. Zeiten to, waren Zweitere nur knapp 10.000 Ki- unterwegs sein zu müssen.
Frauen*, aber nur 40 Prozent der Män- men auch bis in mittlere Altersstufen in 11 ner* eine Zeitkarte für den öffentlichen Anspruch genommen werden. So nut- Verkehr (Ahrens 2014). Dementspre- zen 13,6 Prozent der 25- bis 45-jährigen chend nutzt ein größerer Teil der Berline- Berliner*innen geteilte Autos, während rinnen als der Berliner den ÖPNV: Weib- das weniger als ein Prozent der über liche Erwerbstätige fahren zum Beispiel 65-jährigen Hauptstädter*innen tun (Ah- eher mit den Öffentlichen (48 Prozent) rens 2014). Der BerlKönig, ein urbanes als mit dem Auto (32 Prozent) zur Arbeit. Sammeltaxi-Projekt der Berliner Ver- Männliche Beschäftigte bevorzugen da- kehrsbetriebe (BVG), wurde ebenfalls gegen den Pkw (45 Prozent) gegenüber überwiegend von jungen, gut ausgebil- dem ÖPNV (37 Prozent). Mit dem Fahr- deten Innenstädter*innen genutzt, hat- rad und zu Fuß kommen die Geschlech- te aber Schwierigkeiten, darüber hinaus ter etwa gleich häufig zur Arbeitsstelle. weitere Nutzergruppen zu erreichen. In Diese Phänomene lassen sich in allen der mittleren Altersgruppe von 30 bis Einkommensstufen finden (Feilbach 60 Jahren legen die Deutschen über die 2018). Hälfte ihrer Wege mit dem Auto zurück. Alter und Gesundheit: Sowohl jüngere Von den über 40-Jährigen fahren nur als auch ältere Menschen legen im Ver- noch rund 10 Prozent vor allem mit dem gleich zur mittleren Generation weniger Rad und nutzen den ÖPNV, dann aber und kürzere Strecken zurück. Kinder un- deutlich längere Strecken als die Jungen ter 10 Jahren fahren besonders viel Rad, (Nobis/Kuhnimhof 2018). Von den 30- allerdings radeln sie keine langen Stre- bis 40-jährigen Berliner*innen steigen cken. Junge Menschen bis zum Alter von noch 16 Prozent für ihren Arbeitsweg 30 Jahren bewegen sich noch multimo- auf das Rad. Diese Tendenz ist in allen dal. Das heißt, sie benutzen verschiede- Altersgruppen steigend. 45 Prozent neh- ne Verkehrsmittel. Viele von ihnen (21 men Bus und Bahn, aber nur ein Drittel bis 26 Prozent) nutzen eine Kombina nimmt das Auto. Von den über 40-jähri- tion aus Fahrrad und öffentlichem Ver- gen Hauptstädter*innen wählen dann kehr, aber nur ein verhältnismäßig kleiner nur noch 35 Prozent die Öffentlichen Teil den motorisierten Individualverkehr (unter Männern* ab 50 sogar nur 27 Pro- (Nobis/Kuhnimhof 2018). In Berlin legen zent). Mit zunehmendem Alter gewinnt rund 60 Prozent der Erwerbstätigen un- das Auto an Gewicht (Feilbach 2018). Ab ter 30 Jahren (Frauen* sogar 64 Prozent) einem Alter von 60 Jahren (insbesonde- ihren Arbeitsweg mit dem ÖPNV zurück re ab dem Ruhestand) nutzen die Deut- und nur 21 Prozent mit dem Privatauto schen wieder für weniger Wege das Au- (Feilbach 2018). Die Gruppe der jungen Erwachsenen in 6 Die neuen Trends korrelieren damit, dass sich in der jun- Deutschland greift auch von allen am gen, urbanen Generation der «Millenials» die Bedürfnisse und Ansprüche an Mobilität verändern. Für sie verliert das häufigsten auf digitale Mobilitätsdienst- Auto zunehmend seine Rolle als Statussymbol, die nun eher neue Technologien oder Rennräder übernehmen. Die neuen leistungen, Leih- bzw. Mietfahrräder und Großstädter*innen machen später ihren Führerschein, besitzen Carsharing-Angebote zurück (Nobis/ immer seltener einen eigenen Pkw und nutzen multimodal ver- schiedene Verkehrsmittel (Daum 2018; Canzler/Knie 2018). Da- Kuhnimhof 2018).6 Dieses Phänomen ist rin drückt sich auch eine politisch-kulturelle Polarisierung und auch für die Hauptstadt dokumentiert, Ausdifferenzierung von Milieus aus: Die einen nutzen Fahrrad, ÖPNV und Smartphone für ihre Mobilität, die anderen kaufen wobei dort die modernen Mobilitätsfor- sich einen SUV (Haas 2018a).
12 to. Sie laufen viel mehr zu Fuß. Die über den Menschen schwer, vom Auto umzu- 80-Jährigen legen ein Drittel ihrer Wege steigen (Schwedes/Daubitz 2011). Alle auf diese Weise zurück und fahren antei- Haushalte müssten über eine fußläufige lig auch wieder mehr Fahrrad und nutzen Anbindung an den ÖPNV oder Leihsys- den ÖPNV. Interessanterweise nutzen teme (Rad, Auto etc.) verfügen. Bus und vor allem Senior*innen das moderne Ver- Bahn sollten einen dichten Takt und eine kehrsmittel der Elektrofahrräder (Nobis/ gute Qualität haben und in ein engma- Kuhnimhof 2018). schiges Netz eingebunden sein. Dieser Ältere Menschen gehören überdurch- nachhaltige Hausanschluss ist jedoch schnittlich oft zu den 7 Prozent der Ge- gerade in vielen peripheren und ländli- samtbevölkerung, die aufgrund gesund- chen Räumen nicht gegeben, wo er am heitlicher Beeinträchtigungen auch in meisten benötigt wird. Die Folge sind ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Sie Mobilitätsarmut und Exklusion (Ramm- bewegen sich seltener fort als gesun- ler/Schwedes 2018). Ungenügende oder de Gleichaltrige, legen nur kürzere We- fehlende ÖPNV-Angebote zwingen die ge zurück und sind – je nach der Form Haushalte regelrecht in die Abhängigkeit ihrer Einschränkung – von der Nutzung vom Auto. Die Menschen in diesen Re- bestimmter Verkehrsmittel ganz ausge- gionen stehen dann vor dem Dilemma, schlossen. Über 1,5 Millionen Menschen entweder ohne Pkw kaum noch mobil zu leben aus gesundheitlichen Gründen in sein oder die hohen Kosten für einen Pkw Haushalten ohne Pkw. Das trifft auf die zu tragen. Besonders betroffen sind ein- Hälfte der über 80-Jährigen zu, die kein kommensarme Haushalte, die aber auf Auto haben.7 Oft ist der ÖPNV die letz- ein hohes Maß an Mobilität angewiesen te Mobilitätsoption für sie, wenn ihnen sind (Altenburg u. a. 2009). nicht bauliche Hindernisse oder fehlende Insgesamt legen die Landbewohner*in Informationssysteme den Zugang ver- nen im Schnitt deutlich längere Wege zu- wehren.8 Deswegen müssen Verkehrs- rück als die Städter*innen. In diesem Fall angebote niedrigschwellig und barrie- korreliert das höhere Verkehrsaufkom- refrei gestaltet werden (Altenburg u. a. men aber nicht mit einer gesellschaft- 2009; Schwedes/Daubitz 2011). lichen Privilegierung. Über zwei Drittel Räumliche und Infrastrukturen: Neben der Wege werden auf dem Land mit dem individuellen Faktoren beeinflussen auch Auto zurückgelegt. Während 90 Prozent die Qualität der Verkehrssysteme und die der Haushalte in ländlichen Regionen räumliche Siedlungsstruktur die Mög- ein Auto besitzen, sind es in Großstäd- lichkeit der Menschen, mobil zu sein. ten 58 Prozent. 9 Die Metropolenbewoh Kompakte, funktionsgemischte urba- ne Räume wie Berlin bieten bessere Be- 7 Haben Menschen gesundheitliche Probleme, können aber dingungen für den ÖPNV und nicht mo- ihr Auto weiterhin nutzen, kann ihnen das allerdings helfen, mobil zu bleiben. Diese Gruppe ist mobiler als die gesundheit- torisierten Verkehr und machen es den lich beeinträchtigten Menschen ohne Pkw. 8 Informationen nur in deutscher Sprache schließen Menschen ohne entspre- Bewohner*innen leichter, diese Formen chende Sprachkenntnisse aus. Komplexe Systeme sind Zu- zu nutzen. Zersiedelte, funktional ent- gangsschranken für Verkehrsteilnehmer*innen ohne hohes Bildungsniveau. 9 Interessanterweise haben Ostdeutsche mischte und periphere Räume haben seltener einen Pkw. In den neuen Bundesländern liegt der Mo- keine guten Ausgangsvoraussetzungen torisierungsgrad rund 10 Prozent unter dem der alten Länder. Das wird mit dem durchschnittlich höheren Alter, dem niedri- für den Umweltverbund und machen es geren Einkommen und der größeren Arbeitslosigkeit erklärt.
ner*innen nutzen verschiedene Ver- am Stadtrand. Schwerpunkte sozial-öko- 13 kehrsmittel. Sie bestreiten 62 Prozent logischer Belastungen sind Nord-Neu- der Wege und einen relativ großen Anteil kölln, Gesundbrunnen, Wedding, Teile ihrer täglichen Kilometer mit dem Um- von Reinickendorf sowie die nördlichen weltverbund. Ein gutes Drittel von ihnen Kieze von Friedrichshain-Kreuzberg. Die verfügt über eine Zeitkarte für den ÖPNV. peripheren Belastungs-Hotspots liegen Wer in Großstädten kein eigenes Auto im Zentrum von Spandau und im Falken- hat, legt stattdessen ähnliche Distanzen hagener Feld, im Märkischen Viertel so- mit Bus und Bahn zurück. Die Autolosen wie in Hohenschönhausen, Marzahn und auf dem Land sind dagegen weitgehend Hellersdorf (Sander 2019). Die Umwelt immobil. Sie bewegen sich nur wenige ungerechtigkeit zeigt sich in mehreren Kilometer am Tag. Auch neue Mobilitäts- Problembereichen. dienstleistungen wie digitale Services Luftschafstoffe: Autos sind für einen und geteilte Autos sind weitgehend urba- bedeutenden Teil der Stickoxid- und ne Phänomene. So leben 85 Prozent der Feinstaubemissionen in Deutschland Carsharing-Mitglieder in Großstädten. In verantwortlich. Darunter leiden vor al- ländlichen Gegenden verfügen dagegen lem Menschen aus sozial schwächeren schon bis zu 10 Prozent der Haushalte und bildungsfernen Haushalten, die öfter über ein Elektrofahrrad. Damit sind die an viel befahrenen Straßen wohnen. So Pedelecs – anders als die anderen neuen sind Kinder umso weniger Schadstoffen Mobilitätsformen – kein urbaner Trend, ausgesetzt, je höher der Bildungsgrad sondern eine nachhaltige Mobilitäts ihrer Eltern ist (Bolte u. a. 2004). «Auf option für Rentner*innen auf dem Land dem Weg zur Arbeit sind es die SUVs (Nobis/Kuhnimhof 2018). der Reichen, die sich durch die Quartie- re der Abgehängten schieben, die dann 3.2 Umweltungerechtigkeit: deren Emissionen einatmen.» (Ramm- Die Opfer der Autogesellschaft ler/Schwedes 2018: 11) In Berlin ist die Doch nicht nur die Mobilitätschancen Stickoxidbelastung an den Hauptstra- sind in Deutschland sozial ungleich ver- ßen seit Ende der 1990er Jahre nur ge- teilt. Die Menschen sind auch unter- ringfügig gesunken und überschreitet schiedlich von den negativen Auswir- immer noch regelmäßig die Grenzwerte. kungen vor allem des Autoverkehrs Die Feinstaubemissionen sind dagegen betroffen. Die «Hypermobilität» der Pri- deutlicher zurückgegangen (SenUVK vilegierten beeinträchtigt Lebensqualität 2017). 90 Prozent der Berliner Quartie- und Gesundheit der sozial benachteilig- re mit großen sozialen Problemen leiden ten Gruppen (Rammler/Schwedes 2018). unter einer mittleren bis hohen Luftbe- Insbesondere in sozial abgehängten lastung – vor allem im ehemaligen West- Quartieren in Großstädten konzentrieren Berlin. sich die Nachteile des dominanten Ver- Lärm: Arme Menschen sind in Deutsch- kehrssystems Auto. In Berlin verdichten land auch deutlich häufiger durch den sich soziale Probleme und Belastungen Lärm von Autos und Lkw betroffen. Ein durch den (Auto-)Verkehr in marginali- Drittel der Beschäftigten in unteren be- sierten Quartieren innerhalb des S-Bahn- ruflichen Positionen lebt an lauten Haupt- Rings sowie in einigen Großsiedlungen und Durchgangsstraßen. Das trifft aber
14 nur auf rund ein Sechstel der Menschen ter den hitzebedingten Gesundheitsge- in den höchsten beruflichen Stellungen fahren (wie Herz-Kreislauf-Krankheiten) zu (Hoffmann u. a. 2003). In der Haupt- leiden, aber gleichzeitig schlechtere An- stadt litten 2017 im Tagesmittel rund passungsmöglichkeiten haben (Blättner 110.000 Menschen unter hohem Lärm u. a. 2011). Besonders betroffen sind ei- durch den Straßenverkehr. Aber «nur» nige Großsiedlungen in der Berliner Pe- gut 5.500 Menschen waren durch die ripherie sowie die armen Viertel in der Lärmkulisse von Eisenbahn, S-Bahn, U- Innenstadt wie Wedding oder Nord-Neu- Bahn und Tram belastet (SenUVK 2017). kölln. Der Klimawandel verschärft das Sowohl Bewohner*innen armer Quar- Problem. Urbane Hitzewellen werden in tiere innerhalb des S-Bahn-Rings als Zukunft vor allem Todesopfer unter den auch Hartz-IV-Empfänger*innen und sozial schwachen Berliner*innen fordern. Migrant*innen sind jeweils doppelt so oft Mangel an Grünflächen: Urbane Grün- von hohen Lärmbelästigungen betroffen räume können Luftbelastung, Lärm wie soziale Vergleichsgruppen. und Hitze abmildern. Können Men- Verkehrsunfälle: Kinder aus sozi- schen Parks oder Gewässer in der Nähe al schwachen Haushalten leben in besuchen, können sie dadurch nach- Deutschland eher in Quartieren mit ho- weislich ihre Gesundheit und ihr Wohl- hem Autoverkehrsaufkommen. Ihre Be- befinden verbessern. Doch gerade wegungsräume und Wege sind häufi- die ohnehin stärker belasteten, ärme- ger von Straßen zerschnitten und von ren Menschen wohnen oft in Quartie- fahrenden Autos gefährdet als die Nah- ren mit wenig naturnahen Räumen und räume von Kindern aus privilegierten können aufgrund ihrer Mobilitätsarmut Verhältnissen. In Berlin kommt es jedes schwieriger weiter entfernte Naturräu- Jahr zu knapp 15.000 Verkehrsunfällen, me erreichen (Jumpertz 2012). Rund bei denen Menschen zu Schaden kom- 270.000 Berliner*innen leben in Kiezen, men. Rund 60 Prozent der Verkehrsto- die gleichzeitig durch Armut und eine ten waren 2015 Fußgänger*innen und schlechte Grünversorgung gekennzeich- Radfahrer*innen. Seit 1996 ging die net sind – zum Beispiel Wedding, Ge- Zahl der getöteten Personen zwar bin- sundbrunnen und Nord-Neukölln. nen 20 Jahren bei fast allen Verkehrs- Privatisierung des öffentlichen mitteln zurück, bei den Fahrrad- und Raums: Eine wesentliche Ursache von Motorradfahrer*innen blieb sie aller- Hitzeinseln wie von fehlenden Grünflä- dings weitgehend konstant. Die Zahl der chen ist die Betonierung des öffentli- schwerverletzten Radfahrenden stieg chen Raums – insbesondere für das Au- sogar deutlich. Nur ÖPNV-Nutzer*innen to. Straßenräume werden weitgehend verunglücken fast nie (SenUVK 2017). von unentgeltlich parkenden Privatautos Hitze: Bei sommerlichen Hitzewellen dominiert. Damit wird eine urbane All- heizen sich eng bebaute Quartiere mit mende faktisch privatisiert. 92 Prozent einer starken Flächenversiegelung tags- der öffentlichen Flächen, die dem ruhen- über besonders stark auf und kühlen den Verkehr zur Verfügung stehen, wer- nachts weniger ab. In diesen Vierteln den von Pkw beansprucht. Für alle an- wohnen überdurchschnittlich häufig är- deren Verkehrsmittel bleiben 8 Prozent. mere Menschen, die deshalb stärker un- Die privaten Fahrzeuge stehen im Durch-
schnitt jeden Tag über 23 Stunden her- tätsangeboten sind von Bedeutung für 15 um und müssten insofern treffender als die Frage, welche Personengruppen wel- «Stehzeuge» bezeichnet werden. Im flie- che Verkehrsmittel unter welchen Bedin- ßenden Verkehr nutzen die Autos eben- gungen nutzen oder meiden. Das hat viel falls einen Großteil des Straßenraums für mit alltäglichen Routinen und Gewohn- sich, vor allem bei hohen Geschwindig- heiten zu tun (Altenburg u. a. 2009).10 Je keiten. häufiger die einzelnen Menschen ein be- Der politisch-juristische Rahmen und das stimmtes Verkehrsmittel nutzen und da- konkrete Verwaltungshandeln sichern mit ihre Mobilitätsbedürfnisse befriedi- diese Alltagspraxis ab und machen auch gen, umso besser bewerten sie es – und das massenhafte Falschparken zu einem umgekehrt. Eine große Mehrheit der Kavaliersdelikt. Die sozial ohnehin privi- Autofahrer*innen schätzt die Verkehrssi- legierten Pkw-Besitzer*innen eignen sich tuation für den Pkw gut bis sehr gut ein. den öffentlichen Raum an. Darunter lei- Hohe Fixkosten kombiniert mit einer ho- den insbesondere sozial benachteilig- hen Nutzungsflexibilität motivieren die te Anwohner*innen, die in besonderem Besitzer*innen zum häufigen Fahren. Maße ihre unmittelbare Wohnumge- Nur ein Drittel der Bundesbürger*innen bung als Lebensraum nutzen (würden) fährt dagegen gern mit den Öffentli- und selbst oft über kein eigenes «Steh- chen. Insbesondere auf dem Land sind zeug» verfügen (Rammler/Schwedes die Menschen unzufrieden mit der Ange- 2018; Notz 2017). In Berlin beansprucht botsqualität und auch die regelmäßigen das Auto beispielsweise von der ge- Nutzer*innen schätzen den ÖPNV kaum. samten städtischen Verkehrsfläche al- Ganz anders in den Großstädten: Dort lein 40 Prozent zum Fahren und weitere sind gut zwei Drittel der Bürger*innen 20 Prozent zum Parken (Strößenreuther/ zufrieden mit den Öffentlichen, unter Agentur für clevere Städte 2014). den häufigen Nutzer*innen sogar rund Extraktivismus und Klimawandel: 80 Prozent. Fahrradfahren und Zufußge- Nicht zuletzt sind Autos auch ein Pro- hen sind insgesamt beliebt. Wer im Alltag blem für die globale Umwelt- und Kli- positive Nutzungserfahrungen mit dem magerechtigkeit. Für die Automobile der Umweltverbund macht, ist eher bereit, wohlhabenden Deutschen werden vor vom Auto umzusteigen (MID). Damit die allem in Ländern des Globalen Südens Betroffenen von Verkehrswendepolitiken unter ökologisch verheerenden Bedin- diese nicht nur erdulden, sondern sie po- gungen Roh- und Treibstoffe gewonnen, sitiv empfinden oder sich sogar aktiv be- deren Verbrennung außerdem die Klima- teiligen, ist es wichtig, die Voraussetzun- krise befeuert. Darunter leiden überwie- gen für Akzeptanz zu verstehen und zu gend marginalisierte Bevölkerungsgrup- berücksichtigen. Menschen akzeptieren pen in den ärmeren Ländern (Misereor dann Veränderungen der Mobilitätsan- u. a. 2018). gebote, wenn sie nicht das Gefühl haben, Bewusstsein und Handeln 10 Auch Vertrauen, Unsicherheiten und Ängste spielen eine wichtige Rolle beim Mobilitätsverhalten. Wer sich zum Beispiel Auch die subjektiven (positiven wie ne- an bestimmten Zustiegspunkten (Haltestellen, Bahnhöfe) und gativen) Erfahrungen, Wertvorstellun- mit einzelnen Verkehrsmitteln nicht sicher fühlt, meidet sie. Das trifft insbesondere auf Frauen* und ältere Menschen zu. gen und Wahrnehmungen von Mobili- Deswegen müssen Verkehrsmittel sicher und attraktiv sein.
16 die Souveränität über ihre Lebenswelt motoren ab. Nur rund 25 bis 35 Prozent und -gewohnheiten würde beeinträch- wünschen sich autofreie Innenstädte. tigt; wenn sie den Eindruck haben, dass Mehr Tempo 30 wollen nur 41 Prozent, eine Maßnahme in ihrem Viertel passt höhere Parkgebühren 20 Prozent. Ei- und dessen Lebensqualität erhöht; wenn nerseits kann sich etwa die Hälfte der in ihrer Wahrnehmung die Vorteile ge- Autofahrer*innen vorstellen, auf ein an- genüber den Gefahren für ihre Nachbar- deres Verkehrsmittel umzusteigen. Nicht schaft überwiegen und wenn sie sowohl wenige Menschen würden gern weni- die Ziele als auch die Mittel einer Verän- ger Auto fahren und mehr zu Fuß oder derung als gesellschaftlich sinnvoll ein- mit dem Rad unterwegs sein. Anderer- schätzen. Außerdem ist für die Zustim- seits glauben viele, für Lohn- oder private mung zu einzelnen Politiken zentral, dass Sorgearbeit auf das Auto angewiesen zu die Menschen Nutzen und Belastungen sein, und halten Alternativen für teurer, als gerecht verteilt wahrnehmen – für zeitintensiver und unbequemer. So mei- sich selbst und für die Gesellschaft. Dafür nen drei Viertel der Autonutzer*innen, ist die passende Kommunikation wichtig. grundsätzlich nicht auf das eigene Fahr- Entscheidend sind aber die reale Beteili- zeug verzichten zu können (Andor u. a. gung der Anwohner*innen und die prak- 2019; UBA 2017; Acatech 2019). tische Ausgestaltung der Maßnahmen (Becker/Renn 2019). 3.3 Arbeitsbedingungen Mehrere Umfragen zeigen, dass eine Nicht zuletzt müssen auch die Arbeitsbe- große Mehrheit der Bevölkerung die Pro- dingungen in der heterogenen Verkehrs- bleme des aktuellen Verkehrssystems branche in den Blick genommen werden. sieht, dessen Veränderung begrüßt und So zahlt die BVG – nach der Deutschen prinzipiell auch bereit ist, ihr eigenes Mo- Bahn das größte Verkehrsunternehmen bilitätsverhalten zu ändern. Allerdings in Berlin – zwar recht gute Löhne und ver- sinkt die Zustimmung, wenn es zu kon- fügt über stabile Mitbestimmungsstruk- kreten Maßnahmen kommt, die als ein- turen. Doch die Arbeitsbedingungen sind schränkend für die eigene Alltagsmobi- hart, insbesondere im Schichtdienst. Das lität erlebt werden – insbesondere unter führt zu einem hohen Krankenstand und den Autofahrer*innen. Grundsätzlich er- einer starken personellen Fluktuation. warten 91 Prozent eine höhere Lebens- In den letzten Jahrzehnten hat das Land qualität in einer weniger autozentrierten außerdem bei der BVG massiv Personal Gesellschaft und 79 Prozent wünschen abgebaut und einzelne Linien an unter- sich den Ausbau von Alternativen in der tariflich bezahlte Tochterunternehmen eigenen Kommune. So plädieren jeweils ausgegliedert. Das wurde erst in den letz- deutliche Mehrheiten für die Instandhal- ten Jahren sukzessive rückgängig ge- tung und Erweiterung der Fahrradwege macht. Ver.di setzt sich dafür ein, dass und eines preiswerten ÖPNV. Die Ver- die Kolleg*innen in der Mobilitätswende kehrsmittel des Umweltverbunds sollen mitgenommen werden, indem der Senat eigene Spuren bekommen, auch wenn ihre belastenden Arbeitsbedingungen dadurch Platz für das Auto wegfällt. Die verbessert und die geplanten Projekte meisten Befragten lehnen jedoch ge- mit ausreichend Personal und Geld un- nerelle Fahrverbote für Verbrennungs- terlegt.
3.4 Zwischenfazit: Wie gerecht eignet, mobile Teilhabe zu ermöglichen. 17 ist die autogerechte Stadt? Das Auto ist demgegenüber grundsätz- Mobilitätsgerechtigkeit hat drei Dimen- lich ein ungerechtes Verkehrsmittel. Aus sionen, die eng miteinander verknüpft einer relationalen Gerechtigkeitsper- sind: Menschen können abhängig von spektive ist zu kritisieren, dass die so- ihren sozialstrukturellen Merkmalen wie zial insgesamt privilegierte Teilgruppe Einkommen, berufliche Position, Ge- der Autobesitzer*innen allen Menschen schlecht und Alter sehr unterschied- und dabei insbesondere den überdurch- lich an Mobilitätsformen partizipieren schnittlich ohnehin unterprivilegierten und sind gleichzeitig sehr unterschied- Gruppen die negativen Folgen ihrer Mo- lich von den negativen Auswirkungen bilität zumutet. Prinzipiell ist es nicht zu des Verkehrssystems betroffen. Auch rechtfertigen, dass gesellschaftliche Mo- räumlich sind ohnehin marginalisierte bilität zu einem bedeutenden Teil auf ei- Stadtviertel eher von Mobilitätsangebo- nem Verkehrsmittel basiert, das viele ten ausgeschlossen und stärker durch Menschen systematisch in ihrer Lebens- die Folgewirkungen des Verkehrs be- qualität beeinträchtigt, sie krank macht, lastet. Schließlich sind Bus und Bahn, verletzt oder tötet. Der Umweltverbund Rad- und Fußverkehr auf einer tech- ist also sowohl ökologisch nachhaltiger nisch-strukturellen Ebene besonders ge- als auch sozial gerechter als das Auto. 4 DAS BERLINER MOBILITÄTSGESETZ 4.1 Geschichte der Berliner den sollte ein dichtes Netz von Autobah- Verkehrspolitik nen und -kreuzen, bestehend aus Auto- In der Gründerzeit und den ersten Jahr- bahnring und Tangenten, die Innenstadt zehnten des 20. Jahrhunderts wurde in durchziehen. Praktisch wurde die ganze Berlin ein umfassendes ÖPNV-System Stadt auf den Autoverkehr ausgerich- aus Tram-, S-Bahn-, U-Bahn- und Busver- tet. In West-Berlin wurden die Straßen- bindungen aufgebaut, das über mehrere bahnen vollständig abgebaut und die S- Dekaden ein Großteil der Berliner*innen Bahn vernachlässigt. Der verbleibende als zentrales Verkehrsmittel benutzte. ÖPNV konzentrierte sich auf U-Bahn und Der Rest fuhr Fahrrad, ging zu Fuß oder Bus, während in Ost-Berlin S-Bahn und nutzte das Pferd. Nach dem Zweiten Tram prägend blieben. Der einst verbrei- Weltkrieg trieben Politik und Stadtpla- tete urbane Radverkehr erreichte Anfang nung (in West wie Ost) jedoch den An- der 1970er Jahre einen historischen Tief- satz von Flächensanierung und autoge- punkt. rechter Stadt voran – konzeptionell und Auf dem Höhepunkt der autogerechten ideologisch vor allem durch die Inter- Stadt begannen sich allerdings Grup- nationale Bauausstellung (IBA) 1957 in pen der neuen städtischen Bewegungen West-Berlin vorbereitet. Altbauten soll- wie die Bürgerinitiative Westtangente, ten systematisch abgerissen und durch gegen Kahlschlagsanierung und Auto- Neubau ersetzt werden. Damit verbun- wahnsinn zu wehren. Mithilfe vielfältiger
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