Auflage - Heinrich-Böll-Stiftung

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Auflage - Heinrich-Böll-Stiftung
6. Auflage
IMPRESSUM
Der PLASTIKATLAS 2019 ist ein Kooperationsprojekt von
Heinrich-Böll-Stiftung sowie Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND)

Inhaltliche Verantwortung:
Lili Fuhr, Heinrich-Böll-Stiftung (Gesamtleitung)
Dr. Rolf Buschmann und Judith Freund, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND)

Projektleitung: Kai Schächtele
Art-Direktion und Infografiken: Janine Sack, Sabine Hecher, Lena Appenzeller

Projektmanagement: Kristin Funke, Annette Kraus

Textchefin: Elisabeth Schmidt-Landenberger
Dokumentation: Alice Boit
Übersetzungen: Annette Bus, Julia Rickers

Mit Originalbeiträgen von:
Claire Arkin, Alexandra Caterbow, Christine Chemnitz, Camille Duran, Steven Feit, Manuel Fernandez, Chris Flood, Lili Fuhr,
Elisabeth Grimberg, Stephan Gürtler, Lea Guerrero, Johanna Hausmann, Von Hernandez, Ulrike Kallee, Christie Keith,
Doris Knoblauch, Christoph Lauwigi, Linda Mederake, Doun Moun, Carroll Muffett, Jane Patton, Christian Rehmer, Kai Schächtele,
Dorothea Seeger, Olga Speranskaya, Esra Tat, Nadja Ziebarth

Redaktionelle Mitarbeit: Michael Bukowski, Paul Mundy, Heribert Wefers

Die Beiträge geben nicht notwendig die Ansicht aller beteiligten Partnerorganisationen wieder.

V. i. S. d. P.: Annette Maennel, Heinrich-Böll-Stiftung

6. Auflage, August 2021

ISBN 978-3-86928-200-8

Produktionsplanung: Elke Paul, Heinrich-Böll-Stiftung

Druck: Bonifatius GmbH, Paderborn
Klimaneutral gedruckt auf 100 % Recyclingpapier.

Dieses Werk mit Ausnahme des Coverfotos steht unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – 4.0 international“
(CC BY 4.0). Der Text der Lizenz ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/legalcode abrufbar.
Eine Zusammenfassung (kein Ersatz) ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de nachzulesen.
Sie können die einzelnen Infografiken dieses Atlas für eigene Zwecke nutzen, wenn der Urhebernachweis
PLASTIKATLAS | Appenzeller/Hecher/Sack CC-BY-4.0 in der Nähe der Grafik steht (bei Bearbeitungen: PLASTIKATLAS |
Appenzeller/Hecher/Sack (M) CC-BY-4.0).

Cover-Copyright: Foto: ©Nora Bibel ©Montage: Annelie Saroglou unter Verwendung einer Darstellung von Wetzkaz/Adobe Stock

BESTELL- UND DOWNLOAD-ADRESSEN
Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstraße 8, 10117 Berlin, www.boell.de/plastikatlas
Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V., Kaiserin-Augusta-Allee 5, 10553 Berlin, www.bund.net, www.bund.net/plastikatlas
PLASTIKATLAS
 Daten und Fakten über eine Welt voller Kunststoff

                     6. Auflage
                        2021
INHALT

    02 IMPRESSUM                                             18 GENDER
                                                                UNGLEICH VERTEILTE RISIKEN
    06 VORWORT                                                  Von Kunststoffen sind Frauen stärker betroffen
                                                                als Männer. Dahinter stecken unter anderen
                                                                biologische Unterschiede: Ihre Körper reagieren
                                                                anders auf Giftstoffe, sie verwenden belastete
                                                                Hygieneprodukte. Doch es gibt Alternativen.

                                                             20 ERNÄHRUNG
                                                                EIN UNAPPETITLICHER KREISLAUF
                                                                Einer der größten Abnehmer von Kunststoffen
                                                                ist die Lebensmittelindustrie. Ihre Produkte
                                                                sollen schön verpackt sein und jedes Bedürfnis
                                                                befriedigen. Der Preis: Das Plastik landet auch
                                                                auf Äckern und damit in der Nahrungskette.
    08 ZWÖLF KURZE LEKTIONEN
       ÜBER PLASTIK UND DIE WELT                             22 KLEIDUNG
                                                                MEHR VERANTWORTUNG TRAGEN
    10 GESCHICHTE                                               Textilien aus synthetischen Fasern haben auf den
       DURCHBRUCH MIT DREI BUCHSTABEN                           ersten Blick viele Vorzüge: Sie sind günstig,
         Die ersten Kunststoffe imitierten Elfenbein            trocknen schnell und passen sich dem Körper an.
         und Seide und besetzten zunächst nur                   Doch sie sind zu Wegwerfartikeln geworden
         eine Marktnische. Der Boom begann erst                 und tragen so erheblich zum Klimawandel bei.
         nach dem Zweiten Weltkrieg mit PVC.                    Und nicht zuletzt gefährden sie die Gesundheit.
         Danach eroberte billiger Kunststoff die Welt.
                                                             24 TOURISMUS
    12 WEGWERFMENTALITÄT                                        GIBT ES NOCH HOFFNUNG
       MÜLL FÜR DIE WELT                                        FÜR DAS URLAUBSPARADIES?
         Noch in den Fünzigern verwendeten Menschen             Viele Reiseziele sind zu Sinnbildern der Plastik­
         Plastik mit so viel Sorgfalt wie Glas oder Seide.      krise geworden. Die Entsorgung von Abfall
         Dann entdeckten die Konsumgüterkonzerne die            funktioniert nicht. Achtlosigkeit kommt hinzu.
         Vorzüge des Materials. Und es entwickelte sich         Mit den Folgen stehen die Einheimischen
         ein Lebensstil, der unentwegt Abfall produziert.       weitgehend allein da.

    14 NUTZUNG                                               26 KLIMAWANDEL
       FLUCH UND SEGEN                                          PLASTIK HEIZT DAS KLIMA AN
         Kunststoffe sind unverzichtbar geworden.               Kunststoffe gelten als umweltschonende
         Sie stecken in Plastiktüten, Smartphones und           Alternative zu anderen Materialien – unter
         Armaturenbrettern. Doch beinahe die Hälfte             anderem wegen ihres geringen Gewichts.
         aller Produkte ist nach weniger als einem Monat        Dabei trägt der Plastik-Boom erheblich zum
         Abfall. Nur ein Bruchteil landet im Recycling.         Anstieg gefährlicher Treibhausgase bei.

    16 GESUNDHEIT                                            28 PLASTIK IM WASSER
       CHEMIE IM KÖRPER                                         KUNSTSTOFF KENNT KEINE GRENZEN
         Die Auswirkungen der aus den Fugen geratenen           Die Plastikkrise hat dramatische Auswirkungen
         Plastikproduktion auf die Umwelt sind bekannt          auf Gewässer und marine Lebewesen. Einmal im
         und unübersehbar. Verborgen bleiben die                Wasser angekommen, verteilt sich das Plastik
         gesund­­heit­lichen Folgen für den Menschen –          über die Welt. Dort verheddern sich dann Tiere
         von der Rohstoffgewinnung bis zur Entsorgung.          darin – oder sie halten das Material für Nahrung.

4   PLASTIKATLAS 2019
30 KONZERNE                                            42 REGULIERUNG
   DIE AKTIVITÄTEN DER PLASTIK-LOBBY                      LÖSUNGEN AM FALSCHEN ENDE
   Mit gut organisiertem Lobbydruck sorgt die            Es gibt keinen Mangel an Abkommen und
   Plastikindustrie dafür, dass die wachsende            ­Initia­tiven, die Plastikkrise einzudämmen. Doch
   Produktion von Kunststoffen als Problem aus            beinahe alle behandeln allein die Entsorgung,
   dem Blick gerät. Sie lenkt die Aufmerksamkeit          sind nicht aufeinander abgestimmt und
   auf das Abfallmanagement und Recycling                 entlassen die Hersteller aus der Verantwortung.
   und drückt sich so vor der Verantwortung.
                                                       44 ZIVILGESELLSCHAFT
32 WOHLSTAND                                              WIE DIE ANTI-PLASTIK-BEWEGUNG
   DAS PRODUKT DES WELTHANDELS                            GEGEN DIE INDUSTRIE VORGEHT
   Das Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit            Ein globales zivilgesellschaftliches Bündnis
   wäre ohne Plastik nicht möglich gewesen.              namens „Break Free From Plastic“ versucht,
   Kunststoffe sind Ergebnis wie Antriebskraft einer     die Vermüllung der Welt zu stoppen.
   Ära der Globalisierung, die mit dem Online-           Mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen und
   Shopping weitere Müllberge produziert.                Aufklärung setzt es Konzerne unter Druck.

34 „BIO“-PLASTIK                                       46 ZERO-WASTE
   MAIS STATT ÖL IST KEINE LÖSUNG                         ES GEHT AUCH OHNE!
   Kunststoffe aus nachwachsenden Rohstoffen             Kunststoffe zu recyceln – das allein wird die
   haben den Ruf, umweltverträglich zu sein.             Plastikkrise nicht lösen. Gefragt sind Ideen, die
   Außerdem bauen sie sich schneller ab. So das          das Problem an der Wurzel anpacken. Eine
   Versprechen der Industrie. Ein genauerer Blick        wachsende Bewegung zeigt, wie es geht – und
   zeigt: Die Materialien schaffen neue Probleme.        mutige Städte und Kommunen gehen voran.

36 ABFALLENTSORGUNG
   HINTER DEN KULISSEN DER
   UNGELÖSTEN PLASTIKKRISE
   Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube: Solange
   der täglich anfallende Müll nur sauber getrennt
   wird, muss sich am Konsumverhalten nichts
   verändern. Die Wahrheit ist: Ein Großteil des
   Plastikmülls landet in Öfen oder in der Umwelt.

38 MÜLLEXPORTE
   DIE MÜLLHALDE HAT GESCHLOSSEN
   Was tun mit Plastikabfall, der nicht recycelt
   oder entsorgt werden kann? Ganz einfach:­wo­
   anders hinschicken. Bis vor kurzem wurde der
   Großteil schlecht verwertbarer Kunststoffe nach
   China verschifft. Doch damit ist es jetzt vorbei.

40 SAMMELN UND VERKAUFEN
   EIN LEBEN VON UND MIT MÜLL
   In vielen ärmeren Ländern übernehmen                48 AUTORINNEN UND AUTOREN,
   Müllsammelnde die Aufgabe städtischer Dienste.         QUELLEN VON DATEN, KARTEN
   Sie bestreiten ihr Einkommen mit dem, was              UND GRAFIKEN
   andere wegwerfen. Doch für viele Kunststoffe
   finden sie keine Abnehmer.                          50 ÜBER UNS

                                                                                                      PLASTIKATLAS 2019   5
P
    VORWORT

                        lastik ist allgegenwärtig und kaum noch aus unserem Alltag wegzuden­
                        ken. Wir nutzen Plastik für lebensrettende medizinische Geräte, für
                        Kleidung, Spielzeug und Kosmetik genauso wie in industriellen und
                        landwirtschaftlichen Produkten. Wir wissen auch schon seit langem,
                        welch wachsendes Risiko Plastikmüll in der Umwelt, auf Deponien
                        und in den Weltmeeren darstellt.

                        Mehr und mehr wird deutlich, wie sehr Plastik entlang des gesamten
                        Lebenszyklus von der Produktion über die Nutzung bis zur Entsorgung
                        die menschliche Gesundheit bedroht. Plastik­partikel und die bei der
                        Plastikherstellung verwendeten giftigen Chemikalien finden sich in
                        unserer Atemluft, in unserem Trinkwasser und im Boden. Dies schädigt
                        das Immun- und Reproduktionssystem, Leber und Nieren, und es
                        kann sogar Krebs erzeugen.

                        Obwohl das Bewusstsein für die Umwelt- und Gesundheitsschäden
                        durch Plastik wächst, erleben wir einen Boom bei der Plastik­produktion.
                        Dieser Trend wird auch in Zukunft anhalten, wenn die Expansions­pläne
                        der Industrie – angetrieben von billigem „gefracktem“ Erdgas – nicht
                        gestoppt werden.

                        Allein in den USA plant die Plastikindustrie, ihre Produktion in den
                        nächsten Jahren noch um 30 Prozent zu steigern. Tatsächlich werden
                        99 Prozent des Plastiks aus fossilen Brennstoffen wie Kohle, Öl und
                        Gas hergestellt. Die klima­schädlichen Emissionen entlang des gesam­
                        ten Lebenszyklus von Plastik sind enorm.

                        Mittlerweile beginnen Regierungen wenigstens an einigen Stellen,
                        den Plastikverbrauch zu regulieren, u.a. durch Verbote von Einweg­
                        plastikartikeln. Aber solange wir nicht die Plastik­produktion an
                        sich drosseln, greifen diese Ansätze zu kurz. Aufwändige Marketing-
                        und Werbe­kampagnen der Industrie suggerieren uns, dass ein
                        Leben ohne Plastik nicht möglich sei, und schieben die Verantwortung
                        für die Plastikkrise von den Plastikproduzenten auf die Verbraucher­
                        innen und Verbraucher – also auf uns alle. Doch bessere Mülltrennung
                        und Recycling allein werden das Problem nicht lösen. Ganz im

6   PLASTIKATLAS 2019
Gegenteil: Der Handel mit Plastikmüll ist ein boomendes Geschäft.
Denn wir exportieren einen Großteil unseres Plastikmülls (und die damit
einher­gehenden negativen Umwelt- und Gesundheits­folgen) nach
Südostasien. Viele der Länder dort haben keine oder nur unzureichende
Abfallentsorgungssysteme. Der Plastikmüll landet so letztendlich in
der Umwelt und vor allem auch in den Meeren.

Dennoch sind wir zuversichtlich: Noch nie war das Plastikthema so weit

                                                „
oben auf der politischen Agenda, noch nie haben sich so viele Menschen
in globalen Bewegungen wie „Break Free From Plastic“ organisiert.
Überall auf der Welt entstehen Initiativen für eine „Zero-Waste“ Politik
in Städten und Gemeinden. Ihnen allen ist
gemeinsam: Sie wollen das Problem an der
Wurzel packen und an Lösungen und                          Wir sind zuversichtlich:
Alternativen arbeiten.                                     Noch nie war das
                                                 Plastikthema so weit oben auf
Eine Welt ohne Plastikverschmutzung ist          der politischen Agenda.
eine Vision, für die es sich lohnt zu streiten.
Denn Plastik ist ein Thema, das jeden und
jede von uns etwas angeht und bewegt. Wir haben gerade erst begon­
nen, die gewaltigen Dimensionen dieser Krise zu begreifen. Für ein
Umsteuern braucht es fundiertes Wissen über die Ursachen, die Akteure
sowie die Auswirkungen der Plastikkrise. Mit unserem Plastikatlas
wollen wir genau das bieten.

Wir wünschen viele Erkenntnisse beim Durch­blättern und Lesen – und
neue Lust zum politischen und persönlichen Handeln!

Barbara Unmüßig
Heinrich-Böll-Stiftung

Hubert Weiger
Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland

                                                                                PLASTIKATLAS 2019   7
12 KURZE LEKTIONEN

           ÜBER PLASTIK UND DIE WELT

             1     Die massenhafte Verbreitung von Plastik begann erst in der
                   zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mit der
                   Entdeckung, dass sich ein ABFALLPRODUKT DER CHEMISCHEN
                   INDUSTRIE für die Produktion des Kunststoffs PVC eignet.

                                  2   Zwischen den Jahren 1950 und 2015 wurden weltweit
                                      8,3 MILLIARDEN TONNEN PLASTIK produziert. Das entspricht
                                      mehr als einer Tonne pro Mensch, der heute auf der Erde
                                      lebt. Den allergrößten Teil machen Einwegprodukte
                                      und Ver­packungen aus. Nicht einmal zehn Prozent des
                                      jemals produzierten Kunststoffes sind recycelt worden.

            3      1978 entschied Coca-Cola, die legendäre
                   Glas­flasche durch Plastikflaschen zu
                   ersetzen. Inzwischen sind TO-GO-BECHER UND
                   EINWEGGESCHIRR kaum noch aus unserem
                   beschleunigten Alltag wegzudenken.

                              4   Von Plastik gehen viele GESUNDHEITLICHE RISIKEN
                                  aus. Zahlreiche chemische Zusatzstoffe geben
                                  dem Material die gewünschten Eigenschaften,
                                  sind aber gesundheitsschädlich. Sie reichern sich
                                  in Innenraumluft und Hausstaub an.

            5      Das Wissen um Mikroplastik in den Ozeanen
                   ist weit verbreitet. Was nur wenige wissen:
                   Die VERSCHMUTZUNG VON BÖDEN UND
                   BINNENGEWÄSSERN ist je nach Umgebung
                   zwischen vier- und 23-mal so hoch wie im Meer.

                           6   Weltweit werden jährlich etwa 6,5 Millionen
                               Tonnen Plastik in der Landwirtschaft genutzt.
                               2018 wurden in der EU für Essen und Getränke
                               mehr als 1,13 BILLIONEN VERPACKUNGEN verwendet.
                               Das wichtigste Verpackungsmaterial: Plastik.

8   PLASTIKATLAS 2019
7    Viele Kleidungsstücke werden aus Chemiefasern wie
     Polyester gefertigt. Deren Grundstoff ist Erdöl oder -gas.
     Je nach Produktionsart liegen die CO2-EMISSIONEN EINES
     POLYESTER-SHIRTS zwischen 3,8 und 7,1 Kilogramm.

                  8    Geht die Plastikproduktion ungebremst weiter, werden
                       allein Kunststoffe bis 2050 rund 56 Gigatonnen CO2-
                       Emissionen erzeugt haben. Damit gingen ZWISCHEN
                       10 UND 13 PROZENT DES VERBLEIBENDEN CO2-BUDGETS
                       für das 1,5-GRAD-ZIEL auf das Konto von Kunststoffen.

9    Eine Handvoll multinationaler Konzerne kontrolliert
     den globalen Plastikmarkt. Der größte europäische
     Plastikkonzern Ineos investiert Milliarden,
     um mit BILLIGEM FRACKING-GAS aus den USA die
     Plastikproduktion in Europa weiter anzuheizen.

                10     Die Deutschen wären gern Recycling-Weltmeister.
                       Das ist aber Wunschdenken. Von den 2017 ange­
                       fallenen 5,2 MILLIONEN TONNEN KUNSTSTOFFABFÄLLEN
                       wurden gerade mal 810 000 Tonnen wiederverwertet.
                       Das entspricht einer Quote von 15,6 Prozent.

11   Seit China im Jahr 2018 einen Import-Stopp
     für Plastikmüll verhängt hat, wird mehr
     in Malaysia entsorgt. DER DRITTGRÖSSTE
     EXPORTEUR VON PLASTIKMÜLL nach Asien ist
     hinter den USA und Japan: Deutschland.

                      12     Im Jahr 2016 hat sich die globale Bewegung
                             „BREAK FREE FROM PLASTIC“ gegründet, um
                             Konsumgüterkonzerne und Plastikproduzenten
                             zur Verantwortung zu ziehen. 1400 Organisationen
                             und Tausende von Menschen haben sich bereits
                             angeschlossen.

                                                                       PLASTIKATLAS 2019   9
GESCHICHTE

     DURCHBRUCH MIT DREI BUCHSTABEN
     Die ersten Kunststoffe imitierten Elfenbein                                    wurde. Im Jahr 1907 verbesserte Leo Hendrik Baekeland die
     und Seide und besetzten zunächst nur                                           Phenol-Formaldehyd-Reaktionstechniken und erfand Bake­
     eine Marktnische. Der Boom begann erst                                         lit – den ersten Kunststoff, der keine in der Natur bekannten
                                                                                    Moleküle mehr enthielt. Bakelit wurde als guter Isolator und
     nach dem Zweiten Weltkrieg mit PVC.
                                                                                    langlebiges wie hitzebeständiges Material vermarktet.
     Danach eroberte billiger Kunststoff die Welt.                                       Fünf Jahre später patentierte Fritz Klatte einen Kunst­

     P
                                                                                    stoff namens Polyvinylchlorid. Besser bekannt als PVC oder
           lastik ist im Alltag von Milliarden von Menschen omni­                   Vinyl. Bis etwa zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts be­
           präsent und wird auch in der Industrie umfangreich                       setzten Kunststoffe jedoch nur eine überschaubare Markt­
           genutzt. Jährlich werden weltweit über 400 Millionen                     nische. Die Initialzündung für die massenhafte Verbreitung
     Tonnen hergestellt. Aber was genau ist Plastik überhaupt?                      von PVC war die Entdeckung, dass ein Abfallprodukt der
     Der Begriff bezeichnet umgangssprachlich eine Gruppe                           chemischen Industrie genutzt werden kann, um es herzu­
     von Materialien synthetischen Ursprungs, die sogenannten                       stellen. Das bei der Produktion von Natronlauge anfallende
     Kunststoffe. Sie entstehen durch eine als Polymerisation be­                   Chlor ließ sich als günstiger Ausgangsstoff verwenden.
     zeichnete Abfolge chemischer Reaktionen aus organischen                             Damit begann der rasante und bis heute ungebrochene
     Rohstoffen, hauptsächlich aus Erdgas und Erdöl. Durch ver­                     Aufstieg von PVC. Im Zweiten Weltkrieg stieg die Nachfra­
     schiedene Formen der Polymerisation lassen sich Kunststof­                     ge deutlich, weil mit dem Stoff die Kabel auf Militärschiffen
     fe mit variablen Eigenschaften herstellen: weich oder hart,                    isoliert wurden. Obwohl immer bekannter wurde, dass die
     transparent oder undurchsichtig, fest oder flexibel.                           PVC-Produktion sowohl der Umwelt wie auch der Gesund­
         Der erste Kunststoff wurde auf der Weltausstellung im                      heit schadet, nutzte die petrochemische Industrie die neu
     Jahr 1862 in London präsentiert. Er hieß „Parkesine“ – nach                    entdeckten Möglichkeiten, um ein Abfallprodukt in Profit
     seinem Erfinder Alexander Parkes, der ihn aus Zellulose ab­                    zu verwandeln. PVC avancierte zum wichtigsten Kunststoff
     leitete. Dieses organische Material ließ sich formen, während                  in einer Vielzahl von Haushalts- und Industrieprodukten.
     es erhitzt wurde, und behielt seine Form nach dem Abküh­                            Neben PVC setzte sich Polyethylen durch. Es wurde in
     len bei. Wenige Jahre später entwickelte John Wesley Hyatt                     den 1930er Jahren erfunden und benutzt, um Getränke­
     Zelluloid, indem er Nitrozellulose unter Hitze und Druck                       flaschen, Einkaufstüten und Lebensmittelbehälter herzu­
     und Beigabe von Kampfer und Alkohol in einen verformba­                        stellen. Einen weiteren Kunststoff mit den Eigenschaften
     ren Kunststoff verwandelte. Er ersetzte Elfenbein und Schild­                  von Polyethylen entdeckte 1954 der Chemiker Guilio Natta:
     patt in Billardkugeln oder Kämmen und machte in der Film-                      Polypropylen wurde in den fünfziger Jahren populär und
     und Foto-Industrie Karriere. 1884 patentierte der Chemiker                     wird bis heute für eine Reihe von Alltagsprodukten wie zum
     Hilaire de Chardonnet eine als Chardonnet-Seide bekannte                       Beispiel Verpackungen, Kindersitze oder Rohre verwendet.
     Kunstseide. Rayon, heute Viskose genannt, ist ein halbsyn­                          Nicht zuletzt trug auch das damalige Image des Mate­
     thetischer Kunststoff aus chemisch behandelter Zellulose –                     rials zum Kunststoff-Boom bei. Plastik galt als schick, sauber
     die günstigere Alternative zu Naturprodukten wie Seide.                        und modern. Es verdrängte herkömmliche Produkte und
         Diese und andere frühe Kunststoffe wurden aus natür­
     lichen Materialien hergestellt. Es sollte noch 40 Jahre dau­
                                                                                            Die Erfindungen der wichtigsten Kunststoffe liegen in der
     ern, bis ein vollständig synthetischer Kunststoff entwickelt
                                                                                                    Zeit zwischen 1850 und 1950. Seitdem wurden die
                                                                                         Produkte weiter verfeinert, meist aber mit giftigen Zusätzen.

        ZEITSTREIFEN
        Die Geschichte der wichtigsten Kunststoffe                      1892                           1907                   1910                1931
        H = Herstellung, E = Erfindung                                  Viskose                        Bakelit                Synthese-           Polystyrol
                                                                        Charles Cross, Edward          Leo Baekeland (E)      kautschuk           IG Farben (E)
                                                                        Bevan, Clayton Beadle (H)                             Fritz Hofmann (E)
        1839                                                                                              1908
        Gummi                                                                                             Cellophan
        Charles Goodyear (H)                                                                              Jacques E.
                                                                                                          Brandenberger (H)
                                  1869                      1884                                                                        1912
                                  Zelluloid                 Kunstseide                                                                  Polyvinylchlorid
                                  John Wesley Hyatt (H)     Hilaire de Bernigaud,                                                       (PVC)
                                                            Graf von Chardonnet (H)                                                     Fritz Klatte (E)

       1830              1840       1850             1860        1870            1880           1890            1900           1910          1920          1930

10   PLASTIKATLAS 2019
PLASTIKATLAS 2019 / UBA
       DER PLASTIK-KREISEL
       Anteile verschiedener Kunststofftypen und deren Kennzeichnung mit Recyclingcodes, in Deutschland 2017

                                                                                                                                   Polyesterfasern,
                                                  7                                                         1                      Folien, Lebensmittel-
                                                ANDERE                                                     PET                     verpackungen,
          Koffer, CDs und                    Verschiedene                                           Polyethylen-                   Lebensmittelflaschen
        DVDs, Bekleidung,                  Kunststoffe (u.a.                                        terephthalat
        Seile, Fallschirme,                 PC, PA, PMMA,
        Borsten von Zahn-                   PUR, ABS, ASA,                               6%                                                        Plastikflaschen,
       bürsten, Spielzeug,                  SAN, sonstige                                                                     2                    Reinigungs-
                                                                                                  13 %
             Gehäuse von                    Thermoplaste)                                                                 HDPE                     mittelbehälter,
           Elektrogeräten                                          31 %
                                                                                                                       Polyethylen                 Rohre für Gas-
                                                                                                                       hoher Dichte                und Trinkwasser,
                                                                                                        13 %                                       Haushaltswaren

               Lebensmittel-                                        5%                                                                             Stiefel,
              verpackungen,                         6                                                                    3                         Duschvorhänge,
                                                                                                 15 %
                   Styropor-                       PS                           17 %                                    PVC                        Fensterrahmen,
              verpackungen,                     Polystyrol                                                         Polyvinylchlorid                Rohre, Bodenbeläge,
                 Dämmstoff                                                                                                                         Elektrokabel,
                                                                                                                                                   Kunstleder

                         Lebensmittel-                                                                                                   Plastiktüten,
                        verpackungen,                                      5                                   4                         Frischhaltefolien,
                           DVD-Hüllen,                                     PP                               LDPE                         Müllsäcke, Tuben,
              Innenraumverkleidungen,                              Polypropylen                       Polyethylen                        Milchkarton-
               Stoßstangen, Kindersitze                                                             niedriger Dichte                     beschichtungen

                                                                                                                       Im Jahr 2017 wurden in Deutschland über
                                                                                                         14 Millionen Tonnen Kunststoffe produziert. Zumindest
 drang nach und nach in nahezu alle Bereiche des Lebens                                                        theoretisch können alle wiederverwertet werden.
 vor. Heute zählen PVC, Polyethylen und Polypropylen zu
 den weltweit am häufigsten eingesetzten Kunststoffen.
    Zur Verbesserung seiner Eigenschaften wird Plastik mit                                    es Herstellungsverfahren für einen biologisch abbaubaren
 chemischen Zusätzen wie Weichmachern, Flammschutz­                                           Kunststoff zu entwickeln. Chitin aus Krustentierschalen
 mitteln oder Farbstoffen versetzt. Viele dieser Additive ma­                                 wurde zu einem Polymer namens Chitosan modifiziert. Die
 chen Plastik zwar flexibel oder langlebig. Sie schaden aber                                  Entwickler der McGill University in Kanada hoffen auf eine
 der Umwelt genauso wie der Gesundheit. Denn sie können                                       glänzende Zukunft, da jährlich sechs bis acht Millionen
 aus dem Material austreten, in Wasser oder Luft übergehen                                    Tonnen Krustentierabfall anfällt. Solche und andere Kunst­
 und letztlich in unsere Lebensmittel gelangen. Zudem kön­                                    stoffe auf Basis natürlicher Ausgangsstoffe werden bereits
 nen sie beim Recycling von Plastik freigesetzt werden.                                       in Strohhalmen, Einweggeschirr, Plastiktüten und Lebens­
    Eine neue Generation von Kunststoffen lässt sich aus                                      mittelverpackungen eingesetzt. Ihr Beitrag zur Lösung der
 Biopolymeren wie Maisstärke gewinnen. Darüber hinaus                                         Plastikkrise ist allerdings zweifelhaft.
 gelang es, aus den Schalen von Krebstieren ein völlig neu­
                                                                                                                                                                            PLASTIKATLAS 2019 / BRAUN, FALBE

 1935                          1937                     1938                    1946                    1949                      1953                1954
 Polyethylen                   Polyurethan              Teflon                  Acrylnitril-            Styropor                  Polycarbonat        Polyacrylnitril
 hoher Dichte                  Otto Bayer (E)           Roy J. Plunkett,        Butadien-               Fritz Stastny (H)         Hermann             BAYER (H)
 ICI Großbritannien (H)                                 Rack Rebok, (E)         Styrol                                            Schnell (E)
                                                                                US Rubber                            1952                             1954
                                                                                Company (H)                          Polyethylen                      Polypropylen
                                                                                                                     niedriger Dichte                 Guilio Natta (E)
                                                                                                                     Karl Ziegler (E)
 1935                                                   1938
 Melamin                                                Perlon
 BASF (H)                                               Paul Schlack (E)

1935                                    1940                                           1945                                       1950                                   1955

                                                                                                                                                              PLASTIKATLAS 2019                                11
WEGWERFMENTALITÄT

     MÜLL FÜR DIE WELT
     Noch in den Fünzigern verwendeten Menschen                                   Der Anteil der Erwerbstätigen erhöhte sich zunehmend.
     Plastik mit so viel Sorgfalt wie Glas oder Seide.                            Die Städte wuchsen und mit ihnen die Zahl der Pendlerin­
     Dann entdeckten die Konsumgüterkonzerne die                                  nen und Pendler. Die Ansprüche an die Freizeit stiegen und
                                                                                  Familien nahmen sich weniger Zeit zum Kochen, Gärtnern
     Vorzüge des Materials. Und es entwickelte sich
                                                                                  oder für die Hausarbeit. Auch die Zahl der Ein-Personen-
     ein Lebensstil, der unentwegt Abfall produziert.                             Haushalte hat sich seit 1950 verdoppelt. Mithilfe von Ge­

     B
                                                                                  frier- und Mikrowellengeräten ließen sich selbstgekochte
            is weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein waren Pro­                  Mahlzeiten aus frischen Zutaten durch vorgekochte Fertig­
            dukte noch auf Haltbarkeit und eine dauerhafte Be­                    gerichte aus dem Supermarkt ersetzen.
            nutzung ausgelegt. Die Läden verkauften ihre Lebens­                      Insbesondere Einwegprodukte aus Plastik ermöglichen
     mittel und Getränke in großen Mengen zum Selbstabfüllen.                     den „Convenience-Lifestyle“: Strohhalme, Tüten, Geschirr
     Verpackungen und Flaschen konnten weiterbenutzt oder                         und Besteck, Flaschen und Becher für Getränke und Snacks
     zurückgegeben werden. Auch als Kunststoffe nach dem                          „to go“ bilden die materielle Basis unseres Alltags. Alles ist
     Zweiten Weltkrieg zum Massenprodukt wurden, behan­                           schnell zu haben, bequem zu konsumieren und danach ein­
     delten die Menschen sie anfangs ebenso sorgfältig wie her­                   fach wegzuwerfen. Die Einwegprodukte sind zu Symbolen
     kömmliche Materialien und Verpackungen.                                      des Lebensstils in einer kapitalistischen Wirtschaft gewor­
         Im Zuge des aufkommenden Massenkonsums in den                            den. Dieser ist sowohl Ursache als auch eine Folge der zu­
     späten 1950er-Jahren wurde der Ressourcenhunger von                          nehmenden Getriebenheit und Geschwindigkeit des mo­
     Wirtschaft und Gesellschaft immer größer. Die Industrie                      dernen Lebens.
     nutzte die Möglichkeit, Geld einzusparen und Lieferketten                        Diese Mentalität spiegelt sich in zentralen Bereichen der
     zu vereinfachen, indem Verpackungen und Flaschen nach                        populären Kultur wider, zum Beispiel bei Sport- und Musik­
     der Nutzung im Mülleimer landeten. Es war der Startschuss                    events oder in Hollywood-Filmen. Von der Collegeparty-Sze­
     für unsere heutige Wegwerfmentalität. Bereits in den frü­                    ne mit Plastikgeschirr bis hin zum Serien-Helden, der mit
     hen 1960er-Jahren fluteten Milliarden von Kunststoffarti­                    dem To-go-Becher in der Hand zur Arbeit geht, haben Weg­
     keln die Mülldeponien und Verbrennungsanlagen der west­                      werfprodukte ihren Weg auf die Bildschirme gefunden. Von
     lichen Welt. Die Umstellung auf Wegwerfverpackungen                          dort aus strahlt diese Kultur in die ganze Welt. In ärmeren
     erfolgte schrittweise. In den späten 1970er-Jahren setzten                   Regionen gelten Wegwerfprodukte aus Kunststoff als Teil
     sie sich schließlich weltweit durch. 1978 führte Coca-Cola                   des westlichen Lifestyles mit hohem Prestige und werden
     die Einweg-PET-Flasche als Ersatz für die Kultflasche aus Glas               massenhaft eingesetzt. Konzerne und Unternehmen haben
     ein. Dieser Schritt markierte den Beginn einer neuen Ära.                    diese Entwicklung aktiv vorangetrieben und eifrig verstärkt.
         Mitte der 1980er-Jahre war der Glaube in der westlichen                      Bei Großveranstaltungen fallen Lastwagenladungen
     Welt weit verbreitet, Recycling könne das wachsende Pro­                     voller Abfälle an, die nur verbrannt oder auf Müllhalden
     blem der Einwegplastikprodukte lösen. Am Ende des Jahr­                      deponiert werden können. Das hat immerhin ansatzweise
     zehnts waren kaum noch nachfüllbare Limonaden- und                           zu einem Umdenken geführt. Einige wenige Veranstalter
     Milchflaschen im Umlauf. Die meisten waren durch Weg­                        sind inzwischen dazu übergegangen, Mehrweg-Pfandbe­
     werfflaschen aus Plastik ersetzt worden. Diese Methode der                   cher zu verwenden und das Essen auf kompostierbaren Tel­
     Einweg-Lieferkette half den Herstellern von Lebensmitteln                    lern zu servieren. Zudem gehen immer mehr Anbieter von
     und Getränken, weit entfernte neue Märkte zu erobern.                        To-go-Getränken und -Lebensmitteln dazu über, ihren Kun­
     Gleichzeitig begannen die Entwicklungsländer, dem Vorrei­
     termodell des Westens zu folgen. Der Wegwerf-Lebensstil
     stand für Fortschritt und Modernität. Gegen Ende des zwan­
                                                                                            Plastik ist nicht gleich Plastik. Manche Produkte werden
     zigsten Jahrhunderts wurde das Leben noch geschäftiger.
                                                                                           über Jahrzehnte verwendet. Verpackungen jedoch stellen
                                                                                             die größte Menge und sind nur sehr kurz in Benutzung.

        SO ALT WIRD PLASTIK
        Durchschnittliche Nutzungsdauer unterschiedlicher Kunststoffe nach Industriezweigen in Jahren
                                    en
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                                         il
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           0,5 Jahre       3         5          8         10             13                               20         30                  35

12   PLASTIKATLAS 2019
DER PLASTIKMÜLL DER GRÖSSTEN KONSUMGÜTERKONZERNE

                               Kunststoffverpackungsabfälle
                               in Tonnen, pro Jahr

                                          3 000 000

                                                                              Platz 1: Coca-Cola
                                                                              Die globale Jahresproduktion
                                                                              von Einweg-Plastikflaschen:
                                                                              88 000 000 000

                                                                                                                                                                        Zum Vergleich:
                                                  1 700 000                                                                                                                Die gesamte
                                                                                                           88 Milliarden                                              Einwegflaschen-
                                                                                                         Flaschen reichen                                                Produktion in
                                                                                                        aneinandergereiht                                           Deutschland würde
                                                                                                        31-mal zum Mond
                                                                                                                                                                       13-mal bis zum
                                                                                                           und zurück.
                                                                                                                                             Das entspricht einer        Mond reichen.
                                                          750 000                                                                              Produktion von
                                                                                                                                             167 000 Flaschen
 PLASTIKATLAS 2019 / DUH, MACARTHUR

                                                                    610 000
                                                                                                                                                 pro Minute.
                                                      a

                                                     lé

                                                   ne

                                                      r
                                                  ve
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                                          Co

                                                  st

                                                no

                                               ile
                                             Ne
                                            -

                                            Da
                                         ca

                                            Un
                                      Co

Gemeinsam mit 31 Konzernen hat Coca-Cola 2019
erstmals seine Plastik-Daten veröffentlicht. Sie belegen,                                              bieten die herstellenden Unternehmen keine Lösungen zur
wie viel Müll von relativ wenigen Unternehmen kommt.                                                   Entsorgung bzw. Verwertung der Verpackungen an. Abfäl­
                                                                                                       le von Convenience-Artikeln sind in den Städten vieler Ent­
                                                                                                       wicklungsländer zu einem erheblichen Problem geworden.
dinnen und Kunden Rabatte für selbst mitgebrachte Mehr­                                                Denn es gibt keinen wirtschaftlichen Anreiz, sie zu sammeln,
wegbecher einzuräumen. Aber die Wegwerfmentalität                                                      und keine Möglichkeit, sie umweltgerecht zu entsorgen.
bleibt bis heute beherrschend. Denn sie erleichtert bestimm­
te Aspekte des Lebens. Die Kosten, die durch die Vermüllung
entstehen, sind in diese Produkte nicht eingepreist.

                                                                                                                                                                                      PLASTIKATLAS 2019 / STATISTA
                                                                                                             SO VIEL PLASTIKMÜLL FÄLLT IN DER EU AN
    Die spezifischen Mechanismen unterscheiden sich da­
                                                                                                             Plastikverpackungsabfall pro Kopf in EU-Ländern, 2016
bei von Land zu Land. In vielen Entwicklungsländern war
ausschlaggebend, dass Branchenriesen wie Unilever und                                                        kg/Einwohner/in
Proctor & Gamble ihre Produkte in sogenannten Sachets                                                           > 40
anbieten: Um weiter Marktanteile zu gewinnen, werden                                                            30–39
Shampoos, Waschmittel oder Ketchup in kleinen Mengen                                                            20–29
verkauft. Die Unternehmen argumentieren, dass sich nur                                                          10–19
auf diese Weise Verbraucherinnen und Verbraucher mit
NUTZUNG

     FLUCH UND SEGEN
     Kunststoffe sind unverzichtbar geworden.                                                                       ders beliebt sind. Sie behalten ihre Eigenschaften bei hohen
     Sie stecken in Plastiktüten, Smartphones und                                                                   wie bei kalten Temperaturen. Sie können flexibel sein oder
                                                                                                                    eine starre Form haben. Polyethylen niedriger Dichte (LDPE)
     Armaturenbrettern. Doch beinahe die Hälfte
                                                                                                                    zum Beispiel ist zäh, flexibel und transparent und wird des­
     aller Produkte ist nach weniger als einem Monat                                                                halb bei Folien eingesetzt.
     Abfall. Nur ein Bruchteil landet im Recycling.                                                                      PET dagegen lässt weder Gase noch Flüssigkeiten durch

     Z
                                                                                                                    und ist deshalb Ausgangsstoff für Getränkeflaschen. Poly­
           wischen den Jahren 1950 und 2015 ist bereits eine                                                        propylen hat einen hohen Schmelzpunkt und hält Chemi­
           Menge von 8,3 Milliarden Tonnen Plastik produziert                                                       kalien stand, was den Kunststoff für heiße Flüssigkeiten
           worden – das entspricht mehr als einer Tonne Plastik                                                     attraktiv macht. Polystyrol kann starr, spröde, klar oder ge­
     pro Mensch, der heute auf der Erde lebt. Doch die Gegen­                                                       schäumt sein und ist damit ein vielseitiger Kunststoff für
     den, in denen es hauptsächlich hergestellt und konsumiert                                                      Schutzverpackungen und Lebensmittelbehälter. Und aus
     wird, konzentrieren sich auf wenige Länder und Weltregio­                                                      PVC werden starre oder flexible Verpackungen, aus denen
     nen. Es sind China, Nordamerika und Westeuropa.                                                                weder Sauerstoff noch Wasser austreten können.
         Die langlebigen, leichten und formbaren Kunststoffe                                                             Auch im Bausektor nimmt der Einsatz von Plastik stark
     werden in zahllosen Industrie- und Alltagsprodukten ver­                                                       zu, zum Beispiel bei Bodenbelägen, Türen, Fenstern oder
     wendet. Doch entgegen der ursprünglichen Intention, Plas­                                                      Rohren. Die Materialien leben lange, sind flexibel und be­
     tik als hochwertiges Material zu etablieren, wird es heute                                                     ständig gegen Fäulnis und Korrosion – und sie haben eine
     vor allem gebraucht, um Verpackungsmaterialien und Ein­                                                        feste Konsistenz. Im Vergleich zu anderen Werkstoffen las­
     wegartikel herzustellen. Viele Produkte des täglichen Be­                                                      sen sie sich leicht installieren und warten. Außerdem schüt­
     darfs werden nur einmal – in den meisten Fällen auch nur                                                       zen sie gegen Kälte und Wärme und tragen damit ihren An­
     kurz – genutzt und landen anschließend im Müll. Die Eigen­                                                     teil dazu bei, Energie einzusparen.
     schaften des Materials sind dabei Fluch und Segen zugleich.                                                         Der im Bausektor am häufigsten verwendete Kunststoff
     Kunststoffe sind sehr widerstandsfähig. Genau deshalb aber                                                     ist PVC. Ähnlich wie bei Lebensmitteln kommen dem Kunst­
     bauen sie sich auch extrem langsam ab.                                                                         stoff hier zum einen seine Haltbarkeit und die mechanische
         Es gibt mehrere Gründe, warum Kunststoffe für Verpa­                                                       Festigkeit und zum anderen sein geringes Gewicht zugute.
     ckungen von Lebensmitteln und anderen Produkten beson­                                                         Rohre aus Polyethylen hoher Dichte (HDPE) beispielsweise
                                                                                                                    sind dicht, widerstandsfähig gegenüber Umwelteinflüssen
                                                                                                                    und rosten nicht. Zudem sind sie flexibel, so dass sie gebo­
                                                                                                                    gen und durch vorhandene Rohre gezogen werden können.
                                                                                 PLASTIKATLAS 2019 / UN, STATISTA

        EINE WELT VOLLER KUNSTSTOFF
                                                                                                                         Und nicht zuletzt hat sich Kunststoff beim Bau von Fahr-
        Verteilung der Produktion von Einwegplastikartikeln,
        nach Regionen, 2014                                                                                         und Flugzeugen, von Zügen und Schiffen unverzichtbar
                                                                                                                    gemacht. Die Gründe sind auch hier die Haltbarkeit und
              Nordamerika        Europa                   Ehemalige                                                 Leichtigkeit des Materials sowie seine Flexibilität und Recy­
                                                           UdSSR
                                                                                                                    clingfähigkeit. Zudem müssen die Kunststoffteile weniger
                                                                                                                    gewartet werden und sind flexibel genug, um dauerhaft
                                                            3%                                                      Vibrationen standzuhalten. Ohne Kunststoffe könnte heute
                                            16 %
                  21 %                                                                                              kein Auto mehr fahren. Die meisten stecken in den Innen­
                                                                                                                    verkleidungen, Sitzen, Stoßfängern, Polstern, der Elektro­
                                                     17 %
                                                                      38 %                                          nik des Autos sowie den Armaturenbrettern. Da der Bedarf
                                                                                                                    an leichteren Schiffen mit geringerem Kraftstoffverbrauch
                          4%                    1%                                                                  steigt, werden auch immer mehr faserverstärkte Kunststof­
                                                                                                                    fe wie Glas- oder Kohlefaser eingesetzt. Darüber hinaus ros­
                                                                                                                    ten die Werkstoffe nicht, auch Seewasser kann ihnen nichts
            Mittel- und          Afrika          Naher Osten     Asien und
            Südamerika                                            Pazifik                                           anhaben. Das verlängert die Intervalle bei den Wartungen
                                                                                                                    und senkt die Betriebskosten.
        Weltbevölkerung nach Kontinenten, in Millionen, 2018                                                             In der Luft- und Raumfahrt müssen Werkstoffe extre­
                                                                                                                    men Temperaturen standhalten, immun sein gegen Korro­
             Australien, Ozeanien    41                                                                             sion und Düsentreibstoffen und Chemikalien widerstehen.
                     Nordamerika          365                                                                       Kunststoffe wie PVC, Acryl, Polyamid sind deshalb auch
           Lateinamerika, Karibik          649
                          Europa            746
                            Afrika                1 284                                                             Einwegplastik ist zum Symbol der globalen
                            Asien                                        4 536                                      Plastikkrise geworden. Die Produktion ist allerdings
                                                                                                                    auf wenige Weltregionen konzentriert.

14   PLASTIKATLAS 2019
WOFÜR BRAUCHEN WIR PLASTIK?
  Nutzung nach Industriezweigen, Gesamtmenge 407 Millionen Tonnen, in Millionen Tonnen pro Symbol, 2015

                               Industriemaschinen 3                                                                       Elektronik 18 

                                                                                                                     Transport & Verkehr 27

                                                                                                                           Gebrauchswaren 42

                                                                                                                      Textilien 47

                                                                                                                           Bausektor 65

                                                                                                                                                          PLASTIKATLAS 2019 / GEYER
                                                      Verpackungen* 146                                                             Sonstiges 59

  * Meist nur einmal genutzt

                                                                                           Weltweit werden über 400 Millionen Tonnen Plastik
beim Bau von Flugzeugen und Raumschiffen unverzichtbar                                          im Jahr produziert. Auf Verpackungen entfällt
geworden, etwa für Armaturenbrettverkleidungen, Trenn­                                     mehr als ein Drittel aller hergestellten Kunststoffe.
wände, Getränkewagen, Toiletten, Frachtbehälter und
Tankdeckel. Seit den 1970er-Jahren ist der Einsatz von Plas­
tik in Flugzeugen von vier auf rund 50 Prozent gestiegen.
                                                                              DER KUNSTSTOFF-PLANET
     Die steigende Nachfrage nach Plastik führt zwangsläufig
                                                                              Globale Plastikproduktion in Millionen Tonnen
zu Problemen bei der Entsorgung. Nach aktuellen Schätzun­
                                                                                                                                      Prognose
gen sind etwa 40 Prozent der Plastikprodukte in weniger als
einem Monat Abfall. Dieser immer weiter wachsende Berg
                                                                                                                                                    600
an Plastikmüll verursacht ernsthafte Umweltprobleme. Und
Recycling ist nur die zweitbeste Möglichkeit, um ihn zu re­
duzieren. Im Jahr 2025 werden voraussichtlich mehr als 600                                             Über die Hälfte des                          500

Millionen Tonnen Plastik pro Jahr produziert werden. Heuti­                                           jemals hergestellten
ge Recycling-Systeme wären nicht in der Lage, diese Menge                                           Kunststoffs wurde seit
                                                                                                                                                    400
                                                                                                         2000 produziert.
an Müll zu bewältigen. Ein Blick in die Geschichte zeigt: Nur
neun Prozent der über acht Milliarden Tonnen Kunststoff,
                                                                                                                                                    300
die seit den 1950er Jahren erzeugt wurden, sind recycelt
worden. Die beste Lösung ist deshalb einfach formuliert,
aber schwierig umzusetzen. Sie lautet, erst gar nicht so viel                                                             56%                       200
                                                                                                                                                          PLASTIKATLAS 2019 / GEYER

Plastik zu produzieren.
                                                                                                                                                    100

                    Anfang der 2000er-Jahre ist in einem Jahrzehnt                                                                                  0

                 mehr Plastik entstanden als in den 40 Jahren zuvor.         1950   1960     1970   1980   1990    2000      2010    2020    2030

                    Seitdem ist die Produktion geradezu explodiert.

                                                                                                                                         PLASTIKATLAS 2019                            15
GESUNDHEIT

     CHEMIE IM KÖRPER
     Die Auswirkungen der aus den Fugen geratenen                          lich also können noch weit mehr Fremdstoffe vorhanden
     Plastikproduktion auf die Umwelt sind bekannt                         sein. Untersuchungen aus Deutschland zeigen, dass vor al­
                                                                           lem Kinder zum Teil sehr stark mit Weichmachern belastet
     und unübersehbar. Verborgen bleiben die
                                                                           sind, die sich schädlich auf die Fortpflanzungsfähigkeit aus­
     gesundheitlichen Folgen für den Menschen –                            wirken können. Bezogen auf ihr Körpergewicht atmen sie
     von der Rohstoffgewinnung bis zur Entsorgung.                         mehr Luft ein als Erwachsene und haben eine höhere Stoff­

     D
                                                                           wechselrate. Außerdem spielen sie häufig auf dem Boden
            er Lebensweg vieler Plastikprodukte beginnt bei Erdöl          und sind größeren Mengen an Schadstoffen ausgesetzt.
            oder Erdgas. Während der Förderung, insbesondere                   Besonders Besorgnis erregend ist dabei die Gruppe der
            im umstrittenen Fracking-Verfahren, gelangen giftige           hormonell wirksamen Substanzen, zu denen auch viele
     Substanzen in Luft und Wasser. Mehr als 170 Fracking-Schad­           Weichmacher gehören. Diese Stoffe ähneln den körpereige­
     stoffe stehen im Verdacht, Krebs zu erzeugen, Fortpflan­              nen Hormonen und bringen das fein austarierte Hormon­
     zungs- und Entwicklungsstörungen zu verursachen oder das              system des Körpers aus dem Gleichgewicht. Eine Vielzahl
     Immunsystem zu schädigen. Besonders betroffen sind – auch             von Erkrankungen und Störungen wird mit hormonell wirk­
     durch die hohe Dichte an Diesel-Trucks – die Menschen in              samen Substanzen in Verbindung gebracht. Dazu gehören
     der Umgebung von Fracking-Regionen. Bis zu 6000 LKW-­                 Brustkrebs, Unfruchtbarkeit, verfrühte Pubertät, Fettleibig­
     Ladungen Ausrüstung, Wasser und Chemikalien sind nötig,               keit, Allergien und Diabetes.
     um ein Gebiet zu erschließen. US-Studien weisen darauf hin,               Für Verbraucherinnen und Verbraucher ist es nur schwer
     dass werdende Mütter, die in der Nähe von Fracking-Bohr­              möglich, belastete Produkte zu erkennen. Anders als bei
     stellen leben, ein erhöhtes Risiko für komplizierte Schwan­           Körperpflegeprodukten müssen Hersteller von Spielzeug,
     gerschaften und Frühgeburten haben.                                   Möbeln oder Textilien die Chemikalien nicht kennzeichnen.
          Damit aus Erdöl sortenreines Plastik werden kann, wird           Innerhalb der EU hat jede Bürgerin und jeder Bürger das
     es gereinigt und in kleine Moleküle aufgespalten. Nach dem            Recht, die Hersteller nach Schadstoffen zu befragen. Dieser
     Baukasten-Prinzip entstehen durch Chemikalien, Hitze und              muss nach der EU-Chemikalienverordnung innerhalb von
     Druck aus kleinen Bausteinen große Plastikmoleküle. Zahl­             45 Tagen antworten. Das Problem ist allerdings, dass viele
     reiche Zusatzstoffe sorgen für die gewünschten Eigenschaf­            Firmen gar nicht wissen, welche Chemikalien in ihren Pro­
     ten des Materials. Dank Weichmachern verwandelt sich                  dukten enthalten sind. Eine Deklarationspflicht entlang der
     hartes PVC in ein Planschbecken. Fluorierte Verbindungen              Lieferkette würde Verbrauchern und Verbraucherinnen so­
     werden zur Imprägnierung von Outdoor-Jacken verwen­                   wie Händlern und Händlerinnen weiterhelfen.
     det. Bromierte Substanzen dienen als Flammschutzmittel                    Auch die Kreislaufwirtschaft würde davon profitieren.
     in Elektrogeräten und Möbeln. Durchschnittlich enthalten              Wenn schadstoffhaltiges Plastik recycelt wird, sind unwill­
     Plastikprodukte rund sieben Prozent solcher Zusatzstoffe.             kürlich auch die neuen Produkte belastet. Nach Untersu­
     Bei einem Ball aus PVC können Weichmacher bis zu 70 Pro­              chungen von Umweltorganisationen aus 19 europäischen
     zent des Gesamtgewichts ausmachen.
          Viele dieser Additive sind gesundheitsschädlich. In
     ­Dänemark musste 2018 eine ganze Serie von Spielzeugen
                                                                             DIE UNSICHTBARE GEFAHR
      aus Weichplastik vom Markt genommen werden. Auch das
                                                                             Mögliche gesundheitliche Folgen des alltäglichen Kontakts
      EU-Schnellwarnsystem RAPEX für den Verbraucherschutz                   mit hormonell wirksamen Substanzen in Kunststoffen
      markiert Schadstoffe in Produkten wie Spielzeug und Klei­
      dung als eines der drängendsten Gesundheitsprobleme.                                                           Schilddrüsen-
                                                                                   Hyperaktivität/
      Da die Zusatzstoffe im Plastik nicht fest gebunden sind, ent­                                                  erkrankungen
                                                                                      ADHS,
      weichen sie mit der Zeit und reichern sich in Innenraumluft                  Niedrigerer IQ
      und Hausstaub an. Mit den Produkten gelangen die Schad­                                                         Brustkrebs
                                                                                                Niedriges
      stoffe also direkt in Schlaf- und Kinderzimmer und über die                               Geburts-                Diabetes
      Atmung auch in den Körper.                                                                 gewicht
          Im Blut von schwangeren US-Amerikanerinnen wurden                                                               Fett-
                                                                             Asthma                                    leibigkeit
      im Schnitt 56 verschiedene Industriechemikalien gefun­
                                                                             Fett-
      den. Viele dieser Stoffe kommen auch in Plastikprodukten               leibigkeit                                Unfrucht-
      bzw. bei deren Herstellung zum Einsatz. Natürlich kann nur                                      Ent-              barkeit
                                                                             frühe
      nachgewiesen werden, was auch gemessen wird. Tatsäch­                                    wicklungs-
                                                                                                                                         © PLASTIKATLAS 2019 / HEAL

                                                                             Pubertät
                                                                                               störungen            Prostatakrebs
                                                                                                     beim
                                                                                                  Embryo                Niedrige
                    Viele in Kunststoffen enthaltene Chemikalien haben                                              Spermienzahl
                       Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen.
                      Die Folgen können langfristig und gravierend sein.

16   PLASTIKATLAS 2019
GEFAHREN ZU WASSER, ZU LANDE UND IN DER LUFT
  Über den gesamten Lebenszyklus von Plastik ist der Mensch toxischen Chemikalien und Mikroplastik ausgesetzt.
  Die Schadstoffe dringen auf unterschiedlichen Wegen in den Körper ein.

                                                                                        Direkter Kontakt

                                                                                     Schadstoffe: u. a. Benzol, Flüchtige Organische Verbindungen
                                                                                     und über 170 toxische Chemikalien in der Fracking-Flüssigkeit
                                                                                     Mögliche gesundheitliche Folgen: Beeinträchtigungen
                                                                                     des Immunsystems, der Sinnesorgane, Leber und Niere;
                                                                                     Krebs, Nervenerkrankungen, Reproduktions- und Entwick-
                                        Rohstoffgewinnung & Transport                lungsstörungen

                                                                                     Schadstoffe: u. a. Benzol, Polyzyklische Aromatische
                                                                                     Kohlenwasser­stoffe und Styrol
                                                                                     Mögliche gesundheitliche Folgen: Krebs, Nervener­
                                                                                     krankungen, Reproduktionsstörungen, geringes Geburts­
                                                                                     gewicht, Augen- und Hautirritationen
                                          Raffinierung & Herstellung

                                                                                     Schadstoffe: u. a. Schwermetalle, persistente organische Stof-
                                                                                     fe, Karzinogene, hormonell wirksame Substanzen, Mikroplastik
                                                                                     Mögliche gesundheitliche Folgen: Beeinträchtigung
                                                                                     von Nieren-, Nerven-, Kreislauf- und Reproduktionssystem,
                                                                                     Magen-Darm-Trakt und Atemwegen; Krebs, Diabetes und
                                                    Konsum                           ­Entwicklungsstörungen

                                                                                     Schadstoffe: u. a. Schwermetalle, Dioxine und
                                                                                     Furane, ­Polyzyklische Aromatische Kohlenwasserstoffe,
                                                                                     recycelte Schadstoffe
                                                                                     Mögliche gesundheitliche Folgen: Krebs, Nerven­-
                                                                                     er­krankungen, Schäden an Reproduktions-, Nerven-,
                                               Abfallentsorgung                      Hormon- und Immunsystem

                                                                                        Kontakt über die Umwelt

                                                                                     Schadstoffe: Mikroplastik (z.B. Reifenabrieb, Textilfasern)
                                                                                     und toxische Additive. Darunter persistente organische Stoffe,
                                              Süßwasser & Meere                      hormonaktive Substanzen, Karzinogene und Schwermetalle
                                                                                     Mögliche gesundheitliche Folgen: Schäden an Nieren-,
                                                                                     ­Nerven-, Herz-Kreislauf- und Reproduktionssystem, Magen-
                                                                                      Darm-Trakt und den Atemwegen; Krebs, Diabetes, Nerven-
                                                                                      erkrankungen, Reproduktions- und Entwicklungsstörungen

                                                      Luft
                                                                                                                                                      © PLASTIKATLAS 2019 / CIEL
                                                                                                       Mikroplastik       Chemikalien
                                                                                           Einatmung
                                                                                      orale Aufnahme
                                                   Agrarland                             Hautkontakt

                                                                                               Auch wer versucht, Plastik im eigenen Leben zu
Ländern enthielt jedes vierte Produkt aus recyceltem Kunst­                                 vermeiden, bleibt Gefahren ausgesetzt. Der Körper
stoff gesundheitsschädliche Flammschutzmittel. Die Gift­                                      hat keine Möglichkeit, sich dagegen zu schützen.
stoffe in den Recyclingprodukten stammen größtenteils aus
Elektroschrott, dessen Einzelteile zu Billigprodukten weiter­
verarbeitet wurden. Schadstoffhaltigen Plastikmüll zu recy­                 Deutschland wird mehr als die Hälfte der Plastikprodukte
celn schadet vor allem den Menschen, die den Müll in seine                  verbrannt. Aber damit ist man den Müll noch lange nicht
Einzelteile zerlegen müssen, damit er wiederverwertet wer­                  los. Je nach Art der Verbrennung entstehen zahlreiche Gift­
den kann. Durchbrechen ließe sich der toxische Kreislauf,                   stoffe, die von der Umwelt kaum abgebaut werden. In Blei­
wenn die Produzenten auch bei der Entsorgung stärker in                     cherode, einem Dorf in Thüringen, werden die Rückstände
die Pflicht genommen würden. Generell gilt: Was vorne                       aus den Filtern der deutschen Müllverbrennung in Berg­
nicht eingesetzt wird, kann hinten nicht herauskommen.                      werken gelagert: Dioxine, Blei und Furane, in Salzlösung
    Weltweit betrachtet spielt die Wiederverwertung von                     verflüssigt. 350 000 Tonnen Staub und Asche kommen jedes
Plastik allerdings eine untergeordnete Rolle. Auch in                       Jahr in ­Bleicherode an – in 15 Jahren ist das Endlager voll.

                                                                                                                                       PLASTIKATLAS 2019                           17
GENDER

     UNGLEICH VERTEILTE RISIKEN
     Von Kunststoffen sind Frauen stärker betroffen                                                        wie Hodenhochstand und Hypospadien (Fehl­bildung der
     als Männer. Dahinter stecken unter anderem                                                            männlichen Harnröhre) beitragen. Zunehmend kommen
     biologische Unterschiede: Ihre Körper reagieren                                                       Kinder mit Schadstoffen belastet zur Welt.
                                                                                                               Frauen sind an vielen unterschiedlichen Stellen den Ge­
     anders auf Giftstoffe, sie verwenden belastete
                                                                                                           fahren ausgesetzt, die von Plastik ausgehen. Weltweit sind
     Hygieneprodukte. Doch es gibt Alternativen.                                                           schätzungsweise 30 Prozent der Beschäftigten in der Kunst­

     G
                                                                                                           stoffindustrie Frauen. Um Kunststoffe und Plastikprodukte
             iftstoffe aus Kunststoff belasten Frauen anders als                                           massenweise und günstig für den Weltmarkt herstellen zu
             Männer, sowohl am Arbeitsplatz als auch im Alltag.                                            können, werden meist sie, vor allem in Entwicklungslän­
             Das liegt an den biologischen Unterschieden bei der                                           dern, zu Niedriglöhnen in der industriellen Produktion be­
     Körpergröße oder dem Anteil von Fettgewebe zum einen                                                  schäftigt, häufig an gefährlichen Arbeitsplätzen und ohne
     und tradierten Geschlechterrollen zum anderen. Frauenkör­                                             Maßnahmen zum Arbeitsschutz. Eine kanadische Studie
     per haben mehr Körperfett und reichern in ihrem Gewebe                                                zeigt, dass Frauen, die in der Automobilindustrie Kunststof­
     deshalb fettlösliche Chemikalien wie etwa Phthalat-Weich­                                             fe verarbeiten, ein fünffach erhöhtes Risiko haben, an Brust­
     macher stärker an. Besonders sensibel auf die Giftstoffe re­                                          krebs zu erkranken.
     agiert der weibliche Körper in Lebensphasen wie Pubertät,                                                 Ebenfalls problematisch können Hygieneprodukte sein.
     Stillzeit, Menopause und Schwangerschaft.                                                             Der Plastikanteil bei Tampons beträgt bis zu sechs Prozent,
          Das kann auch Folgen für das ungeborene Kind haben.                                              Binden bestehen bis zu 90 Prozent aus rohölbasiertem
     Vor allem Chemikalien, die ähnlich wie Hormone wirken                                                 Kunststoff. Beide können unter anderem hormonell wirk­
     – so­genannte endokrine Disruptoren (ED) –, sind problema­                                            sames Bisphenol A (BPA) und Bisphenol S (BPS) enthalten.
     tisch. Da die Plazenta keine sichere Barriere ist, können ED                                          Applikatoren für Tampons enthalten darüber hinaus häufig
     schon im Mutterleib all die Entwicklungsphasen stören, die                                            Phthalate. In den USA benutzt eine Frau in ihrem Leben zwi­
     hormonell gesteuert werden. Das kann Fehlbildungen bei                                                schen 12 000 und 15 000 dieser Produkte. Alternativen sind
     Neugeborenen und Erkrankungen begünstigen, die sich erst                                              waschbare Mehrwegprodukte oder wiederverwendbare
     viel später zeigen. ED betreffen Frauen und Männer gleicher­                                          Menstruationstassen.
     maßen. Die Weltgesundheitsorganisation vermutet, dass ED                                                  In ärmeren Regionen, auch in der EU, können sich Frau­
     für die Zunahme hormonbedingter Krebsarten wie Brust-                                                 en und Mädchen Hygieneartikel während der Menstrua­
     und Hodenkrebs verantwortlich sind. Weiter scheint es mög­                                            tion häufig nicht leisten, oder sie haben gar keinen Zugang
     lich, dass sie die Fruchtbarkeit und die Qualität der Spermien                                        zu ihnen. Das führt bei Mädchen während ihrer Periode zu
     beeinträchtigen. Darüber hinaus können ED zu Fettleibig­                                              schulischen Fehlzeiten von durchschnittlich fünf Tagen pro
     keit, Diabetes, neurologischen Erkrankungen, einer verfrüht                                           Monat. Kostengünstigere und zudem sichere Mehrwegpro­
     einsetzenden Pubertät sowie angeborenen Fehlbildungen                                                 dukte könnten diese Lücke schließen und die Belastung mit
                                                                                                           Schadstoffen und den Müll reduzieren. Denn die Einweg­
                                                                                                           produkte landen auf Deponien, in Wasserquellen und Mee­
                                                                                                           ren und blockieren auch die Abwassersysteme.
        DAS INNENLEBEN EINER DAMENBINDE
                                                                                                               Auch Kosmetik kann eine Quelle für Schadstoffe sein.
        Energie- und Stoffanalyse der Produktion
                                                                                                           Ein Viertel aller Frauen in westlichen Industrieländern ver­
         Was hineingeht:                                      Was herauskommt:                             wenden bis zu 15 unterschiedliche Produkte täglich. Nicht
                                                                                                           selten enthalten diese bis zu 100 Chemikalien, einige davon
                                    LDPE*                                                                  schaden der Gesundheit. In vielen Kosmetika steckt zudem
         Rohstoffverarbeitung

                                                                 Emissionen:                               Mikroplastik. Partikel davon können ebenfalls durch die Pla­
                                                                 NOX**, CO₂
                                                                                                           zenta zum Fötus gelangen.
                                   Zellstoff-
                                                                                                               Zuletzt sind häufig noch immer Frauen vornehmlich für
                                    watte
                                                                                                           Hausarbeit zuständig oder in Reinigungsberufen beschäf­
                                                                                                           tigt. Reinigungsmittel enthalten ebenfalls Mikroplastik und
                                                Herstellung
                                    Papier       der Binde                                                 Schadstoffe wie etwa gesundheitsschädliche Tenside oder
                                                                                                           Lösungsmittel. Eine kritische Auswahl der Produkte und
                                                                    Binde
                                                                                                           der Gebrauch schadstoffarmer Reinigungsprodukte oder
                                 Fossile
                                Rohstoffe
                                                                                                           herkömmlicher Mittel wie Schmierseife oder Zitronensäure
                                                                  Festabfall:                              können die Belastung von Mensch und Umwelt verringern.
                                                                                  PLASTIKATLAS 2019 / DP

                                                                 (LDPE*, Zell-
                                                                 stoff, Papier)
                           Elektrizität
                                                                                                           Die Produktion einer modernen Damenbinde
        * Polyethylen niedriger Dichte ** Stickoxide                                                       ist ohne den Einsatz von fossilen
                                                                                                           Rohstoffen und Kunststoffen nicht denkbar.

18   PLASTIKATLAS 2019
PLASTIKATLAS 2019 / WEN
  EINE STETE QUELLE VON SCHADSTOFFEN
  Durchschnittlicher Verbrauch von Menstruations-Produkten bei Frauen in westlichen Konsumgesellschaften

     in 1 Monat          in 1 Jahr (= 13 Zyklen)                                                                      in 10 Jahren

         25              325                                                                                        3 250

                                                                                                                                              in 39 Jahren*

                                                                                                                                              12 675
                                                                                                                                              Binden/Tampons

                                                                                                                                              Das entspricht
                                                                                                                                              einem Gewicht von

                                                                                                                                              152 kg
                                                                                                                                              an Binden
                                                                                                                                              und Tampons.

                                                                                                                                              * Durchschnittliche
  10 Binden/                                                                                                                                  Dauer der Menstruation
  Tampons                                                                                                                                     im Leben einer Frau

Verwendet eine Frau Wegwerf-Menstruations-
produkte, kommt sie knapp vier Jahrzehnte                                  sie auch umweltbewusster handeln. Initiativen, die darauf
mit problematischen Kunststoffen in Kontakt.                               zielen, den Konsum von Plastik zu reduzieren und Mensch
                                                                           und Umwelt vor den Schadstoffen zu schützen, gehen häu­
                                                                           fig von Frauen aus. Sie brauchen deshalb einen gleichbe­
Sie entlassen aber nicht die Hersteller aus der Verantwor­                 rechtigten Platz in der Politik, in Unternehmen und in Fa­
tung, schädliche Inhalts- und Grundstoffe zu ersetzen.                     milien und Gemeinschaften, um ihr Engagement für eine
     Wenn Müll in Entwicklungsländer exportiert wird, wer­                 plastik- und giftfreie Umwelt und Gesellschaft noch mehr
den Deponien zu wichtigen Einkommensquellen. Millionen                     einbringen zu können.
von Müllsammlerinnen auf der ganzen Welt, häufig Frauen
und Kinder aus den ärmsten Bevölkerungsschichten, su­
chen nach Verwertbarem aus Plastik- und Elektromüll. Oft

                                                                                                                                                                         PLASTIKATLAS 2019 / CVI
                                                                              MEHR PLASTIK FÜR FRAUEN
ist das das einzige Familieneinkommen, verdient auf einem
                                                                              Anzahl der Patente für Damen-Hygieneprodukte seit 1969
hochtoxischen Arbeitsplatz. Um an wertvolles Kupfer zu ge­
                                                                              1500
langen, werden PVC beschichtete Drähte verbrannt. Dabei
                                                                              1400                                     Markteinführung
entstehen hochgiftige Dioxine, die schädlich für die Fort­
                                                                              1300                                     von Maxibinden
pflanzung sind, den Fötus schädigen und Krebs verursa­                                                                 mit Flügeln;
                                                                              1200
chen können. Auch sind es meist Frauen, die den Hausmüll                                                               Schwerpunkt der
                                                                               1100
in Hinterhöfen verbrennen oder giftigen Müll sortieren.                                                                Produkte liegt
                                                                              1000                                     auf Saugfähigkeit
     Das Wissen um die Gefahren, die von Plastik ausgehen,
                                                                               900
ist bisher weltweit ungleich verteilt. Frauen sind hier eine
                                                                               800
wichtige Zielgruppe, um ein grundlegendes Umdenken                                                 Tampax meldet
                                                                               700
und andere Alltagspraktiken zu initiieren sowie politische                              Erste      Patent an für
                                                                               600
Maßnahmen für mehr Schutz zu fordern. Frauen nehmen                                     Maxibinde Tampon mit
                                                                                        mit Klebe- Einführhilfe
                                                                               500
verschiedene Gefahren sensibler wahr als Männer und sind
                                                                               400      streifen
weniger bereit, Mensch und Umwelt Risiken auszusetzen,
                                                                               300
sowohl in Unternehmen als auch als Konsumentinnen und
                                                                               200
Managerinnen ihrer Familien. Vieles deutet darauf hin, dass
                                                                               100
                                                                                 0
                                                                                      1969          1979            1989            1999           2009           2019
             Patente für Damen-Hygieneprodukte sind seit Ende                 Die Daten für 2018 und 2019 sind unvollständig, da einige der
           der 90er-Jahre sprunghaft angestiegen. Eine Ursache                Patentanmeldungen noch nicht veröffentlicht wurden.
               ist massenhaft verfügbarer günstiger Kunststoff.

                                                                                                                                                        PLASTIKATLAS 2019                          19
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