Auflage - Heinrich-Böll-Stiftung
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IMPRESSUM Der PLASTIKATLAS 2019 ist ein Kooperationsprojekt von Heinrich-Böll-Stiftung sowie Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) Inhaltliche Verantwortung: Lili Fuhr, Heinrich-Böll-Stiftung (Gesamtleitung) Dr. Rolf Buschmann und Judith Freund, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) Projektleitung: Kai Schächtele Art-Direktion und Infografiken: Janine Sack, Sabine Hecher, Lena Appenzeller Projektmanagement: Kristin Funke, Annette Kraus Textchefin: Elisabeth Schmidt-Landenberger Dokumentation: Alice Boit Übersetzungen: Annette Bus, Julia Rickers Mit Originalbeiträgen von: Claire Arkin, Alexandra Caterbow, Christine Chemnitz, Camille Duran, Steven Feit, Manuel Fernandez, Chris Flood, Lili Fuhr, Elisabeth Grimberg, Stephan Gürtler, Lea Guerrero, Johanna Hausmann, Von Hernandez, Ulrike Kallee, Christie Keith, Doris Knoblauch, Christoph Lauwigi, Linda Mederake, Doun Moun, Carroll Muffett, Jane Patton, Christian Rehmer, Kai Schächtele, Dorothea Seeger, Olga Speranskaya, Esra Tat, Nadja Ziebarth Redaktionelle Mitarbeit: Michael Bukowski, Paul Mundy, Heribert Wefers Die Beiträge geben nicht notwendig die Ansicht aller beteiligten Partnerorganisationen wieder. V. i. S. d. P.: Annette Maennel, Heinrich-Böll-Stiftung 4. Auflage, Februar 2020 ISBN 978-3-86928-200-8 Produktionsplanung: Elke Paul, Heinrich-Böll-Stiftung Druck: Druckhaus Kaufmann, Lahr Klimaneutral gedruckt auf 100 % Recyclingpapier. Dieses Werk mit Ausnahme des Coverfotos steht unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – 4.0 international“ (CC BY 4.0). Der Text der Lizenz ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/legalcode abrufbar. Eine Zusammenfassung (kein Ersatz) ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de nachzulesen. Sie können die einzelnen Infografiken dieses Atlas für eigene Zwecke nutzen, wenn der Urhebernachweis PLASTIKATLAS | Appenzeller/Hecher/Sack CC-BY-4.0 in der Nähe der Grafik steht (bei Bearbeitungen: PLASTIKATLAS | Appenzeller/Hecher/Sack (M) CC-BY-4.0). Cover-Copyright: Foto: ©Nora Bibel ©Montage: Annelie Saroglou unter Verwendung einer Darstellung von Wetzkaz/Adobe Stock BESTELL- UND DOWNLOAD-ADRESSEN Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstraße 8, 10117 Berlin, www.boell.de/plastikatlas Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V., Kaiserin-Augusta-Allee 5, 10553 Berlin, www.bund.net, www.bund.net/plastikatlas
PLASTIKATLAS Daten und Fakten über eine Welt voller Kunststoff 4. Auflage 2020
INHALT 02 IMPRESSUM 18 GENDER UNGLEICH VERTEILTE RISIKEN 06 VORWORT Von Kunststoffen sind Frauen stärker betroffen als Männer. Dahinter stecken unter anderen biologische Unterschiede: Ihre Körper reagieren anders auf Giftstoffe, sie verwenden belastete Hygieneprodukte. Doch es gibt Alternativen. 20 ERNÄHRUNG EIN UNAPPETITLICHER KREISLAUF Einer der größten Abnehmer von Kunststoffen ist die Lebensmittelindustrie. Ihre Produkte sollen schön verpackt sein und jedes Bedürfnis befriedigen. Der Preis: Das Plastik landet auch auf Äckern und damit in der Nahrungskette. 08 ZWÖLF KURZE LEKTIONEN ÜBER PLASTIK UND DIE WELT 22 KLEIDUNG MEHR VERANTWORTUNG TRAGEN 10 GESCHICHTE Textilien aus synthetischen Fasern haben auf den DURCHBRUCH MIT DREI BUCHSTABEN ersten Blick viele Vorzüge: Sie sind günstig, Die ersten Kunststoffe imitierten Elfenbein trocknen schnell und passen sich dem Körper an. und Seide und besetzten zunächst nur Doch sie sind zu Wegwerfartikeln geworden eine Marktnische. Der Boom begann erst und tragen so erheblich zum Klimawandel bei. nach dem Zweiten Weltkrieg mit PVC. Und nicht zuletzt gefährden sie die Gesundheit. Danach eroberte billiger Kunststoff die Welt. 24 TOURISMUS 12 WEGWERFMENTALITÄT GIBT ES NOCH HOFFNUNG MÜLL FÜR DIE WELT FÜR DAS URLAUBSPARADIES? Noch in den Fünzigern verwendeten Menschen Viele Reiseziele sind zu Sinnbildern der Plastik Plastik mit so viel Sorgfalt wie Glas oder Seide. krise geworden. Die Entsorgung von Abfall Dann entdeckten die Konsumgüterkonzerne die funktioniert nicht. Achtlosigkeit kommt hinzu. Vorzüge des Materials. Und es entwickelte sich Mit den Folgen stehen die Einheimischen ein Lebensstil, der unentwegt Abfall produziert. weitgehend allein da. 14 NUTZUNG 26 KLIMAWANDEL FLUCH UND SEGEN PLASTIK HEIZT DAS KLIMA AN Kunststoffe sind unverzichtbar geworden. Kunststoffe gelten als umweltschonende Sie stecken in Plastiktüten, Smartphones und Alternative zu anderen Materialien – unter Armaturenbrettern. Doch beinahe die Hälfte anderem wegen ihres geringen Gewichts. aller Produkte ist nach weniger als einem Monat Dabei trägt der Plastik-Boom erheblich zum Abfall. Nur ein Bruchteil landet im Recycling. Anstieg gefährlicher Treibhausgase bei. 16 GESUNDHEIT 28 PLASTIK IM WASSER CHEMIE IM KÖRPER KUNSTSTOFF KENNT KEINE GRENZEN Die Auswirkungen der aus den Fugen geratenen Die Plastikkrise hat dramatische Auswirkungen Plastikproduktion auf die Umwelt sind bekannt auf Gewässer und marine Lebewesen. Einmal im und unübersehbar. Verborgen bleiben die Wasser angekommen, verteilt sich das Plastik gesundheitlichen Folgen für den Menschen – über die Welt. Dort verheddern sich dann Tiere von der Rohstoffgewinnung bis zur Entsorgung. darin – oder sie halten das Material für Nahrung. 4 PLASTIKATLAS 2019
30 KONZERNE 42 REGULIERUNG DIE AKTIVITÄTEN DER PLASTIK-LOBBY LÖSUNGEN AM FALSCHEN ENDE Mit gut organisiertem Lobbydruck sorgt die Es gibt keinen Mangel an Abkommen und Plastikindustrie dafür, dass die wachsende Initiativen, die Plastikkrise einzudämmen. Doch Produktion von Kunststoffen als Problem aus beinahe alle behandeln allein die Entsorgung, dem Blick gerät. Sie lenkt die Aufmerksamkeit sind nicht aufeinander abgestimmt und auf das Abfallmanagement und Recycling entlassen die Hersteller aus der Verantwortung. und drückt sich so vor der Verantwortung. 44 ZIVILGESELLSCHAFT 32 WOHLSTAND WIE DIE ANTI-PLASTIK-BEWEGUNG DAS PRODUKT DES WELTHANDELS GEGEN DIE INDUSTRIE VORGEHT Das Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit Ein globales zivilgesellschaftliches Bündnis wäre ohne Plastik nicht möglich gewesen. namens „Break Free From Plastic“ versucht, Kunststoffe sind Ergebnis wie Antriebskraft einer die Vermüllung der Welt zu stoppen. Ära der Globalisierung, die mit dem Online- Mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen und Shopping weitere Müllberge produziert. Aufklärung setzt es Konzerne unter Druck. 34 „BIO“-PLASTIK 46 ZERO-WASTE MAIS STATT ÖL IST KEINE LÖSUNG ES GEHT AUCH OHNE! Kunststoffe aus nachwachsenden Rohstoffen Kunststoffe zu recyceln – das allein wird die haben den Ruf, umweltverträglich zu sein. Plastikkrise nicht lösen. Gefragt sind Ideen, die Außerdem bauen sie sich schneller ab. So das das Problem an der Wurzel anpacken. Eine Versprechen der Industrie. Ein genauerer Blick wachsende Bewegung zeigt, wie es geht – und zeigt: Die Materialien schaffen neue Probleme. mutige Städte und Kommunen gehen voran. 36 ABFALLENTSORGUNG HINTER DEN KULISSEN DER UNGELÖSTEN PLASTIKKRISE Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube: Solange der täglich anfallende Müll nur sauber getrennt wird, muss sich am Konsumverhalten nichts verändern. Die Wahrheit ist: Ein Großteil des Plastikmülls landet in Öfen oder in der Umwelt. 38 MÜLLEXPORTE DIE MÜLLHALDE HAT GESCHLOSSEN Was tun mit Plastikabfall, der nicht recycelt oder entsorgt werden kann? Ganz einfach:wo anders hinschicken. Bis vor kurzem wurde der Großteil schlecht verwertbarer Kunststoffe nach China verschifft. Doch damit ist es jetzt vorbei. 40 SAMMELN UND VERKAUFEN EIN LEBEN VON UND MIT MÜLL In vielen ärmeren Ländern übernehmen 48 AUTORINNEN UND AUTOREN, Müllsammelnde die Aufgabe städtischer Dienste. QUELLEN VON DATEN, KARTEN Sie bestreiten ihr Einkommen mit dem, was UND GRAFIKEN andere wegwerfen. Doch für viele Kunststoffe finden sie keine Abnehmer. 50 ÜBER UNS PLASTIKATLAS 2019 5
P VORWORT lastik ist allgegenwärtig und kaum noch aus unserem Alltag wegzuden ken. Wir nutzen Plastik für lebensrettende medizinische Geräte, für Kleidung, Spielzeug und Kosmetik genauso wie in industriellen und landwirtschaftlichen Produkten. Wir wissen auch schon seit langem, welch wachsendes Risiko Plastikmüll in der Umwelt, auf Deponien und in den Weltmeeren darstellt. Mehr und mehr wird deutlich, wie sehr Plastik entlang des gesamten Lebenszyklus von der Produktion über die Nutzung bis zur Entsorgung die menschliche Gesundheit bedroht. Plastikpartikel und die bei der Plastikherstellung verwendeten giftigen Chemikalien finden sich in unserer Atemluft, in unserem Trinkwasser und im Boden. Dies schädigt das Immun- und Reproduktionssystem, Leber und Nieren, und es kann sogar Krebs erzeugen. Obwohl das Bewusstsein für die Umwelt- und Gesundheitsschäden durch Plastik wächst, erleben wir einen Boom bei der Plastikproduktion. Dieser Trend wird auch in Zukunft anhalten, wenn die Expansionspläne der Industrie – angetrieben von billigem „gefracktem“ Erdgas – nicht gestoppt werden. Allein in den USA plant die Plastikindustrie, ihre Produktion in den nächsten Jahren noch um 30 Prozent zu steigern. Tatsächlich werden 99 Prozent des Plastiks aus fossilen Brennstoffen wie Kohle, Öl und Gas hergestellt. Die klimaschädlichen Emissionen entlang des gesam ten Lebenszyklus von Plastik sind enorm. Mittlerweile beginnen Regierungen wenigstens an einigen Stellen, den Plastikverbrauch zu regulieren, u.a. durch Verbote von Einweg plastikartikeln. Aber solange wir nicht die Plastikproduktion an sich drosseln, greifen diese Ansätze zu kurz. Aufwändige Marketing- und Werbekampagnen der Industrie suggerieren uns, dass ein Leben ohne Plastik nicht möglich sei, und schieben die Verantwortung für die Plastikkrise von den Plastikproduzenten auf die Verbraucher innen und Verbraucher – also auf uns alle. Doch bessere Mülltrennung und Recycling allein werden das Problem nicht lösen. Ganz im 6 PLASTIKATLAS 2019
Gegenteil: Der Handel mit Plastikmüll ist ein boomendes Geschäft. Denn wir exportieren einen Großteil unseres Plastikmülls (und die damit einhergehenden negativen Umwelt- und Gesundheitsfolgen) nach Südostasien. Viele der Länder dort haben keine oder nur unzureichende Abfallentsorgungssysteme. Der Plastikmüll landet so letztendlich in der Umwelt und vor allem auch in den Meeren. „ Dennoch sind wir zuversichtlich: Noch nie war das Plastikthema so weit oben auf der politischen Agenda, noch nie haben sich so viele Menschen in globalen Bewegungen wie „Break Free From Plastic“ organisiert. Überall auf der Welt entstehen Initiativen für eine „Zero-Waste“ Politik in Städten und Gemeinden. Ihnen allen ist gemeinsam: Sie wollen das Problem an der Wurzel packen und an Lösungen und Wir sind zuversichtlich: Alternativen arbeiten. Noch nie war das Plastikthema so weit oben auf Eine Welt ohne Plastikverschmutzung ist der politischen Agenda. eine Vision, für die es sich lohnt zu streiten. Denn Plastik ist ein Thema, das jeden und jede von uns etwas angeht und bewegt. Wir haben gerade erst begon nen, die gewaltigen Dimensionen dieser Krise zu begreifen. Für ein Umsteuern braucht es fundiertes Wissen über die Ursachen, die Akteure sowie die Auswirkungen der Plastikkrise. Mit unserem Plastikatlas wollen wir genau das bieten. Wir wünschen viele Erkenntnisse beim Durchblättern und Lesen – und neue Lust zum politischen und persönlichen Handeln! Barbara Unmüßig Heinrich-Böll-Stiftung Hubert Weiger Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland PLASTIKATLAS 2019 7
12 KURZE LEKTIONEN ÜBER PLASTIK UND DIE WELT 1 Die massenhafte Verbreitung von Plastik begann erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mit der Entdeckung, dass sich ein ABFALLPRODUKT DER CHEMISCHEN INDUSTRIE für die Produktion des Kunststoffs PVC eignet. 2 Zwischen den Jahren 1950 und 2015 wurden weltweit 8,3 MILLIARDEN TONNEN PLASTIK produziert. Das entspricht mehr als einer Tonne pro Mensch, der heute auf der Erde lebt. Den allergrößten Teil machen Einwegprodukte und Verpackungen aus. Nicht einmal zehn Prozent des jemals produzierten Kunststoffes sind recycelt worden. 3 1978 entschied Coca-Cola, die legendäre Glasflasche durch Plastikflaschen zu ersetzen. Inzwischen sind TO-GO-BECHER UND EINWEGGESCHIRR kaum noch aus unserem beschleunigten Alltag wegzudenken. 4 Von Plastik gehen viele GESUNDHEITLICHE RISIKEN aus. Zahlreiche chemische Zusatzstoffe geben dem Material die gewünschten Eigenschaften, sind aber gesundheitsschädlich. Sie reichern sich in Innenraumluft und Hausstaub an. 5 Das Wissen um Mikroplastik in den Ozeanen ist weit verbreitet. Was nur wenige wissen: Die VERSCHMUTZUNG VON BÖDEN UND BINNENGEWÄSSERN ist je nach Umgebung zwischen vier- und 23-mal so hoch wie im Meer. 6 Weltweit werden jährlich etwa 6,5 Millionen Tonnen Plastik in der Landwirtschaft genutzt. 2018 wurden in der EU für Essen und Getränke mehr als 1,13 BILLIONEN VERPACKUNGEN verwendet. Das wichtigste Verpackungsmaterial: Plastik. 8 PLASTIKATLAS 2019
7 Viele Kleidungsstücke werden aus Chemiefasern wie Polyester gefertigt. Deren Grundstoff ist Erdöl oder -gas. Je nach Produktionsart liegen die CO2-EMISSIONEN EINES POLYESTER-SHIRTS zwischen 3,8 und 7,1 Kilogramm. 8 Geht die Plastikproduktion ungebremst weiter, werden allein Kunststoffe bis 2050 rund 56 Gigatonnen CO2- Emissionen erzeugt haben. Damit gingen ZWISCHEN 10 UND 13 PROZENT DES VERBLEIBENDEN CO2-BUDGETS für das 1,5-GRAD-ZIEL auf das Konto von Kunststoffen. 9 Eine Handvoll multinationaler Konzerne kontrolliert den globalen Plastikmarkt. Der größte europäische Plastikkonzern Ineos investiert Milliarden, um mit BILLIGEM FRACKING-GAS aus den USA die Plastikproduktion in Europa weiter anzuheizen. 10 Die Deutschen wären gern Recycling-Weltmeister. Das ist aber Wunschdenken. Von den 2017 ange fallenen 5,2 MILLIONEN TONNEN KUNSTSTOFFABFÄLLEN wurden gerade mal 810 000 Tonnen wiederverwertet. Das entspricht einer Quote von 15,6 Prozent. 11 Seit China im Jahr 2018 einen Import-Stopp für Plastikmüll verhängt hat, wird mehr in Malaysia entsorgt. DER DRITTGRÖSSTE EXPORTEUR VON PLASTIKMÜLL nach Asien ist hinter den USA und Japan: Deutschland. 12 Im Jahr 2016 hat sich die globale Bewegung „BREAK FREE FROM PLASTIC“ gegründet, um Konsumgüterkonzerne und Plastikproduzenten zur Verantwortung zu ziehen. 1400 Organisationen und Tausende von Menschen haben sich bereits angeschlossen. PLASTIKATLAS 2019 9
GESCHICHTE DURCHBRUCH MIT DREI BUCHSTABEN Die ersten Kunststoffe imitierten Elfenbein wurde. Im Jahr 1907 verbesserte Leo Hendrik Baekeland die und Seide und besetzten zunächst nur Phenol-Formaldehyd-Reaktionstechniken und erfand Bake- eine Marktnische. Der Boom begann erst lit – den ersten Kunststoff, der keine in der Natur bekannten Moleküle mehr enthielt. Bakelit wurde als guter Isolator und nach dem Zweiten Weltkrieg mit PVC. langlebiges wie hitzebeständiges Material vermarktet. Danach eroberte billiger Kunststoff die Welt. P Fünf Jahre später patentierte Fritz Klatte einen Kunst- stoff namens Polyvinylchlorid. Besser bekannt als PVC oder lastik ist im Alltag von Milliarden von Menschen omni- Vinyl. Bis etwa zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts be- präsent und wird auch in der Industrie umfangreich setzten Kunststoffe jedoch nur eine überschaubare Markt- genutzt. Jährlich werden weltweit über 400 Millionen nische. Die Initialzündung für die massenhafte Verbreitung Tonnen hergestellt. Aber was genau ist Plastik überhaupt? von PVC war die Entdeckung, dass ein Abfallprodukt der Der Begriff bezeichnet umgangssprachlich eine Gruppe chemischen Industrie genutzt werden kann, um es herzu- von Materialien synthetischen Ursprungs, die sogenannten stellen. Das bei der Produktion von Natronlauge anfallende Kunststoffe. Sie entstehen durch eine als Polymerisation be- Chlor ließ sich als günstiger Ausgangsstoff verwenden. zeichnete Abfolge chemischer Reaktionen aus organischen Damit begann der rasante und bis heute ungebrochene Rohstoffen, hauptsächlich aus Erdgas und Erdöl. Durch ver- Aufstieg von PVC. Im Zweiten Weltkrieg stieg die Nachfra- schiedene Formen der Polymerisation lassen sich Kunststof- ge deutlich, weil mit dem Stoff die Kabel auf Militärschiffen fe mit variablen Eigenschaften herstellen: weich oder hart, isoliert wurden. Obwohl immer bekannter wurde, dass die transparent oder undurchsichtig, fest oder flexibel. PVC-Produktion sowohl der Umwelt wie auch der Gesund- Der erste Kunststoff wurde auf der Weltausstellung im heit schadet, nutzte die petrochemische Industrie die neu Jahr 1862 in London präsentiert. Er hieß „Parkesine“ – nach entdeckten Möglichkeiten, um ein Abfallprodukt in Profit seinem Erfinder Alexander Parkes, der ihn aus Zellulose ab- zu verwandeln. PVC avancierte zum wichtigsten Kunststoff leitete. Dieses organische Material ließ sich formen, während in einer Vielzahl von Haushalts- und Industrieprodukten. es erhitzt wurde, und behielt seine Form nach dem Abküh- Neben PVC setzte sich Polyethylen durch. Es wurde in len bei. Wenige Jahre später entwickelte John Wesley Hyatt den 1930er Jahren erfunden und benutzt, um Getränke- Zelluloid, indem er Nitrozellulose unter Hitze und Druck flaschen, Einkaufstüten und Lebensmittelbehälter herzu- und Beigabe von Kampfer und Alkohol in einen verformba- stellen. Einen weiteren Kunststoff mit den Eigenschaften ren Kunststoff verwandelte. Er ersetzte Elfenbein und Schild- von Polyethylen entdeckte 1954 der Chemiker Guilio Natta: patt in Billardkugeln oder Kämmen und machte in der Film- Polypropylen wurde in den fünfziger Jahren populär und und Foto-Industrie Karriere. 1884 patentierte der Chemiker wird bis heute für eine Reihe von Alltagsprodukten wie zum Hilaire de Chardonnet eine als Chardonnet-Seide bekannte Beispiel Verpackungen, Kindersitze oder Rohre verwendet. Kunstseide. Rayon, heute Viskose genannt, ist ein halbsyn- Nicht zuletzt trug auch das damalige Image des Mate- thetischer Kunststoff aus chemisch behandelter Zellulose – rials zum Kunststoff-Boom bei. Plastik galt als schick, sauber die günstigere Alternative zu Naturprodukten wie Seide. Diese und andere frühe Kunststoffe wurden aus natür- lichen Materialien hergestellt. Es sollte noch 40 Jahre dau- Die Erfindungen der wichtigsten Kunststoffe liegen in der ern, bis ein vollständig synthetischer Kunststoff entwickelt Zeit zwischen 1850 und 1950. Seitdem wurden die Produkte weiter verfeinert, meist aber mit giftigen Zusätzen. ZEITSTREIFEN Die Geschichte der wichtigsten Kunststoffe 1892 1907 1910 1931 H = Herstellung, E = Erfindung Viskose Bakelit Synthese- Polystyrol Charles Cross, Edward Leo Baekeland (E) kautschuk IG Farben (E) Bevan, Clayton Beadle (H) Fritz Hofmann (E) 1839 1908 Gummi Cellophan Charles Goodyear (H) Jacques E. Brandenberger (H) 1869 1884 1912 Zelluloid Kunstseide Polyvinylchlorid John Wesley Hyatt (H) Hilaire de Bernigaud, (PVC) Graf von Chardonnet (H) Fritz Klatte (E) 1830 1840 1850 1860 1870 1880 1890 1900 1910 1920 1930 10 PLASTIKATLAS 2019
PLASTIKATLAS 2019 / UBA DER PLASTIK-KREISEL Anteile verschiedener Kunststofftypen und deren Kennzeichnung mit Recyclingcodes, in Deutschland 2017 Polyesterfasern, 7 1 Folien, Lebensmittel- ANDERE PET verpackungen, Koffer, CDs und Verschiedene Polyethylen- Lebensmittelflaschen DVDs, Bekleidung, Kunststoffe (u.a. terephthalat Seile, Fallschirme, PC, PA, PMMA, Borsten von Zahn- PUR, ABS, ASA, 6% Plastikflaschen, bürsten, Spielzeug, SAN, sonstige 2 Reinigungs- 13 % Gehäuse von Thermoplaste) HDPE mittelbehälter, Elektrogeräten 31 % Polyethylen Rohre für Gas- hoher Dichte und Trinkwasser, 13 % Haushaltswaren Lebensmittel- 5% Stiefel, verpackungen, 6 3 Duschvorhänge, 15 % Styropor- PS 17 % PVC Fensterrahmen, verpackungen, Polystyrol Polyvinylchlorid Rohre, Bodenbeläge, Dämmstoff Elektrokabel, Kunstleder Lebensmittel- Plastiktüten, verpackungen, 5 4 Frischhaltefolien, DVD-Hüllen, PP LDPE Müllsäcke, Tuben, Innenraumverkleidungen, Polypropylen Polyethylen Milchkarton- Stoßstangen, Kindersitze niedriger Dichte beschichtungen Im Jahr 2017 wurden in Deutschland über 14 Millionen Tonnen Kunststoffe produziert. Zumindest und modern. Es verdrängte herkömmliche Produkte und theoretisch können alle wiederverwertet werden. drang nach und nach in nahezu alle Bereiche des Lebens vor. Heute zählen PVC, Polyethylen und Polypropylen zu den weltweit am häufigsten eingesetzten Kunststoffen. gelang es, aus den Schalen von Krebstieren ein völlig neu- Zur Verbesserung seiner Eigenschaften wird Plastik mit es Herstellungsverfahren für einen biologisch abbaubaren chemischen Zusätzen wie Weichmachern, Flammschutz- Kunststoff zu entwickeln. Chitin aus Krustentierschalen mitteln oder Farbstoffen versetzt. Viele dieser Additive ma- wurde zu einem Polymer namens Chitosan modifiziert. Die chen Plastik zwar flexibel oder langlebig. Sie schaden aber Entwickler der McGill University in Kanada hoffen auf eine der Umwelt genauso wie der Gesundheit. Denn sie können glänzende Zukunft, da jährlich sechs bis acht Millionen aus dem Material austreten, in Wasser oder Luft übergehen Tonnen Krustentierabfall anfällt. Solche und andere Kunst- und letztlich in unsere Lebensmittel gelangen. Zudem kön- stoffe auf Basis natürlicher Ausgangsstoffe werden bereits nen sie beim Recycling von Plastik freigesetzt werden. in Strohhalmen, Einweggeschirr, Plastiktüten und Lebens- Eine neue Generation von Kunststoffen lässt sich aus mittelverpackungen eingesetzt. Ihr Beitrag zur Lösung der Biopolymeren wie Maisstärke gewinnen. Darüber hinaus Plastikkrise ist allerdings zweifelhaft. PLASTIKATLAS 2019 / BRAUN, FALBE 1935 1937 1938 1946 1949 1953 1954 Polyethylen Polyurethan Teflon Acrylnitril- Styropor Polycarbonat Polyacrylnitril hoher Dichte Otto Bayer (E) Roy J. Plunkett, Butadien- Fritz Stastny (H) Hermann BAYER (H) ICI Großbritannien (H) Rack Rebok, (E) Styrol Schnell (E) US Rubber 1952 1954 Company (H) Polyethylen Polypropylen niedriger Dichte Guilio Natta (E) Karl Ziegler (E) 1935 1938 Melamin Perlon BASF (H) Paul Schlack (E) 1935 1940 1945 1950 1955 PLASTIKATLAS 2019 11
WEGWERFMENTALITÄT MÜLL FÜR DIE WELT Noch in den Fünzigern verwendeten Menschen tiger. Der Anteil der Erwerbstätigen erhöhte sich zuneh- Plastik mit so viel Sorgfalt wie Glas oder Seide. mend. Die Städte wuchsen und mit ihnen die Zahl der Pend- Dann entdeckten die Konsumgüterkonzerne die lerinnen und Pendler. Die Ansprüche an die Freizeit stiegen und Familien nahmen sich weniger Zeit zum Kochen, Gärt- Vorzüge des Materials. Und es entwickelte sich nern oder für die Hausarbeit. Auch die Zahl der Ein-Perso- ein Lebensstil, der unentwegt Abfall produziert. B nen-Haushalte hat sich seit 1950 verdoppelt. Mithilfe von Gefrier- und Mikrowellengeräten ließen sich selbstgekochte is weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein waren Pro- Mahlzeiten aus frischen Zutaten durch vorgekochte Fertig- dukte noch auf Haltbarkeit und eine dauerhafte Be- gerichte aus dem Supermarkt ersetzen. nutzung ausgelegt. Die Läden verkauften ihre Lebens- Insbesondere Einwegprodukte aus Plastik ermöglichen mittel und Getränke in großen Mengen zum Selbstabfüllen. den „Convenience-Lifestyle“: Strohhalme, Tüten, Geschirr Verpackungen und Flaschen konnten weiterbenutzt oder und Besteck, Flaschen und Becher für Getränke und Snacks zurückgegeben werden. Auch als Kunststoffe nach dem „to go“ bilden die materielle Basis unseres Alltags. Alles ist Zweiten Weltkrieg zum Massenprodukt wurden, behan- schnell zu haben, bequem zu konsumieren und danach ein- delten die Menschen sie anfangs ebenso sorgfältig wie her- fach wegzuwerfen. Die Einwegprodukte sind zu Symbolen kömmliche Materialien und Verpackungen. des Lebensstils in einer kapitalistischen Wirtschaft gewor- Im Zuge des aufkommenden Massenkonsums in den den. Dieser ist sowohl Ursache als auch eine Folge der zu- späten 1950er-Jahren wurde der Ressourcenhunger von nehmenden Getriebenheit und Geschwindigkeit des mo- Wirtschaft und Gesellschaft immer größer. Die Industrie dernen Lebens. nutzte die Möglichkeit, Geld einzusparen und Lieferketten Diese Mentalität spiegelt sich in zentralen Bereichen der zu vereinfachen, indem Verpackungen und Flaschen nach populären Kultur wider, zum Beispiel bei Sport- und Musik- der Nutzung im Mülleimer landeten. Es war der Startschuss events oder in Hollywood-Filmen. Von der Collegeparty-Sze- für unsere heutige Wegwerfmentalität. Bereits in den frü- ne mit Plastikgeschirr bis hin zum Serien-Helden, der mit hen 1960er-Jahren fluteten Milliarden von Kunststoffarti- dem To-go-Becher in der Hand zur Arbeit geht, haben Weg- keln die Mülldeponien und Verbrennungsanlagen der west- werfprodukte ihren Weg auf die Bildschirme gefunden. Von lichen Welt. Die Umstellung auf Wegwerfverpackungen dort aus strahlt diese Kultur in die ganze Welt. In ärmeren erfolgte schrittweise. In den späten 1970er-Jahren setzten Regionen gelten Wegwerfprodukte aus Kunststoff als Teil sie sich schließlich weltweit durch. 1978 führte Coca-Cola des westlichen Lifestyles mit hohem Prestige und werden die Einweg-PET-Flasche als Ersatz für die Kultflasche aus Glas massenhaft eingesetzt. Konzerne und Unternehmen haben ein. Dieser Schritt markierte den Beginn einer neuen Ära. diese Entwicklung aktiv vorangetrieben und eifrig verstärkt. Mitte der 1980er-Jahre war der Glaube in der westlichen Bei Großveranstaltungen fallen Lastwagenladungen Welt weit verbreitet, Recycling könne das wachsende Pro- voller Abfälle an, die nur verbrannt oder auf Müllhalden blem der Einwegplastikprodukte lösen. Am Ende des Jahr- deponiert werden können. Das hat immerhin ansatzweise zehnts waren kaum noch nachfüllbare Limonaden- und zu einem Umdenken geführt. Einige wenige Veranstalter Milchflaschen im Umlauf. Die meisten waren durch Weg- sind inzwischen dazu übergegangen, Mehrweg-Pfandbe- werfflaschen aus Plastik ersetzt worden. Diese Methode der cher zu verwenden und das Essen auf kompostierbaren Tel- Einweg-Lieferkette half den Herstellern von Lebensmitteln lern zu servieren. Zudem gehen immer mehr Anbieter von und Getränken, weit entfernte neue Märkte zu erobern. To-go-Getränken und -Lebensmitteln dazu über, ihren Kun- Gleichzeitig begannen die Entwicklungsländer, dem Vor- reitermodell des Westens zu folgen. Der Wegwerf-Lebens- stil stand für Fortschritt und Modernität. Gegen Ende des Plastik ist nicht gleich Plastik. Manche Produkte werden zwanzigsten Jahrhunderts wurde das Leben noch geschäf- über Jahrzehnte verwendet. Verpackungen jedoch stellen die größte Menge und sind nur sehr kurz in Benutzung. SO ALT WIRD PLASTIK Durchschnittliche Nutzungsdauer unterschiedlicher Kunststoffe nach Industriezweigen in Jahren en ar n ge ch ie- rk r t sw Ve po k un en or as tr ch r ni eh m dus n & ans kt in ck au tro ilie se pa PLASTIKATLAS 2019 / GEYER br Tr In ek xt u r Ge Ba Ve Te El 0,5 Jahre 3 5 8 10 13 20 30 35 12 PLASTIKATLAS 2019
Gemeinsam mit 31 Konzernen hat Coca-Cola 2019 erstmals seine Plastik-Daten veröffentlicht. Sie belegen, bieten die herstellenden Unternehmen keine Lösungen zur wie viel Müll von relativ wenigen Unternehmen kommt. Entsorgung bzw. Verwertung der Verpackungen an. Abfäl- le von Convenience-Artikeln sind in den Städten vieler Ent- wicklungsländer zu einem erheblichen Problem geworden. dinnen und Kunden Rabatte für selbst mitgebrachte Mehr- Denn es gibt keinen wirtschaftlichen Anreiz, sie zu sammeln, wegbecher einzuräumen. Aber die Wegwerfmentalität und keine Möglichkeit, sie umweltgerecht zu entsorgen. bleibt bis heute beherrschend. Denn sie erleichtert bestimm- te Aspekte des Lebens. Die Kosten, die durch die Vermüllung entstehen, sind in diese Produkte nicht eingepreist. PLASTIKATLAS 2019 / STATISTA SO VIEL PLASTIKMÜLL FÄLLT IN DER EU AN Die spezifischen Mechanismen unterscheiden sich da- Plastikverpackungsabfall pro Kopf in EU-Ländern, 2016 bei von Land zu Land. In vielen Entwicklungsländern war ausschlaggebend, dass Branchenriesen wie Unilever und kg/Einwohner/in Proctor & Gamble ihre Produkte in sogenannten Sachets > 40 anbieten: Um weiter Marktanteile zu gewinnen, werden 30–39 Shampoos, Waschmittel oder Ketchup in kleinen Mengen 20–29 verkauft. Die Unternehmen argumentieren, dass sich nur 10–19 auf diese Weise Verbraucherinnen und Verbraucher mit
NUTZUNG FLUCH UND SEGEN Kunststoffe sind unverzichtbar geworden. ders beliebt sind. Sie behalten ihre Eigenschaften bei hohen Sie stecken in Plastiktüten, Smartphones und wie bei kalten Temperaturen. Sie können flexibel sein oder eine starre Form haben. Polyethylen niedriger Dichte (LDPE) Armaturenbrettern. Doch beinahe die Hälfte zum Beispiel ist zäh, flexibel und transparent und wird des- aller Produkte ist nach weniger als einem Monat halb bei Folien eingesetzt. Abfall. Nur ein Bruchteil landet im Recycling. Z PET dagegen lässt weder Gase noch Flüssigkeiten durch und ist deshalb Ausgangsstoff für Getränkeflaschen. Poly- wischen den Jahren 1950 und 2015 ist bereits eine propylen hat einen hohen Schmelzpunkt und hält Chemi- Menge von 8,3 Milliarden Tonnen Plastik produziert kalien stand, was den Kunststoff für heiße Flüssigkeiten worden – das entspricht mehr als einer Tonne Plastik attraktiv macht. Polystyrol kann starr, spröde, klar oder ge- pro Mensch, der heute auf der Erde lebt. Doch die Gegen- schäumt sein und ist damit ein vielseitiger Kunststoff für den, in denen es hauptsächlich hergestellt und konsumiert Schutzverpackungen und Lebensmittelbehälter. Und aus wird, konzentrieren sich auf wenige Länder und Weltregio- PVC werden starre oder flexible Verpackungen, aus denen nen. Es sind China, Nordamerika und Westeuropa. weder Sauerstoff noch Wasser austreten können. Die langlebigen, leichten und formbaren Kunststoffe Auch im Bausektor nimmt der Einsatz von Plastik stark werden in zahllosen Industrie- und Alltagsprodukten ver- zu, zum Beispiel bei Bodenbelägen, Türen, Fenstern oder wendet. Doch entgegen der ursprünglichen Intention, Plas- Rohren. Die Materialien leben lange, sind flexibel und be- tik als hochwertiges Material zu etablieren, wird es heute ständig gegen Fäulnis und Korrosion – und sie haben eine vor allem gebraucht, um Verpackungsmaterialien und Ein- feste Konsistenz. Im Vergleich zu anderen Werkstoffen las- wegartikel herzustellen. Viele Produkte des täglichen Be- sen sie sich leicht installieren und warten. Außerdem schüt- darfs werden nur einmal – in den meisten Fällen auch nur zen sie gegen Kälte und Wärme und tragen damit ihren An- kurz – genutzt und landen anschließend im Müll. Die Eigen- teil dazu bei, Energie einzusparen. schaften des Materials sind dabei Fluch und Segen zugleich. Der im Bausektor am häufigsten verwendete Kunststoff Kunststoffe sind sehr widerstandsfähig. Genau deshalb aber ist PVC. Ähnlich wie bei Lebensmitteln kommen dem Kunst- bauen sie sich auch extrem langsam ab. stoff hier zum einen seine Haltbarkeit und die mechanische Es gibt mehrere Gründe, warum Kunststoffe für Verpa- Festigkeit und zum anderen sein geringes Gewicht zugute. ckungen von Lebensmitteln und anderen Produkten beson- Rohre aus Polyethylen hoher Dichte (HDPE) beispielsweise sind dicht, widerstandsfähig gegenüber Umwelteinflüssen und rosten nicht. Zudem sind sie flexibel, so dass sie gebo- gen und durch vorhandene Rohre gezogen werden können. PLASTIKATLAS 2019 / UN, STATISTA EINE WELT VOLLER KUNSTSTOFF Und nicht zuletzt hat sich Kunststoff beim Bau von Fahr- Verteilung der Produktion von Einwegplastikartikeln, nach Regionen, 2014 und Flugzeugen, von Zügen und Schiffen unverzichtbar gemacht. Die Gründe sind auch hier die Haltbarkeit und Nordamerika Europa Ehemalige Leichtigkeit des Materials sowie seine Flexibilität und Recy- UdSSR clingfähigkeit. Zudem müssen die Kunststoffteile weniger gewartet werden und sind flexibel genug, um dauerhaft 3% Vibrationen standzuhalten. Ohne Kunststoffe könnte heute 16 % 21 % kein Auto mehr fahren. Die meisten stecken in den Innen- verkleidungen, Sitzen, Stoßfängern, Polstern, der Elektro- 17 % 38 % nik des Autos sowie den Armaturenbrettern. Da der Bedarf an leichteren Schiffen mit geringerem Kraftstoffverbrauch 4% 1% steigt, werden auch immer mehr faserverstärkte Kunststof- fe wie Glas- oder Kohlefaser eingesetzt. Darüber hinaus ros- ten die Werkstoffe nicht, auch Seewasser kann ihnen nichts Mittel- und Afrika Naher Osten Asien und Südamerika Pazifik anhaben. Das verlängert die Intervalle bei den Wartungen und senkt die Betriebskosten. Weltbevölkerung nach Kontinenten, in Millionen, 2018 In der Luft- und Raumfahrt müssen Werkstoffe extre- men Temperaturen standhalten, immun sein gegen Korro- Australien, Ozeanien 41 sion und Düsentreibstoffen und Chemikalien widerstehen. Nordamerika 365 Kunststoffe wie PVC, Acryl, Polyamid sind deshalb auch Lateinamerika, Karibik 649 Europa 746 Afrika 1 284 Einwegplastik ist zum Symbol der globalen Asien 4 536 Plastikkrise geworden. Die Produktion ist allerdings auf wenige Weltregionen konzentriert. 14 PLASTIKATLAS 2019
WOFÜR BRAUCHEN WIR PLASTIK? Nutzung nach Industriezweigen, Gesamtmenge 407 Millionen Tonnen, in Millionen Tonnen pro Symbol, 2015 Industriemaschinen 3 Elektronik 18 Transport & Verkehr 27 Gebrauchswaren 42 Textilien 47 Bausektor 65 PLASTIKATLAS 2019 / GEYER Verpackungen* 146 Sonstiges 59 * Meist nur einmal genutzt Weltweit werden über 400 Millionen Tonnen Plastik beim Bau von Flugzeugen und Raumschiffen unverzichtbar im Jahr produziert. Auf Verpackungen entfällt geworden, etwa für Armaturenbrettverkleidungen, Trenn- mehr als ein Drittel aller hergestellten Kunststoffe. wände, Getränkewagen, Toiletten, Frachtbehälter und Tankdeckel. Seit den 1970er-Jahren ist der Einsatz von Plas- tik in Flugzeugen von vier auf rund 50 Prozent gestiegen. DER KUNSTSTOFF-PLANET Die steigende Nachfrage nach Plastik führt zwangsläufig Globale Plastikproduktion in Millionen Tonnen zu Problemen bei der Entsorgung. Nach aktuellen Schätzun- Prognose gen sind etwa 40 Prozent der Plastikprodukte in weniger als einem Monat Abfall. Dieser immer weiter wachsende Berg 600 an Plastikmüll verursacht ernsthafte Umweltprobleme. Und Recycling ist nur die zweitbeste Möglichkeit, um ihn zu re- duzieren. Im Jahr 2025 werden voraussichtlich mehr als 600 Über die Hälfte des 500 Millionen Tonnen Plastik pro Jahr produziert werden. Heuti- jemals hergestellten ge Recycling-Systeme wären nicht in der Lage, diese Menge Kunststoffs wurde seit 400 2000 produziert. an Müll zu bewältigen. Ein Blick in die Geschichte zeigt: Nur neun Prozent der über acht Milliarden Tonnen Kunststoff, 300 die seit den 1950er Jahren erzeugt wurden, sind recycelt worden. Die beste Lösung ist deshalb einfach formuliert, aber schwierig umzusetzen. Sie lautet, erst gar nicht so viel 56% 200 PLASTIKATLAS 2019 / GEYER Plastik zu produzieren. 100 Anfang der 2000er-Jahre ist in einem Jahrzehnt 0 mehr Plastik entstanden als in den 40 Jahren zuvor. 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 2030 Seitdem ist die Produktion geradezu explodiert. PLASTIKATLAS 2019 15
GESUNDHEIT CHEMIE IM KÖRPER Die Auswirkungen der aus den Fugen geratenen lich also können noch weit mehr Fremdstoffe vorhanden Plastikproduktion auf die Umwelt sind bekannt sein. Untersuchungen aus Deutschland zeigen, dass vor al- lem Kinder zum Teil sehr stark mit Weichmachern belastet und unübersehbar. Verborgen bleiben die sind, die sich schädlich auf die Fortpflanzungsfähigkeit aus- gesundheitlichen Folgen für den Menschen – wirken können. Bezogen auf ihr Körpergewicht atmen sie von der Rohstoffgewinnung bis zur Entsorgung. D mehr Luft ein als Erwachsene und haben eine höhere Stoff- wechselrate. Außerdem spielen sie häufig auf dem Boden er Lebensweg vieler Plastikprodukte beginnt bei Erdöl und sind größeren Mengen an Schadstoffen ausgesetzt. oder Erdgas. Während der Förderung, insbesondere Besonders Besorgnis erregend ist dabei die Gruppe der im umstrittenen Fracking-Verfahren, gelangen giftige hormonell wirksamen Substanzen, zu denen auch viele Substanzen in Luft und Wasser. Mehr als 170 Fracking-Schad- Weichmacher gehören. Diese Stoffe ähneln den körpereige- stoffe stehen im Verdacht, Krebs zu erzeugen, Fortpflan- nen Hormonen und bringen das fein austarierte Hormon- zungs- und Entwicklungsstörungen zu verursachen oder das system des Körpers aus dem Gleichgewicht. Eine Vielzahl Immunsystem zu schädigen. Besonders betroffen sind – auch von Erkrankungen und Störungen wird mit hormonell wirk- durch die hohe Dichte an Diesel-Trucks – die Menschen in samen Substanzen in Verbindung gebracht. Dazu gehören der Umgebung von Fracking-Regionen. Bis zu 6000 LKW- Brustkrebs, Unfruchtbarkeit, verfrühte Pubertät, Fettleibig- Ladungen Ausrüstung, Wasser und Chemikalien sind nötig, keit, Allergien und Diabetes. um ein Gebiet zu erschließen. US-Studien weisen darauf hin, Für Verbraucherinnen und Verbraucher ist es nur schwer dass werdende Mütter, die in der Nähe von Fracking-Bohr möglich, belastete Produkte zu erkennen. Anders als bei stellen leben, ein erhöhtes Risiko für komplizierte Schwan- Körperpflegeprodukten müssen Hersteller von Spielzeug, gerschaften und Frühgeburten haben. Möbeln oder Textilien die Chemikalien nicht kennzeichnen. Damit aus Erdöl sortenreines Plastik werden kann, wird Innerhalb der EU hat jede Bürgerin und jeder Bürger das es gereinigt und in kleine Moleküle aufgespalten. Nach dem Recht, die Hersteller nach Schadstoffen zu befragen. Dieser Baukasten-Prinzip entstehen durch Chemikalien, Hitze und muss nach der EU-Chemikalienverordnung innerhalb von Druck aus kleinen Bausteinen große Plastikmoleküle. Zahl- 45 Tagen antworten. Das Problem ist allerdings, dass viele reiche Zusatzstoffe sorgen für die gewünschten Eigenschaf- Firmen gar nicht wissen, welche Chemikalien in ihren Pro- ten des Materials. Dank Weichmachern verwandelt sich dukten enthalten sind. Eine Deklarationspflicht entlang der hartes PVC in ein Planschbecken. Fluorierte Verbindungen Lieferkette würde Verbrauchern und Verbraucherinnen so- werden zur Imprägnierung von Outdoor-Jacken verwen- wie Händlern und Händlerinnen weiterhelfen. det. Bromierte Substanzen dienen als Flammschutzmittel Auch die Kreislaufwirtschaft würde davon profitieren. in Elektrogeräten und Möbeln. Durchschnittlich enthalten Wenn schadstoffhaltiges Plastik recycelt wird, sind unwill- Plastikprodukte rund sieben Prozent solcher Zusatzstoffe. kürlich auch die neuen Produkte belastet. Nach Untersu- Bei einem Ball aus PVC können Weichmacher bis zu 70 Pro- chungen von Umweltorganisationen aus 19 europäischen zent des Gesamtgewichts ausmachen. Viele dieser Additive sind gesundheitsschädlich. In Dänemark musste 2018 eine ganze Serie von Spielzeugen DIE UNSICHTBARE GEFAHR aus Weichplastik vom Markt genommen werden. Auch das Mögliche gesundheitliche Folgen des alltäglichen Kontakts EU-Schnellwarnsystem RAPEX für den Verbraucherschutz mit hormonell wirksamen Substanzen in Kunststoffen markiert Schadstoffe in Produkten wie Spielzeug und Klei- dung als eines der drängendsten Gesundheitsprobleme. Schilddrüsen- Hyperaktivität/ Da die Zusatzstoffe im Plastik nicht fest gebunden sind, ent- erkrankungen ADHS, weichen sie mit der Zeit und reichern sich in Innenraumluft Niedrigerer IQ und Hausstaub an. Mit den Produkten gelangen die Schad- Brustkrebs Niedriges stoffe also direkt in Schlaf- und Kinderzimmer und über die Geburts- Diabetes Atmung auch in den Körper. gewicht Im Blut von schwangeren US-Amerikanerinnen wurden Fett- Asthma leibigkeit im Schnitt 56 verschiedene Industriechemikalien gefun- Fett- den. Viele dieser Stoffe kommen auch in Plastikprodukten leibigkeit Unfrucht- bzw. bei deren Herstellung zum Einsatz. Natürlich kann nur Ent- barkeit frühe nachgewiesen werden, was auch gemessen wird. Tatsäch- wicklungs- © PLASTIKATLAS 2019 / HEAL Pubertät störungen Prostatakrebs beim Embryo Niedrige Viele in Kunststoffen enthaltene Chemikalien haben Spermienzahl Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen. Die Folgen können langfristig und gravierend sein. 16 PLASTIKATLAS 2019
GEFAHREN ZU WASSER, ZU LANDE UND IN DER LUFT Über den gesamten Lebenszyklus von Plastik ist der Mensch toxischen Chemikalien und Mikroplastik ausgesetzt. Die Schadstoffe dringen auf unterschiedlichen Wegen in den Körper ein. Direkter Kontakt Schadstoffe: u. a. Benzol, Flüchtige Organische Verbindungen und über 170 toxische Chemikalien in der Fracking-Flüssigkeit Mögliche gesundheitliche Folgen: Beeinträchtigungen des Immunsystems, der Sinnesorgane, Leber und Niere; Krebs, Nervenerkrankungen, Reproduktions- und Entwick- Rohstoffgewinnung & Transport lungsstörungen Schadstoffe: u. a. Benzol, Polyzyklische Aromatische Kohlenwasserstoffe und Styrol Mögliche gesundheitliche Folgen: Krebs, Nervener krankungen, Reproduktionsstörungen, geringes Geburts gewicht, Augen- und Hautirritationen Raffinierung & Herstellung Schadstoffe: u. a. Schwermetalle, persistente organische Stof- fe, Karzinogene, hormonell wirksame Substanzen, Mikroplastik Mögliche gesundheitliche Folgen: Beeinträchtigung von Nieren-, Nerven-, Kreislauf- und Reproduktionssystem, Magen-Darm-Trakt und Atemwegen; Krebs, Diabetes und Konsum Entwicklungsstörungen Schadstoffe: u. a. Schwermetalle, Dioxine und Furane, Polyzyklische Aromatische Kohlenwasserstoffe, recycelte Schadstoffe Mögliche gesundheitliche Folgen: Krebs, Nerven- erkrankungen, Schäden an Reproduktions-, Nerven-, Abfallentsorgung Hormon- und Immunsystem Kontakt über die Umwelt Schadstoffe: Mikroplastik (z.B. Reifenabrieb, Textilfasern) und toxische Additive. Darunter persistente organische Stoffe, Süßwasser & Meere hormonaktive Substanzen, Karzinogene und Schwermetalle Mögliche gesundheitliche Folgen: Schäden an Nieren-, Nerven-, Herz-Kreislauf- und Reproduktionssystem, Magen- Darm-Trakt und den Atemwegen; Krebs, Diabetes, Nerven- erkrankungen, Reproduktions- und Entwicklungsstörungen Luft © PLASTIKATLAS 2019 / CIEL Mikroplastik Chemikalien Einatmung orale Aufnahme Agrarland Hautkontakt Auch wer versucht, Plastik im eigenen Leben zu Ländern enthielt jedes vierte Produkt aus recyceltem Kunst- vermeiden, bleibt Gefahren ausgesetzt. Der Körper stoff gesundheitsschädliche Flammschutzmittel. Die Gift- hat keine Möglichkeit, sich dagegen zu schützen. stoffe in den Recyclingprodukten stammen größtenteils aus Elektroschrott, dessen Einzelteile zu Billigprodukten weiter- verarbeitet wurden. Schadstoffhaltigen Plastikmüll zu recy- Deutschland wird mehr als die Hälfte der Plastikprodukte celn schadet vor allem den Menschen, die den Müll in seine verbrannt. Aber damit ist man den Müll noch lange nicht Einzelteile zerlegen müssen, damit er wiederverwertet wer- los. Je nach Art der Verbrennung entstehen zahlreiche Gift- den kann. Durchbrechen ließe sich der toxische Kreislauf, stoffe, die von der Umwelt kaum abgebaut werden. In Blei- wenn die Produzenten auch bei der Entsorgung stärker in cherode, einem Dorf in Thüringen, werden die Rückstände die Pflicht genommen würden. Generell gilt: Was vorne aus den Filtern der deutschen Müllverbrennung in Berg- nicht eingesetzt wird, kann hinten nicht herauskommen. werken gelagert: Dioxine, Blei und Furane, in Salzlösung Weltweit betrachtet spielt die Wiederverwertung von verflüssigt. 350 000 Tonnen Staub und Asche kommen jedes Plastik allerdings eine untergeordnete Rolle. Auch in Jahr in Bleicherode an – in 15 Jahren ist das Endlager voll. PLASTIKATLAS 2019 17
GENDER UNGLEICH VERTEILTE RISIKEN Von Kunststoffen sind Frauen stärker betroffen wie Hodenhochstand und Hypospadien (Fehlbildung der als Männer. Dahinter stecken unter anderem männlichen Harnröhre) beitragen. Zunehmend kommen biologische Unterschiede: Ihre Körper reagieren Kinder mit Schadstoffen belastet zur Welt. Frauen sind an vielen unterschiedlichen Stellen den Ge- anders auf Giftstoffe, sie verwenden belastete fahren ausgesetzt, die von Plastik ausgehen. Weltweit sind Hygieneprodukte. Doch es gibt Alternativen. G schätzungsweise 30 Prozent der Beschäftigten in der Kunst- stoffindustrie Frauen. Um Kunststoffe und Plastikprodukte iftstoffe aus Kunststoff belasten Frauen anders als massenweise und günstig für den Weltmarkt herstellen zu Männer, sowohl am Arbeitsplatz als auch im Alltag. können, werden meist sie, vor allem in Entwicklungslän- Das liegt an den biologischen Unterschieden bei der dern, zu Niedriglöhnen in der industriellen Produktion be- Körpergröße oder dem Anteil von Fettgewebe zum einen schäftigt, häufig an gefährlichen Arbeitsplätzen und ohne und tradierten Geschlechterrollen zum anderen. Frauenkör- Maßnahmen zum Arbeitsschutz. Eine kanadische Studie per haben mehr Körperfett und reichern in ihrem Gewebe zeigt, dass Frauen, die in der Automobilindustrie Kunststof- deshalb fettlösliche Chemikalien wie etwa Phthalat-Weich- fe verarbeiten, ein fünffach erhöhtes Risiko haben, an Brust- macher stärker an. Besonders sensibel auf die Giftstoffe re- krebs zu erkranken. agiert der weibliche Körper in Lebensphasen wie Pubertät, Ebenfalls problematisch können Hygieneprodukte sein. Stillzeit, Menopause und Schwangerschaft. Der Plastikanteil bei Tampons beträgt bis zu sechs Prozent, Das kann auch Folgen für das ungeborene Kind haben. Binden bestehen bis zu 90 Prozent aus rohölbasiertem Vor allem Chemikalien, die ähnlich wie Hormone wirken Kunststoff. Beide können unter anderem hormonell wirk- – sogenannte endokrine Disruptoren (ED) –, sind problema- sames Bisphenol A (BPA) und Bisphenol S (BPS) enthalten. tisch. Da die Plazenta keine sichere Barriere ist, können ED Applikatoren für Tampons enthalten darüber hinaus häufig schon im Mutterleib all die Entwicklungsphasen stören, die Phthalate. In den USA benutzt eine Frau in ihrem Leben zwi- hormonell gesteuert werden. Das kann Fehlbildungen bei schen 12 000 und 15 000 dieser Produkte. Alternativen sind Neugeborenen und Erkrankungen begünstigen, die sich erst waschbare Mehrwegprodukte oder wiederverwendbare viel später zeigen. ED betreffen Frauen und Männer gleicher- Menstruationstassen. maßen. Die Weltgesundheitsorganisation vermutet, dass ED In ärmeren Regionen, auch in der EU, können sich Frau- für die Zunahme hormonbedingter Krebsarten wie Brust- en und Mädchen Hygieneartikel während der Menstrua- und Hodenkrebs verantwortlich sind. Weiter scheint es mög- tion häufig nicht leisten, oder sie haben gar keinen Zugang lich, dass sie die Fruchtbarkeit und die Qualität der Spermien zu ihnen. Das führt bei Mädchen während ihrer Periode zu beeinträchtigen. Darüber hinaus können ED zu Fettleibig- schulischen Fehlzeiten von durchschnittlich fünf Tagen pro keit, Diabetes, neurologischen Erkrankungen, einer verfrüht Monat. Kostengünstigere und zudem sichere Mehrwegpro- einsetzenden Pubertät sowie angeborenen Fehlbildungen dukte könnten diese Lücke schließen und die Belastung mit Schadstoffen und den Müll reduzieren. Denn die Einweg- produkte landen auf Deponien, in Wasserquellen und Mee- ren und blockieren auch die Abwassersysteme. DAS INNENLEBEN EINER DAMENBINDE Auch Kosmetik kann eine Quelle für Schadstoffe sein. Energie- und Stoffanalyse der Produktion Ein Viertel aller Frauen in westlichen Industrieländern ver- Was hineingeht: Was herauskommt: wenden bis zu 15 unterschiedliche Produkte täglich. Nicht selten enthalten diese bis zu 100 Chemikalien, einige davon LDPE* schaden der Gesundheit. In vielen Kosmetika steckt zudem Rohstoffverarbeitung Emissionen: Mikroplastik. Partikel davon können ebenfalls durch die Pla- NOX**, CO₂ zenta zum Fötus gelangen. Zellstoff- Zuletzt sind häufig noch immer Frauen vornehmlich für watte Hausarbeit zuständig oder in Reinigungsberufen beschäf- tigt. Reinigungsmittel enthalten ebenfalls Mikroplastik und Herstellung Papier der Binde Schadstoffe wie etwa gesundheitsschädliche Tenside oder Lösungsmittel. Eine kritische Auswahl der Produkte und Binde der Gebrauch schadstoffarmer Reinigungsprodukte oder Fossile Rohstoffe herkömmlicher Mittel wie Schmierseife oder Zitronensäure Festabfall: können die Belastung von Mensch und Umwelt verringern. (LDPE*, Zell- PLASTIKATLAS 2019 / DP stoff, Papier) Elektrizität Die Produktion einer modernen Damenbinde * Polyethylen niedriger Dichte ** Stickoxide ist ohne den Einsatz von fossilen Rohstoffen und Kunststoffen nicht denkbar. 18 PLASTIKATLAS 2019
PLASTIKATLAS 2019 / WEN EINE STETE QUELLE VON SCHADSTOFFEN Durchschnittlicher Verbrauch von Menstruations-Produkten bei Frauen in westlichen Konsumgesellschaften in 1 Monat in 1 Jahr (= 13 Zyklen) in 10 Jahren 25 325 3 250 in 39 Jahren* 12 675 Binden/Tampons Das entspricht einem Gewicht von 152 kg an Binden und Tampons. * Durchschnittliche 10 Binden/ Dauer der Menstruation Tampons im Leben einer Frau Verwendet eine Frau Wegwerf-Menstruations- produkte, kommt sie knapp vier Jahrzehnte sie auch umweltbewusster handeln. Initiativen, die darauf mit problematischen Kunststoffen in Kontakt. zielen, den Konsum von Plastik zu reduzieren und Mensch und Umwelt vor den Schadstoffen zu schützen, gehen häu- fig von Frauen aus. Sie brauchen deshalb einen gleichbe- Sie entlassen aber nicht die Hersteller aus der Verantwor- rechtigten Platz in der Politik, in Unternehmen und in Fa- tung, schädliche Inhalts- und Grundstoffe zu ersetzen. milien und Gemeinschaften, um ihr Engagement für eine Wenn Müll in Entwicklungsländer exportiert wird, wer- plastik- und giftfreie Umwelt und Gesellschaft noch mehr den Deponien zu wichtigen Einkommensquellen. Millionen einbringen zu können. von Müllsammlerinnen auf der ganzen Welt, häufig Frauen und Kinder aus den ärmsten Bevölkerungsschichten, su- chen nach Verwertbarem aus Plastik- und Elektromüll. Oft PLASTIKATLAS 2019 / CVI MEHR PLASTIK FÜR FRAUEN ist das das einzige Familieneinkommen, verdient auf einem Anzahl der Patente für Damen-Hygieneprodukte seit 1969 hochtoxischen Arbeitsplatz. Um an wertvolles Kupfer zu ge- 1500 langen, werden PVC beschichtete Drähte verbrannt. Dabei 1400 Markteinführung entstehen hochgiftige Dioxine, die schädlich für die Fort- 1300 von Maxibinden pflanzung sind, den Fötus schädigen und Krebs verursa- mit Flügeln; 1200 chen können. Auch sind es meist Frauen, die den Hausmüll Schwerpunkt der 1100 in Hinterhöfen verbrennen oder giftigen Müll sortieren. Produkte liegt Das Wissen um die Gefahren, die von Plastik ausgehen, 1000 auf Saugfähigkeit 900 ist bisher weltweit ungleich verteilt. Frauen sind hier eine 800 wichtige Zielgruppe, um ein grundlegendes Umdenken Tampax meldet 700 und andere Alltagspraktiken zu initiieren sowie politische Erste Patent an für 600 Maßnahmen für mehr Schutz zu fordern. Frauen nehmen Maxibinde Tampon mit mit Klebe- Einführhilfe 500 verschiedene Gefahren sensibler wahr als Männer und sind 400 streifen weniger bereit, Mensch und Umwelt Risiken auszusetzen, 300 sowohl in Unternehmen als auch als Konsumentinnen und 200 Managerinnen ihrer Familien. Vieles deutet darauf hin, dass 100 0 1969 1979 1989 1999 2009 2019 Patente für Damen-Hygieneprodukte sind seit Ende Die Daten für 2018 und 2019 sind unvollständig, da einige der der 90er-Jahre sprunghaft angestiegen. Eine Ursache Patentanmeldungen noch nicht veröffentlicht wurden. ist massenhaft verfügbarer günstiger Kunststoff. PLASTIKATLAS 2019 19
ERNÄHRUNG EIN UNAPPETITLICHER KREISLAUF Einer der größten Abnehmer von Kunststoffen etränke mehr als 1,13 Billionen Verpackungen verwendet. G ist die Lebensmittelindustrie. Ihre Produkte Das wichtigste Verpackungsmaterial: Plastik. Doch es gibt sollen schön verpackt sein und jedes Bedürfnis auch einen gegenläufigen Trend. In immer mehr europäi- schen Städten entstehen Läden, die unverpackte Lebensmit- befriedigen. Der Preis: Das Plastik landet auch tel anbieten. Laut einer repräsentativen Umfrage aus dem auf Äckern und damit in der Nahrungskette. G Jahr 2017 treffen sie damit einen Nerv: Mehr als 60 Prozent der Deutschen unterstützen diesen Trend. urken in Folie verpackt, Salat vorgeschnitten in klei- Plastik ist aber in unserem Ernährungssystem nicht nur nen Plastikschälchen, Fertiggerichte und verpackte als Verpackung zu finden. Die Landwirtschaft der EU landet Lebensmittel: Die Ernährung in Europa ist heute ohne bei dem Verbrauch dieses Kunststoffes auf Platz sechs, welt- Plastik kaum vorstellbar. weit sind es pro Jahr etwa 6,5 Millionen Tonnen. Der Obst- Auf globaler Ebene wird in all den Ländern rapide mehr und Gemüseanbau scheint ohne Plastik kaum denkbar: Be- Plastik im Lebensmittelsektor eingesetzt, in denen sich die wässerungsanlagen, Gewächshäuser und Tunnel sind aus Vermarktung weg von Straßen- und Bauernmärkten hin zu Plastik. Obstbäume und Sträucher werden gegen Vögel mit Supermärkten entwickelt. Auch in Deutschland hat sich die Plastik geschützt. Ganze Felder sind bedeckt, damit der Bo- Lebensmittelbranche noch einmal grundlegend verändert. den sich erhitzt und beispielsweise die Spargel-Ernte früher Convenience ist das Gebot der Stunde. Der Ernährungsre- stattfinden kann. Mit Plastik. port 2019 zeigt, dass 48 Prozent der Befragten eine schnelle Relativ neu ist die Debatte um Mikroplastik in Böden, und einfache Zubereitung ihrer Mahlzeiten wichtig ist. Nutztieren und damit letztlich in den Lebensmitteln der Die Lebensmittelindustrie reagiert darauf nicht nur Menschen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, wie sehr mit ihren Angeboten an Fertiggerichten. Auch die Ver- Plastik und Mikroplastik dem Boden schaden, sind noch packungsgrößen spiegeln einen Trend wider: In mehr als recht dünn. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der 75 Prozent der deutschen Haushalte leben nur eine oder zwei Personen. Portionen für Singles finden sich inzwischen in jedem Supermarkt. Daher steigt auch seit Jahren die Zahl Wie viel Plastik auf Äckern landet, ist wenig der Verpackungen in der EU. 2018 wurden für Essen und erforscht. Dabei ist die Verschmutzung an Land zwischen vier- und 23-mal höher als im Meer. DIE BODEN-BELASTUNG DURCH PLASTIK Analyseergebnisse eines Ackers in Franken Untersuchte Fläche: insgesamt 3 942 Quadratmeter (0,3942 Hektar) Anzahl der Kunststoff-Partikel pro Hektar Größenspektrum der Plastikpartikel im Boden in Millimeter, Verteilung in Prozent % PE PVC 24 Poly- Polyvinyl- ethylen chlorid 22 20 2 – 5 mm Mikroplastik 18 140 10 > 5 mm Makroplastik 16 PS PET 14 Polystyrol Polyethylen- terephthalat 12 10 8 28 5 6 PP PMMA 4 PLASTIKATLAS 2019 / PIEHL Poly- Polymethyl- 2 propylen methacrylate 0 m 4 5 10 20 30 0 0 0 0 0 90 0 10 00 20 00 0 0 –7 4– –4 –5 –6 –8 –9 30 60 3– m 5– – – –1 2 60 0– 0– 0– 10 40 20 20 3 50 70 80 30 3 2– 30 20 PLASTIKATLAS 2019
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