Die Gegenwart des Zukünftigen - Science-Fiction - Simon Spiegel

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Die Gegenwart des Zukünftigen – Science-
Fiction

Simon Spiegel

Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .             2
2 SF als Modus des naturalisierten Wunderbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                           2
3 Verfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                  4
4 Die Geschichte des SF-Kinos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                      6
5 Utopie/Dystopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                   10
6 Das Fandom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                12
7 Das SF-Kino der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                     14
8 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     17
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   17

       Zusammenfassung
       War die Science-Fiction (SF) bis 1950 in Hollywood kaum präsent und in den
       folgenden zwei Jahrzehnten primär ein Billig-Genre, bildet sie heute in der Form
       crossmedialer Franchises eine der tragenden Säulen der großen Hollywood-
       Studios. Zugleich ist SF durch ihre Verfremdungsleistung aber ein potenziell
       kritisches und subversives Genre; auch die SF-Fans verstehen sich traditionell
       als aufgeklärte, progressive Subkultur. Durch die extreme Kommerzialisierung
       des Genres rücken diese Tendenzen zwar in den Hintergrund, sie sind in einzel-
       nen Filmen aber nach wie vor präsent.

       Schlüsselwörter
       Science-Fiction · Genretheorie · Fan Studies · Verfremdung · Utopie ·
       Dystopie · Blockbuster

S. Spiegel (*)
Seminar für Filmwissenschaft, Universität Zürich, Zürich, Schweiz
Medienwissenschaft, Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland
E-Mail: simon@simifilm.ch

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020                                                                                                                           1
A. Geimer et al. (Hrsg.), Handbuch Filmsoziologie, Springer Reference
Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10947-9_49-2
2                                                                                    S. Spiegel

1         Einleitung

Die filmische Science-Fiction (SF) hat einen langen Weg hinter sich. Heute wird das
Hollywoodkino von Blockbustern wie der Star-Wars-Reihe oder den verschiedenen
Superhelden-Franchises beherrscht. SF ist damit zu einer tragenden Säule in der
Strategie der großen Hollywood-Studios geworden. Das war nicht immer so. Bis zu
Beginn der 1950er-Jahre war die SF als Genre unbedeutend, Filme, die über das
Niveau von B-Produktionen hinauskamen, eine Seltenheit.
   Der Aufstieg der SF zu einem der dominanten Genres innerhalb der US-ame-
rikanischen Filmindustrie hat verschiedene Gründe. Er hängt einerseits mit der
Entwicklung der SF selbst zusammen, die ursprünglich als Nischenliteratur entstan-
den ist, heute aber auch außerhalb von Fankreisen vielerorts als eine zentrale
kulturelle Form der Gegenwartswahrnehmung und -darstellung verstanden wird.
Schon 1991, zu einem Zeitpunkt, als technologische Errungenschaften wie das
Internet oder Smartphones noch in den Kinderschuhen steckten, stellte der
SF-Kritiker Isvtan Csicsery-Ronay fest: „SF has ceased to be a genre of fiction per
se, becoming instead a mode of awareness about the world, a complex, hesitating
orientation toward the future“ (Csicsery-Ronay 1991, S. 308). Ein Vierteljahrhundert
später ist dieser Befund aktueller denn je, und die Einschätzung, dass wir bereits in
einem SF-Zeitalter leben, häufig zu lesen.
   Der Erfolg der SF gründet aber nicht nur in ihrer Funktion als Spiegel des
Zeitgeistes. Mindestens so wichtig ist die zunehmende Intensivierung der von der
US-Filmindustrie praktizierten Blockbuster- respektive Franchise-Strategie sowie
die Konzentration auf ein vornehmlich junges Publikum. Für beides hat sich die
SF als äußerst geeignet erwiesen.
   In diesem Kapitel soll es einerseits darum gehen, den SF-Film inhaltlich und
formal zu charakterisieren sowie seine historische Entwicklung nachzuzeichnen.
Daneben soll vor allem das SF-Kino der Gegenwart beleuchtet werden, dessen
Vermarktung und Rezeption in vielerlei Hinsicht typisch für das aktuelle US-Kino
insgesamt ist. Das SF-Kino außerhalb Hollywoods wird dagegen nur am Rande zur
Sprache kommen.1

2         SF als Modus des naturalisierten Wunderbaren

Die Frage, wie SF definiert werden kann, begleitet das Genre seit seiner Entstehung.
Weitgehend unbestritten ist, dass sich SF durch ein Novum auszeichnet (Suvin
1979), durch ein wunderbares, (noch) nicht mögliches Element, das die Handlungs-
welt entscheidend prägt. Weniger einig ist sich die Forschung in der Frage, was das
SF-Novum von wunderbaren Elementen anderer ‚nicht-realistischerʻ Genres wie

1
 Nachdem sich die Forschung lange Zeit fast ausschließlich auf das US-amerikanische und europä-
ische SF-Kino konzentrierte, sind mittlerweile mehrere Publikationen zum weltweiten SF-Film
erschienen; s. Fritzsche 2014; Feeley und Wells 2015.
Die Gegenwart des Zukünftigen – Science-Fiction                                               3

Märchen oder Fantasy unterscheidet. Eine in unterschiedlichen Varianten vorge-
brachte Argumentation lautet, dass das SF-Novum im Gegensatz zu den magischen
Elementen der Fantasy wissenschaftlich (relativ) plausibel ist.
   Das Betonen ihrer angeblichen wissenschaftlichen Grundierung dient nicht selten
dazu, der SF mehr Seriosität zu verleihen. Entsprechend wurde dieser Aspekt von
Herausgebern und Fans schon früh betont und diente später auch in der Forschung
dazu, das Genre als Untersuchungsobjekt zu legitimieren. SF erscheint damit nicht
mehr als bloße Unterhaltung, sondern rückt in die Nähe ernsthafter wissenschaftli-
cher Extrapolation und Prognostik.
   Allerdings lässt sich dieser Anspruch in der Realität kaum aufrechterhalten.
Gängige SF-Nova wie Außerirdische, intelligente Roboter, Zeitmaschinen oder
Raumschiffe mit Überlichtgeschwindigkeit sind gemäß dem aktuellen Stand der
Wissenschaft wenig plausibel respektive müssen teilweise als komplett unmöglich
gelten. Dennoch würde kaum jemand bestreiten, dass es sich bei (unmöglichen)
Raumschiffen wie den X-Wing-Fighters aus Star Wars oder der USS Enterprise um
SF-typische Fortbewegungsmittel handelt. Dass wir keine Mühe bekunden, diese
SF-Nova zu identifizieren, hängt aber weder mit unserem Wissen über die genaue
Funktionsweise dieser Raumschiffe noch mit deren Plausibilität zusammen. Ent-
scheidend ist vielmehr, dass wir die Raumschiffe als technische, von Menschen
konstruierte Maschinen erkennen. Dass wir dies tun, liegt an ihrem Aussehen. Wir
erkennen ein Raumschiff, weil es wie ein Raumschiff aussieht. Denn um ihre Nova
als technisch-wissenschaftliche Neuerungen kenntlich zu machen, bedient sich die
SF einer technizistischen Ästhetik, die an unsere Vorstellungen von Wissenschaft und
Technik anknüpft. Etwa in Form von blinkenden Lichtern, Bildschirmen, technisch
anmutenden Geräuschen wie Quietschen und Zischen oder Handlungsorten wie
einem wissenschaftlichen Laboratorium. Auch der oft parodierte Technobabble, also
die langen Monologe, in denen technisch klingende, letztlich aber sinnlose Begriffe
aneinandergereiht werden, um ein bestimmtes Phänomen zu erklären, dient dazu,
das Novum als wissenschaftlich plausibel erscheinen zu lassen. Dieses Verfahren der
Naturalisierung (Spiegel 2007, S. 42–55) ist das definierende Merkmal der SF.
   Dass SF oft in der Zukunft angesiedelt ist – aber keineswegs sein muss –, ist eine
Folge der impliziten Behauptung, dass ihre Welten eine Erweiterung der Gegenwart
darstellen, dass sie aus unserer Welt hervorgehen könnten. Dies unterscheidet SF
auch von Fantasy im Stile von The Lord of the Rings, die sich einer Märchen-
Ikonografie bedient und damit markiert, dass sie in einer abgeschlossenen Secondary
World (vgl. Tolkien 2001, S. 46–56) spielt.2
   Versteht man SF als naturalisiertes Wunderbares, greift ein traditioneller Genre-
begriff, der von einem wiederkehrenden Set von Elementen wie ikonischen Acces-

2
 In den meisten Fällen lassen sich SF und Fantasy klar voneinander unterscheiden, Mischformen
sind aber dennoch möglich. Die Star-Wars-Reihe ist hierfür ein prominentes Beispiel. Während
Raumschiffe, Roboter und Lasergefechte auf ein SF-Universum verweisen, sind die in mönchs-
kuttenartige Gewänder gekleideten Jedi, die an eine alles durchdringende Force glauben, typische
Fantasy-Ingredienzien. Diese Mischform wird mancherorts auch als Science Fantasy bezeichnet
(Attebery 1981).
4                                                                          S. Spiegel

soires und wiederkehrenden Plotstrukturen ausgeht, nicht. SF bezeichnet dann nicht
mehr eine halbwegs begrenzbare, aufeinander verweisende Gruppe von Filmen,
sondern vielmehr einen Typus fiktionaler Welten. Ein Blick auf einige Beispiele
bestätigt dies: So unterschiedliche Filme wie Stalker (Der Stalker, SU 1979, Regie:
Andrej Tarkowskij), The Terminator (Terminator, USA 1984, Regie: James Came-
ron) oder Looper (USA/CA 2012, Regie: Rian Johnson) gehören alle zweifellos zur
SF, weisen aber kaum syntaktische oder semantische Gemeinsamkeiten im Sinne
Rick Altmans auf (Altman 2000). Anders als etwa der Western oder das Musical
erscheint SF somit weniger als „filmkulturelle Institution“ (Schweinitz 1994, S. 100)
bzw. als von Produzenten und Rezipienten gleichermaßen geteilter Code, sondern
als ein „Totalgenre“ (Friedrich 1995, S. 5) respektive ein „‚world building‘ genre“
(McHale 1992, S. 220), weshalb es sinnvoller ist, statt von einem Genre von einem
fiktional-ästhetischen Modus zu sprechen.
   Konzipiert man SF als Modus, wird der traditionelle Genrebegriff keineswegs
überflüssig, denn innerhalb des Modus können sich unterschiedliche Genres ansie-
deln. Manche – wie der Actionfilm oder der Thriller – sind nicht SF-spezifisch,
andere wie die Dystopie, die Space Opera, der Superheldenfilm oder die Zeitreise-
geschichte sind mehr oder weniger fest an den Modus gebunden (Spiegel 2007,
S. 29–51; Hollinger 2014; Rieder 2010).
   Die Unterscheidung von Modus und Genre erleichtert auch den Umgang mit
Werken, die zwar eindeutig zur SF gehören, aber dennoch außerhalb eines Genre-
kontextes entstanden sind. Das gilt für „Autorenfilme“ wie Alphaville – une étrange
aventure de Lemmy Caution (Lemmy Caution gegen Alpha 60, FR/IT 1965, Regie:
Jean-Luc Godard), Bis ans Ende der Welt (AU/DE/FR 1991, Regie: Wim Wenders)
oder Under the Skin (Under the Skin – Unter die Haut, GB/USA/CH 2013, Regie:
Jonathan Glazer) wie auch für (literarische und filmische) Werke, die veröffentlicht
wurden, bevor Science-Fiction als eigenständige Kategorie existierte. So erschienen
im 19. Jahrhundert zahlreiche Titel, die retrospektiv als SF angesehen werden
können, ursprünglich aber unter ganz anderen Labels geführt wurden. Beispiels-
weise entstand Mary Shelleys Roman Frankenstein (1816), der heute vielerorts als
‚erster SF-Roman der Literaturgeschichte‘ betrachtet wird (Aldiss 1973), im Kontext
der Gothic Novel. Die Romane Jules Vernes wiederum wurden als voyages extra-
ordinaires beworben.

3       Verfremdung

In scheinbar paradoxer Weise geht Naturalisierung in der SF Hand in Hand mit
einem gegenläufigen Mechanismus, der Verfremdung. Gerade weil die SF vorgibt, in
unserer Welt zu spielen, inszeniert sie regelmäßig Kollisionen zwischen bekannten
und unbekannten Elementen. Wenn in einer Science-Fiction-Erzählung Menschen
zu unbekannten Planeten fliegen – wie z. B. in Interstellar (USA/GB/CA 2014,
Regie: Christopher Nolan) oder Avatar (Avatar – Aufbruch nach Pandora, USA
2009, Regie: James Cameron) –, durch die Zeit reisen wie in The Time Machine (Die
Zeitmaschine, USA 1960, Regie: George Pal) oder der Back-to-the-Future-Reihe,
Die Gegenwart des Zukünftigen – Science-Fiction                                               5

wenn neuartige Erfindungen die bekannte Welt umkrempeln wie in Minority Report
(USA 2002, Regie: Steven Spielberg) oder Limitless (Ohne Limit, USA 2011, Regie:
Neil Burger), Monster die Erde verwüsten, etwa in Gojira/Godzilla (JP 1954, Regie:
Ishirô Honda) oder The Blob (Blob – Schrecken ohne Namen, USA 1958, Regie:
Irvin S. Yearworth), kurz: Wenn in einer vordergründig realitätskompatiblen Welt
wunderbare Elemente auftreten, dann führt der Zusammenprall der beiden Welten zu
einer verfremdenden Wirkung. Das Bekannte erscheint in einem neuen Umfeld, wird
rekontextualisiert.
    Dabei unterscheidet sich SF-typische Verfremdung von Verfremdungskonzepten
wie dem V-Effekt Bertolt Brechts und der Ostranenie der Russischen Formalisten.
Gemeinsam ist allen Varianten, dass vermeintlich alltägliche Gegenstände mittels
Verfremdung ungewohnt erscheinen, dass das Altbekannte und Banale neu erkannt
wird. Verfremdung im Sinne Brechts und der Russischen Formalisten ist primär ein
formal-rhetorisches Mittel – wobei es zwischen diesen beiden Konzepten ebenfalls
Unterschiede gibt; die Verfremdung resultiert aus der Darstellungsweise, die das
scheinbar Bekannte in neuem Licht erscheinen lässt.3 Die Verfremdung der SF
funktioniert dagegen anders, wie eine Szene aus Soylent Green (. . . Jahr 2022 . . .
die überleben wollen, USA 1973, Regie: Richard Fleischer) illustrieren soll: Im
New York des Jahres 2022 ist Überbevölkerung zum Hauptproblem geworden. Die
Stadt platzt aus allen Nähten, die Menschen ernähren sich von synthetischen Ener-
gieriegeln, natürliche Nahrung ist ein Luxusgut geworden. Die Hauptfigur Thorn
muss in einem Mordfall ermitteln und kommt bei dieser Gelegenheit in ein Luxus-
apartment. Mit fast schon an Ekstase grenzender Begeisterung dreht er den Wasser-
hahn auf, lässt sich das Wasser über die Hände fließen und riecht an der Seife. Ein
prosaischer und für den Zuschauer alles andere als ungewöhnlicher Ort wird in
Soylent Green zur Quelle der Freude verfremdet. Dem Publikum kann auf diese
Weise bewusst gemacht werden, dass sein ganz alltäglicher Luxus keineswegs
selbstverständlich ist.
    In Soylent Green wird das Badezimmer zweifellos verfremdet, die Verfremdungs-
wirkung resultiert aber nicht aus formal-künstlerischen Mitteln wie ungewöhnlichen
Kameraperspektiven oder auffälligem Schnitt. Die Szene ist vielmehr relativ zurück-
haltend in einer ungeschnittenen Halbtotalen gedreht. Die Verfremdungswirkung
entsteht, weil sich Thorn in einer scheinbar realistischen Umgebung ungewöhnlich
verhält. Ohne seine überschwängliche Freude wäre diese Szene nicht weiter auf-
fällig. Die Verfremdung ist somit auf der Ebene der Diegese, der Fiktion, anzusie-
deln, es handelt sich um diegetische Verfremdung (vgl. Spiegel 2007, S. 201–241).4
    Dank ihrer Verfremdungsleistung eignet sich SF ideal dazu, scheinbar festste-
hende Sachverhalte infrage zu stellen; damit birgt sie großes subversives Potenzial.

3
 Der Russische Formalist Viktor Šklovskij erwähnt u. a. ungewohnte Sprachbilder und erzähle-
rische Perspektiven (Šklovskij 1969), Brecht eine distanzierte Spielweise und den Einsatz von
Transparenten (Brecht 1967).
4
 Die SF kennt auch formale Verfremdung, hierbei handelt es sich aber um eine Verfremdung zweiter
Ordnung, die erst nach der Naturalisierung erfolgen kann (Spiegel 2007, S. 209–229).
6                                                                                           S. Spiegel

Entsprechend wurde SF von der Wissenschaft auch schon früh als kritischer Modus
entdeckt. So hat Darko Suvin, einer der Pioniere der SF-Forschung, das Genre in
seiner Poetik der Science Fiction als kognitive respektive erkenntnisbezogene Ver-
fremdung definiert. Für Suvin, der primär dem Brechtʼschen Verfremdungsbegriff
folgt,5 ist SF ein im marxistischen Sinne kritisches Genre, das dem Rezipienten im
Gegensatz zu nicht-kognitiven Genres wie Märchen und Fantasy einen Erkenntnis-
gewinn beschert. Beispiele, die diesen Ansprüchen nicht genügen, wären demzu-
folge keine echte SF, sondern „besondere, begrenzte historische und ideologische
Verwendungsweisen, die sich nicht notwendigerweise aus dem Grundvertrag des
Genres ergeben, sondern ihm zugefügt sind“ (Suvin 1979, S. 42).6
   Die SF-typische Verfremdung kann durchaus subversiv-kritisch im Sinne Suvins
sein, sie kann aber ebenso gut unheimlich oder humoristisch wirken. Viele ursprüng-
lich verfremdend wirkende Nova sind im Mainstream-Kino mittlerweile so geläufig
geworden, dass zumeist die Naturalisierung überwiegt und die Verfremdungswir-
kung nur noch in Schwundstufen erkennbar ist.

4          Die Geschichte des SF-Kinos

Wann man die Entstehung der SF ansetzt, hängt direkt davon ab, wie man SF
definiert und welche Aspekte man dabei betont. Manche Historiker des Genres
machen bereits in antiken Texten oder sogar noch früher, etwa im Gilgamesch-Epos,
erste Spuren von SF aus (z. B. Roberts 2016), insgesamt herrscht aber doch Konsens,
dass die moderne SF ein Kind des 19. Jahrhunderts ist. Neben der Gothic Novel
stellen vor allem Abenteuer- und Reiseromane eine wichtige Wurzel dar. Jules Verne
und insbesondere die Scientific Romances von H.G. Wells sind weitere wichtige
Stationen bei der Herausbildung einer eigenen Tradition. Als besonders folgenreich
erweisen sich aber die US-amerikanischen Groschenhefte (pulp magazines) der
1920er-Jahre. Hier formiert sich ‚Science-Fiction‘, zunächst unter der Bezeichnung
‚scientifiction‘, endgültig als eigenständige Kategorie. Obwohl zeitgleich auch in
zahlreichen anderen Ländern SF veröffentlich wird, prägt das sogenannte Golden
Age der US-amerikanischen literarischen SF, das von Ende der 1930er- bis Mitte der
1940er-Jahre dauert, den Modus am Nachhaltigsten. SF ist zu dieser Zeit ein rein
literarisches Phänomen, das sich in einem weitgehend geschlossenen Zirkel vor
allem weißer männlicher Mittelschichts-Jugendlicher abspielte. Außerhalb, insbe-

5
 Suvin folgt Brecht insofern, als er Verfremdung ebenfalls als Darstellungsweise versteht. Zugleich
bezeichnet er damit aber auch die Beschaffenheit der SF-Welt, beschreibt also ein Phänomen auf der
Ebene der fiktionalen Welt. Diese Gleichsetzung führt zu zahlreichen Widersprüchen.
6
 Suvin geht erklärtermaßen von einer marxistischen Position aus und verbannt alle politisch nicht
opportunen Beispiele aus dem Genre. Dass dieser streng normative Ansatz äußerst problematisch
ist, dürfte offensichtlich sein. Nicht zuletzt stellt sich, wie es bei derartigen wertenden Definitionen
oft der Fall ist, die ganz banale Frage, was mit all den Romanen und Filmen geschieht, die aus dem
Genre fallen, die aber, wie Suvin selbst bemerkt, quantitativ klar die Mehrheit bilden. Ein Großteil
der SF – so Suvins paradoxer Befund – ist im Grunde gar nicht SF.
Die Gegenwart des Zukünftigen – Science-Fiction                                   7

sondere in der Welt der ‚Hochliteratur‘, wurde das Genre kaum wahrgenommen.
Gerade diese relative Abgeschlossenheit dürfte mit dazu beigetragen haben, dass
sich zahlreiche Konventionen etablieren konnten, die teilweise bis heute nachwir-
ken.
    Viele historische Darstellungen des SF-Kinos setzen später, zu Beginn der
1950er-Jahre, ein. Die gängige Argumentation lautet, dass SF erst ab diesem Zeit-
punkt als eigenständiges filmisches Genre entstehe. Prominente Beispiele aus der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Aelita (SU 1924, Regie: Yakov Protazanov),
Metropolis (DE 1927, Regie: Fritz Lang), Die Frau im Mond (DE 1929, Regie: Fritz
Lang) oder Things to Come (Was kommen wird, GB 1936, Regie: William Cameron
Menzies) erscheinen dagegen als Ausnahmen, welche die Regel bestätigen.
    Dieser Befund ist allerdings nur gültig, wenn man sich auf Langspielfilme
beschränkt und SF als distinktes Genre versteht, das von Industrie und Publikum
auch als solches erkannt wird (wie es bei der Literatur ab Ende der 1920er-Jahre der
Fall war). Wie verschiedene neuere Studien zeigen, gab es aber schon vor 1950
zahlreiche Filme, die SF-Motive aufweisen und somit dem Modus angehören. So
drehte bereits der Filmpionier Georges Méliès Filme wie Le voyage dans la lune
(F 1902, R: Georges Méliès) und Le voyage à travers l’impossible (F 1904, R:
Georges Méliès), die mit Motiven wie einem Flug zum Mond respektive einem
äußerst wandelbaren Zug durchaus der SF zugerechnet werden können. Von
SF-Filmen im heutigen Verständnis kann im frühen Kino aber dennoch noch nicht
die Rede sein, denn die Filme von Méliès und Konsorten entsprechen nicht moder-
nen Vorstellungen von narrativem Kino. Die SF-Elemente dienen hier im Sinne von
Tom Gunnings „cinema of attractions“ (Gunning 1986) primär als Vorwand für
verblüffende Effekte. Dennoch werden in ihnen bereits erste typische SF-Motive
etabliert, „a series of conventions for what would, eventually, become known as the
science-fiction film“ (Johnston 2011, S. 70).
    In den 1930er- und 1940er-Jahren ist der Begriff ‚Science Fiction‘ im Zusam-
menhang mit Filmen zwar nach wie vor nicht anzutreffen, dennoch ist bereits eine
Art Genrebewusstsein erkennbar, wenn auch abseits der großen Studios. SF ist zu
diesem Zeitpunkt Stoff für Serials wie The Phantom Empire (Phantom Reiter, USA
1935, R: Otto Brower und B. Reeves) oder Flash Gordon (USA 1936, R: Frederick
Stephani und Ray Taylor); schnell abgedrehte Billigproduktionen, die als wöchent-
liche Fortsetzungen in die Kinos kamen (Higgins 2016). Daneben entstanden auch
zahlreiche Animationsfilme mit SF-Motiven (Telotte 2017).
    Dass SF zu dieser Zeit fast ausschließlich auf filmische Formen jenseits des
abendfüllenden Spielfilms beschränkt bleibt, verdeutlicht ihren niedrigen Status.
SF wurde nicht als für Spielfilme geeignet angesehen, war noch nicht einmal ein
B-Genre. Mit dem Niedergang des Studiosystems Ende der 1940er-Jahre begann
sich dies zu ändern. An die Stelle der klaren Aufteilung in A- und B-Produktionen
und der Strategie, die Investitionen breit über eine große Anzahl von Filmen zu
streuen, trat ein neuer Ansatz, bei dem weniger, dafür umso aufwendigere Filme
produziert wurden. Das Blockbuster-Kalkül, das seither noch massiv an Intensität
gewonnen hat, führte unter anderem dazu, dass Genres mit bislang wenig Prestige
8                                                                            S. Spiegel

wie eben die SF – aber beispielsweise auch der Thriller – eine Aufwertung erfuhren
und sukzessive mit größeren Budgets produziert wurden.
    Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen erlebt das SF-Kino in den 1950er-
Jahren seinen ersten großen Boom. Verhältnismäßig aufwendig produzierte Filme
wie Destination Moon (Endstation Mond, USA 1950, Regie: Irving Pichel), The War
of the Worlds (Kampf der Welten, USA 1953, Regie: Byron Haskin), Forbidden
Planet (Alarm im Weltall, USA 1956, Regie: Fred M. Wilcox) oder The Time
Machine (Die Zeitmaschine, USA 1960, Regie: George Pal) – alle vier in Farbe
gedreht – bleiben gegenüber Billigproduktionen zwar deutlich in der Minderheit, SF
ist ab 1950 auf den Kinoleinwänden aber spürbar präsenter als in den vorangegan-
genen Jahrzehnten. Wohl nicht zuletzt aus produktionstechnischen respektive finan-
ziellen Gründen dominieren in dieser Zeit Filme, die in der Gegenwart und auf der
Erde spielen. Das heißt nicht, dass der Aufbruch ins All nicht stattfindet, die Besuche
– meist feindlich gesinnter – Außerirdischer auf der Erde sind aber häufiger; z. B.
The Flying Saucer (USA 1950, Regie: Mikel Conrad), The Day the Earth Stood Still
(Der Tag an dem die Erde stillstand, USA 1951, Regie: Robert Wise), Invaders from
Mars (Invasion vom Mars, USA 1953, Regie: William Cameron Menzies), Invasion
of the Body Snatchers (Die Dämonischen, USA 1956, Regie: Don Siegel), Earth
vs. the Flying Saucers (Fliegende Untertassen greifen an, USA 1956, Regie: Fred
F. Sears) oder The Blob (Blob – Schrecken ohne Namen, USA 1958, Regie: Irvin
S. Yearworth). Ebenfalls oft anzutreffen sind alle möglichen Erfindungen mehr oder
weniger verrückter Wissenschaftler, die gefährliche Folgen zeitigen; etwa in Dono-
van’s Brain (Donovans Hirn, USA 1953, Regie: Felix E. Feist), Tobor the Great
(USA 1954, Regie: Lee Sholem), Them! (Formicula, USA 1954, Regie: Gordon
Douglas), Tarantula (USA 1955, Regie: Jack Arnold), Creature with the Atom Brain
(USA 1955, Regie: Edward L. Cahn), The Incredible Shrinking Man (Die unglaub-
liche Geschichte des Mister C., USA 1957, Regie: Jack Arnold) oder The Invisible
Boy (SOS Raumschiff, USA 1957, Regie: Herman Hoffman).
    Im Laufe der 1960er-Jahre wird das SF-Kino dann allmählich anspruchsvoller –
sowohl was den Inhalt der Filme wie auch deren Produktion betrifft. Exemplarisch
für diese Entwicklung steht Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey (2001:
Odyssee im Weltraum, GB/USA 1968), der nicht nur bezüglich Budget und Spezi-
aleffekten neue Maßstäbe setzt, sondern auch ästhetisch und inhaltlich deutlich
ambitionierter auftritt als die Billigproduktionen der vorangegangenen Jahrzehnte.
Generell werden die Budgets für SF-Filme immer größer. Aufwendige Produktionen
mit großen Stars, zehn Jahre zuvor noch praktisch inexistent, sind nun keine
Seltenheit mehr.
    2001 und der im gleichen Jahr erschienene Planet of the Apes (Planet der Affen,
Regie: Franklin J. Schaffner) sind auch darin zeittypisch, dass sie in der Zukunft
spielen. Dabei ist die Zukunft, die der SF-Film ab Ende der 1960er-Jahre entwirft,
nur selten eine positive. Vielmehr überwiegen post-apokalyptische und dystopische
Szenarien – oft mit ökologischem oder gesellschaftskritischem Unterton; z. B. in The
Omega Man (Der Omega-Mann, USA 1971, Regie: Boris Sagal), THX 1138 (USA
1971, Regie: George Lucas), Silent Running (Lautlos im Weltraum, USA 1971,
Regie: Douglas Trumbull), The Crazies (The Crazies – Fürchte deinen Nächsten,
Die Gegenwart des Zukünftigen – Science-Fiction                                   9

USA 1972, Regie: George Romero), Soylent Green (USA 1973, Regie: Richard
Fleischer) oder A Boy & His Dog (Der Junge und sein Hund, USA 1975 Regie:
L.Q. Jones).
     Das SF-Kino der 1970er-Jahre erweist sich nicht nur als ungewohnt sozialkri-
tisch, auch formale Experimente werden nun häufiger. Filme wie Zardoz (GB 1974,
Regie: John Boorman), Phase IV (USA 1974, Regie: Saul Bass) oder Altered States
(Der Höllentrip, USA 1980, Regie: Ken Russell) versuchen, der SF formal neue
Wege zu erschließen.
     Steht 2001 prototypisch für das SF-Kino ab Ende der 1960er-Jahre, so gilt knapp
ein Jahrzehnt später ähnliches für Star Wars (Krieg der Sterne, USA 1977, Regie:
George Lucas). George Lucas’ Kinoerstling THX 1138 war noch eine formal strenge
Dystopie mit konsumkritischer Schlagseite, Star Wars dagegen positioniert seine
Handlung bereits im Vorspann explizit „A long time ago in a galaxy far, far away
. . .“. Nicht nur in dieser Hinsicht steht Star Wars der Fantasy näher als der SF.
     Star Wars, der keineswegs eine Großproduktion war, setzt punkto Vermarktung
und Merchandising einen neuen Standard. Lucas hat die Blockbuster-Strategie und
das damit verbundene großflächige Merchandising zwar nicht erfunden, der Erfolg
von Star Wars und der beiden Fortsetzungen The Empire Strikes Back (Das Impe-
rium schlägt zurück, USA 1980, Regie: Irvin Kershner) und Return of the Jedi (Die
Rückkehr der Jedi-Ritter, USA 1983, Regie: Richard Marquand) trägt aber entschie-
den dazu bei, diese als festen Bestandteil von Hollywoods Geschäftsmodell zu
etablieren. Filme werden nun immer mehr zu Events, die öffentliche Aufmerksam-
keit auf sich ziehen und ihre crossmediale Verwertung zu einem zunehmend wich-
tigeren Bestandteil der Kalkulation der Studios.
     Der inhaltliche Einfluss von Star Wars hingegen ist weniger in der direkten
Übernahme der Fantasy-Elemente spürbar, sondern mehr im allgemeinen Tonfall.
SF ist in den späten 1970er- und den frühen 1980er-Jahren vor allem in Form von
familientauglichen, leicht märchenhaften Erzählungen erfolgreich, die meist in der
Gegenwart spielen, etwa Superman – The Movie (Superman, USA/GB 1978, Regie:
Richard Donner), E.T. the Extra-Terrestrial (E.T. Der Ausserirdische, USA 1982,
Regie: Steven Spielberg) oder Back to the Future (Zurück in die Zukunft, USA 1985,
Regie: Robert Zemeckis). Zwar gibt es auch in dieser Zeit düstere Filme, diese sind
beim Publikum aber nicht sonderlich beliebt. Bestes Beispiel hierfür ist Blade
Runner (Der Blade Runner, USA 1982, Regie: Ridley Scott), der an der Kinokasse
ein Flop war, dessen dystopische Großstadtszenerien das Genre aber nachhaltig
prägen sollten.
     Ab Mitte des Jahrzehnts verschmilzt ein Teil der SF mit Produktionen wie The
Terminator, RoboCop (USA 1987, Regie: Paul Verhoeven) oder Predator (USA
1987, Regie: John McTiernan) dann immer mehr mit dem Actionfilm und wird in
den 1990er-Jahren zum kommerziellen und tricktechnischen Schrittmacher der
gesamten Filmindustrie. Filme wie Total Recall (Die totale Erinnerung – Total
Recall, USA 1990, Regie: Paul Verhoeven), Terminator 2: Judgement Day (Termi-
nator 2 – Tag der Abrechnung, USA 1991, Regie: James Cameron), Jurassic Park
(USA 1993, Regie: Steven Spielberg) und Avatar machen nicht nur durch immer
gigantischere Budgets von sich reden, sondern beeindrucken auch durch neue, nie
10                                                                                     S. Spiegel

gesehene Bilder. Dabei wird Ende des Jahrhunderts insbesondere die digitale Trick-
technik zu einem zentralen Element der Filme.

5         Utopie/Dystopie

Ab Ende der 1960er-Jahre beschäftigt sich der SF-Film vermehrt mit der Zukunft,
und praktisch von Anfang an dominieren hierbei dystopische Szenarien, Entwürfe
einer positiven Zukunft sind dagegen rar. Dies ist an sich nicht weiter erstaunlich.
Die klassische Utopie in der Tradition von Thomas Morus’ Utopia (1516) kleidet
ihren Entwurf einer besseren Gesellschaft zwar meist in einen narrativen Rahmen,
dieser ist aber selten mehr als bloße Staffage. Ziel der Utopie ist ein detaillierter
Gegenentwurf zu der als defizitär empfundenen Gegenwart, einen eigentlichen
dramatischen Bogen weist die Utopie in aller Regel nicht auf (vgl. Schölderle
2011). Eine Gesellschaft, in der alle mehr oder weniger zufrieden sind, stellt ohnehin
ein schlechtes Setting für einen spannenden Plot dar. Kommt hinzu, dass das
utopische Personal meist aus gesichtslosen Masken besteht. Der typische Holly-
woodheld mit klaren Stärken und Schwächen, der unbeirrt ein Ziel verfolgt, ist der
Utopie fremd. Literaturhistorisch gibt es denn auch keine direkte Linie, die von den
Utopien der Renaissance zur SF des 20. Jahrhunderts führt. Zwar weisen ab dem 19.
Jahrhundert viele utopische Texte Nova auf und sind somit im SF-Modus angesie-
delt, auf die Genre-Literatur des 20. Jahrhunderts und erst recht auf das SF-Kino hat
diese Tradition aber praktisch keinen Einfluss.7
   Im Gegensatz zur Utopie bietet die Dystopie reichlich dramatisches Potenzial,
denn in ihrem Zentrum steht meist eine Figur, die gegen die jeweilige totalitäre
Staatsordnung rebelliert. Damit bringt das Genre quasi schon von Haus aus eine
spannende Handlung mit, was auch erklären dürfte, warum die Klassiker der dysto-
pischen Literatur fast allesamt verfilmt wurden, während es von den klassischen
Utopien keine einzige auf die Leinwand geschafft hat.8
   Es gibt somit gute Gründe, warum Dystopien überwiegen; dennoch wird seit
einiger Zeit in den Medien besorgt ein Überhandnehmen negativer Zukunftsszena-
rien registriert. Dystopische und postapokalyptische Filme wie Equilibrium (USA
2002, Regie: Kurt Wimmer), Children of Men (GB/USA/JP 2006, Regie: Alfonso
Cuarón), The Road (USA 2009, Regie: John Hillcoat), The Book of Eli (USA 2010,
Regie: Albert und Allen Hughes), In Time (In Time – Deine Zeit läuft ab, USA 2011,
Regie: Andrew Niccol) oder Snowpiercer (USA/FR/SK 2013, Regie: Joon-Ho
Bong) und vor allem der große Erfolg der so genannten Young Adult Dystopias,
die nahezu ausnahmslos auf erfolgreichen literarischen Vorlagen beruhen, – u. a. die

7
 In der SF-Literatur beginnt sich dies mit den sogenannten kritischen Utopien der 1970er-Jahre zu
ändern. Hierbei handelt es sich um SF-Romane, die sich mehr oder weniger explizit mit der
klassischen Utopie auseinandersetzen (Moylan 2014). Vergleichbare Filme gibt es aber kaum.
8
 Es spricht einiges dafür, dass der nichtfiktionale Film, insbesondere Propagandafilme und ver-
wandte Spielformen, für utopische Entwürfe geeigneter ist als der Spielfilm; vgl. Spiegel (2019,
2014, 2017).
Die Gegenwart des Zukünftigen – Science-Fiction                                                11

Hunger-Games-, Maze-Runner- und Divergent-Reihen – werden mancherorts als
Ausdruck einer zutiefst pessimistischen und aussichtslosen Gegenwart verstanden.
Ganz im Sinne des in diesem Kontext oft zitierten Diktums „It’s easier to imagine the
end of the world than the end of capitalism“.9
    Ob diese Interpretation wirklich stichhaltig ist, ist allerdings fraglich. Überblickt
man die Geschichte des SF-Kinos, wird deutlich, dass negative Zukunftsentwürfe
seit jeher überwiegen. In den 1950er-Jahren ist das Genre ohnehin mehr an der
Gegenwart interessiert, und die Zukunftsszenarien der späten 1960er- und 1970er-
Jahre sind fast allesamt dystopisch und/oder post-apokalyptisch. Selbst in der oft als
märchenhaft beschriebenen Welt von Star Wars steht der Kampf gegen das finstere
Imperium im Zentrum.
    Zweifellos gibt es auch prominente Gegenbeispiele wie Star Trek, das in einer
postkapitalistischen Welt spielt, in der materielle Probleme überwunden sind und die
meisten Bewohner des bekannten Universums in Frieden leben. Die Serie bildet
diesbezüglich aber eine Ausnahme. Zudem beschränkt sich auch Star Trek nicht
darauf, bloß eine bessere Welt zu zeigen, sondern inszeniert vor diesem Hintergrund
alle möglichen Konflikte – nicht selten auch kriegerischer Art.
    Was in dieser Diskussion gerne übersehen wird, ist, dass die Rebellion in den
meisten filmischen Dystopien erfolgreich ist, dass sich nach dem Umsturz des
Unrechtregimes meist ein hoffnungsvoller – utopischer – Horizont eröffnet. Hierin
unterscheiden sich filmische von literarischen Dystopien. „Klassische“ Dystopien
wie Jewgenij Samjatins Wir (1920), Aldous Huxleys Brave New World (1932) oder
George Orwells Nineteen Eighty-Four (1949) präsentieren geschlossene Welten
ohne Ausweg, die Rebellion des Helden ist von Anfang an zum Scheitern verur-
teilt.10 Filmische Dystopien dagegen enden in der großen Mehrheit mit der Über-
windung des tyrannischen Regimes oder zumindest einer erfolgreichen Flucht.
    Dass Dystopien so präsent wirken, dürfte letztlich weniger daran liegen, dass sich
die Inhalte des SF-Kinos grundsätzlich verändert hätten, sondern dass das Genre
heute viel breiter rezipiert wird. SF ist kein Nischengenre mehr, sondern dominiert
die Kinokassen und wird auch im Feuilleton diskutiert.

9
 Die Herkunft dieses Zitats, das je nach Quelle Fredric Jameson oder Slavoj Žižek zugeschrieben
wird, ist unklar. Jameson benutzt in The Seeds of Time eine ähnliche Formulierung: „It seems to be
easier for us today to imagine the thoroughgoing deterioration of the earth and of nature than the
breakdown of late capitalism“ (Jameson 1994, S. xii). In einem Text von 2003 führt er das Zitat
dann wieder an, belässt es aber bei der Angabe „Someone once said that“ (Jameson 2003, S. 76);
wer dieser „someone“ ist, bleibt offen.
10
  Gregory Claeys (2017) ist allerdings der Ansicht, dass Nineteen Eighty-Four keineswegs so
aussichtslos ist, wie es oft dargestellt wird. Der Roman endet mit einem Anhang über die vom
Regime erfundene Sprache Newspeak. Dieses letzte Kapitel ist in der Vergangenheit geschrieben,
was nahelegt, dass es nach der Herrschaft von Big Brother verfasst wurde (S. 433).
12                                                                          S. Spiegel

6        Das Fandom

SF zeichnet sich seit jeher durch sehr aktive Fans aus. Das Fandom, wie die
Gemeinschaft der Fans genannt wird, entstand bereits in den 1930er-Jahren; in
Leserbriefen, Fan-Zeitschriften, den sogenannten Fanzines, und an Cons – Kurz-
form für Conventions – wurden die Geschichten diskutiert; es bestand ein sehr
direkter Kontakt zwischen Autorinnen und Autoren und der Leserschaft, der für
die Entwicklung der literarischen SF, aber auch für ihre Erforschung von großer
Bedeutung war. Das Fandom wurde nicht nur zur Brutstätte des schreibenden
Nachwuchses, auch alle frühen historischen Darstellungen der SF stammen von
Fans.
   War das Fandom zu Beginn ausschließlich an geschriebener SF interessiert,
dominieren heute die sogenannten Media Fans, die sich primär mit Filmen, Comics,
Games und anderen nicht-literarischen Formen beschäftigen. Auch sonst hat sich das
Fandom grundlegend gewandelt; frühe SF-Begeisterte beschreiben es als egalitären
Ort abseits des Mainstreams, an dem gerade auch Außenseiter zueinander finden und
über ihre Leidenschaft diskutieren konnten. Heute sind Veranstaltungen wie die
Comic-Con in San Diego kommerzielle Großanlässe, an denen die gesamte Industrie
präsent ist.
   Auch die Sicht der Wissenschaft auf die Fans hat sich verändert. Die frühen Fan
Studies, die sich nicht zufällig intensiv mit SF-Konsumenten beschäftigten, betonten
den kreativen und oft auch subversiven Zugriff der Fans auf das Material. Henry
Jenkins (1992) beschreibt die Fans von Fernsehserien in seinem Standardwerk (des
gleichen Titels) als „textual poachers“, welche die angebotenen Inhalte nicht einfach
passiv konsumieren, sondern sie sich aktiv aneignen und weiterverarbeiten; etwa
durch das Verfassen von Rezensionen, Fan Fiction und Songs (sogenannte Filk
music), durch Kostümierung (Cosplay genannt) oder Live Action Role-playing
Games (LARP). Für Jenkins zeichnen sich Fans dadurch aus, dass sie den durch
die jeweilige Serie vorgegeben Stoff nach ihren Bedürfnissen modellieren und so
auch vorgegebene Lesarten unterlaufen. Fan Fiction erzählt oft jene Geschichten, die
in den Ursprungstexten – aus welchen Gründen auch immer – nicht möglich sind.
Besonders prägnant ist diesbezüglich die Spielart Slash, die sexuelle Beziehungen
zwischen den Figuren inszeniert. Das paradigmatische Beispiel, in dessen Kontext
der Begriff „Slash“ ursprünglich auch geprägt wurde, sind homosexuelle Abenteuer
der beiden Star-Trek-Figuren Spock und Kirk. Entsprechende Fan-Texte entstanden
bereits in den 1970er-Jahren.
   Mit dem Aufkommen des Internets hat sich der Charakter des Fandoms allerdings
grundlegend verändert. Fand der Kontakt früher vor allem auf schriftlichem Wege
über Fanzines statt, war es mit dem Web auf einen Schlag viel einfacher, Gleichge-
sinnte zu finden. Als Folge nahmen die unterschiedlichsten Fan-Aktivitäten stark zu
und wurden damit auch besser sichtbar. Aus der einstigen Subkultur wurde zuse-
hends eine massentaugliche Aktivität.
   Das frühe SF-Fandom zeichnete sich nicht zuletzt durch seine Absetzung von der
allgemein akzeptierten (‚Hoch‘-)Kultur aus. SF war in den Augen ihrer frühen Fans
die Literatur einer erleuchteten Minderheit; jener, die verstanden, dass die mundane
Die Gegenwart des Zukünftigen – Science-Fiction                                   13

fiction, wie Nicht-SF von Fans gerne genannt wird, nicht geeignet war, die drän-
gendsten Fragen der Gegenwart zu beantworten. Heute ist das Fan-Dasein seiner-
seits zum Mainstream geworden. Der Erfolg der Fernsehserie The Big Bang Theory
(USA 2007–2019, Idee: Chuck Lorre und Bill Prady), in deren Zentrum vier
prototypische Nerds stehen, die allen erdenklichen Fan-Aktivitäten frönen, ist hier-
für bezeichnend.
   Für die Industrie sind die Fans längst zu einem wichtigen Faktor geworden. Sie
sind nicht nur zuverlässige Käufer der Merchandising-Artikel, sondern dienen
zudem als ideale Verstärker der Werbebemühungen. Indem sie Vorabinformationen,
Trailer und anderes Werbematerial auf sozialen Medien teilen und intensiv diskutie-
ren, erzeugen sie den für einen Blockbuster nötigen Rummel schon Monate im
Voraus. Das Pflegen und Umgarnen der Fans ist deshalb ein integraler Bestandteil
des Marketings geworden, und viele Studios nutzen Anlässe wie die Comic-Con, um
Großproduktionen anzukündigen und erstes – vermeintlich exklusives – Material zu
präsentieren.
   Für die Fan Studies, die mittlerweile ganz unterschiedliche Disziplinen (von
Literatur- und Kommunikationswissenschaften über Soziologie, Anthropologie,
Ethnografie und Psychologie bis zu Rechts- und Wirtschaftswissenschaften) umfas-
sen (Busse 2014), stellt sich damit zusehends die Frage, inwieweit Jenkinsʼ ur-
sprüngliches Modell noch Gültigkeit besitzt oder ob die einstige Subkultur nicht
längst vereinnahmt wurde und sich der vermeintliche Freiraum der Fans nur noch
auf jene kleinen Nischen beschränkt, die ihnen von der Industrie zugewiesen werden
(vgl. Hassler-Forest 2016).
   Wie sehr die in ihrer Selbstwahrnehmung offene und tolerante Subkultur der Fans
inzwischen Teil des (politischen) Alltags geworden ist, zeigt die sogenannte Pup-
pies-Affäre. Im Zusammenhang mit dem wichtigsten SF-Preis, den Hugos, ent-
brannte ab 2013 ein zusehends wütenderer Kampf um die Deutungshoheit innerhalb
der SF-Szene. Die Hugos, deren Gewinner in einer Publikumswahl ermittelt werden,
gingen in der jüngeren Vergangenheit vermehrt an Autorinnen und Vertreter von
Minderheiten respektive an Werke, die sich mit entsprechenden Fragen auseinan-
dersetzen. Während viele Fans darin ein Zeichen für die Offenheit und Toleranz des
Fandoms sehen, forderte eine lautstarke – meist männliche und weiße – Minderheit
die Abkehr vom angeblichen Political-Correctness-Terror und die Rückkehr zur
‚wahren‘ SF der Vergangenheit (die es so freilich gar nie gab). In der Folge
versuchten die Puppies – die Gruppe teilte sich ihrerseits in die Sad und die Rabid
Puppies – durch Wahlempfehlungen die zweistufige Wahl zu dominieren. Da der
erste Wahlgang der Hugos für alle Vorschläge offensteht und somit schon verhältnis-
mäßig wenig Stimmen für eine Nomination reichen, gelang es ihnen 2015, in
mehreren Kategorien ausschließlich ‚eigene‘ Werke zu nominieren, die angeblich
die Werte wahrer SF verkörperten, die aber oft völlig unbekannt und zudem nicht
selten von zweifelhafter Qualität waren. Das Fandom reagierte seinerseits heftig: Für
den zweiten Wahlgang registrierten sich so viele Fans wie nie zuvor, die dann in den
von den Puppies beherrschten Kategorien leer einlegten, was dazu führte, dass die
entsprechenden Preise nicht vergeben wurden.
14                                                                                      S. Spiegel

   Ähnliches wurde in den Boykott-Kampagnen sichtbar, die als Reaktion auf die
weiblichen und nicht-weißen Hauptfiguren der beiden Star-Wars-Filme Star Wars:
Episode VII – The Force Awakens (Star Wars: Episode VII – Das Erwachen der
Macht, USA 2015, Regie: J.J. Abrams) und Rogue One: A Star Wars Story (USA
2016, Regie: Gareth Edwards) erfolgten. Auch hier wurde bemängelt, dass diese
Besetzungen die Folge von Political Correctness seien und dem Wesen des jeweili-
gen Franchise widersprächen (wobei zugleich nicht ganz klar ist, inwieweit die
entsprechenden Aufrufe auf Twitter und Facebook tatsächlich ernst gemeint waren).
Im Grunde spiegeln diese Auseinandersetzungen aber ‚nur‘ allgemeinere gesell-
schaftlichen Zerwürfnisse – primär in den USA. Das Fandom ist damit auch in
dieser Hinsicht im Mainstream angekommen.

7         Das SF-Kino der Gegenwart

SF ist heute ein zentrales Element der US-Filmindustrie. Alle großen Studios
produzieren mit hoher Regelmäßigkeit SF-Mega-Produktionen. Obwohl die Lord-
of-the-Rings- und Hobbit-Filme sowie die Harry-Potter-Reihe seit Ende des Jahr-
tausends kommerziell sehr erfolgreich waren, ist die filmische Fantasy nach wie vor
weniger wichtig, die Zahl der entsprechenden Produktionen ist deutlich kleiner. Dass
SF einen derart hohen Stellenwert hat, dürfte vor allem daran liegen, dass sich eine
bestimmte Form des Genres besonders gut in das Geschäftsmodell der Studios
einfügt. Diese sind mittlerweile alle Bestandteile integrierter Medienkonzerne und
somit weniger an einzelnen Filmen als vielmehr an Assets interessiert, an Inhalten,
die sich über möglichst viele mediale Kanäle verwerten lassen. Die Kinoeintritte
machen dabei nur noch einen Bruchteil der Einnahmen aus; der unter großem
Medienaufwand zelebrierte Kinostart dient nicht zuletzt als Katalysator für den
Verkauf von Comics, begleitenden Fernsehserien und Büchern, Actionfiguren,
Games und späteren Special Editions auf Blu-Ray. In diesem Vermarktungsmodell
hat ein Film nicht in erster Linie als in sich abgeschlossenes Werk zu bestehen,
sondern muss sich als Kristallisationspunkt einer umfassenden Marketing-Kam-
pagne bewähren. Die Tauglichkeit eines Stoffes zeigt sich somit darin, ob er
genügend Anknüpfungspunkte für Tie-ins, also inhaltlich verbundene Produkte in
anderen Medien, bietet.
   Diese crossmediale Verwertungsstrategie führt dazu, dass die SF-Großproduktio-
nen der vergangenen 15 Jahre mit wenigen Ausnahmen alles Remakes und Fortset-
zungen – respektive Prequels – bestehender Filme waren oder aber Umsetzungen
erfolgreicher Stoffe, die aus anderen Medien stammen.11 Prometheus (Prometheus –
Dunkle Zeichen, USA/GB 2012, Regie: Ridley Scott), Alien: Covenant (USA/GB

11
  Eine prominente Ausnahme stellt Avatar dar, der sich inhaltlich zwar kräftig bei der SF-Literatur
bedient, aber dennoch einer der wenigen originären SF-Blockbuster der jüngeren Zeit darstellt.
Dass Cameron mittlerweile drei weitere Fortsetzungen angekündigt hat, überrascht nicht. Viel eher
ist es erstaunlich, dass diese nicht von Anfang an geplant waren.
Die Gegenwart des Zukünftigen – Science-Fiction                                               15

2017, Regie: Ridley Scott) sowie Blade Runner 2049 (GB/USA/CA 2017, Regie:
Denis Villeneuve), die verschiedenen Young Adult Dystopias (s. o.), die wieder
aufgelegte Planet-of- the-Apes-Serie, Christopher Nolans Batman-Filme sowie die
G.I.-Joe- und Transformers-Franchises oder Battleship (US 2012, Regie: Peter Berg)
wären hierfür einige Beispiele. Diese Filme profitieren nicht nur davon, dass sie auf
bereits bekannte Werke verweisen, sie können zudem aus einem reichen erzähle-
rischen Fundus schöpfen (für die „Spielzeug-Verfilmungen“ Transformers, G.I. Joe
und Battleship gilt Letzteres freilich in geringerem Maße). Auch die sogenannten
Reboots/Relaunches, also der Neustart einer bekannten Serie – ein besonders pro-
minentes Beispiel hierfür stellt Star Trek (USA 2009, Regie: J.J. Abrams) dar –,
folgen dieser Logik. Selbst einer der formal herausragendsten SF-Filme der vergan-
genen Jahre, Mad Max: Fury Road (AU/USA 2015, Regie: George Miller), ist eine
Fortsetzung. 12
    Sequels und verwandte Phänomene sind natürlich nichts Neues; im traditionellen
Modell wurde ein Film aber als mehr oder weniger geschlossene Einheit konzipiert,
auf die bei entsprechendem Erfolg eine Fortsetzung folgen konnte. Die heutigen
Großproduktionen werden dagegen von Anfang als Mehrteiler respektive als Fran-
chises entworfen, bei denen das Ende bereits auf den nächsten Film verweist.
Insbesondere die inzwischen von Disney übernommenen Marvel Studios haben
diese Strategie perfektioniert. Frühere Filme von Marvel wie Spider-Man (USA
2002, Regie: Sam Raimi) oder Hulk (USA 2003, Regie: Ang Lee) erhielten zwar
ebenfalls Fortsetzungen, spielten aber in autonomen erzählerischen Welten. Die
Filme des Marvel Cinematic Universe sind dagegen eng miteinander verzahnt; die
verschiedenen Helden, die u. a. in Iron Man (USA 2008, Regie: Jon Favreau), Thor
(USA 2011, Regie: Kenneth Branagh) und Captain America: The First Avenger
(Captain America, USA 2011, Regie: Joe Johnston) und den jeweiligen Fortsetzun-
gen eingeführt wurden, finden in The Avengers (Marvelʼs The Avengers, USA 2012,
Regie: Joss Whedon), Avengers: Age of Ultron (USA 2015, Regie: Joss Whedon),
Avengers: Infinity War (USA 2018, Regie: Anthony Russo und Joe Russo) und
Avengers: Endgame (USA 2019, Regie: Anthony Russo und Joe Russo) zu Super-
helden-All-Star-Filmen zusammen. Dabei werden die einzelnen Filme als kohärente
erzählerische Einheiten immer weniger wichtig und erscheinen mehr wie ein einzi-
ger fortlaufender Trailer für den nächsten, noch spektakuläreren Film und die
diversen Begleitprodukte (vgl. Vu 2016 und Reinhard und Olson 2019, in die-
sem Band).
    Dass Comicverfilmungen in diesem Bereich so beliebt sind, ist kein Zufall. Mit
Comics wird mit der Publikumsschicht der Jugendlichen die Gruppe der aktivsten
Kinogänger angesprochen. Zudem haben Reboots und Crossovers, also der Neuan-
fang einer Serie respektive das Kombinieren verschiedener Story-Welten, insbeson-

12
  Tatsächlich hat der Film mit der ebenfalls von Miller verantworteten Mad-Max-Trilogie kaum
mehr als den Titel gemein. Ein Clou des Films ist, dass der Titelheld Max im Grunde zur Nebenfigur
degradiert wird und stattdessen die von Charlize Theron gespielte Imperator Furiosa den Ton
angibt.
16                                                                         S. Spiegel

dere im Bereich der Superhelden-Comics eine lange Tradition. Ähnliches gilt für
Fan-Artikel.
   Marvel setzt dieses Konzepts derzeit besonders souverän um; während das
Mutterhaus Disney mit Star Wars: Episode VII – The Force Awakens und Star Wars:
Rogue One dabei ist, die Star-Wars-Reihe, die man ihrem Schöpfer George Lucas
abgekauft hat, einer ähnlichen Behandlung zu unterziehen, klappt der Ansatz bei der
Konkurrenz nicht immer so gut. Das gilt insbesondere für das konkurrierende DC
Extended Universe, in dem mit Superman und Batman die beiden bekanntesten
Superhelden beheimatet sind. Man of Steel (USA 2013, Regie: Zack Snyder),
Batman v Superman: Dawn of Justice (USA 2016, Regie: Zack Snyder), Suicide
Squad (USA 2016, Regie: David Ayer) und Justice League (USA 2017, Regie: Zack
Snyder) folgten der gleichen Logik wie die Marvel-Produktionen, reichten aber
weder finanziell noch im Urteil der Kritik an diese heran.
   Was die SF-Blockbuster ästhetisch verbindet, ist die Betonung des visuellen
Spektakels, das sich auch im neuen Erfolg der 3D-Technologie und ersten Versuchen
mit höheren Bildraten zeigt. Mancherorts wird darin eine Art Neuauflage des
„cinema of attractions“ gesehen. Allerdings weisen die Filme bei etwas genauerer
Betrachtung deutliche Unterschiede auf. Während das Transformers-Franchise mit
seiner hysterischen Erzählweise, die kaum noch an Plot und Figuren interessiert
scheint, in der Tat an den Grundfesten des klassischen narrativen Kinos rüttelt,
bedienen sich Filme wie Avatar, die Marvel-Produktionen oder Mad Max: Fury
Road trotz allem visuellem Brimborium herkömmlicher dramaturgischer Muster.
   Neben SF-Großproduktionen, generischen SF-Actionfilmen und diversen Fern-
sehserien mit SF-Anteilen sind in den vergangenen Jahren auch verschiedene klei-
nere SF-Filme entstanden, die auf aufwendige Effekte verzichten und stattdessen auf
die weiter oben beschriebenen Verfremdungseffekte setzen. Was Filme wie Eternal
Sunshine of the Spotless Mind (Vergiss mein nicht!, USA 2004, Regie: Michel
Gondry), Her (USA 2013, Spike Jonze), Under the Skin und Ex Machina
(GB 2015, Regie: Alex Garland) verbindet, ist, dass sie alle in der Gegenwart oder
– im Falle von Her – einer sehr nahen Zukunft spielen, die durch ein zentrales
Novum verändert wird; in Eternal Sunshine eine Prozedur, mit der sich Erinnerun-
gen gezielt löschen lassen, bei Her und Ex Machina Künstliche Intelligenz und bei
Under the Skin eine Außerirdische. Die Filme sind alle verhältnismäßig intim und
inszenieren nicht das Ende respektive die Errettung der Welt, sondern fragen danach,
welche Konsequenzen das jeweilige Novum für die Figuren hat. Dabei kommt
Geschlechterrollen eine besondere Bedeutung zu; außer Eternal Sunshine gehen alle
Beispiele von veränderten Genderkonstellationen aus und spielen deren Folgen mehr
oder weniger konsequent durch. Dies gilt insbesondere für Under the Skin, in dem
ein/e Außerirdische/r mit dem Aussehen von Scarlett Johansson – die durch Filme
wie Her, Lucy (FR 2014, Regie: Luc Besson), ihrer Rolle als Black Widow im
Marvel Cinematic Universe und dem Anime-Remake Ghost in the Shell (USA 2017,
Regie: Rupert Sanders) mittlerweile zu einem SF-Star geworden ist – Jagd auf
Männer macht. Dabei wird auf formal sehr radikale Weise eine außerirdische Sicht
auf die Welt inszeniert (Spiegel 2016).
Die Gegenwart des Zukünftigen – Science-Fiction                                                17

8         Fazit

Im Laufe des 20. Jahrhunderts ist die SF vom kulturell, sozial und ökonomisch
marginalen Genre zur dominanten Form des Blockbuster-Kinos geworden. Damit ist
nicht nur das SF-Fandom, das sich ursprünglich als exklusiver Kreis von Außen-
seitern verstand, in den Fokus gesellschaftlicher Auseinandersetzungen geraten,
SF-Ideen und -Motive prägen weit darüber hinaus unser Denken. SF liefert uns
die Bilder, anhand derer wir uns Vorstellungen von der Zukunft machen. Seien es
Klimawandel, selbstfahrende Autos, Roboter, Enhancement-Technologien oder
demografischer Wandel, Megastädte, nachrichtendienstliche Überwachung oder
die Besiedelung des Mars – es gibt kaum ein Feld der gesellschaftlichen Diskussion,
in dem wir nicht mit Ideen hantieren, die aus der SF stammen oder zumindest dort
ihren Niederschlag gefunden haben. Erstaunlich ist das nicht. Denn auch wenn es zu
simpel wäre, in den einzelnen Filmen eine Diagnose der Gegenwart zu sehen, so ist
SF doch immer ein Spiegel – nicht selten ein Zerrspiegel – aktueller Ängste und
Wünsche. Indem sie die jeweilige Gegenwart verfremdet, funktioniert SF stets auch
als gesellschaftlicher Kommentar und prägt zugleich unsere Vorstellung möglicher
Zukünfte.
   Dass das einstige B-Genre in einer hoch technisierten Gegenwart auf so großes
Interesse stößt, hat dabei durchaus seine Logik. Entgegen einem noch immer weit
verbreiteten Irrglauben handelt SF nicht von der Zukunft, sondern akzentuiert
vielmehr Entwicklungen der zeitgenössischen Gesellschaft.

Literatur
Aldiss, Brian Wilson. 1973. Billion year spree. The true history of science fiction. Garden City:
    Doubleday.
Altman, Rick. 2000. Film/genre. London: BFI Publishing.
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