Die Gegenwart des Zukünftigen - Science-Fiction - Simon Spiegel
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Die Gegenwart des Zukünftigen – Science- Fiction Simon Spiegel Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 2 SF als Modus des naturalisierten Wunderbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 3 Verfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 4 Die Geschichte des SF-Kinos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 5 Utopie/Dystopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 6 Das Fandom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 7 Das SF-Kino der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 8 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Zusammenfassung War die Science-Fiction (SF) bis 1950 in Hollywood kaum präsent und in den folgenden zwei Jahrzehnten primär ein Billig-Genre, bildet sie heute in der Form crossmedialer Franchises eine der tragenden Säulen der großen Hollywood- Studios. Zugleich ist SF durch ihre Verfremdungsleistung aber ein potenziell kritisches und subversives Genre; auch die SF-Fans verstehen sich traditionell als aufgeklärte, progressive Subkultur. Durch die extreme Kommerzialisierung des Genres rücken diese Tendenzen zwar in den Hintergrund, sie sind in einzel- nen Filmen aber nach wie vor präsent. Schlüsselwörter Science-Fiction · Genretheorie · Fan Studies · Verfremdung · Utopie · Dystopie · Blockbuster S. Spiegel (*) Seminar für Filmwissenschaft, Universität Zürich, Zürich, Schweiz Medienwissenschaft, Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland E-Mail: simon@simifilm.ch © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 1 A. Geimer et al. (Hrsg.), Handbuch Filmsoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10947-9_49-2
2 S. Spiegel 1 Einleitung Die filmische Science-Fiction (SF) hat einen langen Weg hinter sich. Heute wird das Hollywoodkino von Blockbustern wie der Star-Wars-Reihe oder den verschiedenen Superhelden-Franchises beherrscht. SF ist damit zu einer tragenden Säule in der Strategie der großen Hollywood-Studios geworden. Das war nicht immer so. Bis zu Beginn der 1950er-Jahre war die SF als Genre unbedeutend, Filme, die über das Niveau von B-Produktionen hinauskamen, eine Seltenheit. Der Aufstieg der SF zu einem der dominanten Genres innerhalb der US-ame- rikanischen Filmindustrie hat verschiedene Gründe. Er hängt einerseits mit der Entwicklung der SF selbst zusammen, die ursprünglich als Nischenliteratur entstan- den ist, heute aber auch außerhalb von Fankreisen vielerorts als eine zentrale kulturelle Form der Gegenwartswahrnehmung und -darstellung verstanden wird. Schon 1991, zu einem Zeitpunkt, als technologische Errungenschaften wie das Internet oder Smartphones noch in den Kinderschuhen steckten, stellte der SF-Kritiker Isvtan Csicsery-Ronay fest: „SF has ceased to be a genre of fiction per se, becoming instead a mode of awareness about the world, a complex, hesitating orientation toward the future“ (Csicsery-Ronay 1991, S. 308). Ein Vierteljahrhundert später ist dieser Befund aktueller denn je, und die Einschätzung, dass wir bereits in einem SF-Zeitalter leben, häufig zu lesen. Der Erfolg der SF gründet aber nicht nur in ihrer Funktion als Spiegel des Zeitgeistes. Mindestens so wichtig ist die zunehmende Intensivierung der von der US-Filmindustrie praktizierten Blockbuster- respektive Franchise-Strategie sowie die Konzentration auf ein vornehmlich junges Publikum. Für beides hat sich die SF als äußerst geeignet erwiesen. In diesem Kapitel soll es einerseits darum gehen, den SF-Film inhaltlich und formal zu charakterisieren sowie seine historische Entwicklung nachzuzeichnen. Daneben soll vor allem das SF-Kino der Gegenwart beleuchtet werden, dessen Vermarktung und Rezeption in vielerlei Hinsicht typisch für das aktuelle US-Kino insgesamt ist. Das SF-Kino außerhalb Hollywoods wird dagegen nur am Rande zur Sprache kommen.1 2 SF als Modus des naturalisierten Wunderbaren Die Frage, wie SF definiert werden kann, begleitet das Genre seit seiner Entstehung. Weitgehend unbestritten ist, dass sich SF durch ein Novum auszeichnet (Suvin 1979), durch ein wunderbares, (noch) nicht mögliches Element, das die Handlungs- welt entscheidend prägt. Weniger einig ist sich die Forschung in der Frage, was das SF-Novum von wunderbaren Elementen anderer ‚nicht-realistischerʻ Genres wie 1 Nachdem sich die Forschung lange Zeit fast ausschließlich auf das US-amerikanische und europä- ische SF-Kino konzentrierte, sind mittlerweile mehrere Publikationen zum weltweiten SF-Film erschienen; s. Fritzsche 2014; Feeley und Wells 2015.
Die Gegenwart des Zukünftigen – Science-Fiction 3 Märchen oder Fantasy unterscheidet. Eine in unterschiedlichen Varianten vorge- brachte Argumentation lautet, dass das SF-Novum im Gegensatz zu den magischen Elementen der Fantasy wissenschaftlich (relativ) plausibel ist. Das Betonen ihrer angeblichen wissenschaftlichen Grundierung dient nicht selten dazu, der SF mehr Seriosität zu verleihen. Entsprechend wurde dieser Aspekt von Herausgebern und Fans schon früh betont und diente später auch in der Forschung dazu, das Genre als Untersuchungsobjekt zu legitimieren. SF erscheint damit nicht mehr als bloße Unterhaltung, sondern rückt in die Nähe ernsthafter wissenschaftli- cher Extrapolation und Prognostik. Allerdings lässt sich dieser Anspruch in der Realität kaum aufrechterhalten. Gängige SF-Nova wie Außerirdische, intelligente Roboter, Zeitmaschinen oder Raumschiffe mit Überlichtgeschwindigkeit sind gemäß dem aktuellen Stand der Wissenschaft wenig plausibel respektive müssen teilweise als komplett unmöglich gelten. Dennoch würde kaum jemand bestreiten, dass es sich bei (unmöglichen) Raumschiffen wie den X-Wing-Fighters aus Star Wars oder der USS Enterprise um SF-typische Fortbewegungsmittel handelt. Dass wir keine Mühe bekunden, diese SF-Nova zu identifizieren, hängt aber weder mit unserem Wissen über die genaue Funktionsweise dieser Raumschiffe noch mit deren Plausibilität zusammen. Ent- scheidend ist vielmehr, dass wir die Raumschiffe als technische, von Menschen konstruierte Maschinen erkennen. Dass wir dies tun, liegt an ihrem Aussehen. Wir erkennen ein Raumschiff, weil es wie ein Raumschiff aussieht. Denn um ihre Nova als technisch-wissenschaftliche Neuerungen kenntlich zu machen, bedient sich die SF einer technizistischen Ästhetik, die an unsere Vorstellungen von Wissenschaft und Technik anknüpft. Etwa in Form von blinkenden Lichtern, Bildschirmen, technisch anmutenden Geräuschen wie Quietschen und Zischen oder Handlungsorten wie einem wissenschaftlichen Laboratorium. Auch der oft parodierte Technobabble, also die langen Monologe, in denen technisch klingende, letztlich aber sinnlose Begriffe aneinandergereiht werden, um ein bestimmtes Phänomen zu erklären, dient dazu, das Novum als wissenschaftlich plausibel erscheinen zu lassen. Dieses Verfahren der Naturalisierung (Spiegel 2007, S. 42–55) ist das definierende Merkmal der SF. Dass SF oft in der Zukunft angesiedelt ist – aber keineswegs sein muss –, ist eine Folge der impliziten Behauptung, dass ihre Welten eine Erweiterung der Gegenwart darstellen, dass sie aus unserer Welt hervorgehen könnten. Dies unterscheidet SF auch von Fantasy im Stile von The Lord of the Rings, die sich einer Märchen- Ikonografie bedient und damit markiert, dass sie in einer abgeschlossenen Secondary World (vgl. Tolkien 2001, S. 46–56) spielt.2 Versteht man SF als naturalisiertes Wunderbares, greift ein traditioneller Genre- begriff, der von einem wiederkehrenden Set von Elementen wie ikonischen Acces- 2 In den meisten Fällen lassen sich SF und Fantasy klar voneinander unterscheiden, Mischformen sind aber dennoch möglich. Die Star-Wars-Reihe ist hierfür ein prominentes Beispiel. Während Raumschiffe, Roboter und Lasergefechte auf ein SF-Universum verweisen, sind die in mönchs- kuttenartige Gewänder gekleideten Jedi, die an eine alles durchdringende Force glauben, typische Fantasy-Ingredienzien. Diese Mischform wird mancherorts auch als Science Fantasy bezeichnet (Attebery 1981).
4 S. Spiegel soires und wiederkehrenden Plotstrukturen ausgeht, nicht. SF bezeichnet dann nicht mehr eine halbwegs begrenzbare, aufeinander verweisende Gruppe von Filmen, sondern vielmehr einen Typus fiktionaler Welten. Ein Blick auf einige Beispiele bestätigt dies: So unterschiedliche Filme wie Stalker (Der Stalker, SU 1979, Regie: Andrej Tarkowskij), The Terminator (Terminator, USA 1984, Regie: James Came- ron) oder Looper (USA/CA 2012, Regie: Rian Johnson) gehören alle zweifellos zur SF, weisen aber kaum syntaktische oder semantische Gemeinsamkeiten im Sinne Rick Altmans auf (Altman 2000). Anders als etwa der Western oder das Musical erscheint SF somit weniger als „filmkulturelle Institution“ (Schweinitz 1994, S. 100) bzw. als von Produzenten und Rezipienten gleichermaßen geteilter Code, sondern als ein „Totalgenre“ (Friedrich 1995, S. 5) respektive ein „‚world building‘ genre“ (McHale 1992, S. 220), weshalb es sinnvoller ist, statt von einem Genre von einem fiktional-ästhetischen Modus zu sprechen. Konzipiert man SF als Modus, wird der traditionelle Genrebegriff keineswegs überflüssig, denn innerhalb des Modus können sich unterschiedliche Genres ansie- deln. Manche – wie der Actionfilm oder der Thriller – sind nicht SF-spezifisch, andere wie die Dystopie, die Space Opera, der Superheldenfilm oder die Zeitreise- geschichte sind mehr oder weniger fest an den Modus gebunden (Spiegel 2007, S. 29–51; Hollinger 2014; Rieder 2010). Die Unterscheidung von Modus und Genre erleichtert auch den Umgang mit Werken, die zwar eindeutig zur SF gehören, aber dennoch außerhalb eines Genre- kontextes entstanden sind. Das gilt für „Autorenfilme“ wie Alphaville – une étrange aventure de Lemmy Caution (Lemmy Caution gegen Alpha 60, FR/IT 1965, Regie: Jean-Luc Godard), Bis ans Ende der Welt (AU/DE/FR 1991, Regie: Wim Wenders) oder Under the Skin (Under the Skin – Unter die Haut, GB/USA/CH 2013, Regie: Jonathan Glazer) wie auch für (literarische und filmische) Werke, die veröffentlicht wurden, bevor Science-Fiction als eigenständige Kategorie existierte. So erschienen im 19. Jahrhundert zahlreiche Titel, die retrospektiv als SF angesehen werden können, ursprünglich aber unter ganz anderen Labels geführt wurden. Beispiels- weise entstand Mary Shelleys Roman Frankenstein (1816), der heute vielerorts als ‚erster SF-Roman der Literaturgeschichte‘ betrachtet wird (Aldiss 1973), im Kontext der Gothic Novel. Die Romane Jules Vernes wiederum wurden als voyages extra- ordinaires beworben. 3 Verfremdung In scheinbar paradoxer Weise geht Naturalisierung in der SF Hand in Hand mit einem gegenläufigen Mechanismus, der Verfremdung. Gerade weil die SF vorgibt, in unserer Welt zu spielen, inszeniert sie regelmäßig Kollisionen zwischen bekannten und unbekannten Elementen. Wenn in einer Science-Fiction-Erzählung Menschen zu unbekannten Planeten fliegen – wie z. B. in Interstellar (USA/GB/CA 2014, Regie: Christopher Nolan) oder Avatar (Avatar – Aufbruch nach Pandora, USA 2009, Regie: James Cameron) –, durch die Zeit reisen wie in The Time Machine (Die Zeitmaschine, USA 1960, Regie: George Pal) oder der Back-to-the-Future-Reihe,
Die Gegenwart des Zukünftigen – Science-Fiction 5 wenn neuartige Erfindungen die bekannte Welt umkrempeln wie in Minority Report (USA 2002, Regie: Steven Spielberg) oder Limitless (Ohne Limit, USA 2011, Regie: Neil Burger), Monster die Erde verwüsten, etwa in Gojira/Godzilla (JP 1954, Regie: Ishirô Honda) oder The Blob (Blob – Schrecken ohne Namen, USA 1958, Regie: Irvin S. Yearworth), kurz: Wenn in einer vordergründig realitätskompatiblen Welt wunderbare Elemente auftreten, dann führt der Zusammenprall der beiden Welten zu einer verfremdenden Wirkung. Das Bekannte erscheint in einem neuen Umfeld, wird rekontextualisiert. Dabei unterscheidet sich SF-typische Verfremdung von Verfremdungskonzepten wie dem V-Effekt Bertolt Brechts und der Ostranenie der Russischen Formalisten. Gemeinsam ist allen Varianten, dass vermeintlich alltägliche Gegenstände mittels Verfremdung ungewohnt erscheinen, dass das Altbekannte und Banale neu erkannt wird. Verfremdung im Sinne Brechts und der Russischen Formalisten ist primär ein formal-rhetorisches Mittel – wobei es zwischen diesen beiden Konzepten ebenfalls Unterschiede gibt; die Verfremdung resultiert aus der Darstellungsweise, die das scheinbar Bekannte in neuem Licht erscheinen lässt.3 Die Verfremdung der SF funktioniert dagegen anders, wie eine Szene aus Soylent Green (. . . Jahr 2022 . . . die überleben wollen, USA 1973, Regie: Richard Fleischer) illustrieren soll: Im New York des Jahres 2022 ist Überbevölkerung zum Hauptproblem geworden. Die Stadt platzt aus allen Nähten, die Menschen ernähren sich von synthetischen Ener- gieriegeln, natürliche Nahrung ist ein Luxusgut geworden. Die Hauptfigur Thorn muss in einem Mordfall ermitteln und kommt bei dieser Gelegenheit in ein Luxus- apartment. Mit fast schon an Ekstase grenzender Begeisterung dreht er den Wasser- hahn auf, lässt sich das Wasser über die Hände fließen und riecht an der Seife. Ein prosaischer und für den Zuschauer alles andere als ungewöhnlicher Ort wird in Soylent Green zur Quelle der Freude verfremdet. Dem Publikum kann auf diese Weise bewusst gemacht werden, dass sein ganz alltäglicher Luxus keineswegs selbstverständlich ist. In Soylent Green wird das Badezimmer zweifellos verfremdet, die Verfremdungs- wirkung resultiert aber nicht aus formal-künstlerischen Mitteln wie ungewöhnlichen Kameraperspektiven oder auffälligem Schnitt. Die Szene ist vielmehr relativ zurück- haltend in einer ungeschnittenen Halbtotalen gedreht. Die Verfremdungswirkung entsteht, weil sich Thorn in einer scheinbar realistischen Umgebung ungewöhnlich verhält. Ohne seine überschwängliche Freude wäre diese Szene nicht weiter auf- fällig. Die Verfremdung ist somit auf der Ebene der Diegese, der Fiktion, anzusie- deln, es handelt sich um diegetische Verfremdung (vgl. Spiegel 2007, S. 201–241).4 Dank ihrer Verfremdungsleistung eignet sich SF ideal dazu, scheinbar festste- hende Sachverhalte infrage zu stellen; damit birgt sie großes subversives Potenzial. 3 Der Russische Formalist Viktor Šklovskij erwähnt u. a. ungewohnte Sprachbilder und erzähle- rische Perspektiven (Šklovskij 1969), Brecht eine distanzierte Spielweise und den Einsatz von Transparenten (Brecht 1967). 4 Die SF kennt auch formale Verfremdung, hierbei handelt es sich aber um eine Verfremdung zweiter Ordnung, die erst nach der Naturalisierung erfolgen kann (Spiegel 2007, S. 209–229).
6 S. Spiegel Entsprechend wurde SF von der Wissenschaft auch schon früh als kritischer Modus entdeckt. So hat Darko Suvin, einer der Pioniere der SF-Forschung, das Genre in seiner Poetik der Science Fiction als kognitive respektive erkenntnisbezogene Ver- fremdung definiert. Für Suvin, der primär dem Brechtʼschen Verfremdungsbegriff folgt,5 ist SF ein im marxistischen Sinne kritisches Genre, das dem Rezipienten im Gegensatz zu nicht-kognitiven Genres wie Märchen und Fantasy einen Erkenntnis- gewinn beschert. Beispiele, die diesen Ansprüchen nicht genügen, wären demzu- folge keine echte SF, sondern „besondere, begrenzte historische und ideologische Verwendungsweisen, die sich nicht notwendigerweise aus dem Grundvertrag des Genres ergeben, sondern ihm zugefügt sind“ (Suvin 1979, S. 42).6 Die SF-typische Verfremdung kann durchaus subversiv-kritisch im Sinne Suvins sein, sie kann aber ebenso gut unheimlich oder humoristisch wirken. Viele ursprüng- lich verfremdend wirkende Nova sind im Mainstream-Kino mittlerweile so geläufig geworden, dass zumeist die Naturalisierung überwiegt und die Verfremdungswir- kung nur noch in Schwundstufen erkennbar ist. 4 Die Geschichte des SF-Kinos Wann man die Entstehung der SF ansetzt, hängt direkt davon ab, wie man SF definiert und welche Aspekte man dabei betont. Manche Historiker des Genres machen bereits in antiken Texten oder sogar noch früher, etwa im Gilgamesch-Epos, erste Spuren von SF aus (z. B. Roberts 2016), insgesamt herrscht aber doch Konsens, dass die moderne SF ein Kind des 19. Jahrhunderts ist. Neben der Gothic Novel stellen vor allem Abenteuer- und Reiseromane eine wichtige Wurzel dar. Jules Verne und insbesondere die Scientific Romances von H.G. Wells sind weitere wichtige Stationen bei der Herausbildung einer eigenen Tradition. Als besonders folgenreich erweisen sich aber die US-amerikanischen Groschenhefte (pulp magazines) der 1920er-Jahre. Hier formiert sich ‚Science-Fiction‘, zunächst unter der Bezeichnung ‚scientifiction‘, endgültig als eigenständige Kategorie. Obwohl zeitgleich auch in zahlreichen anderen Ländern SF veröffentlich wird, prägt das sogenannte Golden Age der US-amerikanischen literarischen SF, das von Ende der 1930er- bis Mitte der 1940er-Jahre dauert, den Modus am Nachhaltigsten. SF ist zu dieser Zeit ein rein literarisches Phänomen, das sich in einem weitgehend geschlossenen Zirkel vor allem weißer männlicher Mittelschichts-Jugendlicher abspielte. Außerhalb, insbe- 5 Suvin folgt Brecht insofern, als er Verfremdung ebenfalls als Darstellungsweise versteht. Zugleich bezeichnet er damit aber auch die Beschaffenheit der SF-Welt, beschreibt also ein Phänomen auf der Ebene der fiktionalen Welt. Diese Gleichsetzung führt zu zahlreichen Widersprüchen. 6 Suvin geht erklärtermaßen von einer marxistischen Position aus und verbannt alle politisch nicht opportunen Beispiele aus dem Genre. Dass dieser streng normative Ansatz äußerst problematisch ist, dürfte offensichtlich sein. Nicht zuletzt stellt sich, wie es bei derartigen wertenden Definitionen oft der Fall ist, die ganz banale Frage, was mit all den Romanen und Filmen geschieht, die aus dem Genre fallen, die aber, wie Suvin selbst bemerkt, quantitativ klar die Mehrheit bilden. Ein Großteil der SF – so Suvins paradoxer Befund – ist im Grunde gar nicht SF.
Die Gegenwart des Zukünftigen – Science-Fiction 7 sondere in der Welt der ‚Hochliteratur‘, wurde das Genre kaum wahrgenommen. Gerade diese relative Abgeschlossenheit dürfte mit dazu beigetragen haben, dass sich zahlreiche Konventionen etablieren konnten, die teilweise bis heute nachwir- ken. Viele historische Darstellungen des SF-Kinos setzen später, zu Beginn der 1950er-Jahre, ein. Die gängige Argumentation lautet, dass SF erst ab diesem Zeit- punkt als eigenständiges filmisches Genre entstehe. Prominente Beispiele aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Aelita (SU 1924, Regie: Yakov Protazanov), Metropolis (DE 1927, Regie: Fritz Lang), Die Frau im Mond (DE 1929, Regie: Fritz Lang) oder Things to Come (Was kommen wird, GB 1936, Regie: William Cameron Menzies) erscheinen dagegen als Ausnahmen, welche die Regel bestätigen. Dieser Befund ist allerdings nur gültig, wenn man sich auf Langspielfilme beschränkt und SF als distinktes Genre versteht, das von Industrie und Publikum auch als solches erkannt wird (wie es bei der Literatur ab Ende der 1920er-Jahre der Fall war). Wie verschiedene neuere Studien zeigen, gab es aber schon vor 1950 zahlreiche Filme, die SF-Motive aufweisen und somit dem Modus angehören. So drehte bereits der Filmpionier Georges Méliès Filme wie Le voyage dans la lune (F 1902, R: Georges Méliès) und Le voyage à travers l’impossible (F 1904, R: Georges Méliès), die mit Motiven wie einem Flug zum Mond respektive einem äußerst wandelbaren Zug durchaus der SF zugerechnet werden können. Von SF-Filmen im heutigen Verständnis kann im frühen Kino aber dennoch noch nicht die Rede sein, denn die Filme von Méliès und Konsorten entsprechen nicht moder- nen Vorstellungen von narrativem Kino. Die SF-Elemente dienen hier im Sinne von Tom Gunnings „cinema of attractions“ (Gunning 1986) primär als Vorwand für verblüffende Effekte. Dennoch werden in ihnen bereits erste typische SF-Motive etabliert, „a series of conventions for what would, eventually, become known as the science-fiction film“ (Johnston 2011, S. 70). In den 1930er- und 1940er-Jahren ist der Begriff ‚Science Fiction‘ im Zusam- menhang mit Filmen zwar nach wie vor nicht anzutreffen, dennoch ist bereits eine Art Genrebewusstsein erkennbar, wenn auch abseits der großen Studios. SF ist zu diesem Zeitpunkt Stoff für Serials wie The Phantom Empire (Phantom Reiter, USA 1935, R: Otto Brower und B. Reeves) oder Flash Gordon (USA 1936, R: Frederick Stephani und Ray Taylor); schnell abgedrehte Billigproduktionen, die als wöchent- liche Fortsetzungen in die Kinos kamen (Higgins 2016). Daneben entstanden auch zahlreiche Animationsfilme mit SF-Motiven (Telotte 2017). Dass SF zu dieser Zeit fast ausschließlich auf filmische Formen jenseits des abendfüllenden Spielfilms beschränkt bleibt, verdeutlicht ihren niedrigen Status. SF wurde nicht als für Spielfilme geeignet angesehen, war noch nicht einmal ein B-Genre. Mit dem Niedergang des Studiosystems Ende der 1940er-Jahre begann sich dies zu ändern. An die Stelle der klaren Aufteilung in A- und B-Produktionen und der Strategie, die Investitionen breit über eine große Anzahl von Filmen zu streuen, trat ein neuer Ansatz, bei dem weniger, dafür umso aufwendigere Filme produziert wurden. Das Blockbuster-Kalkül, das seither noch massiv an Intensität gewonnen hat, führte unter anderem dazu, dass Genres mit bislang wenig Prestige
8 S. Spiegel wie eben die SF – aber beispielsweise auch der Thriller – eine Aufwertung erfuhren und sukzessive mit größeren Budgets produziert wurden. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen erlebt das SF-Kino in den 1950er- Jahren seinen ersten großen Boom. Verhältnismäßig aufwendig produzierte Filme wie Destination Moon (Endstation Mond, USA 1950, Regie: Irving Pichel), The War of the Worlds (Kampf der Welten, USA 1953, Regie: Byron Haskin), Forbidden Planet (Alarm im Weltall, USA 1956, Regie: Fred M. Wilcox) oder The Time Machine (Die Zeitmaschine, USA 1960, Regie: George Pal) – alle vier in Farbe gedreht – bleiben gegenüber Billigproduktionen zwar deutlich in der Minderheit, SF ist ab 1950 auf den Kinoleinwänden aber spürbar präsenter als in den vorangegan- genen Jahrzehnten. Wohl nicht zuletzt aus produktionstechnischen respektive finan- ziellen Gründen dominieren in dieser Zeit Filme, die in der Gegenwart und auf der Erde spielen. Das heißt nicht, dass der Aufbruch ins All nicht stattfindet, die Besuche – meist feindlich gesinnter – Außerirdischer auf der Erde sind aber häufiger; z. B. The Flying Saucer (USA 1950, Regie: Mikel Conrad), The Day the Earth Stood Still (Der Tag an dem die Erde stillstand, USA 1951, Regie: Robert Wise), Invaders from Mars (Invasion vom Mars, USA 1953, Regie: William Cameron Menzies), Invasion of the Body Snatchers (Die Dämonischen, USA 1956, Regie: Don Siegel), Earth vs. the Flying Saucers (Fliegende Untertassen greifen an, USA 1956, Regie: Fred F. Sears) oder The Blob (Blob – Schrecken ohne Namen, USA 1958, Regie: Irvin S. Yearworth). Ebenfalls oft anzutreffen sind alle möglichen Erfindungen mehr oder weniger verrückter Wissenschaftler, die gefährliche Folgen zeitigen; etwa in Dono- van’s Brain (Donovans Hirn, USA 1953, Regie: Felix E. Feist), Tobor the Great (USA 1954, Regie: Lee Sholem), Them! (Formicula, USA 1954, Regie: Gordon Douglas), Tarantula (USA 1955, Regie: Jack Arnold), Creature with the Atom Brain (USA 1955, Regie: Edward L. Cahn), The Incredible Shrinking Man (Die unglaub- liche Geschichte des Mister C., USA 1957, Regie: Jack Arnold) oder The Invisible Boy (SOS Raumschiff, USA 1957, Regie: Herman Hoffman). Im Laufe der 1960er-Jahre wird das SF-Kino dann allmählich anspruchsvoller – sowohl was den Inhalt der Filme wie auch deren Produktion betrifft. Exemplarisch für diese Entwicklung steht Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey (2001: Odyssee im Weltraum, GB/USA 1968), der nicht nur bezüglich Budget und Spezi- aleffekten neue Maßstäbe setzt, sondern auch ästhetisch und inhaltlich deutlich ambitionierter auftritt als die Billigproduktionen der vorangegangenen Jahrzehnte. Generell werden die Budgets für SF-Filme immer größer. Aufwendige Produktionen mit großen Stars, zehn Jahre zuvor noch praktisch inexistent, sind nun keine Seltenheit mehr. 2001 und der im gleichen Jahr erschienene Planet of the Apes (Planet der Affen, Regie: Franklin J. Schaffner) sind auch darin zeittypisch, dass sie in der Zukunft spielen. Dabei ist die Zukunft, die der SF-Film ab Ende der 1960er-Jahre entwirft, nur selten eine positive. Vielmehr überwiegen post-apokalyptische und dystopische Szenarien – oft mit ökologischem oder gesellschaftskritischem Unterton; z. B. in The Omega Man (Der Omega-Mann, USA 1971, Regie: Boris Sagal), THX 1138 (USA 1971, Regie: George Lucas), Silent Running (Lautlos im Weltraum, USA 1971, Regie: Douglas Trumbull), The Crazies (The Crazies – Fürchte deinen Nächsten,
Die Gegenwart des Zukünftigen – Science-Fiction 9 USA 1972, Regie: George Romero), Soylent Green (USA 1973, Regie: Richard Fleischer) oder A Boy & His Dog (Der Junge und sein Hund, USA 1975 Regie: L.Q. Jones). Das SF-Kino der 1970er-Jahre erweist sich nicht nur als ungewohnt sozialkri- tisch, auch formale Experimente werden nun häufiger. Filme wie Zardoz (GB 1974, Regie: John Boorman), Phase IV (USA 1974, Regie: Saul Bass) oder Altered States (Der Höllentrip, USA 1980, Regie: Ken Russell) versuchen, der SF formal neue Wege zu erschließen. Steht 2001 prototypisch für das SF-Kino ab Ende der 1960er-Jahre, so gilt knapp ein Jahrzehnt später ähnliches für Star Wars (Krieg der Sterne, USA 1977, Regie: George Lucas). George Lucas’ Kinoerstling THX 1138 war noch eine formal strenge Dystopie mit konsumkritischer Schlagseite, Star Wars dagegen positioniert seine Handlung bereits im Vorspann explizit „A long time ago in a galaxy far, far away . . .“. Nicht nur in dieser Hinsicht steht Star Wars der Fantasy näher als der SF. Star Wars, der keineswegs eine Großproduktion war, setzt punkto Vermarktung und Merchandising einen neuen Standard. Lucas hat die Blockbuster-Strategie und das damit verbundene großflächige Merchandising zwar nicht erfunden, der Erfolg von Star Wars und der beiden Fortsetzungen The Empire Strikes Back (Das Impe- rium schlägt zurück, USA 1980, Regie: Irvin Kershner) und Return of the Jedi (Die Rückkehr der Jedi-Ritter, USA 1983, Regie: Richard Marquand) trägt aber entschie- den dazu bei, diese als festen Bestandteil von Hollywoods Geschäftsmodell zu etablieren. Filme werden nun immer mehr zu Events, die öffentliche Aufmerksam- keit auf sich ziehen und ihre crossmediale Verwertung zu einem zunehmend wich- tigeren Bestandteil der Kalkulation der Studios. Der inhaltliche Einfluss von Star Wars hingegen ist weniger in der direkten Übernahme der Fantasy-Elemente spürbar, sondern mehr im allgemeinen Tonfall. SF ist in den späten 1970er- und den frühen 1980er-Jahren vor allem in Form von familientauglichen, leicht märchenhaften Erzählungen erfolgreich, die meist in der Gegenwart spielen, etwa Superman – The Movie (Superman, USA/GB 1978, Regie: Richard Donner), E.T. the Extra-Terrestrial (E.T. Der Ausserirdische, USA 1982, Regie: Steven Spielberg) oder Back to the Future (Zurück in die Zukunft, USA 1985, Regie: Robert Zemeckis). Zwar gibt es auch in dieser Zeit düstere Filme, diese sind beim Publikum aber nicht sonderlich beliebt. Bestes Beispiel hierfür ist Blade Runner (Der Blade Runner, USA 1982, Regie: Ridley Scott), der an der Kinokasse ein Flop war, dessen dystopische Großstadtszenerien das Genre aber nachhaltig prägen sollten. Ab Mitte des Jahrzehnts verschmilzt ein Teil der SF mit Produktionen wie The Terminator, RoboCop (USA 1987, Regie: Paul Verhoeven) oder Predator (USA 1987, Regie: John McTiernan) dann immer mehr mit dem Actionfilm und wird in den 1990er-Jahren zum kommerziellen und tricktechnischen Schrittmacher der gesamten Filmindustrie. Filme wie Total Recall (Die totale Erinnerung – Total Recall, USA 1990, Regie: Paul Verhoeven), Terminator 2: Judgement Day (Termi- nator 2 – Tag der Abrechnung, USA 1991, Regie: James Cameron), Jurassic Park (USA 1993, Regie: Steven Spielberg) und Avatar machen nicht nur durch immer gigantischere Budgets von sich reden, sondern beeindrucken auch durch neue, nie
10 S. Spiegel gesehene Bilder. Dabei wird Ende des Jahrhunderts insbesondere die digitale Trick- technik zu einem zentralen Element der Filme. 5 Utopie/Dystopie Ab Ende der 1960er-Jahre beschäftigt sich der SF-Film vermehrt mit der Zukunft, und praktisch von Anfang an dominieren hierbei dystopische Szenarien, Entwürfe einer positiven Zukunft sind dagegen rar. Dies ist an sich nicht weiter erstaunlich. Die klassische Utopie in der Tradition von Thomas Morus’ Utopia (1516) kleidet ihren Entwurf einer besseren Gesellschaft zwar meist in einen narrativen Rahmen, dieser ist aber selten mehr als bloße Staffage. Ziel der Utopie ist ein detaillierter Gegenentwurf zu der als defizitär empfundenen Gegenwart, einen eigentlichen dramatischen Bogen weist die Utopie in aller Regel nicht auf (vgl. Schölderle 2011). Eine Gesellschaft, in der alle mehr oder weniger zufrieden sind, stellt ohnehin ein schlechtes Setting für einen spannenden Plot dar. Kommt hinzu, dass das utopische Personal meist aus gesichtslosen Masken besteht. Der typische Holly- woodheld mit klaren Stärken und Schwächen, der unbeirrt ein Ziel verfolgt, ist der Utopie fremd. Literaturhistorisch gibt es denn auch keine direkte Linie, die von den Utopien der Renaissance zur SF des 20. Jahrhunderts führt. Zwar weisen ab dem 19. Jahrhundert viele utopische Texte Nova auf und sind somit im SF-Modus angesie- delt, auf die Genre-Literatur des 20. Jahrhunderts und erst recht auf das SF-Kino hat diese Tradition aber praktisch keinen Einfluss.7 Im Gegensatz zur Utopie bietet die Dystopie reichlich dramatisches Potenzial, denn in ihrem Zentrum steht meist eine Figur, die gegen die jeweilige totalitäre Staatsordnung rebelliert. Damit bringt das Genre quasi schon von Haus aus eine spannende Handlung mit, was auch erklären dürfte, warum die Klassiker der dysto- pischen Literatur fast allesamt verfilmt wurden, während es von den klassischen Utopien keine einzige auf die Leinwand geschafft hat.8 Es gibt somit gute Gründe, warum Dystopien überwiegen; dennoch wird seit einiger Zeit in den Medien besorgt ein Überhandnehmen negativer Zukunftsszena- rien registriert. Dystopische und postapokalyptische Filme wie Equilibrium (USA 2002, Regie: Kurt Wimmer), Children of Men (GB/USA/JP 2006, Regie: Alfonso Cuarón), The Road (USA 2009, Regie: John Hillcoat), The Book of Eli (USA 2010, Regie: Albert und Allen Hughes), In Time (In Time – Deine Zeit läuft ab, USA 2011, Regie: Andrew Niccol) oder Snowpiercer (USA/FR/SK 2013, Regie: Joon-Ho Bong) und vor allem der große Erfolg der so genannten Young Adult Dystopias, die nahezu ausnahmslos auf erfolgreichen literarischen Vorlagen beruhen, – u. a. die 7 In der SF-Literatur beginnt sich dies mit den sogenannten kritischen Utopien der 1970er-Jahre zu ändern. Hierbei handelt es sich um SF-Romane, die sich mehr oder weniger explizit mit der klassischen Utopie auseinandersetzen (Moylan 2014). Vergleichbare Filme gibt es aber kaum. 8 Es spricht einiges dafür, dass der nichtfiktionale Film, insbesondere Propagandafilme und ver- wandte Spielformen, für utopische Entwürfe geeigneter ist als der Spielfilm; vgl. Spiegel (2019, 2014, 2017).
Die Gegenwart des Zukünftigen – Science-Fiction 11 Hunger-Games-, Maze-Runner- und Divergent-Reihen – werden mancherorts als Ausdruck einer zutiefst pessimistischen und aussichtslosen Gegenwart verstanden. Ganz im Sinne des in diesem Kontext oft zitierten Diktums „It’s easier to imagine the end of the world than the end of capitalism“.9 Ob diese Interpretation wirklich stichhaltig ist, ist allerdings fraglich. Überblickt man die Geschichte des SF-Kinos, wird deutlich, dass negative Zukunftsentwürfe seit jeher überwiegen. In den 1950er-Jahren ist das Genre ohnehin mehr an der Gegenwart interessiert, und die Zukunftsszenarien der späten 1960er- und 1970er- Jahre sind fast allesamt dystopisch und/oder post-apokalyptisch. Selbst in der oft als märchenhaft beschriebenen Welt von Star Wars steht der Kampf gegen das finstere Imperium im Zentrum. Zweifellos gibt es auch prominente Gegenbeispiele wie Star Trek, das in einer postkapitalistischen Welt spielt, in der materielle Probleme überwunden sind und die meisten Bewohner des bekannten Universums in Frieden leben. Die Serie bildet diesbezüglich aber eine Ausnahme. Zudem beschränkt sich auch Star Trek nicht darauf, bloß eine bessere Welt zu zeigen, sondern inszeniert vor diesem Hintergrund alle möglichen Konflikte – nicht selten auch kriegerischer Art. Was in dieser Diskussion gerne übersehen wird, ist, dass die Rebellion in den meisten filmischen Dystopien erfolgreich ist, dass sich nach dem Umsturz des Unrechtregimes meist ein hoffnungsvoller – utopischer – Horizont eröffnet. Hierin unterscheiden sich filmische von literarischen Dystopien. „Klassische“ Dystopien wie Jewgenij Samjatins Wir (1920), Aldous Huxleys Brave New World (1932) oder George Orwells Nineteen Eighty-Four (1949) präsentieren geschlossene Welten ohne Ausweg, die Rebellion des Helden ist von Anfang an zum Scheitern verur- teilt.10 Filmische Dystopien dagegen enden in der großen Mehrheit mit der Über- windung des tyrannischen Regimes oder zumindest einer erfolgreichen Flucht. Dass Dystopien so präsent wirken, dürfte letztlich weniger daran liegen, dass sich die Inhalte des SF-Kinos grundsätzlich verändert hätten, sondern dass das Genre heute viel breiter rezipiert wird. SF ist kein Nischengenre mehr, sondern dominiert die Kinokassen und wird auch im Feuilleton diskutiert. 9 Die Herkunft dieses Zitats, das je nach Quelle Fredric Jameson oder Slavoj Žižek zugeschrieben wird, ist unklar. Jameson benutzt in The Seeds of Time eine ähnliche Formulierung: „It seems to be easier for us today to imagine the thoroughgoing deterioration of the earth and of nature than the breakdown of late capitalism“ (Jameson 1994, S. xii). In einem Text von 2003 führt er das Zitat dann wieder an, belässt es aber bei der Angabe „Someone once said that“ (Jameson 2003, S. 76); wer dieser „someone“ ist, bleibt offen. 10 Gregory Claeys (2017) ist allerdings der Ansicht, dass Nineteen Eighty-Four keineswegs so aussichtslos ist, wie es oft dargestellt wird. Der Roman endet mit einem Anhang über die vom Regime erfundene Sprache Newspeak. Dieses letzte Kapitel ist in der Vergangenheit geschrieben, was nahelegt, dass es nach der Herrschaft von Big Brother verfasst wurde (S. 433).
12 S. Spiegel 6 Das Fandom SF zeichnet sich seit jeher durch sehr aktive Fans aus. Das Fandom, wie die Gemeinschaft der Fans genannt wird, entstand bereits in den 1930er-Jahren; in Leserbriefen, Fan-Zeitschriften, den sogenannten Fanzines, und an Cons – Kurz- form für Conventions – wurden die Geschichten diskutiert; es bestand ein sehr direkter Kontakt zwischen Autorinnen und Autoren und der Leserschaft, der für die Entwicklung der literarischen SF, aber auch für ihre Erforschung von großer Bedeutung war. Das Fandom wurde nicht nur zur Brutstätte des schreibenden Nachwuchses, auch alle frühen historischen Darstellungen der SF stammen von Fans. War das Fandom zu Beginn ausschließlich an geschriebener SF interessiert, dominieren heute die sogenannten Media Fans, die sich primär mit Filmen, Comics, Games und anderen nicht-literarischen Formen beschäftigen. Auch sonst hat sich das Fandom grundlegend gewandelt; frühe SF-Begeisterte beschreiben es als egalitären Ort abseits des Mainstreams, an dem gerade auch Außenseiter zueinander finden und über ihre Leidenschaft diskutieren konnten. Heute sind Veranstaltungen wie die Comic-Con in San Diego kommerzielle Großanlässe, an denen die gesamte Industrie präsent ist. Auch die Sicht der Wissenschaft auf die Fans hat sich verändert. Die frühen Fan Studies, die sich nicht zufällig intensiv mit SF-Konsumenten beschäftigten, betonten den kreativen und oft auch subversiven Zugriff der Fans auf das Material. Henry Jenkins (1992) beschreibt die Fans von Fernsehserien in seinem Standardwerk (des gleichen Titels) als „textual poachers“, welche die angebotenen Inhalte nicht einfach passiv konsumieren, sondern sie sich aktiv aneignen und weiterverarbeiten; etwa durch das Verfassen von Rezensionen, Fan Fiction und Songs (sogenannte Filk music), durch Kostümierung (Cosplay genannt) oder Live Action Role-playing Games (LARP). Für Jenkins zeichnen sich Fans dadurch aus, dass sie den durch die jeweilige Serie vorgegeben Stoff nach ihren Bedürfnissen modellieren und so auch vorgegebene Lesarten unterlaufen. Fan Fiction erzählt oft jene Geschichten, die in den Ursprungstexten – aus welchen Gründen auch immer – nicht möglich sind. Besonders prägnant ist diesbezüglich die Spielart Slash, die sexuelle Beziehungen zwischen den Figuren inszeniert. Das paradigmatische Beispiel, in dessen Kontext der Begriff „Slash“ ursprünglich auch geprägt wurde, sind homosexuelle Abenteuer der beiden Star-Trek-Figuren Spock und Kirk. Entsprechende Fan-Texte entstanden bereits in den 1970er-Jahren. Mit dem Aufkommen des Internets hat sich der Charakter des Fandoms allerdings grundlegend verändert. Fand der Kontakt früher vor allem auf schriftlichem Wege über Fanzines statt, war es mit dem Web auf einen Schlag viel einfacher, Gleichge- sinnte zu finden. Als Folge nahmen die unterschiedlichsten Fan-Aktivitäten stark zu und wurden damit auch besser sichtbar. Aus der einstigen Subkultur wurde zuse- hends eine massentaugliche Aktivität. Das frühe SF-Fandom zeichnete sich nicht zuletzt durch seine Absetzung von der allgemein akzeptierten (‚Hoch‘-)Kultur aus. SF war in den Augen ihrer frühen Fans die Literatur einer erleuchteten Minderheit; jener, die verstanden, dass die mundane
Die Gegenwart des Zukünftigen – Science-Fiction 13 fiction, wie Nicht-SF von Fans gerne genannt wird, nicht geeignet war, die drän- gendsten Fragen der Gegenwart zu beantworten. Heute ist das Fan-Dasein seiner- seits zum Mainstream geworden. Der Erfolg der Fernsehserie The Big Bang Theory (USA 2007–2019, Idee: Chuck Lorre und Bill Prady), in deren Zentrum vier prototypische Nerds stehen, die allen erdenklichen Fan-Aktivitäten frönen, ist hier- für bezeichnend. Für die Industrie sind die Fans längst zu einem wichtigen Faktor geworden. Sie sind nicht nur zuverlässige Käufer der Merchandising-Artikel, sondern dienen zudem als ideale Verstärker der Werbebemühungen. Indem sie Vorabinformationen, Trailer und anderes Werbematerial auf sozialen Medien teilen und intensiv diskutie- ren, erzeugen sie den für einen Blockbuster nötigen Rummel schon Monate im Voraus. Das Pflegen und Umgarnen der Fans ist deshalb ein integraler Bestandteil des Marketings geworden, und viele Studios nutzen Anlässe wie die Comic-Con, um Großproduktionen anzukündigen und erstes – vermeintlich exklusives – Material zu präsentieren. Für die Fan Studies, die mittlerweile ganz unterschiedliche Disziplinen (von Literatur- und Kommunikationswissenschaften über Soziologie, Anthropologie, Ethnografie und Psychologie bis zu Rechts- und Wirtschaftswissenschaften) umfas- sen (Busse 2014), stellt sich damit zusehends die Frage, inwieweit Jenkinsʼ ur- sprüngliches Modell noch Gültigkeit besitzt oder ob die einstige Subkultur nicht längst vereinnahmt wurde und sich der vermeintliche Freiraum der Fans nur noch auf jene kleinen Nischen beschränkt, die ihnen von der Industrie zugewiesen werden (vgl. Hassler-Forest 2016). Wie sehr die in ihrer Selbstwahrnehmung offene und tolerante Subkultur der Fans inzwischen Teil des (politischen) Alltags geworden ist, zeigt die sogenannte Pup- pies-Affäre. Im Zusammenhang mit dem wichtigsten SF-Preis, den Hugos, ent- brannte ab 2013 ein zusehends wütenderer Kampf um die Deutungshoheit innerhalb der SF-Szene. Die Hugos, deren Gewinner in einer Publikumswahl ermittelt werden, gingen in der jüngeren Vergangenheit vermehrt an Autorinnen und Vertreter von Minderheiten respektive an Werke, die sich mit entsprechenden Fragen auseinan- dersetzen. Während viele Fans darin ein Zeichen für die Offenheit und Toleranz des Fandoms sehen, forderte eine lautstarke – meist männliche und weiße – Minderheit die Abkehr vom angeblichen Political-Correctness-Terror und die Rückkehr zur ‚wahren‘ SF der Vergangenheit (die es so freilich gar nie gab). In der Folge versuchten die Puppies – die Gruppe teilte sich ihrerseits in die Sad und die Rabid Puppies – durch Wahlempfehlungen die zweistufige Wahl zu dominieren. Da der erste Wahlgang der Hugos für alle Vorschläge offensteht und somit schon verhältnis- mäßig wenig Stimmen für eine Nomination reichen, gelang es ihnen 2015, in mehreren Kategorien ausschließlich ‚eigene‘ Werke zu nominieren, die angeblich die Werte wahrer SF verkörperten, die aber oft völlig unbekannt und zudem nicht selten von zweifelhafter Qualität waren. Das Fandom reagierte seinerseits heftig: Für den zweiten Wahlgang registrierten sich so viele Fans wie nie zuvor, die dann in den von den Puppies beherrschten Kategorien leer einlegten, was dazu führte, dass die entsprechenden Preise nicht vergeben wurden.
14 S. Spiegel Ähnliches wurde in den Boykott-Kampagnen sichtbar, die als Reaktion auf die weiblichen und nicht-weißen Hauptfiguren der beiden Star-Wars-Filme Star Wars: Episode VII – The Force Awakens (Star Wars: Episode VII – Das Erwachen der Macht, USA 2015, Regie: J.J. Abrams) und Rogue One: A Star Wars Story (USA 2016, Regie: Gareth Edwards) erfolgten. Auch hier wurde bemängelt, dass diese Besetzungen die Folge von Political Correctness seien und dem Wesen des jeweili- gen Franchise widersprächen (wobei zugleich nicht ganz klar ist, inwieweit die entsprechenden Aufrufe auf Twitter und Facebook tatsächlich ernst gemeint waren). Im Grunde spiegeln diese Auseinandersetzungen aber ‚nur‘ allgemeinere gesell- schaftlichen Zerwürfnisse – primär in den USA. Das Fandom ist damit auch in dieser Hinsicht im Mainstream angekommen. 7 Das SF-Kino der Gegenwart SF ist heute ein zentrales Element der US-Filmindustrie. Alle großen Studios produzieren mit hoher Regelmäßigkeit SF-Mega-Produktionen. Obwohl die Lord- of-the-Rings- und Hobbit-Filme sowie die Harry-Potter-Reihe seit Ende des Jahr- tausends kommerziell sehr erfolgreich waren, ist die filmische Fantasy nach wie vor weniger wichtig, die Zahl der entsprechenden Produktionen ist deutlich kleiner. Dass SF einen derart hohen Stellenwert hat, dürfte vor allem daran liegen, dass sich eine bestimmte Form des Genres besonders gut in das Geschäftsmodell der Studios einfügt. Diese sind mittlerweile alle Bestandteile integrierter Medienkonzerne und somit weniger an einzelnen Filmen als vielmehr an Assets interessiert, an Inhalten, die sich über möglichst viele mediale Kanäle verwerten lassen. Die Kinoeintritte machen dabei nur noch einen Bruchteil der Einnahmen aus; der unter großem Medienaufwand zelebrierte Kinostart dient nicht zuletzt als Katalysator für den Verkauf von Comics, begleitenden Fernsehserien und Büchern, Actionfiguren, Games und späteren Special Editions auf Blu-Ray. In diesem Vermarktungsmodell hat ein Film nicht in erster Linie als in sich abgeschlossenes Werk zu bestehen, sondern muss sich als Kristallisationspunkt einer umfassenden Marketing-Kam- pagne bewähren. Die Tauglichkeit eines Stoffes zeigt sich somit darin, ob er genügend Anknüpfungspunkte für Tie-ins, also inhaltlich verbundene Produkte in anderen Medien, bietet. Diese crossmediale Verwertungsstrategie führt dazu, dass die SF-Großproduktio- nen der vergangenen 15 Jahre mit wenigen Ausnahmen alles Remakes und Fortset- zungen – respektive Prequels – bestehender Filme waren oder aber Umsetzungen erfolgreicher Stoffe, die aus anderen Medien stammen.11 Prometheus (Prometheus – Dunkle Zeichen, USA/GB 2012, Regie: Ridley Scott), Alien: Covenant (USA/GB 11 Eine prominente Ausnahme stellt Avatar dar, der sich inhaltlich zwar kräftig bei der SF-Literatur bedient, aber dennoch einer der wenigen originären SF-Blockbuster der jüngeren Zeit darstellt. Dass Cameron mittlerweile drei weitere Fortsetzungen angekündigt hat, überrascht nicht. Viel eher ist es erstaunlich, dass diese nicht von Anfang an geplant waren.
Die Gegenwart des Zukünftigen – Science-Fiction 15 2017, Regie: Ridley Scott) sowie Blade Runner 2049 (GB/USA/CA 2017, Regie: Denis Villeneuve), die verschiedenen Young Adult Dystopias (s. o.), die wieder aufgelegte Planet-of- the-Apes-Serie, Christopher Nolans Batman-Filme sowie die G.I.-Joe- und Transformers-Franchises oder Battleship (US 2012, Regie: Peter Berg) wären hierfür einige Beispiele. Diese Filme profitieren nicht nur davon, dass sie auf bereits bekannte Werke verweisen, sie können zudem aus einem reichen erzähle- rischen Fundus schöpfen (für die „Spielzeug-Verfilmungen“ Transformers, G.I. Joe und Battleship gilt Letzteres freilich in geringerem Maße). Auch die sogenannten Reboots/Relaunches, also der Neustart einer bekannten Serie – ein besonders pro- minentes Beispiel hierfür stellt Star Trek (USA 2009, Regie: J.J. Abrams) dar –, folgen dieser Logik. Selbst einer der formal herausragendsten SF-Filme der vergan- genen Jahre, Mad Max: Fury Road (AU/USA 2015, Regie: George Miller), ist eine Fortsetzung. 12 Sequels und verwandte Phänomene sind natürlich nichts Neues; im traditionellen Modell wurde ein Film aber als mehr oder weniger geschlossene Einheit konzipiert, auf die bei entsprechendem Erfolg eine Fortsetzung folgen konnte. Die heutigen Großproduktionen werden dagegen von Anfang als Mehrteiler respektive als Fran- chises entworfen, bei denen das Ende bereits auf den nächsten Film verweist. Insbesondere die inzwischen von Disney übernommenen Marvel Studios haben diese Strategie perfektioniert. Frühere Filme von Marvel wie Spider-Man (USA 2002, Regie: Sam Raimi) oder Hulk (USA 2003, Regie: Ang Lee) erhielten zwar ebenfalls Fortsetzungen, spielten aber in autonomen erzählerischen Welten. Die Filme des Marvel Cinematic Universe sind dagegen eng miteinander verzahnt; die verschiedenen Helden, die u. a. in Iron Man (USA 2008, Regie: Jon Favreau), Thor (USA 2011, Regie: Kenneth Branagh) und Captain America: The First Avenger (Captain America, USA 2011, Regie: Joe Johnston) und den jeweiligen Fortsetzun- gen eingeführt wurden, finden in The Avengers (Marvelʼs The Avengers, USA 2012, Regie: Joss Whedon), Avengers: Age of Ultron (USA 2015, Regie: Joss Whedon), Avengers: Infinity War (USA 2018, Regie: Anthony Russo und Joe Russo) und Avengers: Endgame (USA 2019, Regie: Anthony Russo und Joe Russo) zu Super- helden-All-Star-Filmen zusammen. Dabei werden die einzelnen Filme als kohärente erzählerische Einheiten immer weniger wichtig und erscheinen mehr wie ein einzi- ger fortlaufender Trailer für den nächsten, noch spektakuläreren Film und die diversen Begleitprodukte (vgl. Vu 2016 und Reinhard und Olson 2019, in die- sem Band). Dass Comicverfilmungen in diesem Bereich so beliebt sind, ist kein Zufall. Mit Comics wird mit der Publikumsschicht der Jugendlichen die Gruppe der aktivsten Kinogänger angesprochen. Zudem haben Reboots und Crossovers, also der Neuan- fang einer Serie respektive das Kombinieren verschiedener Story-Welten, insbeson- 12 Tatsächlich hat der Film mit der ebenfalls von Miller verantworteten Mad-Max-Trilogie kaum mehr als den Titel gemein. Ein Clou des Films ist, dass der Titelheld Max im Grunde zur Nebenfigur degradiert wird und stattdessen die von Charlize Theron gespielte Imperator Furiosa den Ton angibt.
16 S. Spiegel dere im Bereich der Superhelden-Comics eine lange Tradition. Ähnliches gilt für Fan-Artikel. Marvel setzt dieses Konzepts derzeit besonders souverän um; während das Mutterhaus Disney mit Star Wars: Episode VII – The Force Awakens und Star Wars: Rogue One dabei ist, die Star-Wars-Reihe, die man ihrem Schöpfer George Lucas abgekauft hat, einer ähnlichen Behandlung zu unterziehen, klappt der Ansatz bei der Konkurrenz nicht immer so gut. Das gilt insbesondere für das konkurrierende DC Extended Universe, in dem mit Superman und Batman die beiden bekanntesten Superhelden beheimatet sind. Man of Steel (USA 2013, Regie: Zack Snyder), Batman v Superman: Dawn of Justice (USA 2016, Regie: Zack Snyder), Suicide Squad (USA 2016, Regie: David Ayer) und Justice League (USA 2017, Regie: Zack Snyder) folgten der gleichen Logik wie die Marvel-Produktionen, reichten aber weder finanziell noch im Urteil der Kritik an diese heran. Was die SF-Blockbuster ästhetisch verbindet, ist die Betonung des visuellen Spektakels, das sich auch im neuen Erfolg der 3D-Technologie und ersten Versuchen mit höheren Bildraten zeigt. Mancherorts wird darin eine Art Neuauflage des „cinema of attractions“ gesehen. Allerdings weisen die Filme bei etwas genauerer Betrachtung deutliche Unterschiede auf. Während das Transformers-Franchise mit seiner hysterischen Erzählweise, die kaum noch an Plot und Figuren interessiert scheint, in der Tat an den Grundfesten des klassischen narrativen Kinos rüttelt, bedienen sich Filme wie Avatar, die Marvel-Produktionen oder Mad Max: Fury Road trotz allem visuellem Brimborium herkömmlicher dramaturgischer Muster. Neben SF-Großproduktionen, generischen SF-Actionfilmen und diversen Fern- sehserien mit SF-Anteilen sind in den vergangenen Jahren auch verschiedene klei- nere SF-Filme entstanden, die auf aufwendige Effekte verzichten und stattdessen auf die weiter oben beschriebenen Verfremdungseffekte setzen. Was Filme wie Eternal Sunshine of the Spotless Mind (Vergiss mein nicht!, USA 2004, Regie: Michel Gondry), Her (USA 2013, Spike Jonze), Under the Skin und Ex Machina (GB 2015, Regie: Alex Garland) verbindet, ist, dass sie alle in der Gegenwart oder – im Falle von Her – einer sehr nahen Zukunft spielen, die durch ein zentrales Novum verändert wird; in Eternal Sunshine eine Prozedur, mit der sich Erinnerun- gen gezielt löschen lassen, bei Her und Ex Machina Künstliche Intelligenz und bei Under the Skin eine Außerirdische. Die Filme sind alle verhältnismäßig intim und inszenieren nicht das Ende respektive die Errettung der Welt, sondern fragen danach, welche Konsequenzen das jeweilige Novum für die Figuren hat. Dabei kommt Geschlechterrollen eine besondere Bedeutung zu; außer Eternal Sunshine gehen alle Beispiele von veränderten Genderkonstellationen aus und spielen deren Folgen mehr oder weniger konsequent durch. Dies gilt insbesondere für Under the Skin, in dem ein/e Außerirdische/r mit dem Aussehen von Scarlett Johansson – die durch Filme wie Her, Lucy (FR 2014, Regie: Luc Besson), ihrer Rolle als Black Widow im Marvel Cinematic Universe und dem Anime-Remake Ghost in the Shell (USA 2017, Regie: Rupert Sanders) mittlerweile zu einem SF-Star geworden ist – Jagd auf Männer macht. Dabei wird auf formal sehr radikale Weise eine außerirdische Sicht auf die Welt inszeniert (Spiegel 2016).
Die Gegenwart des Zukünftigen – Science-Fiction 17 8 Fazit Im Laufe des 20. Jahrhunderts ist die SF vom kulturell, sozial und ökonomisch marginalen Genre zur dominanten Form des Blockbuster-Kinos geworden. Damit ist nicht nur das SF-Fandom, das sich ursprünglich als exklusiver Kreis von Außen- seitern verstand, in den Fokus gesellschaftlicher Auseinandersetzungen geraten, SF-Ideen und -Motive prägen weit darüber hinaus unser Denken. SF liefert uns die Bilder, anhand derer wir uns Vorstellungen von der Zukunft machen. Seien es Klimawandel, selbstfahrende Autos, Roboter, Enhancement-Technologien oder demografischer Wandel, Megastädte, nachrichtendienstliche Überwachung oder die Besiedelung des Mars – es gibt kaum ein Feld der gesellschaftlichen Diskussion, in dem wir nicht mit Ideen hantieren, die aus der SF stammen oder zumindest dort ihren Niederschlag gefunden haben. Erstaunlich ist das nicht. Denn auch wenn es zu simpel wäre, in den einzelnen Filmen eine Diagnose der Gegenwart zu sehen, so ist SF doch immer ein Spiegel – nicht selten ein Zerrspiegel – aktueller Ängste und Wünsche. Indem sie die jeweilige Gegenwart verfremdet, funktioniert SF stets auch als gesellschaftlicher Kommentar und prägt zugleich unsere Vorstellung möglicher Zukünfte. Dass das einstige B-Genre in einer hoch technisierten Gegenwart auf so großes Interesse stößt, hat dabei durchaus seine Logik. Entgegen einem noch immer weit verbreiteten Irrglauben handelt SF nicht von der Zukunft, sondern akzentuiert vielmehr Entwicklungen der zeitgenössischen Gesellschaft. Literatur Aldiss, Brian Wilson. 1973. Billion year spree. The true history of science fiction. Garden City: Doubleday. Altman, Rick. 2000. Film/genre. London: BFI Publishing. Attebery, Brian. 1981. Science fantasy. In Dictionary of literary biography. Vol. 8. Twentieth- century American science-fiction writers, Hrsg. David Cowart und Thomas L. Wymer, 236–242. Detroit: Gale. Brecht, Bertolt. 1967. Kleines Organon für das Theater. In Gesammelte Werke. Bd. 16. Schriften zum Theater 2, 659–700. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Busse, Kristina. 2014. Media Fan Studies: Eine Bestandsaufnahme. In Creative Crowds. Perspek- tiven der Fanforschung im deutschsprachigen Raum, Hrsg. Vera Cuntz-Leng, 17–34. Darm- stadt: Büchner. Claeys, Gregory. 2017. Dystopia. A natural history. New York: Oxford University Press. Csicsery-Ronay, Istvan. 1991. Postmodernism’s SF/SF’s Postmodernism. Science Fiction Studies 18(3): 305–308. Feeley, Jennifer L., und Sarah Ann Wells, Hrsg. 2015. Simultaneous worlds: Global science fiction cinema. Minnesota: University of Minnesota Press. Friedrich, Hans-Edwin. 1995. Science Fiction in der deutschsprachigen Literatur. Ein Referat zur Forschung bis 1993. Tübingen: Niemeyer. Fritzsche, Sonja, Hrsg. 2014. The liverpool companion to world science fiction film. Liverpool: Liverpool University Press. Gunning, Tom. 1986. The cinema of attractions: Early film, its spectator, and the avant-garde. Wide Angle 8(3): 162–165.
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