Die Nato nach dem Gipfel von Madrid - Einleitung
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NR. 49 JULI 2022 Einleitung Die Nato nach dem Gipfel von Madrid Norderweiterung, neues Strategisches Konzept und militärische Neuaufstellung Claudia Major / Göran Swistek Der Nato-Gipfel von Madrid im Juni 2022 hat eine umfassende Neuausrichtung der Allianz auf den Weg gebracht. Das zeigen drei zentrale Beschlüsse: die Verabschie- dung des neuen Strategischen Konzepts, die angekündigte Aufnahme Finnlands und Schwedens sowie die militärische Neuaufstellung. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wirkte dabei teils als Auslöser (Norderweiterung), teils als Katalysator, der Entwicklungen beschleunigt, die sich bereits seit langem abzeichnen (militärische Neuaufstellung). Ausgangspunkt für diese Beschlüsse ist die Feststellung, dass Russ- land derzeit die größte Bedrohung darstellt. Folglich priorisiert die Nato jetzt klar kollektive Verteidigung im euroatlantischen Raum, während das zuvor dominierende internationale Krisenmanagement (etwa in Afghanistan) an Bedeutung verliert. Dieser Fokus wird das kommende Jahrzehnt prägen. Deutschland hat dafür einen Führungs- anspruch formuliert. Um ihn umzusetzen, muss sich die Bundeswehr mit Blick auf Ausstattung, Einsatzbereitschaft und Finanzierung besser aufstellen. Vor dem Gipfel herrschten große Bedenken, Die Gipfelagenda dass interne Differenzen die Beschlüsse ver- hindern und ein Signal der inneren Zerstrit- Fünf Themen dominierten die Agenda: die tenheit senden könnten. Es wurde befürch- Verabschiedung eines neuen Strategischen tet, die Türkei würde gegen den Wunsch Konzepts; der Beitritt Finnlands und Schwe- aller übrigen Alliierten den Beitritt Finnlands dens; die Neuaufstellung der Abschreckungs- und Schwedens blockieren. Bis zum Vor- und Verteidigungsfähigkeiten; die Erhöhung abend gerungen wurde auch um einzelne des Gemeinschaftsbudgets sowie die Ver- Passagen im Strategischen Konzept, etwa stetigung der Unterstützungsleistungen für wie kritisch Russland und China benannt die Ukraine. Im Schatten dieser großen werden; um die von einigen Regierungen Themen arbeiteten die Alliierten zahlreiche abgelehnte Aufstockung des Gemeinschafts- weitere Fragen ab, die sich aus dem neuen haushalts; schließlich um Aspekte der mili- Strategischen Konzept ergaben; sie betrafen tärischen Neuaufstellung. Umso bemerkens- etwa den Umgang mit den Folgen des Klima- werter war es, dass die Nato-Staaten die wandels, die EU-Nato-Kooperation, den Um- größten Streitpunkte schon am ersten Vor- gang mit chemischen, biologischen und mittag ausräumen konnten. nuklearen Waffen sowie mit hybriden Be-
drohungen, nicht zuletzt Initiativen zur Ostseeraum, das Schwarze Meer und den
Innovation in der Verteidigungsindustrie. Balkan bis zum östlichen Mittelmeer und
Bemerkenswert war auch, dass neben der der Sahelzone. Diese Konflikte könnten
Ukraine als weitere Gäste erstmals vier eskalieren. Die Nato bleibe aber bereit, die
Staaten aus dem Indo-Pazifik an ausgewähl- Kommunikationskanäle offenzuhalten, um
ten Agendapunkten teilnahmen, die soge- Risiken zu mindern, Eskalationen zu verhin-
nannten AP4 (Japan, Südkorea, Australien, dern und mehr Transparenz zu schaffen.
Neuseeland). In den Gesprächen mit ihnen Das Bündnis sucht keine Konfrontation mit
ging es zum Beispiel um den Umgang mit Russland und ist keine Bedrohung.
hybriden Bedrohungen sowie Möglichkei- China dagegen wird als Herausforderung
ten der Zusammenarbeit mit Blick auf die definiert. Die ursprünglich von einigen Alli-
wachsenden Herausforderungen durch ierten, wie den USA, geforderte deutlich kriti-
China. Dies zeigt die steigende Bedeutung schere Betrachtung Chinas wurde letztlich
dieser Region für die Nato und ihr Bestre- auf Wunsch anderer, vor allem Frankreichs
ben, die regionale Kooperation auszubauen. und Deutschlands, abgeschwächt. Aufgenom-
men wurde hingegen die Sorge der USA vor
einer zunehmenden Zusammenarbeit Russ-
Das neue Strategische Konzept lands mit China. Die Herausforderung durch
China ist weniger eine direkte militärische
Die Nato-Staaten haben 2021 den General- Bedrohung, sondern erwächst aus dem Ver-
sekretär beauftragt, ein neues Strategisches such des Landes, die internationale Ord-
Konzept zu erarbeiten, da das Vorgänger- nung nach eigenen Vorstellungen umzufor-
dokument von 2010 weitgehend obsolet men und zu dominieren. Dazu gehören
war. Das neue Konzept analysiert die sicher- etwa »böswillige hybride und Cyberopera-
heitspolitische Lage, identifiziert Bedro- tionen«, konfrontative Rhetorik und Des-
hungen und definiert Leitlinien für die Aus- information. Daher bestätigt das Konzept,
richtung des Bündnisses in den kommen- dass hybride Bedrohungen und solche im
den 10 Jahren. Es zeigt Kontinuität, indem Cyber- und Weltraum die Beistandsklausel
es trotz langer Kontroversen an den drei (Artikel 5) auslösen können. Umso wichti-
Nato-Kernaufgaben festhält: kollektive Ver- ger ist für die Nato, vorsorglich regionale
teidigung; Krisenprävention und -manage- Kooperation mit gleichgesinnten Partnern
ment; kooperative Sicherheit. Sie werden aufzubauen, wie den AP4. Kooperative
nun jedoch anders gewichtet – kollektive Sicherheit bedeutet deshalb nicht nur, dass
Verteidigung hat Priorität. Unterschiede im die Nato offen für neue Mitglieder bleibt,
Vergleich zu 2010 sind vor allem die kriti- wie Finnland und Schweden, sondern auch,
schere Behandlung Russlands, die erstmalige dass sie die Kooperation mit Partnern welt-
Erwähnung Chinas und die Aufnahme neuer weit intensiviert.
Themen (wie Klimawandel) und neuer Be-
drohungen (wie disruptive Technologien).
Während Russland 2010 noch als strate- Beitritt Finnlands und Schwedens
gischer Partner bezeichnet wurde, wird es
jetzt als größte und unmittelbarste Bedro- In Madrid haben die Alliierten die Beitritts-
hung für Frieden und Stabilität im euro- anträge Finnlands und Schwedens ange-
atlantischen Raum identifiziert. Ein Angriff nommen. Dank intensiver diplomatischer
auf ein Nato-Mitglied kann nicht mehr aus- Bemühungen fanden am Vorabend des Gip-
geschlossen werden. Moskaus Bereitschaft, fels Schweden, Finnland und die Türkei
Krieg zu führen, um Interessen- und Ein- eine Übereinkunft, die den Weg für den
flusssphären auszudehnen, sowie seine Beitritt frei macht. Darin werden unter
militärische Aufrüstung haben potentielle anderem Konsultationsmechanismen ver-
Konfliktlinien zwischen der Nato und Russ- einbart und die gegenseitigen Bedrohungs-
land zur Folge: von der Arktis über den perzeptionen anerkannt, aber auch
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Grafik 1
Quellen: Nato, New NATO Force Model, Juni 2022; dies., »Press Conference by NATO Secretary General Jens Stoltenberg«, Madrid, 29.6.2022;
dies., »Madrid Summit Declaration«, Pressemitteilung (2022) 095, 29.6.2022; dies., NATO 2022 Strategic Concept, Juni 2022.
demokratische Werte bestätigt. Nun müssen Enhanced Opportunity Partners (EOP) arbei-
alle Alliierten die Beitrittsanträge ratifizie- ten sie schon lange eng mit der Nato zusam-
ren, Finnland und Schweden müssen nach- men, was ihre Integration erleichtern wird.
weisen, dass sie die Beitrittskriterien erfül- Allerdings vergrößert sich mit ihrem Bei-
len. Ohne weitere Blockaden könnten sie in tritt auch das Nato-Gebiet, was allein die
6 bis 12 Monaten aufgenommen werden. mehr als 1.300 Kilometer lange finnische
Politisch und strategisch ist ihr Beitritt Grenze zu Russland zeigt, die die Nato künf-
ein Gewinn: Politisch zeigt die Nato, dass tig in ihre Verteidigungsplanung einbezie-
sie trotz russischer Drohungen am Prinzip hen muss. Wenig überraschend kritisiert
der freien Bündniswahl festhält. Geostrate- Russland die beiden Beitritte, da sie eine
gisch wird Nordeuropa nun ein kohärenter Nato-Übermacht im Nordosten Europas be-
Raum, der mit Ausnahme von Kaliningrad deuteten und seine Handlungsfähigkeit dort
und Sankt Petersburg unter dem Schutz der beschränken würden, vor allem die seiner
Nato steht. Das vereinfacht die Verteidigungs- Nordmeer- und Ostseeflotte. Zwar haben
planung, insbesondere für das Baltikum, sich Finnland und Schweden bislang nicht
und erhöht die Glaubwürdigkeit der Ab- dafür ausgesprochen, auf ihrem Territorium
schreckung im Norden. Finnland wie Schwe- Nato-Truppen zu stationieren oder ein
den werden substantiell zur Nato beitragen, Hauptquartier (HQ) zu errichten; aber zumin-
denn sie haben modern ausgestattete, schlag- dest die temporäre Präsenz der Nato in den
kräftige und gut ausgebildete Streitkräfte, beiden Ländern wird zunehmen, etwa im
innovative Rüstungsindustrien, außerge- Rahmen gemeinsamer Übungen. Um die Ver-
wöhnliche regionale operative Kenntnisse teidigung des nördlichen Bündnisgebiets zu
über Russland, einzigartige Fähigkeiten zur sichern, muss die Nato die seit Jahren disku-
Kriegsführung in klimatisch schwierigen tierte regionale Koordination im Ostseeraum
Regionen wie der Arktis sowie umfassende verbessern und sie enger in die übergeord-
nationale Gesamtverteidigungskonzepte. Als nete Abschreckungspolitik einbinden.
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3Stärkung der Abschreckungs- und Allerdings sind in allen drei Stufen
Verteidigungsfähigkeit Kräfte verplant, die jeder Alliierte zur Ver-
teidigung seines eigenen Territoriums oder
Aus der Bedrohungsanalyse leitet das Stra- unter nationaler Führung als freiwilligen
tegische Konzept die Notwendigkeit ab, zusätzlichen Beitrag vorhält. Die Staaten
die Abschreckung und Verteidigungsfähig- behalten also die Hoheit über die meisten
keit der Nato zu stärken und neu aufzustel- ihrer Truppen. Das NFM bedeutet auch
len. Um auf die russische Bedrohung zu nicht, dass die Nato nun tatsächlich über
reagieren, will die Allianz ihre Präsenz in 800.000 Soldaten verfügen würde – es han-
den besonders exponierten Gebieten aus- delt sich lediglich um eine neue Zuord-
bauen, vor allem an ihrer Nordost- und nung. Viele Truppen bleiben unter natio-
Südostflanke die Luft- und Flugkörperver- naler Führung, und bei einigen ist die tat-
teidigung stärken, sowie die Cyberabwehr sächliche Einsatzbereitschaft fraglich.
und die Übungstätigkeit intensivieren. Neu ist zweitens ein stärkerer regionaler
Damit alle Staaten kohärent vorgehen, Fokus. Streitkräfte und Fähigkeiten der Alli-
sollen nationale und Nato-eigene Verteidi- ierten werden teilweise potentiellen Konflikt-
gungspläne überarbeitet bzw. erstellt sowie regionen (Fokusgebieten) im euroatlanti-
synchronisiert werden. Drei Ideen leiten schen Raum zugeordnet, etwa dem Baltikum.
diese Neuaufstellung (vgl. Grafik 1, Seite 3): Zusammen mit geplanten Vorausstationie-
Erstens wurde ein neues Streitkräfte- rungen von Munition und Material soll dies
modell beschlossen, das New Force Model die Einsatzbereitschaft erhöhen. Praktisch
(NFM), das die bisherigen Nato-Formate heißt das zum Beispiel, dass Munition und
ablöst, namentlich die Nato Response Force Material der Bundeswehr dort gelagert wer-
(NRF) und die Speerspitze VJTF. Der An- den, wo im Ernstfall deutsche Kontingente
spruch des NFM ist, etwa 800.000 Soldaten eingesetzt würden. Ferner werden die Füh-
zu organisieren. Es teilt die Streitkräfte und rungsstrukturen für regionale Aufgaben
Fähigkeiten der Alliierten verschiedenen gestärkt; die drei existierenden Joint Force
potentiellen Konfliktregionen innerhalb des Commands (Brunssum, Neapel und Norfolk)
euroatlantischen Raums zu, etwa dem Ost- erhalten eigene Verantwortungsbereiche.
seeraum, und organisiert sie in drei Stufen, Ähnliches gilt für die Führungselemente
sogenannten Tiers, mit wachsender Bereit- innerhalb einer Region: Beispielsweise erwei-
schaftszeit. Tier 1 und Tier 2 bilden mit tert sich die Rolle des Multinationalen Korps
100.000 bzw. 200.000 Soldaten den Kern Nordost (MNC NE) in Stettin, sodass es regio-
und weisen mit 10 bzw. 30 Tagen eine hohe nal und domänenübergreifend Nato-Heeres-
Reaktionsbereitschaft auf. Tier-3-Truppen, kräfte im Ostseeraum koordinieren kann.
weitere 500.000 Soldaten, sollen graduell in Kritik kommt vornehmlich von Alliierten
bis zu 180 Tagen einsatzbereit sein. aus Südeuropa, die ihre Kräfte nicht fest
Innerhalb der drei NFM-Tiers sind weitere regional zuordnen wollen. Sie befürchten,
Differenzierungen vorgesehen: So werden dass eine solche Festlegung die Flexibilität
innerhalb von Tier 1 die bisher existieren- für den SACEUR reduziert und auf Kosten
den NRF und VJTF in einer neuen schnellen der Aufmerksamkeit für die Südflanke mit
Eingreiftruppe aufgehen, der Allied Reaction ihren spezifischen Problemen geht, etwa
Force (ARF), die 40.000 Soldaten umfasst. Instabilität und Terrorismus.
Diese werden dem obersten Nato-Befehls- Drittens passt die Nato ihr Abschre-
haber SACEUR ständig – also bereits vor ckungsmodell an und verschiebt den Schwer-
Ausbruch einer Krise – unterstellt sein, um punkt von Abschreckung hin zu Verteidi-
eine schnelle Reaktion zu ermöglichen. Das gung. Die bisherigen Planungen in Ost- und
ist eine beachtliche Neuerung: Bislang haben Mitteleuropa waren als deterrence by reinforce-
einige Staaten, darunter Frankreich und ment konzipiert: Die Abschreckungswirkung
Deutschland, dies abgelehnt. baute auf eine geringe, rotierende multi-
nationale Truppenpräsenz in den baltischen
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4Grafik 2
Quelle: Nato, NATO’s Eastern Flank: Stronger Defence and Deterrence, Juni 2022.
Staaten und Polen (jeweils ca. 1.000 Mann), und entsprechende Fähigkeiten sowie schwe-
die sogenannte enhanced Forward Presence res Gerät, etwa Artillerie, vor Ort zu statio-
(eFP), die im Krisenfall verstärkt werden nieren. »Multidomänfähig« bedeutet, dass
sollte. Insbesondere die genannten Staaten die Einheiten in den verschiedenen Einsatz-
bezweifelten, dass dieser »Stolperdraht«-An- feldern, den Domänen (Land, Luft, See, Welt-
satz funktionieren würde, und forderten raum, Cyberraum), handlungsfähig sein
die permanente Stationierung größerer und werden. Zudem werden die Nato-Verbände
schwerer ausgerüsteter Verbände sowie verstetigt, die als Reaktion auf den russi-
glaubhafte Verstärkungstruppen. schen Krieg gegen die Ukraine in der Slowa-
Die neuen Planungen folgen nun dem kei, in Bulgarien und Rumänien zusätzlich
Ansatz deterrence by denial, dem gemäß dem aufgestellt wurden (vgl. Grafik 2).
Gegner durch größere Truppenpräsenz und Mehrere Staaten haben bereits zugesagt,
die Vorausstationierung von schwerem ihre Beiträge zu erhöhen, darunter Deutsch-
Gerät und Munition verdeutlicht wird, dass land, das das eFP-Kontingent in Litauen führt.
ein Angriff scheitern würde. Sichtbar wird Dabei ist zu unterscheiden zwischen Zu-
der neue Ansatz in der Entscheidung, die sagen im Rahmen der Nato, wie sie Deutsch-
existierenden eFP zu multidomänfähigen land gegeben hat, und bilateralen Zusagen.
Verbänden auf Brigadeebene aufzustocken Letzteres trifft auf die USA zu, die ihre Prä-
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5senz in Europa ausbauen wollen, unter nicht über solche einsatzbereiten und voll
anderem durch ein neues HQ in Polen und ausgerüsteten Heeresbrigaden.
die Stationierung von zwei F-35-Kampfjet- Daher schlug Deutschland vor, dass nur
Geschwadern in Großbritannien. ein Teil der neuen Brigaden vor Ort statio-
Insgesamt geht es also nicht nur um eine niert wird, vor allem Stabselemente, Muni-
quantitative Aufstockung der Nato-Streit- tions- und Betriebsstofflager. Der Großteil
kräfte, sondern auch darum, Einsatzbereit- bleibt in den Heimatländern, wird aber ver-
schaft und Ausrüstung zu verbessern bzw. pflichtend für die Nato eingeplant und in
neu zu strukturieren. Das NFM wird damit Abrufbereitschaft versetzt. Für Deutschland
zum Maßstab für die gesamten Nato-Streit- und Litauen bedeutet das zum Beispiel, dass
kräfte und den Nato-Planungsprozess NDPP. Elemente der Brigade sich in Litauen befin-
Es soll Mitte 2023 umgesetzt werden. Die den, der Großteil in Deutschland in Bereit-
Nato hat aber keine eigenen Streitkräfte schaft steht, Litauen fest zugeordnet ist und
und betreibt nur wenige Fähigkeiten selbst, dort Übungen absolviert werden. Großbri-
etwa die Aufklärungsflugzeuge AWACS – tannien und Kanada wollen sich an diesem
alle Beiträge kommen von den Staaten. Das Modell orientieren. Auf diese Weise soll die
heißt: Um diese umfassenden Neuerungen bisherige eFP-Struktur bis 2025 mit multi-
umzusetzen, müssen alle Alliierten größere domänfähigen Elementen zur Brigadeebene
Beiträge in höherer Qualität leisten (Truppen, aufgebaut werden. Deutschland beteiligt
Ausrüstung), was beträchtliche Anstrengun- sich zudem an der neuen Battlegroup in der
gen erfordert und teils lange dauern wird. Slowakei, unter anderem mit Flugabwehr.
Überdies muss die Nato die begonnene Zusätzlich hat Deutschland in Madrid an-
Neukonzeption von Verteidigung und geboten, ein stehendes regionales, mariti-
Abschreckung den sich wandelnden Rah- mes HQ für den Ostseeraum bereitzustellen
menbedingungen stetig anpassen. Da Kon- (vgl. SWP-Aktuell 100/2020). Dieses ständige,
flikte in der konventionellen und der nuk- multinational besetzte HQ würde Nato-Kräfte
learen Dimension, aber auch im Cyber- und regional und domänenübergreifend im kom-
Weltraum und in nichtmilitärischen Berei- pletten Spektrum von Frieden bis Krieg ko-
chen wie dem Informationsraum ausgetra- ordinieren. Polen hat allerdings ein ähn-
gen werden können, müssen die Nato-Kon- liches Angebot unterbreitet, da es ebenfalls
zepte laufend weiterentwickelt und neu eine regionale Führungsrolle beansprucht.
gedacht werden. Die Nato hat in dieser Sache bislang nicht
entschieden, um deutsch-polnische Konflikte
zu vermeiden. In diese Lücke stößt nun
Schlüsselrolle Deutschlands London und reklamiert seinerseits eine Füh-
rungsrolle entlang der Nordflanke und in
Die Bundesregierung hat bereits vor dem der Ostsee. Alle drei Länder stehen vor der-
Gipfel die Beschlüsse geprägt. Unter ande- selben Herausforderung, diese Ansprüche
rem musste ein Kompromiss gefunden wer- auch materiell zu untermauern. Absehbar
den zwischen den Wünschen namentlich ist hier nicht nur der Konflikt der Führungs-
der baltischen Staaten und Polens, die zusätz- ansprüche, sondern ebenso eine gegen-
liche Kräfte forderten, etwa jeweils eine Bri- seitige praktische Behinderung, wenn die
gade von 3.000 bis 5.000 Soldaten, und dem, Kräfte zugewiesen werden sollen.
was die Truppenstellerstaaten bereit und in In der maritimen Domäne will Deutsch-
der Lage sind zu liefern. Die dauerhafte Sta- land seine Führungsrolle im Ostseeraum
tionierung von Verbänden dieser Größen- unterstreichen, indem es etwa 20 Kriegs-
ordnung ist nicht nur teuer, sondern derzeit schiffe für Tier 1 und 2 bereitstellt. Für den
faktisch kaum machbar: Die Führungsnatio- Landbereich ist eine Division vorgesehen,
nen der eFP im Baltikum, also Deutschland die vorrangig in Litauen, aber auch im ge-
(in Litauen), Großbritannien (Estland) und samten Baltikum und entlang der Nato-Ost-
Kanada (Lettland), verfügen kurzfristig grenze zur Verfügung stehen soll. Die Um-
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6setzung dieser Zusagen ist allerdings frag- Anpassungen. In ihrem aktuellen Zustand
lich – seit Jahren sagt Deutschland der Nato kann die Bundeswehr dies nur unter größ-
eine Division zu, hält dies aber nicht ein. ten Anstrengungen leisten und muss dafür
Im Luftbereich hat die Nato auf den Krieg andere Verpflichtungen reduzieren, etwa
in der Ukraine mit einem Ausbau des Air die Beiträge, die sie im Rahmen des inter-
Policing und Air Patrolling reagiert. Dar- nationalen Krisenmanagements erbringt,
über hinaus soll die Luftraumverteidigung zum Beispiel in den Operationen UNIFIL und
verbessert werden. Dazu bedarf es mehr IRINI. Um die angestrebte Führungsrolle aus-
Flugzeuge in den besonders exponierten füllen zu können, muss die Bundeswehr
Regionen sowie des Ausbaus der boden- drei Dinge dauerhaft sicherstellen:
gebundenen Flugabwehr. Der deutsche ∎ Ausstattung: Um die Bereitschaftszeiten
Beitrag hierzu wurde noch nicht präzisiert. des NFM einzuhalten und die notwendige
Für Deutschland gilt es deshalb, dass es Flexibilität in der Umsetzung der Nato-
erstens seine Zusagen an die Nato innerhalb Verteidigungsplanung zu gewährleisten,
der vereinbarten Fristen erfüllt – das war ist eine personelle und materielle Voll-
in der Vergangenheit nicht immer der Fall. ausstattung der Truppe erforderlich. Aller-
Zweitens muss Berlin eigene Verteidigungs- dings gelingt es der Bundeswehr seit Jah-
pläne erarbeiten und diese mit denen der ren nicht, ausreichend und geeignetes
Nato abstimmen, um die eigenen Kräfte Personal zu gewinnen. Materiell war die
und Fähigkeiten planbar und flexibel ein- Bundeswehr zu lange auf Krisenmanage-
setzen zu können. menteinsätze ausgerichtet und hat einen
Mit den Beschlüssen von Madrid kommen schwerfälligen Rüstungsbeschaffungs-
gerade auf Deutschland große Anforderun- prozess etabliert. Hinzu kommt die un-
gen zu. Seine Bedeutung für Europas Ver- zulängliche Versorgung mit und Bevor-
teidigung resultiert teils aus seiner Wirt- ratung von Munition. Der Beschaffungs-
schaftskraft: Wenn Berlin wie angekündigt prozess muss strukturell und rechtlich
2 Prozent seiner Wirtschaftskraft für Ver- reformiert werden, um jenseits von lang-
teidigung ausgibt, hat es 2022 mit circa wierigen Ausschreibungs- und Beschaf-
55,6 Milliarden Euro sowie dem diesjähri- fungsverfahren sowie Produktfestlegungen
gen Anteil am Sondervermögen von ver- kurzfristig das benötigte und marktver-
anschlagt etwa 25 Milliarden Euro den mit fügbare Material beschaffen zu können.
Abstand größten Verteidigungshaushalt in ∎ Einsatzbereitschaft: Um sie zu erhöhen,
Europa (Großbritannien ca. 53,8 Mrd. Euro, braucht es strukturelle Reformen. Zum
Frankreich ca. 49,6 Mrd. Euro). Investiert Beispiel muss die Entscheidungshierar-
Deutschland klug, kann es damit zum kon- chie abgeflacht und den unteren Ebenen
ventionellen Rückgrat für die Nato werden. mehr Eigenverantwortung übertragen
Aufgrund seiner Lage ist es außerdem das werden. Dadurch kann mehr Flexibilität
logistische Drehkreuz, über das potentielle und eine grundlegende Kaltstartfähigkeit
Einsätze im Osten des Bündnisgebiets ver- geschaffen werden. »Kaltstartfähigkeit«
laufen würden. Politisch steht Berlin wegen bedeutet hier, voll ausgerüstete und um-
seiner Russlandpolitik in der Kritik; viele fassend ausgebildete Streitkräfte zur Ver-
Alliierte haben sie als zu lange zu unkri- fügung zu haben, die im Falle einer mili-
tisch empfunden. Dass Deutschland sein tärischen Konfrontation kurzfristig abruf-
Bekenntnis zur Nato praktisch untermauert, bereit und geografisch unabhängig ein-
ist also eine Frage der Glaubwürdigkeit. setzbar sind. Die Einsatzbereitschaft der
Praktisch erfordert die Neuaufstellung Bundeswehr kann verbessert werden,
der Nato von Deutschland mehr Truppen in indem Kräfte und Fähigkeiten für Landes-
höherer Bereitschaftszeit, die Stärkung von und Bündnisverteidigung vorbestimmt
Fähigkeiten der Landes- und Bündnisvertei- und dafür ausgebildet werden.
digung (wie weitreichende Artillerie und Um die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr
Luftraumverteidigung) sowie strukturelle abzusichern, wäre ferner ein umfassen-
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7des Reservekonzept hilfreich. Das würde Truppenstruktur und klare politische
etwa den Bedarf an Sicherungs- und Zielvorgaben. Letztere kann die Nationale
Absicherungsfähigkeiten abdecken, der Sicherheitsstrategie bieten, die derzeit
innerhalb der Bundesrepublik entsteht, unter Federführung des Auswärtigen
sollte ein Konflikt eskalieren und Kräfte Amtes erarbeitet wird.
aus Tier 3 des NFM abgerufen werden
müssen. Für die deutschen Beiträge zur
ARF, die permanent unter der Führung Ausblick: Mehr Europa
der Nato stehen, sollte eine Art Präautori-
sierung durch den Bundestag erwogen In Madrid ist es den Alliierten gelungen,
© Stiftung Wissenschaft werden. Diese würde sowohl der Nato als trotz großer Differenzen politische Geschlos-
und Politik, 2022 auch den deutschen militärischen Füh- senheit zu demonstrieren. Das ist auch nötig:
Alle Rechte vorbehalten rern mehr Handlungssicherheit geben. Erst wenn die Nato-Staaten politisch über-
Diese Art Vorratsbeschluss würde dem zeugend nach innen und außen vermitteln
Das Aktuell gibt die Auf-
SACEUR erlauben, auch in Krisen unter können, dass sie füreinander einstehen,
fassung des Autors und
der Autorin wieder. klaren Vorgaben schnell zu reagieren, wird das militärische Beistandsversprechen
ihn aber zu einer nachträglichen Geneh- glaubwürdig. Besonders ermutigend waren
In der Online-Version dieser migung verpflichten. Es wäre ein prag- die starke politische Unterstützung der USA
Publikation sind Verweise matischer Kompromiss, der politische und die Verstärkung ihrer militärischen
auf SWP-Schriften und
Kontrolle und militärische Schnelligkeit Präsenz in Europa. Dies sollte jedoch nicht
wichtige Quellen anklickbar.
verbindet. darüber hinwegtäuschen, dass erstens wei-
SWP-Aktuells werden intern ∎ Finanzierung und politische Unter- terhin der Indo-Pazifik in der US-Verteidi-
einem Begutachtungsverfah- stützung: Das Sondervermögen über gungspolitik Priorität genießt, wie die kürz-
ren, einem Faktencheck und 100 Milliarden Euro, verbunden mit der lich verabschiedete Nationale Verteidigungs-
einem Lektorat unterzogen. Zusage, den Verteidigungshaushalt auf strategie belegt. Zweitens wächst durch die
Weitere Informationen
2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts innenpolitische Polarisierung in den USA
zur Qualitätssicherung der
SWP finden Sie auf der SWP- (BIP) anzuheben, macht es möglich, seit die Wahrscheinlichkeit, dass bei den nächs-
Website unter https://www. langem bestehende Fähigkeitslücken zu ten Präsidentschaftswahlen 2024 ein Kandi-
swp-berlin.org/ueber-uns/ schließen. Dazu gehören zum Beispiel dat gewinnt, der vergleichbar mit dem vor-
qualitaetssicherung/ die persönliche Ausstattung der Soldaten, herigen Präsidenten Trump wenig Interesse
Kommunikationssysteme, das Kampf- an transatlantischer Kooperation zeigt.
SWP
Stiftung Wissenschaft und
flugzeug F-35, das Deutschlands Rolle in Langfristig müssen sich die Europäer da-
Politik der nuklearen Teilhabe sichern soll. Aller- her auf eine Verteidigung mit immer gerin-
Deutsches Institut für dings handelt es sich bei den meisten geren US-Beiträgen vorbereiten. Das heißt,
Internationale Politik und Beschaffungsprojekten um langfristige, sie müssen ihre Nato-Beiträge verbessern
Sicherheit mehrjährige Vorhaben. Entsprechend und erhöhen, so dass sie zukünftig mindes-
muss die Finanzierung langfristig gesi- tens 50 Prozent der Nato-Planungen leisten.
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin chert sein. Die Alliierten sind sich weit- Eine militärische Verteidigung Europas
Telefon +49 30 880 07-0 gehend einig, dass ihre 2014 formulierte ohne konventionelle und nukleare Beiträge
Fax +49 30 880 07-100 Forderung, 2 Prozent des BIP für Vertei- der USA und deren politische Führung ist
www.swp-berlin.org digung auszugeben, lediglich ein Mini- in den kommenden 10 bis 15 Jahren unrea-
swp@swp-berlin.org
mum beschreibt (»2 % ist the floor, not listisch. Die Europäer können aber ihre Bei-
ISSN (Print) 1611-6364
the ceiling«). träge sukzessive steigern. Die Beschlüsse
ISSN (Online) 2747-5018 Hinzu kommt, dass Geld allein die seit von Madrid sind folglich vor allem Haus-
DOI: 10.18449/2022A49 langem bekannten Probleme der Bundes- aufgaben für die Europäer – und insbeson-
wehr nicht lösen kann. Ebenso wichtig dere für die, die wie Deutschland aufgrund
sind funktionierende Beschaffungs- und ihres wirtschaftlichen und politischen Ge-
Vergabesysteme, eine Anpassung der wichts die Allianz prägen.
Dr. Claudia Major ist Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Fregattenkapitän Göran Swistek ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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