DIE EMPFINDUNG IN DER HOMÖOPATHIE - RAJAN SANKARAN

 
WEITER LESEN
DIE EMPFINDUNG
        IN
DER HOMÖOPATHIE

       RAJAN SANKARAN

 HOMOEOPATHIC MEDICAL PUBLISHERS
            Mumbai
INHALT

                                                                    Seite
Vorwort                                                                 5
Danksagung                                                            19
An den Leser                                                          21
Einführung                                                            23
                                     TEIL I
1.   Das geistige Prinzip der Homöopathie                             33
2.   Fallbeispiele                                                   136
                                     TEIL II
1.   Die Vital – Empfindung                                          139
2.   Weitere Fallbeispiele                                           175
                                    TEIL III
Abschnitt 1
1.   Tiefere Einblicke                                               241
2.   Eine Einführung in die Ebenen                                   255
3.   Ein Fall aus der Praxis                                         271
4.   Zusammenfassung der Konzepte                                    281
5.   Neue Einsichten in Gesundheit und Krankheit                     283
6.   Miasmen                                                         297
7.   Die Vital – Empfindung und die Naturreiche                      325
Abschnitt 2
1.   Fallaufnahme                                                    357
2.   Die Empfindung in der Homöopathie                               475
3.   Die Welt des Un-sinns (Die Welt der Ursubstanz)                 579
4.   Folgebesuche                                                    655
5.   Akute Situationen                                               731
6.   Fallaufnahme bei Kindern                                        743
7.   Klärung von Zweifeln                                            753
8.   Schlußfolgerung                                                 763
Appendix
     Das miasmatische Spektrum                                       775
     Sankaran‘s Übersicht zu den Miasmen                             776
     Dr. Sankaran’s Miasmen (Illustriert von Dr. Andreas Holling)    779
     Tabelle der Empfindungen einiger Pflanzenfamilien               783
     Tabelle der Miasmen und Heilmittel einiger Pflanzenfamilien     789
     Flussdiagramm der Fallaufnahme                                  790
Index der Heilmittel                                                 791
Der Fürst Mu, Herr über das Reich Chin, sprach zu Po Lo: „Du bist
reich an Jahren geworden, Po. Gibt es jemanden in deiner Familie, dem
ich an Deiner Stelle den Posten desjenigen der meine Pferde aussucht
geben kann?“ Po Lo antwortete: „Ein gutes Pferd erkennt man an
seinem Körperbau und seiner Erscheinung. Aber das unübertreffliche
Pferd, welches keinen Staub aufwirbelt und keine Spuren hinterlässt, ist
wie dünne Luft, die nicht fassbar ist und flüchtig dahinfliegt. Die
Talente meiner Söhne liegen da auf viel niedrigeren Ebenen. Sie können
ein gutes Pferd erkennen, aber nicht das unübertreffliche Pferd. Ich habe
einen Freund, namens Chiu-fang Kao, einen Gemüse- und
Kohlenhändler, welcher mir in Pferdefragen in keiner Weise unterlegen
ist. Sprich mit ihm.“ Der Fürst Mu befolgte den Rat des Pferdepflegers,
und schickte sodann dessen Freund in das Land hinaus, ein Streitross zu
finden. Drei Monate später kehrte er zurück und meldete, dass er ein
passendes Pferd gefunden hätte. „Das Pferd ist jetzt in Shach’iu“, fügte
er hinzu. „Was für ein Pferd hast du für mich gefunden?“, fragte der
Fürst. „Oh, es ist eine braune Stute“, war die Antwort. Es wurde
jemand geschickt, um dem Fürsten die Stute zu bringen. Es stellte sich
heraus, dass das Tier ein pechschwarzer Hengst war! Sehr verärgert ließ
der Fürst nach Po Lo schicken. „Dein Freund, dem ich den Auftrag gab,
nach einem Pferd zu suchen, hat einen schönen Unsinn angestellt. Er
kann noch nicht einmal die Farbe und das Geschlecht eines Pferdes
erkennen! Wie, um Himmels Willen, soll er das unübertreffliche Pferd
finden?“ Po Lo seufzte befriedigt. „Ist er wirklich soweit gekommen?“
rief er. „Ach, dann ist er zehntausend Male mehr wert als ich. Ich kann
mich nicht mit ihm vergleichen. Was Kao betrachtet, ist der dem Wesen
innewohnende Geist. Um das Essentielle zu bewahren, vergisst er die
vertrauten Details; entschlossen, die inneren Qualitäten zu finden,
verliert er den Blick für das Äußere. Er sieht, was er sehen will und
nicht, was er nicht sehen will. Er sieht die Dinge, die er sehen sollte und
vernachlässigt jene, die man sehen muss. Kao ist ein so guter
Pferdekenner, weil er etwas in sich selbst trägt, das etwas Besseres
beurteilt als das Pferd.“ Als das Pferd vor den Fürsten gebracht wurde,
stellte sich heraus, dass es wirklich ein unübertreffliches Tier war.
                                      Geschichte aus dem Tao te king
VORWORT

Ich kenne da einen guten Witz:
Frage: „Wie lang soll ein Arzt praktizieren?“
Antwort: „Bis er’s hinkriegt.“
Ein tiefgehendes Verständnis von Krankheit und Heilung ist der Schlüssel
zu verlässlichen Ergebnissen. Dieses tiefere Verständnis wird in Form von
Fallaufnahmen, Fallanalysen und der Entwicklung der Methodik reflektiert.
Meine bisherigen Bücher „Der Geist der Homöopathie“, „Die Substanz der
Homöopathie“ und „Einblicke ins Pflanzenreich“ gehen jeweils einen
Schritt tiefer in das Verständnis von Homöopathie. In den vergangenen vier
Jahren vollzog sich eine tiefgehende Wandlung. Dieses Buch dokumentiert
diese Wandlung und die Methodik, die daraus hervorgegangen ist.
Krankheit ist ein Seins-Zustand, welcher sich sowohl als Gemütszustand,
wie auch in körperlichen Symptomen ausdrückt. Der Gemütszustand wird
oft als Stress erlebt. Stress rührt nicht von äußeren Realitäten her (obwohl es
so erscheinen mag), sondern von der Art der Wahrnehmung, mit der jedes
Individuum die äußere Realität wahrnimmt. In Wirklichkeit ist die äußere
Realität nicht die „Ursache“ für die meisten unserer Konflikte und
Probleme.
Wenn man an Extreme des Lebens denkt oder sehr harte äußere Umstände
beobachtet, dann fällt einem auf, dass in diesen Momenten weniger
Konflikte in einem selbst existieren als sonst. Tatsächlich erscheint es so,
dass man in solchen Situationen bei Kenntnis der Fakten auch genau weiß,
was zu tun ist. (Es ist bekannt, dass die Häufigkeit von Suizid und
Geisteskrankheiten in Kriegszeiten abnimmt.)
Ein Beispiel: Wenn jemandes Haus in Flammen steht, dann wird unter
solchen Umständen wenig Konflikt und Zweifel herrschen. Er weiß genau,
was am Besten zu tun ist und er tut es. Man könnte sagen, dass eine
gewisse Einheit und Harmonie im Inneren herrscht. Es ist so, als ob uns in
diesen Extremsituationen nur eine einzige innere Stimme sagt, was zu tun
Die Empfindung in der Homöopathie

ist. Es kommt selten zu einer inneren Debatte oder zu Chaos in diesen
Momenten. Nehmen wir ein anderes Beispiel: Wenn jemand von einem
wilden Tier gejagt wird, dann hat er nur einen Gedanken, nämlich was zu
tun ist. Niemand wird sich in dieser Situation ängstigen; der Fokus liegt auf
dem Handeln und es wird einfach spontan gehandelt. Also kann man
ziemlich sicher sagen, dass in einer Situation, in der es wirklich darauf
ankommt - in der das Problem klar von außen kommt - der Verstand
instinktiv zu wissen scheint, „was“ zu tun ist (und es sogar soweit gehen
kann zu wissen „wie“ es zu tun ist.)
Wie kommt es also, oder unter welchen Umständen, zu Stress und
Konflikten? Stress oder Konflikte tauchen auf, wenn sich die äußere Realität
deutlich von der inneren oder individuellen Wahrnehmung der Realität
unterscheidet. Mit einer solchen Verschiedenheit zwischen innerer und
äußerer Realität konfrontiert, ist die Einheit und Harmonie im Inneren
(welche so selbstverständlich in den vorhergegangenen Beispielen war)
nicht mehr möglich und stattdessen erlebt die Person Dualität und
Konflikte. Zwei innere Stimmen werden wahrgenommen: Eine Stimme sagt
„was ist“ (in Wirklichkeit) und die andere lässt seine innere Wahrnehmung
von „was ist“ verlauten und diese unterscheidet sich sehr von den Fakten
der äußeren Realität. Ein Beispiel: Sei da jemand, der recht wohlhabend ist
und objektiv gesehen keinen Grund zu Geldsorgen hat. Ist aber seine innere
oder individuelle Wahrnehmung die, dass er bedürftig und finanziell nicht
abgesichert ist (ein Zwiespalt zwischen äußerer Realität und seiner eigenen
Wahrnehmung), dann wird er zwei gegensätzliche Stimmen in sich hören.
Es ist diese innere Debatte, dieser innere Konflikt, welche zu Stress führt.
Nehmen wir ein anderes Beispiel: Ein Mädchen, das sich die ganze Zeit von
der gesamten Welt ungeliebt fühlt. Objektiv gesehen hat sie Eltern, die sie
lieben, bei der Lehrstelle kümmert man sich gut um sie und trotzdem
beharrt sie auf dem Gefühl, dass niemand sie liebt. Subjektiv fühlt sie sich
ungeliebt. Die Stimme der äußeren Realität („was ist“) widerspricht der
Stimme ihrer „inneren Realität“ (was sie als Realität wahrnimmt). Diese
beiden widersprüchlichen Stimmen erzeugen Chaos und Stress in ihr auf
allen Ebenen.
Also könnte man sagen, dass alles was wir als Stress oder Konflikt
empfinden, wenig mit dem zu tun hat „was ist“ (die äußere Situation),
sondern mehr mit dem „was zu sein scheint“ (unsere individuelle
Wahrnehmung mit der wir die Situation sehen und erfahren). Wenn sich
unsere eigene individuelle Wahrnehmung deutlich von der aktuellen
Situation unterscheidet, dann leiden wir wirklich an einer „Wahnidee“,
einer falschen Wahrnehmung der Realität, welche die Art und Weise, in der

                                     6
Vorwort

uns die Dinge erscheinen, verfärbt. Man könnte dies mit gefärbten
Brillengläsern vergleichen, wobei alles was wir sehen die gleiche Farbe
bekommt. Eine Wahnidee ist also so, als ob man sein Leben lang gefärbte
Brillengläser trägt, die man auch nie abnimmt. Wir sehen alle Situationen in
der gleichen Verfärbung. Das wird unsere Routine, unsere alltägliche Art
uns selbst und die Welt wahrzunehmen.
Also scheint es so, als ob an der Basis von Stress oder Konflikt eine
Wahnidee, eine falsche Wahrnehmung der Realität liegt. Ich möchte den
Mechanismus dieses Stress noch ein bisschen näher erklären: In jeder
Situation neigen Körper und Geist im ersten Moment dazu, die Situation
wahrzunehmen und sodann auszuwerten, was die Situation für uns in
Bezug aufs Überleben bedeutet. Wir wissen also, wie wir uns einer
Situation anpassen können und darauf zu reagieren haben. Dies ist eine Art
automatischer Prozess. Zum Beispiel, wenn dich ein Insekt sticht, dann
wird es von deinen Sinnen wahrgenommen und du wirst automatisch
deine Hand dorthin bewegen, um das Insekt wegzuscheuchen. Da gibt es
keinen Konflikt, keine Dualität. Das ist die Aktion im Moment. Die
Situation wird wahrgenommen und es wird darauf angemessen und in
Proportion reagiert. Körper und Geist nehmen es wahr und reagieren auf
die Realität, „wie sie ist“. Dieses Vorkommnis, diese Situation geht ohne
Spuren oder Nachwirkungen vorbei. Dies ist Gesundheit mit den
Eigenschaften der Anpassungsfähigkeit und der Freiheit im Moment zu
sein; Körper und Geist wissen was zu tun und wie viel zu tun ist.
Ich möchte mich jetzt noch einmal auf das Beispiel von vorhin beziehen –
das Haus das in Flammen steht: In einer solchen Situation könnte man
Angst und Furcht empfinden, aber diese Gefühle wären proportional zur
Situation und würden spezielle und angemessene Reaktionen hervorrufen.
Diese Reaktionen würden verschwinden, wenn die Situation vorbei ist.
Ganz anders aber ist es, wenn eine Person aus einer Wahnidee heraus
agiert. In diesem Falle ist die Person nicht dazu fähig, die Realität als das,
was sie ist, zu sehen. Stattdessen neigt sie dazu, die Situation auf subjektive
Art wahrzunehmen, verfärbt und schattiert durch den Filter ihrer
Wahnidee. Demzufolge wird diese Person unangemessen oder
unverhältnismäßig auf die eigentliche Situation reagieren. Die Situation
spricht Dinge im Gedächtnis an und erinnert an mehrere schon bekannte
Situationen, die alle mit der gleichen Farbe und Schattierung wie die jetzige
Situation erlebt wurden. Nunmehr bestätigt und rückversichert ihm die
gegenwärtige Situation die eigene Wahnidee und dadurch wird sich diese
noch tiefer in sein Gedächtnis einprägen, sozusagen für zukünftige
Situationen. Aufgrund dieser „irreführenden Art des Sehens“ ist ein Teil

                                      7
Die Empfindung in der Homöopathie

von ihm nicht fähig im Moment, in der jetzigen Realität zu leben. Dennoch
kann ein anderer Teil von ihm die Realität, das „was wirklich ist“ nicht
verleugnen. Diese Dualität zwischen „was ist“ und „was wahrgenommen
wird“ verursacht einen tiefen Konflikt im Inneren. Daher kommt der Stress.
Die Grundlage für Stress ist also die unangemessene Wahrnehmung und
die Reaktion darauf, nicht die Situation an sich.
Wenn wir im Moment leben, nehmen wir die Situation wahr wie sie ist.
Dann gibt es keinen Konflikt und jede Situation kann fast wie automatisch
angegangen und bewältigt werden (so wie es mit dem Wegscheuchen des
Insektes war). Die Situation bleibt eine Situation und wird nicht zum
Problem. Eine Situation wird nur zum Problem, wenn sie mit der
Vergangenheit verknüpft wird und wenn sie eine falsche Wahrnehmung
der Realität bestätigt, und die Situation dann in unserem Gedächtnis fixiert
wird. So beginnt der Prozess, in dem jede Situation zu einem Problem wird
und diese sich zu einem lebenslangen Problem verdichten. Das Problem der
fixierten und falschen Wahrnehmung der Realität beginnt. Eine Wahnidee
beherrscht das individuelle Leben. Ist eine Wahnidee einmal etabliert, wie
auch immer die Situation sein mag, wird diese immer im Lichte dieser
Wahnidee gesehen werden, somit wird die dazugehörige Reaktion immer
unverhältnismäßig sein.
Jeder von uns hat seine eigene Wahnidee, welche Einfluss auf alles in
unserem     Leben    hat:  auf   unsere     Arbeitweise,  auf    unsere
zwischenmenschlichen Beziehungen und es geht sogar so weit, dass unsere
emotionalen Zustände – Ängste, Hass und sogar Freude – in dieser
Wahnidee begründet liegen. Diese Wahnideen tauchen auch in unseren
Träumen, Alpträumen und Fantasien auf. Interessanterweise scheint die
ganze Menschheit die gleichen Wahnideen zu haben. Sie sind global. Sie
überschreiten geographische und zeitliche Grenzen und erscheinen in den
zeitlosen und immer wieder ansprechenden Mythologien und Märchen, in
Literatur, Kunst, Filmen und allen anderen Formen menschlicher
Imagination.
Also erleben wir alle unsere Lebenserfahrungen im Lichte unserer
persönlichen Wahnidee. Unsere innere, falsche Wahrnehmung korreliert
mit bestimmten Ereignissen, Charakteren, historischen Zeitaltern und selbst
Mythologien. Wir identifizieren uns mit den Charakteren in Erzählungen
und Filmen, deren Art und Weise zu agieren und zu reagieren ähnlich
unserer eigenen ist. Auf diese Weise überschreitet die Wahnidee unsere
persönliche Erfahrung und verbindet uns mit der Erfahrung anderer
Individuen aus der menschlichen Geschichte.

                                     8
Vorwort

Ich möchte dies mit einem weiteren Beispiel illustrieren: Ein junger Mann
sagt, dass er an seinem Arbeitsplatz unglücklich ist. Das ist seine Emotion.
Auf die Aufforderung hin, sein Unglücklichsein in aller Tiefe zu
beschreiben, sagt er vielleicht, dass sich für ihn die Erfahrung an seinem
Arbeitsplatz wie „gefangen und gefoltert werden“ anfühlt. Wenn er weiter
gefragt wird, die Worte „gefangen und gefoltert“ zu beschreiben, kommen
ihm mehrere Bilder, wie z.B. von afrikanischen Sklaven, die nach Amerika
gebracht werden, von Konzentrationslagern im 2. Weltkrieg und von den
Römern und wie sie mit ihren Gefangenen umgingen. Diese Bilder von
Menschen, die gefangen und gefoltert werden, stammen aus mehreren
Zeitaltern und sind Teil der menschlichen Erfahrung (und somit
menschlichen Bewusstseins) seit undenklichen Zeiten. Haben wir das
einmal begriffen, dann verstehen wir, dass diese Erfahrung nicht auf ein
Individuum begrenzt, sondern wahrhaft global ist. Die gesamte Menschheit
erfährt Ähnliches. Obwohl dieser Mensch auf tiefer Ebene etwas von sich
selbst beschreibt, das persönlich und privat ist, so ist doch die innere
Aufruhr, die er beschreibt, allen Menschen eigen und überall im
menschlichen Bewusstsein anzutreffen. Im gleichen Moment, in der er eine
Ebene erreicht hat, die sehr persönlich und individuell ist, eröffnet sich
diese Ebene, die mit der ganzen Menschheit verbunden ist. Es ist sowohl
global wie auch persönlich.
Wahnideen überschreiten also Zeit und Raum. Sie manifestieren sich in
allen Zeitaltern und in den verschiedensten Menschen in der menschlichen
Geschichte. Seit Beginn der menschlichen Zivilisation wiederholen sich
ähnliche Situationen immer und immer wieder in verschiedensten Formen;
ihr Ausdruck mag sich verändern – aber das gleiche Muster manifestiert
sich. Zum Beispiel gibt es in jedem Land und zu jedem Zeitpunkt
Menschen, die danach streben die Besten und Mächtigsten zu sein. Sie alle
haben – wie noch viele andere, die ihnen ähnlich sind – das Demonstrieren
von Macht und Machtmissbrauch wie Gefangenschaft, Folter und die
Macht der Angst gemeinsam. Dies können wir in allen Ländern und
Kulturen zeitübergreifend beobachten. Daher ist Mythologie auch heute
noch relevant, obwohl Jahrhunderte vergangen sind. Die Theaterstücke von
Shakespeare vermitteln heute noch verschiedene menschliche Wahnideen
mittels der Charaktere und Situationen, die so exquisit konstruiert wurden,
dass sie jetzt ebenso von Wert sind wie zur der Zeit, als die Stücke
geschrieben wurden. Menschliche Wahnideen überwinden alle Grenzen
von Zeit, Ort, Sprache, Nationalität und Kultur.
Häufig gibt es Versuche, den Ursprung dieser Wahnideen zu ergründen.
Manche führen es auf Ereignisse und Traumata in der Kindheit zurück,

                                     9
Die Empfindung in der Homöopathie

andere auf frühere Leben. Es ist verständlich, dass wir versuchen den
Ursprung dieser immer wieder auftauchenden, sich wiederholenden Muster
der Wahrnehmung und des Verhaltens zu finden. Aber in dem, wie wir dies
tun, folgen wir einem linearen Weg, einem Weg, der auf dem Konzept von
Ursache und Wirkung basiert – „Dies passiert jetzt, da das vorher passierte“,
aber warum ist das passiert und so weiter. Manchmal bringt unsere
konstante Frage nach dem „Warum?“ Antworten hervor, die brillante
Annahmen sind. Meistens kommen dabei aber nur Theorien heraus und wir
können uns nie wirklich sicher sein. Wir können nur mutmaßen.
Meinem Verständnis nach gibt es eine Frage, die viel fruchtbarer ist als das
„Warum?“ und das ist die Frage nach „Was ist?“ Die Wahrheit ist „was ist“
in diesem Moment. Wir leben in diesem Moment und die gegenwärtige
Realität ist die einzige erkennbare Wahrheit. Das ist alles, was uns
zugänglich ist. Warum die gegenwärtige Realität so ist, wie sie ist, können
wir letztendlich nicht erkennen. Das „was ist“ ist mehr als ausreichend für
uns, wenn wir es klar zu erkennen suchen.
Einige Formen der Psychotherapie zielen darauf ab, einem Individuum
seine Wahnidee bewusst zu machen oder ihm die fixierten Muster seiner
Wahrnehmung und seines Verhaltens aufzuzeigen. Die Gefahr dabei ist,
dass diese Konzepte nur intellektuell verstanden und nicht erlebt werden.
Ein intellektuelles Verständnis ist zwar vorübergehend angenehm, aber
auf Dauer nicht wirkungsvoll. Der Grund ist etwas Fundamentales –
eine Wahnidee ist nicht intellektuell. Sie entspringt nicht einem
Gedankenprozess oder aus Emotionen wie Angst, Furcht, Hass oder
Freude. Eine Wahnidee entspringt einer viel tieferen Ebene. Emotionen sind
in Wirklichkeit Expressionen dieser Wahnidee und nicht deren Ursache.
Gehen wir tiefer in diesen Gedankenprozess hinein, dann erkennen wir,
dass Wahnideen nicht vom Geiste eingeschlossen oder durch ihn begrenzt
werden, noch aus ihm heraus entstehen. Die Wahnidee selbst ist ein Teil
einer viel tieferen Erfahrung und zwar einer Empfindung des Körpers und
des Geistes. Eine Empfindung ist eine viel tiefere Ebene, eine Ebene die uns
„bis aufs Mark“ fühlen lässt.
Hat zum Beispiel jemand die Wahnidee, dass ein Löwe ihn angreifen will,
dann fühlt er das nicht nur emotional und intellektuell. Selbst wenn man
sich solch eine Erfahrung nur vorstellt, fühlt man schon die Empfindung
einer unmittelbar bevorstehenden Attacke, eine Empfindung, die bis in das
tiefste Innere unseres Wesens vordringt. Unser ganzes Verhalten, unsere
Körperhaltung, unsere Nerven und unser Hormonsystem werden von
dieser Empfindung beeinflusst.

                                     10
Vorwort

Jetzt verstehe ich es so, dass die Erfahrung einer Wahnidee im Grunde ein
Ausdruck einer tieferen, darunter liegenden Empfindung ist. Solch eine
Empfindung ist einzigartig für jedes Individuum und wird sowohl im
Körper, wie im Geist gefühlt. Diese Erfahrung geht viel tiefer als eine
Erfahrung des Verstandes. Sie geht sogar tiefer als speziell menschliche
Erfahrungen, denn sie gehört nicht dem Geiste an. Es ist eine Erfahrung, die
der Mensch mit Tieren, Pflanzen und Mineralien teilt – die Dinge die diese
Erde ausmachen. Wieder zurück zu unserem Beispiel: Wenn ein Mensch die
Erfahrung macht, von einem Löwen angegriffen zu werden, so ist dies
keine speziell menschliche Erfahrung, sondern wird auch von vielen Tieren
erlebt. Andere Empfindungen sind sogar noch viel wesentlicher, z.B.
Gravität, Druck, Kontraktion, Expansion – und diese Empfindungen
erfahren alle Dinge dieser Erde, inklusive der Mineralien. Empfindung ist
nicht nur mental, emotional oder psychisch. Empfindung ist vielmehr etwas
physisches, das heißt mehr instinktiv und wesentlich.
Dieses Muster oder die Empfindung, der unsere Wahnidee entspringt,
scheint fast wie die Stimme eines Geistes von etwas in uns zu sein. Es
beherrscht einen Teil unseres menschlichen Lebens und färbt unsere
Erfahrungen. Es klingt wie eine disharmonische Note. Als Analogie könnte
man sagen, es gäbe zwei Stimmen die zwei verschiedene Melodien in uns
spielen. Die eine Melodie ist menschlich und sie ist die richtige Stimme. Die
andere Melodie, obwohl sie auch sehr schön ist, ist einfach nicht an ihrem
Platz in einem Menschen. Und dann, wenn die beiden Stimmen gleichzeitig
erklingen – welch eine Kakophonie! Diese Disharmonie nennt man
„Konflikt“ oder „Stress“ im sprachlichen Allgemeingebrauch. Möchten wir
diesen Stress entfernen oder auflösen, dann müssen wir bis auf diese tiefste
Ebene des Bewusstseins gehen.
Ich fing an zu sehen, dass all das, was wir in Bezug auf „Krankheit“ in
Betracht ziehen, die Gesamtheit der Zeichen und Symptome – geistige und
körperliche, allgemeine, spezielle – alle von dieser einen wesentlichen
Störung herrühren. Und diese Störung ist weder im Geist noch im Körper;
sie ist etwas Tieferes als diese beiden. Auf dieser Ebene spricht die Person
eine Sprache, die sowohl geistig, wie auch körperlich ist. Körper und Geist
können dann als Expression dieser Ebene (der Empfindung) gesehen
werden. Diese Sprache ist in Wirklichkeit noch nicht einmal eine Sprache
des Menschen, diese Sprache entspringt etwas anderem als dem Menschen:
einer Pflanze, einem Mineral oder einem Tier. Wenn wir anfangen diese
Sprache mit mehr und mehr Klarheit und Aufmerksamkeit zu hören, wenn
wir auf diese Worte und Gesten fokussieren, die nicht menschlich sind und
daher sehr eigentümlich ist – das, was wir in der Homöopathie als

                                     11
Die Empfindung in der Homöopathie

„eigentümlich, sonderbar, seltsam, merkwürdig“ bezeichnen – dann
beginnen wir eine andere Sprache zu hören, eine die anders ist, als die
menschliche Sprache. Wenn wir auf diese Sprache fokussieren, dann hören
wir die Ursubstanz selbst. Dann wird uns deutlich, ob die Person eine
Mineralsprache, oder eine Tiersprache oder eine Pflanzensprache spricht.
Der nächste Schritt ist dann die weitere Differenzierung, ob es ein Säugetier,
eine Spinne oder eine Schlange ist oder ob es Anacardiaceae oder
Euphorbiaceae etc. ist.

Das was „nicht-menschlich“ im Menschen ist, das ist die Ursache von
Stress und das ist es, was ich als Krankheit bezeichne. Krankheit ist das
„nicht-menschliche“ Lied, welches in uns spielt, die Melodie einer anderen
Substanz aus der Natur. Dieses Lied ist perfekt, so wie es ist, aber im
Menschen ist es fehl am Platz. Dieses „nicht-menschliche“ Lied sollte nicht
hier sein. Unser ursprüngliches Lied, das menschliche Lied, ist am richtigen
Platz und nur dieses sollte im Menschen spielen. Das „nicht-menschliche“
Lied muss abgeschwächt werden, bis es schließlich erst verblasst, dann
langsam aufhört und ausschließlich die menschliche Melodie hörbar ist.
Das ist die Aufgabe des Heilmittels. Auf der Grundlage des
homöopathischen Prinzips „Ähnliches heilt Ähnliches“, wird ein Heilmittel
ausgewählt, welches aus einer Substanz hergestellt wird, welche ein
ähnliches Lied hat, wie das „nicht-menschliche“ des Patienten. Solch ein
Heilmittel wird im Laufe der Zeit ein Vermindern des „nicht-
menschlichen“ Liedes bewirken, sodass die Kakophonie, der Konflikt oder
Stress nachlässt und nur eine Melodie, die menschliche Melodie deutlich
hörbar ist. Findet dies auf einer tieferen Ebene statt, dann wird die
Disparität zwischen der Wahrnehmung der Realität und der objektiven
Realität nachlassen und das Individuum wird angemessen auf eine
Situation reagieren, so wie wir es in dem Fall des Wegscheuchen des
Insektes gesehen haben oder im Fall des Löschens des Feuers im eigenen
Haus, wie auch im Falle der Flucht vor dem wilden Tier.

Im Lichte des oben genannten Konzeptes könnte man sagen, dass jeder von
uns zwei Leben gleichzeitig lebt. Das allererste ist unser Leben als Mensch,
als Teil einer Familie, eingebunden in eine Gesellschaft. Der Mensch ist von
Natur aus ein „soziales Tier“, seine Existenz hängt von seiner Interaktion in
der Gesellschaft ab. Gleichermaßen liegt es in seiner Natur, seine Rolle in
seiner unmittelbaren Umgebung zu erfüllen. Mit dem Rollenspiel geht das
Nähren seines „Ego“ und seiner „Identität“ Hand in Hand. Hat sein Ego
einen gewissen Grad von Erfüllung erreicht, sucht er nach spirituellem
Wachstum. Das ist die grundlegendste Eigenschaft, die ihn von anderen

                                     12
Vorwort

Tieren unterscheidet. Das charakterisiert den Menschen. Das ist das Lied
des Menschen. Es besteht aus:
• Seine Rolle spielen.
• Das Versorgen und Großziehen seiner Kinder.
• Seinen Beitrag zur Gesellschaft leisten.
• Sein Streben nach sozialer Gerechtigkeit.
• Das essentielle und persönliche Ziel der Selbstfindung und – entfaltung:
    sein Ego zu entwickeln und auf dem Weg der spirituellen Entwicklung
    voranzuschreiten.
Als Mensch ist dies das einzige Lied, das in ihm spielen sollte, als sein Lied,
seine Melodie und seine Essenz.
In dieser Allgemeinheit ist es interessant zu sehen, wie alle Menschen
ähnliche Qualitäten und Themen, ähnliche Ängste und Bestrebungen,
ähnliche Gedanken und Gefühle haben. Und doch gibt es so viele
individuelle Variationen. Jeder ist so verschieden vom anderen. Eine sehr
wichtige Komponente in diesen menschlichen Verschiedenheiten ist es,
dass trotz dieser Gemeinsamkeiten jeder von uns einen Teil hat, der ihn
einzigartig und individuell macht. Es ist dieser Teil, ein kleiner Teil, der
explizit „nicht-menschlich“ ist, der jeweils das Individuum charakterisiert.
In jedem Individuum sind verschiedene Qualitäten in verschiedenen
Proportionen vorhanden, als bei anderen. Zum Beispiel hat eine Person
mehr Aggressivität, eine andere hat die Lieblingsfarbe Schwarz, ein anderer
liebt Süßes über alles, usw. Diese individuellen Unterschiede sind nicht
isolierte, zufällige Phänomene. Wenn wir alle diese „disproportionierten“
Teile der Wahrnehmung und der Reaktionen eines Individuums
zusammentragen, können wir ein deutliches Muster erkennen, welches zu
diesem Individuum gehört. Dieses Muster spiegelt ein anderes Phänomen,
eine andere Wesenheit wider. Diese Wesenheit scheint eine ganz andere
Energie zu manifestieren, als die des menschlichen Lebens, als die, die wir
oben aufgezeigt haben. Es resultiert daraus eine Dualität, wobei sich auf der
einen Seite das menschliche Leben des Individuums befindet und auf der
anderen Seite eine völlig andere Geschichte, eine ganz andere innere Welt.
Diese andere Welt, der Geist der anderen Substanz, die in uns ist, dieses
Energiemuster, welches jedem von uns Individualität zuteilt, hat ihren
angemessenen Platz in der Natur aber nicht in uns. Aber wir haben dieses
Energiemuster übernommen, so dass wir mit der Art, mit der wir die
Realität wahrnehmen zurecht kommen – das ist unsere Strategie des
Überlebens. Dieses Energiemuster ist uns nicht angeboren, es gehört zu

                                      13
Die Empfindung in der Homöopathie

der „Ursubstanz“ aus der Natur und von dieser haben wir es
übernommen.
Es ist also fast so, als ob der Geist der Ursubstanz ein Teil des Individuums
besetzt und diesem eine individuelle Charakteristik gibt. Obwohl dieser
Teil sehr klein ist, verglichen mit der enormen Größe des menschlichen
Teils, ist es dieser Teil, durch den sich ein Mensch vom anderen
unterscheidet. Dieser Teil sticht sehr hervor, wie als wenn jemand einen
sonderbaren Hut trägt. Dieser sonderbare Hut wird auffallen, selbst wenn
er nur ein kleiner Teil des Menschen ist. Dieser andere Teil – welcher eine
Reflektion der Ursubstanz aus der Natur ist – hat seine eigene Melodie, sein
eigenes Lied und dieses spielt ständig im Menschen.
Im Alltag spielt oft das normale menschliche Lied im Vordergrund. Das
andere Lied wird also in den Hintergrund verdrängt, aber es ist
herauszuhören durch charakteristische Worte und Metaphern, die oft
benutzt werden. Es offenbart sich auch durch die Empfindungen die wir
fühlen und die sich in verschiedenen Situationen ausdrücken und wird von
den Gesten begleitet, die wir benutzen, um diese inneren Gefühle und
Empfindungen aufzuzeigen.
Es kommt vor, dass Leute versuchen dieses Lied zum Hauptlied in ihrem
Leben zu machen, indem sie eine Karriere oder eine Situation oder einen
Partner wählen, in dem dieses Lied ohne Anstrengung gespielt werden
kann. Eine Person, deren Lied ein aggressives ist, würde einen Beruf
wählen, der dieser Art der Aggressivität bedarf.
Er kann also beide Lieder in seinem täglichen Leben ausleben und somit ist
sein Leben zu einem gewissen Grad harmonisch. Den meisten Menschen
gelingt es nicht, mehr als nur einen kleinen Prozentsatz des anderen Liedes
in ihrem Alltag auszuleben. Unter solchen Umständen erlebt der Mensch
„das andere Lied“ in seinen Hobbies, Interessen, Zeitvertreiben und vor
allem in Träumen.
Der Konflikt und das darauf folgende Chaos und die Disharmonie
beginnen, wenn das andere Lied kein Ventil für einen Ausdruck hat. Die
Intensität des Liedes wird so groß, dass es menschlich unmöglich wird,
diese Intensität zu einem größeren Anteil auszudrücken. Der Teil, der nicht
ausgedrückt werden kann, schlägt sich nieder und kristallisiert sich als
Pathologie. Da diese Pathologie eine Manifestation des „anderen Liedes“
ist, hat sie dasselbe Energiemuster, dieselbe Empfindung und dieselbe
Melodie wie diese. Wir können sagen, dass dieses andere Lied, diese
„nicht-menschliche“ Energie, die sich im Menschen ausdrückt, am Besten

                                     14
Vorwort

durch die Sprache der Krankheit gehört und wahrgenommen werden kann.
Und diese Sprache der Krankheit drückt sich aus in der Art, wie der Patient
seine Beschwerden äußert und mit welchen spezifischen Empfindungen er
den Schmerz oder die Beschwerden fühlt. Diese Sprache kann auch in
seiner Wahrnehmung einer Situation und in den Worten, die er benutzt, um
diese zu beschreiben, deutlich werden. Und auch in der Wirkung dieser
Situation auf ihn, sowie in seiner Reaktion dazu, kann sie herausgehört
werden.
Ich möchte dies mit einem Beispiel illustrieren:
Eine Frau, Geschäftsführende einer Firma, kam zu mir wegen starker
Schmerzen während der Menstruation. Als ich nachfragte, wie sich dieser
Schmerz anfühlt, sagte sie, es wäre wie ein Rückprall.
„Es ist, wie wenn man etwas Elastisches zieht und dann prallt es zurück,
wie wenn es einen trifft, wenn es zurückprallt.“
Das ist eine sehr ungewöhnliche Beschreibung eines Schmerzes und daher
wird hier möglicherweise das innere Lied ausgedrückt. Wenn wir ihr Leben
weiter untersuchen, sagt sie, dass sie sehr empfindlich darauf ist, in
Menschenmengen herum geschoben und angerempelt zu werden.
Um ihre täglichen Aufgaben und Aktivitäten durchführen zu können, muss
sie sich häufig in Menschenmengen aufhalten. Ihrer Meinung nach sind die
Menschen unzivilisiert, denn sie schieben und drücken andere herum,
rempeln andere an, um selber mehr Platz zu bekommen etc. Ihr instinktiver
Impuls ist es, selber zu schieben und zu rempeln. Aber sie tut es nicht, denn
sie fühlt sich wie ein zivilisierter Mensch und würde daher so etwas nicht
aus Vergeltung tun.
Das Lied in ihr hat also die Energie von Anrempeln und Schieben, hat eine
Aggressivität, die so im Überlebensmechanismus angelegt ist, dass man
seinen Platz in der Menge findet, auch wenn dafür gekämpft werden muss.
Wir können hier sehen, dass sich dieselbe Sprache in ihrer körperlichen
Beschwerde, in ihrer Pathologie, ausdrückt. Dieses Schieben und
Zurückgeschobenwerden (zurückprallen) ist ein Phänomen, welches man
typischerweise bei Ziegen in einer Herde antrifft. Die Ziege muss mit ihrer
Herde sein, aber trotzdem ihren eigenen Platz finden und sie tut dies,
indem sie anrempelt und schiebt. Dieses Ziehen und Schieben ist essentiell
für das Überleben einer Ziege.
Diese Frau erlebt das gleiche Phänomen in ihrem Leben und daher ist dies
„ihr inneres (nicht-menschliches) Lied“. Aber sie erlaubt es diesem Lied

                                     15
Die Empfindung in der Homöopathie

nicht, sich in ihrem Alltag auszudrücken. Da es also nicht im Außen
Ausdruck findet, wird es in ihr gestaut – es braucht ein Ventil um sich
auszudrücken.
Es findet Ausdruck in ihrem physischen Körper, in der Form von
schmerzhaften Menstruationen. Es manifestiert sich in derselben Art, wie
sie sich selbst beschreibt, wie die verschiedenen Aspekte ihres Lebens, ihre
Gefühle und Empfindungen sind und in den Handgesten, die sie benutzt,
um diese Empfindungen auszudrücken. Das Verhalten und die
Körpersprache charakterisieren sie, auch die Worte die sie am häufigsten
benutzt, die Beispiele, die außer Kontext gegeben werden, sowie das
gesamte Phänomen als Ganzes – all dieses sind Schlüsselworte zu dem
Lied, welches in ihr spielt.
Dieses Phänomen aus dem Reich der Tiere, ein Phänomen spezifisch für die
Ziegen, scheint irgendwie den Weg zu ihr gefunden zu haben oder
vielleicht besser gesagt – sie scheint etwas von der Energie der Ziegen
aufgenommen zu haben. Der Geist der Ziegen passt irgendwie zu ihr und
hilft ihr in dieser Situation, in der sie sich (ohne es zu wissen) zu befinden
glaubt, zu überleben. Dies ist ihr „anderes Lied“ in seiner eigenen Art, aber
trotz allem nicht an seinem natürlichen Platz.
Mir fällt ein anderer Fall ein: Ein junges Mädchen, 25 Jahre alt, deren
Hauptbeschwerde unregelmäßige Stuhlgänge waren. Sie hatte abwechselnd
Verstopfung und Durchfall. Auf die Frage, wie sich dies auf sie auswirke,
antwortete sie, dass die Verstopfung sie fettleibig aussehen ließe. Fettleibig
auszusehen hieß für sie keine schönen Kleider tragen zu können und sich
weniger attraktiv zu fühlen. Als weiter nach dem Gefühl von „sich weniger
attraktiv fühlen“ gefragt wurde, erklärte sie, dass sie es nicht mag, neben
einer fettleibigen Person zu stehen, denn dies würde „auf sie reflektieren“.
Die Leute würden sagen „Dick und dick“. Ganz ähnlich war es in ihrem
Büro, wo sie nicht mit denen, die „Außenseiter“ waren, Umgang pflegte.
Für sie war „ein Außenseiter“ jemand der träge und unattraktiv war. Mit
ihnen gesehen zu werden „reflektierte“ auf sie. Wenn sie mit ihnen gesehen
wurde, bedeutete dies für sie, dass sie so war wie sie. Da das Wort „auf
mich reflektiert werden“ sehr oft vorkam, versuchte ich es aus ihrer
Perspektive zu verstehen. Sie sagte das „reflektieren“ ein Wort ist, welches
gemeinhin von Menschen im Sinne von zurückreflektieren, wie z.B. von
Glas eingesetzt wird, da es das reflektiert, was im Inneren und was im
Außen ist.
Sie erklärte weiter, dass sie ein Bild für ihr Leben habe, so wie ihr Leben
sein sollte und wie sie aussehen müsste. Alles musste so sein, wie in dieser

                                     16
Vorwort

festgelegten Ordnung, nur dann könne sie fokussiert bleiben. Daraufhin
wurde sie gefragt, das Wort „fokussiert“ zu beschreiben. „Fokussiert ist das
Gegenteil von verschwommen“, sagte sie. Dann erklärte sie weiter, dass
„Verschwommen ist, wenn man seine Brillengläser abnimmt und nicht
sehen kann. Fokus ist, wenn man sie wieder aufsetzt und alles wieder in
Ordnung zu sein scheint.“ Auf die Frage nach stressigen Situationen in
ihrem Leben erzählte sie die Geschichte einer Beziehung die nicht
funktioniert hatte. Dies berührte sie sehr, da sie sich so tief eingelassen
hatte, dass sie fast vergessen hatte, wer sie eigentlich war. Aus ihren
Erzählungen wurde deutlich, dass „so wie er war, war auch ich“ – sie war
er geworden.
In ihrem Alltag empfand sie es als besonders stressig zu Versammlungen
zu gehen und dort etwas vorzutragen. Sie hatte große Angst davor, denn
sie war sich so sehr ihres Image und ihres Aussehens bewusst. Sie hatte das
Gefühl, dass die anderen sie ansahen und das dies auf sie reflektierte.
Ihr Verhalten ist typisch „Glas“. Bei diesem „Glas“ – Verhalten muss
derjenige im Allgemeinen vorsichtig sein, sowohl im Inneren wie im Außen
(Angst beim Vortragen), so dasses nicht bricht. Noch dazu reflektiert es was
innen ist (mit Freunden), hat also nichts wirklich Eigenes - es reflektiert nur
das, was vor einem steht (wie es in ihrer Beziehung geschehen ist).
Es ist wichtig zu wissen, dass dieses andere gleichzeitige Lied existiert und
es ist erstaunlich, wie man es erkennen kann, Wort für Wort, Note für Note,
Melodie für Melodie. Es ist faszinierend, wie wir versuchen unser äußeres
Leben in Harmonie mit unserer inneren Melodie zu bringen. Wenn dieses
aber nicht möglich ist, dann leben wir ein anderes Leben innen als außen.
Das erzeugt eine Zweiteilung und Disharmonie, welches der Grund für
Stress ist.
Wenn wir ganz in die Tiefe des Falles gehen, hören wir die Ursubstanz des
homöopathischen Heilmittels in der ihr eigenen Sprache sprechen und
unsere Mittelwahl wird sehr viel sicherer und die Resultate weden viel
zuverlässiger.
Die Hauptbeschwerde ist der beste und direkteste Weg, um zum „nicht-
menschlichen“ Lied oder zur „nicht-menschlichen“ Empfindung zu
gelangen. Es war ein großer Schritt für mich die Wichtigkeit der
Hauptbeschwerde zu erkennen, denn das hilft dabei, sich nicht in den
Emotionen, Situationen und Geschichten der Patienten zu verlieren. Man
kann mit der Hauptbeschwerde direkt zur Empfindung im Zentrum der
Krankheit des Patienten kommen. Die Hauptbeschwerde kann uns direkt

                                      17
Die Empfindung in der Homöopathie

zur „nicht-menschlichen“ Melodie des Patienten führen. Obwohl es eine
direkte Route ist, ist es nicht immer einfach und manchmal auch
unmöglich. Es gibt auch viele Fälle, in denen wir mit der Hauptbeschwerde
nirgendwo hinkommen und in solchen muss man zum Beispiel einen
„Bypass“ gehen. Dabei wird man zuerst den Emotionen begegnen, dann
der Wahnidee, bis man schließlich zur Empfindung gelangt.
Tiefer noch als die Empfindung, in einer Sphäre, die wahrscheinlich mit der
Ebene der Lebenskraft korrespondiert, liegt eine Energiestörung. Das, was
wir in unserem Körper und Geist, „bis ins Mark“ als Empfindung fühlen,
wird auf dieser Ebene als ein gestörtes oder anormales Energiemuster
erfahren. Dieses anormale Energiemuster ist in Gleichklang mit der Energie
der Ursubstanz. Bei einem Patienten kann man das Energiemuster vor
allem in seinen Handgesten beobachten und als solche erkennen. Für mich
sind inzwischen die Handgesten der beste Hinweis auf die innere Wahrheit
des Patienten. Worte können irreführend sein, vor allem wenn der Patient
versucht „vernünftig“ zu sein, aber Handgesten sind normalerweise
spontan und speziell und wenn sie wiederholt vorkommen, können sie uns
nie in die Irre führen. Da sie keine Logik oder Vernunft an sich haben, sind
sie höchst sonderbare Symptome und deuten lebendig auf die Energie der
Ursubstanz. Der Patient wird diese Handgesten in verschiedenen
Zusammenhängen und in den verschiedenen Ebenen benutzen, körperlich,
emotional, in der Wahnidee und bei Empfindungen.
Dieses Buch beschreibt in Details diese Konzepte, den Prozess der
Fallaufnahme und die dabei benutzten Techniken. All das wird mit
zahlreichen Fällen illustriert. Manchmal werden sich einige Erkenntnisse
wiederholen. Das wurde mit der Absicht getan, die Erkenntnisse auf
verschiedene Arten zu erklären. Ich habe auch versucht, alle möglichen
Probleme und Zweifel anzusprechen, die beim Ausüben dieser Methode
aufkommen können. Wir arbeiten die vergangenen drei Jahre mit dieser
Methode. Ich habe auch einige Kommentare von Kollegen, die ebenso
arbeiten, mit hinein genommen. Diese Kommentare waren für mich und
meine Kollegen sehr hilfreich.
Kommt und lasst uns zusammen mit Freude entdecken!
Rajan Sankaran
21.Oktober 2004

                                     18
Danksagung

                          DANKSAGUNG

Ich schätze mich sehr glücklich, soviel Unterstützung und Zuneigung so
vieler Kollegen und Freunde zu haben – das spielt eine wichtige Rolle bei
meiner Arbeit.
Zuerst habe ich diese Ideen auf einem internationalen Workshop in Bombay
im November 2001 präsentiert und später in Workshops im November 2002
und 2003. Mit den dabei teilnehmenden, sehr erfahrenen Homöopathen
wurden diese Workshops zu sehr intensiven Erfahrungen, wobei ich in elf
aufeinander folgenden Life- Anamnesen demonstrieren konnte, wie das
neue Konzept und die neue Methode verlässlich angewendet werden
können. Diese Kollegen fuhren nach Hause und wendeten die Methode an.
Ihre Resultate und ihr Feedback gaben mir die so sehr benötigte
unparteiliche Rückbestätigung. Diejenigen, die ihre Fälle und Kommentare
einsandten waren: Jayesh Shah, Sudhir Baldota, Sujit Chatterjee, Linda
Johnston, Andreas Holling, Laurie Dack, Jeff Baker, Bert Lefevre, und Mary
Gillies.
Von Paresh Vasani und mir wurde eine Software (Vital Quest) entwickelt,
die auf dieser Technik aufbaut. Die Diskussionen mit ihm halfen die
Methode weiterhin zu verfeinern.
Rashmi Jaising, die die Entwicklung der Methode in allen Zwischenstadien
mitverfolgt hat und die schon das Buch „Das System der Homöopathie“
redigierte, hat auch dieses Buch zusammengestellt und ihr gezieltes
Nachfragen hat weiterhin viele Punkte geklärt. Ich muss sagen, dass die
ganze Arbeit auf ihren Schultern lag und das Resultat nun in den Händen
des Lesers liegt.
Bei meinem lieben Freund Misha Norland, der mich immer ermutigt hat,
bedanke ich mich dafür, den eher frechen Titel dieses Buches vorgeschlagen
zu haben.

                                   19
Die Empfindung in der Homöopathie

Der künstlerische Ausdruck der Ideen und Konzepte wurde von Cheryl
Feng umgesetzt- sie hat den Umschlag entworfen.
Neil Tessler, Herausgeber von „Simillimum“, hatte mit mir im letzten Jahr
ein sehr tiefgehendes Interview für sein Magazin gemacht. Ich habe an
manchen Stellen – mit seiner Erlaubnis – aus diesem Interview zitiert und
bedanke mich dafür.
Allen die oben erwähnt wurden und vielen anderen auch, die mir geholfen
haben, schulden der Leser und ich großen Dank.

                                    20
Vorwort

                           AN DEN LESER

1. Dieses Buch repräsentiert eine Progression der Ideen des Autors. Dem
   Leser wird nachdrücklich empfohlen, die diesem Werk zugrunde
   liegenden Konzepte, wie: die zentrale Störung, die Wahnidee, die
   Naturreiche, die Miasmen und die Empfindung etc. gründlich zu
   studieren. Die Zusammenfassung dieser Konzepte in den ersten
   Kapiteln ist hauptsächlich für diejenigen gedacht, die schon mit diesen
   vertraut sind. Anfängern werden vor der Lektüre dieses Buches die
   vorangegangenen Werke des Autors empfohlen, wie: „Das geistige
   Prinzip der Homöopathie“, „Die Substanz der Homöopathie“, „Das System der
   Homöopathie“ und „Einblicke ins Pflanzenreich“.
2. Diese Konzepte und Karten helfen uns, die Homöopathie zu
   systematisieren. Aber der Leser sollte daran denken, dass die Konzepte,
   die in diesem und in den vorangegangenen Werken des Autors
   vorkommen, streng aus den Grundlagen der Homöopathie hergeleitet
   wurden. Manchmal erscheint Neulingen die Einfachheit der Konzepte
   verlockend, so dass sie glauben könnten, die homöopathische
   Philosophie, die Materia Medica und das Repertorium seien
   entbehrlich. Solche Missverständnisse führen letztendlich zu
   Fehlschlägen. Der Autor möchte noch einmal betonen, dass die Ideen in
   diesem Buch aus der Kristallisation der Kenntnis der homöopathischen
   Philosophie, Materia Medica und des Repertoriums stammen. Das
   System mit dem er arbeitet wurde auf diesen essentiellen, soliden
   Grundlagenelementen aufgebaut und dieses Buch gibt nur einen
   Überblick über dieses System.
   Speziell erwähnt werden muss das Konzept der Naturreiche, welches
   Neulingen einfach und attraktiv erscheint. Dr. Sankaran‘s Verständnis
   des Periodensystems hat es einfacher gemacht, mineralische Heilmittel
   zu verschreiben, aber seine Ideen und Verschreibungen entstehen aus
   einem sehr verlässlichen Hintergrund der Philosophie, der Materia
   Medica und des Repertoriums. Beispielsweise schlägt er vor, dass das
   Hauptthema von „Aurum“ ist, allein auf seinen eigenen Füßen zu

                                    21
Die Empfindung in der Homöopathie

   stehen und die Verantwortung für sich selbst, wie auch für andere zu
   übernehmen – dies wird durch die wohlbekannten Symptome von
   „Aurum“ bestätigt. Diese sind: „Wahnidee er hat seine Pflicht
   vernachlässigt“,     „Beschwerden         von      außergewöhnlicher
   Verantwortung“ und „Gewissenhaftigkeit“ etc. Die Konzepte bezüglich
   des Pflanzenreichs wurden vollständig aus Symptomen aus
   verschiedenen Materia Medicas und Mittelprüfungen hergeleitet, wie in
   „Einblicke ins Pflanzenreich“ beschrieben. Konzepte bezüglich der
   Tierwelt wurden in ähnlicher Art und Weise durch Symptome und Fälle
   stark gestützt. Alle diese Konzepte basieren auf seiner über
   zwanzigjährigen Praxis und wurden von ihm verifiziert, wie auch
   durch seine eigenen Fälle und die seiner Kollegen.
   Dem Leser wird also empfohlen, seine Grundlagenkenntnisse der
   Homöopathie mit Hilfe eines sorgfältigen Studiums der fundamentalen
   Texte zu stärken. Diese Verwurzelung in den Grundlagen, sollte nie
   vergessen werden- auch nicht beim Auftauchen neuer Ideen und
   Konzepte. Es ist eine Tatsache, dass in der Homöopathie jedweder echte
   Fortschritt ohne stabile Basis und Kenntnis der homöopathischen
   Philosophie, der Materia Medica und des Repertoriums unmöglich ist.
3. Abkürzungen, die in den Fallaufnahmen benutzt werden.
   H: Homöopath
   P: Patient
   M: Mutter des Patienten
   V: Vater des Patienten
4. Alle Daten, die     in   der   Fallaufnahme      vorkommen   sind   im
   Format: tt.mm.JJ.
5. Die Kommentare und Erklärungen des Autors sind in kursiv in den Text
   eingefügt, um dem Leser zu helfen, die Gedankengänge des Autors
   nachzuvollziehen.

                                    22
Einführung

                            EINFÜHRUNG

Hahnemann schrieb im Organon der Medizin

(Paragraph 11):

    „Wenn der Mensch erkrankt, so ist ursprünglich nur diese geistartige,
    in seinem Organism überall anwesende, selbstthätige Lebenskraft
    (Lebensprincip) durch den, dem Leben feindlichen, dynamischen
    Einfluss eines krankmachenden Agens verstimmt; nur das zu einer
    solchen Innormalität verstimmte Lebensprincip, kann dem Organismus
    die widrigen Empfindungen verleihen und ihn so zu regelwidrigen
    Thätigkeiten bestimmen, die wir Krankheit nennen, denn dieses, an sich
    unsichtbare und bloß an seinen Wirkungen im Organismus erkennbare
    Kraftwesen, gibt seine krankhafte Verstimmung nur durch Äußerung
    von Krankheit in Gefühlen und Thätigkeiten, (die einzige, den Sinnen
    des Beobachters und Heilkünstlers zugekehrte Seite des Organismus),
    das ist, durch Krankheits - Symptome zu erkennen und kann sie nicht
    anders zu erkennen geben.“

So wie Hahnemann hier Krankheit definiert, ist sie also etwas, das weit
über Prozesse, Empfindungen und über Symptome hinausgeht. Krankheit
ist eine dynamische Störung der dynamischen Lebenskraft. Während
Prozesse, Empfindungen und Symptome die Ausdrucksweisen von
Krankheit sind, ist die Krankheit an sich nichts anderes, als die
lebensspendende Lebenskraft, auch wenn diese gestört ist. Die Lebenskraft
besitzt den Impuls das Leben und die Funktionen aufrechtzuerhalten und
gibt ihn jeder einzelnen Zelle und jedem einzelnen Atom im Körper weiter;
dieser Prozess ist auf bestimmte Weise bei Krankheit gestört. Krankheit ist
Energie und verursacht ein Chaos auf tiefster Ebene im Organismus. Ob es
ein deformierter Fingernagel, ein wütender, bösartiger Prozess oder eine
Angststörung ist, alle haben dieses Chaos, diese gestörte Energie in sich.
Die Essenz der Krankheit ist spürbar in allem was der Patient fühlt, in
jedem der Symptome und die Gesamtheit der Symptome ist die ganze
Krankheit.

                                     23
Die Empfindung in der Homöopathie

Die Lebenskraft (und daher die Krankheit) durchdringt jede, aber auch jede
einzelne Zelle des Körpers. Daher kann einer Aufsummierung und
Auflistung einzelner Phänomene nicht zu einer kann einer verläßlichen
Auswahl eines Heilmittels führen. Ich kann die Begrenztheit dieser
Methode bezeugen, da ich zu Beginn meiner Praxis auf diesem Weg war.
Ein paar herausragende Symptome oder Schlüsselworte mögen in manchen
Fällen auf das Simillimum deuten, aber diese Methode funktioniert lange
nicht in jedem Fall. Unsere Materia Medica expandiert ständig und immer
mehr und neue Heilmittel werden in jeder Rubrik aufgelistet. Oft destilliert
sich nach solch einer mathematischen Repertorisierung nicht ein einziges
Heilmittel heraus. Um verlässliche Resultate in unserer Praxis zu erzielen,
müssen wir wie Hahnemann uns rät:
     „Klar erkennen was bei der Krankheit zu heilen ist, das heißt in jedem
     individuellen Fall von Krankheit.“
Bis jetzt sind meine dreiundzwanzig Jahre als praktizierender Homöopath
eine faszinierende Reise, die mir die Augen geöffnet hat und voller
Wachstum ist. Jeder Schritt scheint mich näher zu meinem beabsichtigten
Ziel zu bringen und doch eröffnet der Weg vor mir immer neue
Möglichkeiten der Entdeckung, weiteres Lernen und noch viel mehr
Offenbarungen. Wie schon erwähnt, begann ich mit mechanischer
Repertorisierung und als sich die Resultate dieses Prozesses als
unzureichend erwiesen, studierte ich die erfolgreichen Fälle, um zu
verstehen, welche Symptome auszuwählen und welche wegzulassen
waren. Meine Suche führte mich zuerst dazu, die zentrale Störung zu
identifizieren, dann zum Verständnis des Gemütszustandes und danach
zur Entdeckung, dass der Gemütszustand auf der Wahnidee basiert. Viele
Jahre lang arbeitete ich mit der Theorie der Wahnidee, wiederum sehr
erfolgreich in manchen Fällen, aber ohne Resultate in anderen. Einige Jahre
später brachte die Arbeit mit der Pflanzenwelt den Durchbruch. Das
Vorhandensein einer allgemeinen Empfindung auf einer Ebene jenseits von
Körper und Geist, ist nicht nur wahr bei Pflanzenfamilien, sondern bei allen
Krankheiten und Heilmitteln. Ich realisierte, dass ich irgendwie eine Ebene
erreicht hatte, die tiefer als die Ebene der Wahnidee war. Als ich mit der
neuen Technik weiterarbeitete, wurde mir klar, dass diese allgemeine oder
Vital-Empfindung immer in der Hauptbeschwerde gefunden werden
konnte, aber sich auch im Gemütszustand, in Träumen, Hobbys, Interessen
etc. widerspiegelte. Ich erkannte, dass sie auch in Handgesten ausgedrückt
wurde. Als ich in jedem Fall die Handgesten beobachtete, realisierte ich,
dass einige von diesen Gesten die Empfindung ausdrückten, andere
repräsentierten die Wahnidee und noch andere vermittelten Muster und

                                     24
Die Vital – Empfindung

     TEIL II

        137
Die Vital – Empfindung

                   DIE VITAL – EMPFINDUNG
            (Auszug aus „Einblicke ins Pflanzenreich“, Band I)

Einblicke in das Pflanzenreich
Die Praxis der Homöopathie ist nicht einfach. Dies mag unter anderem
daran liegen, dass Homöopathie eine der wenigen oder gar die einzige
wissenschaftliche Disziplin ist, die in ihrer Methodik beim Spezifischen
ansetzt, anstatt vom Allgemeinen zum Speziellen hinzuführen. Jeder
Zustand eines Patienten soll mit einem Heilmittel identifiziert werden, und
dies geschieht ausschließlich auf der Basis von Symptomen.
Auf ihrer Suche nach dem richtigen Heilmittel für einen Patienten halten
sich Homöopathen oft ausschließlich an die Spezifika. Manchmal bringe ich
einen Witz an, indem ich behaupte, dass dieselbe Vorgehensweise auf
andere Bereiche angewandt ungefähr folgendermaßen aussehen könnte:
Zur Charakterisierung eines Objektes beginnen wir mit drei Eigenschaften,
zum Beispiel „schwarz“, „groß“ und „bewegt sich“. Darauf sagt eine
Person: „Oh ja, das kenne ich! Das ist ein Elefant!“ Eine zweite Person
identifiziert das Objekt als Wolke, und eine dritte ist sicher, dass wir es mit
einer Dampfmaschine zu tun haben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass
es bei der Suche nach dem homöopathischen Heilmittel so viele
Lösungsvorschläge gibt wie Homöopathen.
Eine wissenschaftliche Disziplin sollte üblicherweise zuerst fragen, ob es
sich um ein lebendes oder ein nicht lebendes Objekt handelt. Falls es ein
lebendes ist, ob es eine Pflanze oder ein Tier ist. Falls es ein Tier ist, ob es
sich um ein Säugetier oder ein Kriechtier handelt usw. Und wenn es sich
bei dem schwarzen, großen, bewegenden Etwas um ein Säugetier handelt,
dann beschränkt sich unsere Auswahl auf zwei oder drei Arten. Und dann
können wir mit spezifischeren Fragen fortfahren, um es noch näher
einzukreisen. Auf ähnliche Weise wäre es für die Homöopathie bedeutend
einfacher, wenn wir einem System folgten, das unser wahlloses
Durchforsten der Materia medica – ein Dschungel ohne Karten und
Wegweiser – ersetzte.
Meine Suche nach einer Landkarte führte mich in zwei Richtungen. Erstens
dazu, die Krankheitszustände sowohl der Patienten als auch der

                                      139
Sie können auch lesen