Beitrittsgesuch der Ukraine setzt EU unter Druck - Einleitung - Stiftung ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
NR. 23 MÄRZ 2022 Einleitung Beitrittsgesuch der Ukraine setzt EU unter Druck Keine Revision, aber sicherheitspolitische Flankierung der Erweiterungspolitik ratsam Barbara Lippert Während russische Panzer und Artillerie nach Charkiw und Kiew vorstießen, unter- zeichnete Präsident Wolodymyr Selenskyj ein Aufnahmegesuch an die EU. Er fordert eine besondere Aufnahmeprozedur, die die Ukraine schnell in die EU führt. Die Ukraine strebt nicht erst unter Raketenbeschuss eine EU-Mitgliedschaft an; sie sieht – ähnlich wie Moldau und Georgien – in ihrem heutigen Status der Assoziation mit der EU nur eine Vorstufe zum Beitritt. Der Antrag vom 28. Februar ist ein Hilferuf aus dem schrecklichen Krieg heraus. Erste Antworten aus der Kommission und dem Euro- päischen Parlament bezeugten zwar viel politische Sympathie für das Drängen der Ukraine. Dennoch stellen die EU-Spitzen keine schnelle Mitgliedschaft in Aussicht. Die Zurückhaltung entspringt der Erfahrung, dass Aufnahmeverhandlungen in der Regel anspruchsvoll und langwierig sind, es also keine Abkürzungen zum Ziel gibt. Es gibt aber auch Interessen der EU, die selbst einer expliziten Beitrittsperspektive entgegenstehen. In jedem Fall sollte die EU ihre Politik der Integration und Koope- ration mit Ländern der Östlichen Partnerschaft sicherheitspolitisch flankieren. Auf das Beitrittsgesuch der Ukraine antwor- 2004, dem russisch-georgischen Krieg 2008 tete Kommissionspräsidentin von der Leyen samt Anerkennung der abtrünnigen Gebiete Präsident Selenskyj umgehend: »Wir wollen Abchasien und Südossetien durch Russland sie [die Ukraine] drin haben« und ging da- und der Anbahnung der Östlichen Partner- mit über die unionsinterne Konsensformel schaft (ÖP) 2009 zeigen sich innerhalb der hinaus, wonach die EU die Bestrebungen der EU die baltischen Staaten, Polen und Schwe- Ukraine und deren Entscheidung für Euro- den immer offener für eine explizite Bei- pa durchaus anerkennt, sich selbst jedoch trittsofferte an das sogenannte Assoziierte nicht auf dieses Ziel politisch verpflichtet. Trio (Ukraine, Moldau und Georgien). Die- Die Kommission in Brüssel ist zwar der stets sem Kurs haben sich allerdings weder wohlwollende Manager des Erweiterungs- Frankreich noch Deutschland angeschlossen. prozesses, aber es sind die Mitgliedstaaten, Beide haben auch nach dem Euromaidan die den Kurs und das Tempo bestimmen. 2013/14 und der Annexion der Krim durch Seit der Orangen Revolution in der Ukraine Russland 2014 darauf beharrt, dass auf
mittlere Sicht die erfolgreiche Implemen- dass sie nicht per se mit einer politischen tierung der Assoziierungsvereinbarungen Unterstützung der Union rechnen können. inklusive der umfassenden und vertieften Das richtete sich an Länder der Östlichen Freihandelszone und nicht die Mitglied- Partnerschaft wie die Ukraine. Ihnen gegen- schaft oben auf der Tagesordnung steht. über zog Brüssel eine Grenze zwischen Die EU begreift Putins Krieg gegen die Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik, Ukraine jedoch als Zeitenwende. Was heißt die genau bei der Frage der Beitrittsperspek- das für die Ukraine-Politik? Welche Hand- tive ansetzt. lungsmöglichkeiten hat die EU und was sind Nun könnte die EU diese Linie überschrei- die Implikationen für ihre Erweiterungs- ten und nach dem Modell Thessaloniki er- politik? klären, dass die Zukunft der Ukraine und Die im Folgenden skizzierten Optionen die Moldaus und Georgiens in der EU liege. haben nur dann Realisierungschancen, 2003 hatte die EU ein solches politisches wenn die EU nach dem Ende des Krieges Signal an die Länder des Westbalkans aus- noch eine legitime Regierung in Kiew vor- gesendet, von denen allein Kroatien in- findet, die ihre Souveränität gegenüber zwischen (2013) beigetreten ist. Es gibt auf Moskau bewahrt hat. Setzt Russland aber beiden Seiten viele Gründe, weshalb die in Kiew Statthalter ein, dann ist die Option Botschaft verpuffte und die Glaubwürdig- Beitrittskandidat ohnehin obsolet. Gegebe- keit des Beitrittsversprechens gelitten hat. nenfalls würde die EU dann vor der Frage Aber Thessaloniki hat zumindest die Selbst- stehen, ob und wieweit sie mit einer ukrai- bindung der EU so weit gehärtet, dass eine nischen Exilregierung zusammenarbeiten Abkehr nahezu auszuschließen ist. Zumeist kann, um die European vocation der Ukrainer bedeutet eine Beitrittsperspektive für ein wachzuhalten. Land noch nicht, dass es auch zum Beitritts- kandidaten wird. Der Rat verlangt, dass ein Land dafür einen gewissen Vorbereitungs- Den Erweiterungskonsens stand für Aufnahmeverhandlungen vor- revidieren? weisen kann. Er muss die Entscheidung ein- stimmig fällen. Auch dieser Status besagt Die EU agiert auf der Basis des erneuerten noch nicht, dass sich direkt Verhandlungen Konsenses zur Erweiterungspolitik von 2006, anschließen. Das bedeutet mit Blick auf die der aus den »drei K« besteht: Konsolidierung Ukraine, dass es prinzipiell zu (scheinbar) des Erweiterungsraums, strikte Konditio- geringen Kosten einen Spielraum für an- nalität im Sinne der Kopenhagener Beitritts- erkennende Symbolpolitik gibt. Ferner sind kriterien und Kommunikation der Ziele, Beitrittsperspektive und Antragstellung Kosten und Nutzen der Aufnahme neuer nicht unbedingt eng gekoppelt. Ein Antrag Länder, um die öffentliche Akzeptanz der Er- ist Voraussetzung für ein sorgfältiges Prüf- weiterung zu verbessern. Der »Kiew-Effekt« verfahren samt Empfehlung der Kommis- (Manfred Weber, MdEP) könnte Anpassun- sion zur Aufnahme von Verhandlungen. gen bei allen drei Prinzipien auslösen: Von den aktuell fünf Kandidatenländern Konsolidierung: Der Grundsatz der Konso- stehen drei, nämlich die Türkei, Serbien lidierung bezieht sich auf die politischen und Montenegro, in Beitrittsgesprächen, Verpflichtungen, die die EU gegenüber Län- während Albanien und Nordmazedonien dern mit einer expliziten Beitrittsperspek- auf grünes Licht warten und Bosnien-Herze- tive eingegangen ist. Das sind die Türkei gowina und Kosovo nur als potentielle Kan- und die Länder des Westlichen Balkans. Mit didaten firmieren. Bisher wurde in der EU der Erhebung dieses Ziels zu einer der drei um jede kleine Rangerhöhung gestritten, Prämissen des Erweiterungsprozesses signa- zum einen, weil sie an nachprüfbare Fort- lisierte die EU jedoch anderen europäischen schritte der Kandidaten bei der Erfüllung Staaten, die prinzipiell gemäß Artikel 49 der Beitrittskriterien geknüpft ist, aber auch EUV einen Beitrittsantrag stellen können, weil einzelne Mitgliedstaaten in diesem SWP-Aktuell 23 März 2022 2
Kontext ihre bilateralen Konflikte mit Kriterien, siehe Artikel 2 EUV), die Einheit- Aspiranten austragen und mit einem Veto lichkeit des Rechtsraums und die Funktions- Prozesse abbremsen. Die Ukraine bekäme und Leistungsfähigkeit der EU (wirtschaft- aus Sicht Brüssels mit einer Beitrittsperspek- liche und Acquis-Kriterien). Die traditionel- tive oder gar dem Kandidatenstatus durch- len Stellschrauben in Form zeitlich befriste- aus einen exzeptionell schnellen Einstieg. ter Übergangsregelungen würden angesichts Wie zügig es dann weitergeht, ist allein der fundamentalen Rückstände, die die für die EU-Seite schwer auszumachen. Die Ukraine gegenüber dem Acquis aufweist, Grundregel der Beitrittskonferenzen von nicht ausreichen, um eine überstürzte Auf- ihrer Eröffnung bis zu ihrem Abschluss ist nahme des Landes abzufedern. die Einstimmigkeit. Im gesamten Verlauf Die Ukraine der Vorkriegszeit hätte die gibt es für die 27 Regierungen viele indivi- politischen Kriterien sicher nicht erfüllt. duelle Veto- und Interventionsmöglich- Andererseits hat die EU auch schon bei keiten. der Aufnahme von Verhandlungen mit der Bei entsprechend starkem politischem Türkei Abstriche bei den politischen Krite- Willen aller 27 Mitgliedstaaten könnte die rien gemacht. Ihr Vertrauensvorschuss auf EU mit der Regierung Selenskyj im Prinzip den Willen und die Fähigkeit Ankaras zur sogar kurzfristig Verhandlungen symbo- Reform wurde jedoch nach kurzer Zeit ent- lisch eröffnen, um ein Signal der Zusam- täuscht. Der zentrale Handlungsstrang wird mengehörigkeit und Unterstützung an die der konkrete Heranführungsprozess der Bevölkerung der Ukraine zu senden. Zu- Ukraine an den EU-Acquis sein. Hier kann gleich wäre das die Ansage an den russi- die EU bewährte und neue Instrumente zur schen Aggressor, dass die EU die Ukraine Unterstützung, zum Monitoring und zur aus der gefährlichen Zwischenlage erlösen Verzahnung mit den wirtschaftlichen und und fest in den euroatlantischen Strukturen politischen Wiederaufbau- und Reform- verankern will. Die anvisierte Mitglied- programmen einsetzen. Die sicherheitspoli- schaft der Ukraine wäre dann Ausdruck der tische Kooperation dürfte künftig und im sich abzeichnenden Blockbildung. Unterschied zur traditionellen Erweiterungs- Vom Beitrittsgesuch bis zum Beitritt sind politik wesentlich mehr Raum einnehmen, bei Ländern mit erheblichem Rückstand insofern die Nachkriegsukraine ein Land zum Acquis und gravierenden Governance- mit einer permanenten politischen und Defiziten leicht zehn bis zwanzig Jahre zu auch physischen Konfliktlinie gegenüber veranschlagen. Nur die neuen Bundesländer Russland, ungefestigten Außengrenzen und konnten durch ihre Eingliederung in das einem fragilem Frieden in einer unruhigen Geltungsgebiet des Grundgesetzes ohne Nachbarschaft sein wird. Die Beitritts- Verzug und ohne Verhandlungen den Euro- gespräche sind der Handlungsstrang, auf päischen Gemeinschaften »beitreten«. den zwar die politische Öffentlichkeit blickt, Konditionalität: Das Gebot der strikten aber er reflektiert vor allem die Fortschritte Einhaltung der Beitrittskriterien wurde und Probleme im Heranführungsprozess. durch die Neuerungen in der Methodologie Kommunikation: Die EU könnte eine wie des Beitrittsprozesses, die Frankreich 2019 auch immer gestaltete besondere Prozedur angestoßen hat, noch schärfer gefasst. Auch für die Ukraine als eine außerordentliche im Fall der Ukraine und trotz der vielfälti- Notaufnahme begründen und müsste sie gen Formen der differenzierten Integration als solche kommunizieren. hat die EU nur wenig Spielraum, um die Eine Notaufnahme europäischer Staaten politischen und wirtschaftlichen Anforde- wurde in der EU bereits in den 1990er Jah- rungen abzusenken oder die Rechte und ren unmittelbar nach dem Fall des Eisernen Pflichten der Übernahme des Primär- und Vorhangs diskutiert. Auslöser dafür waren Sekundärrechts im neuen Mitgliedsland nur die prekären inneren Entwicklungen in selektiv handzuhaben. Denn vorrangig sind Ländern Ostmittel- und Südosteuropas und der Schutz der Werte der Union (politische die Hoffnung, durch einen solchen Schritt SWP-Aktuell 23 März 2022 3
eine gefährliche Abkehr vom Demokratisie- Moment die Sympathie für die Ukraine sehr rungspfad verhindern zu können oder aber groß ist und die augenblicklichen Umstände einen Ausweg aus den kriegerischen Aus- besondere Maßnahmen akzeptabel machen, einandersetzungen im zerfallenden Jugo- würde die Eröffnung einer Beitrittsperspek- slawien zu eröffnen. tive für Kiew eine Revision von Eckpunkten Der russische Angriffskrieg auf die der Erweiterungspolitik bedeuten, die nach- Ukraine ist wie 1989/90 eine Zäsur und haltige Folgen für die EU-27 haben wird. Zeitenwende. Damals legten die KSZE-Staa- Die EU könnte deshalb zu der Einschät- ten mit viel Zuversicht die Grundlagen für zung gelangen, dass es geboten ist, im Rah- eine gesamteuropäische Architektur der men der europäischen Verträge einen neuen Demokratie, des Friedens und der Einheit Status der Teil- oder Juniormitgliedschaft zu (Charta von Paris für ein neues Europa). definieren oder aber unterhalb der Schwelle Die von den europäischen Gemeinschaften zur Mitgliedschaft mit und für assoziierte geschaffene Teilordnung im Westen des Drittstaaten einen neuen Europäischen Kontinents stellte dabei das politische Politik- und Wirtschaftsraum mit starker Gravitationszentrum dar. Im Unterschied sicherheitspolitischer Komponente zu schaf- dazu bricht 2022 eine Zeit an, die von Geo- fen. Dieser kann eine Vorstufe oder dauer- politik und Gegenmachtbildung geprägt hafte Alternative zur Vollmitgliedschaft und vom Interaktionsmodus der Eindäm- sein. Bei dem Konstrukt, das zu entwickeln mung und Konfrontation zwischen Russ- wäre, handelte es sich also eher um eine land einerseits und der EU und den an ihr intensivierte ÖP, die institutionell enger orientierten Ländern andererseits bestimmt mit der EU verschränkt wäre, als um eine sein wird. Eingedenk dessen ist die Not der defekte EU-Mitgliedschaft. Ukrainer heute größer, als es die der Länder Ostmitteleuropas in den neunziger Jahren war, so dass eine Notaufnahme-Strategie Sicherheits- und integrations- prima facie plausibel erscheint. politische Aspekte Um es kurz zusammenzufassen: Die EU- Mitgliedstaaten sind frei, der Ukraine eine Wenn sie der Ukraine eine Beitrittsperspek- Beitrittsperspektive zu geben, sie als Bei- tive eröffnete, wäre dies für die EU ein sehr trittskandidat anzuerkennen und sogar, weitreichendes Versprechen. Es einzulösen wenn auch nur symbolisch, Beitrittsverhand- bedürfte einer umsichtigen Strategie, die lungen zu eröffnen. Sie würden damit ihre außen- und sicherheitspolitische sowie Solidarität mit dem ukrainischen Kampf integrationspolitische Dimensionen zu be- um Souveränität und Demokratie ausdrü- rücksichtigen hätte. Diese sollen hier nur cken und sich politisch verpflichten, die angerissen werden: Ukraine aufzunehmen, wenn sie die Bedin- EU und Nato: Die EU müsste zügig klären, gungen erfüllt. Der Hauptunterschied zur wie eine Erweiterungsstrategie gegenüber Ukraine-Politik der Vorkriegszeit wäre also, ÖP-Ländern im Verhältnis zur Nato und dass es nicht mehr die Frage ist, ob, sondern deren Politik der offenen Tür steht. Immer- wann die Ukraine der EU beitreten wird. hin hält die Allianz offiziell an dieser Poli- Mit diesen Entscheidungen würden aller- tik fest, die ja von EU-Staaten, die zugleich dings die beiden anderen »K«, Konsolidie- Bündnismitglieder sind, mitgetragen wird. rung und Konditionalität, hintangestellt bzw. Die Beitritte der EFTA-Staaten 1995 und ausgehöhlt. Das Bemühen der EU, die Glaub- der Mittelmeerländer Zypern und Malta würdigkeit ihrer Erweiterungspolitik, die 2004 waren die letzten Erweiterungsrunden, im Falle des Westbalkans erheblich gelitten bei denen nicht-paktgebundene Staaten hat, wieder zu stärken, wird bei einer Aus- aufgenommen worden sind. Seit dem rus- dehnung des Aufnahmekreises auf die Län- sischen Angriff auf die Ukraine erwägen der der Östlichen Partnerschaft einem noch auch Schweden und Finnland einen Nato- größeren Test ausgesetzt. Auch wenn im Beitritt konkreter denn je. Nur Irland, Öster- SWP-Aktuell 23 März 2022 4
reich, Malta und Zypern blieben dann bünd- europäischen Pfeiler der Nato bilden; bes- nisfreie EU-Mitglieder. Das heißt, in der tenfalls wäre auch das Vereinigte König- Regel geht die Mitgliedschaft in der Nato reich mit dabei, immerhin eine der Garan- der in der EU voran, was zum Beispiel mit tiemächte des Budapester Memorandums Ausnahme Serbiens auch bei den Kandida- von 1994. Das Themenspektrum könnte ten des Westlichen Balkans der Fall ist. Sollte alle Fragen der Verteidigung inklusive nun im Falle der Ukraine die Zugehörigkeit Cyberbedrohungen und Schutz kritischer zur EU vorangehen oder gar ein Eintritt in Infrastruktur einschließen; vor allem aber die Nato faktisch ausgeschlossen bleiben, müsste die neue Organisation die Frage von dann hieße das für die Union, dass sie ein Sicherheitsgarantien für die Ukraine behan- geopolitisch extrem exponiertes Land in deln und die langanhaltenden Konflikte in prekärer Sicherheitslage aufnehmen würde. den Sezessionsgebieten und De-facto-Staa- Auch für ein Mitglied Ukraine müsste die ten des Assoziierten Trios bearbeiten. Die EU nach dem Beistandsartikel 42 (7) EUV EU müsste diese euroatlantische Ausgrün- Hilfe und Unterstützung leisten, was sie dung verbinden mit anderen Kooperations- selbst dann, wenn sie über robustere eigene und Integrationsformaten, insbesondere Fähigkeiten verfügen sollte, ohne Nato- mit der Energieunion, und die Initiative Absicherung im Fall eines bewaffneten An- verknüpfen mit den politischen und wirt- griffs nicht leisten könnte. Perspektivisch schaftlichen Maßnahmen zur Kräftigung müsste die Hilfe und Unterstützung der der Resilienz der ÖP-Länder. Diese neue Mitgliedstaaten füreinander stärker mili- Organisation wäre eine sicherheitspoli- tärisch und sicherheitspolitisch gedacht tische Flankierung der EU-Erweiterung und werden, als es der derzeitige Wortlaut des könnte eine Vorstufe für die Nato-Mitglied- Artikels hergibt. Die Nato und die EU soll- schaft von ÖP-Staaten sein. ten auch ungeachtet von Mitgliedschafts- Wie groß wäre der Kreis der neuen Kan- fragen ihre Zusammenarbeit mit ÖP-Län- didaten zu ziehen? Würde das politische dern im Bereich der Sicherheit und der Signal der Beitrittsperspektive nur an die Verteidigung eng abstimmen. In den Jugo- Ukraine oder insgesamt an das Assoziierte slawien-Kriegen der 1990er Jahre hat die Trio oder noch darüber hinaus gehen? Diese inzwischen aufgelöste Westeuropäische Frage und vor allem das Problem der Nato- Union (WEU) als eine der EU unterstellte Mitgliedschaft machen deutlich, dass die Organisation für bündnisfreie ostmittel- Erweiterungsstrategie transatlantisch und europäische Länder einen neuen Status als sicherheitspolitisch eingebettet werden assoziierte Partner geschaffen. Das hieß muss. Denn sie müsste in einem feindlichen zwar nicht, dass die WEU sich ihnen gegen- Umfeld umgesetzt werden, auf das die EU über – wie für ihre Mitglieder, die sämtlich in ihren anvisierten neuen Grenzen direkt der Nato und der EG/EU angehörten – zum stoßen würde. Beistand verpflichtete. Aber die assoziierten Aufnahmefähigkeit der EU: Eine Aufnahme Partnerstaaten waren damit regelmäßig der Ukraine in den Kreis der Beitrittskandi- in ein Sicherheitsbündnis einbezogen, das daten hätte erhebliche Auswirkungen auf unter anderem der Konsultation und Ver- die mittelfristige Entwicklung der EU. Selbst teidigungsplanung diente. Zudem gab es in wenn man die Erweiterung primär als Form des Eurocorps eine Brigade, die unter Instrument der Außenpolitik versteht, eine doppeltem Kommando der EU und der Nato Sichtweise, die im Fall der Ukraine domi- stand und zum Beispiel an der Stabilisation nieren dürfte, dann führt doch kein Weg Force (SFOR) in Bosnien beteiligt war. daran vorbei, die Folgen für das Regierungs- Es wäre zu überlegen, ob EU und Nato system EU und einzelne Politikfelder in die gemeinsam eine Organisation für die sicher- Betrachtung einzubeziehen. In den Jahren heitspolitische Kooperation mit den ÖP-Län- der Polykrise hatte die EU bereits mit zen- dern ins Leben rufen. Kerngruppe dieser trifugalen Tendenzen unterschiedlicher Art Ausgründung wären die Länder, die den zu kämpfen. Sie zeigt bei den Prozessen der SWP-Aktuell 23 März 2022 5
Politikformulierung und Entscheidungs- Umgang mit dem findung deutlich Symptome einer Über- Aufnahmeantrag dehnung, deren Ursache nicht nur die schiere Zahl der Mitglieder, sondern auch Die Kommission und der Rat werden das die Heterogenität ihrer Präferenzen und Beitrittsgesuch aus Kiew nicht einfach Ausgangssituationen ist. Diese Zeichen liegen lassen. Die EU wird sich aber wohl der Überlastung können durch die Formen nicht die Zeit nehmen, um ihre Antwort in der differenzierten Integration und den einem internen Klärungsprozess sorgfältig Übergang zu Mehrheitsentscheidungen vorzubereiten und verschiedene Gesichts- höchstens abgeschwächt werden. Jede Er- punkte abzuwägen. EU-Ratspräsident Michel weiterung, zumal um nicht konsolidierte hat schon auf die Differenzen unter den Demokratien mit schwachen Ökonomien, Mitgliedstaaten in dieser Frage hingewie- vergrößert den Problem- und Reformdruck sen. Die Kommissionspräsidentin mahnt der EU. Die Kapazitäten zur Lösung schwie- eine »Stunde der Wahrheit für Europa« an. riger Aufgaben, von Krisen und beim Um- Die EU hat mindestens zwei miteinander gang mit Zielkonflikten und Prioritäten in kombinierbare Möglichkeiten, mit dem Auf- der 27er Gemeinschaft wachsen nicht ent- nahmeantrag umzugehen: Erstens könnte sprechend mit. Viel spricht deshalb dafür, der Europäische Rat der Ukraine auf Emp- dass die EU nur dann weitere Länder auf- fehlung der Kommission den Kandidaten- nehmen sollte, wenn sie zuvor ihre Institu- status quasi freihändig und ohne geschäfts- tionen und Entscheidungsverfahren refor- mäßigen Vorlauf verleihen. Das bliebe bis miert hat. Mit den bestehenden und neuen auf weiteres ein rein symbolischer Akt, mit Zusicherungen an zehn Länder beschwört dem die EU vorübergehend moralische die EU ein Szenario herauf, das ihre Auf- Reputation gewinnen kann. Er könnte der nahmefähigkeit – auch auf die beiden Ukraine Mut machen und den Rücken stär- nächsten Dekaden hin betrachtet – weit ken, sollte es zu echten Waffenstillstands- übersteigt: Ein Beitritt der Ukraine (rund 44 und Friedensverhandlungen mit Russland Millionen Einwohner) und der nicht völlig kommen. auszuschließende der Türkei (rund 84 Mil- Mit diesem Schritt würde die EU wohl lionen Einwohner) würde zudem den geo- nicht nur die Ukraine, sondern das Asso- graphischen Schwerpunkt der EU an ihre ziierte Trio auf das Gleis von sehr langen heutige Peripherie verlagern. Das Kerneu- Beitrittsverhandlungen setzen. Georgien ropa um Frankreich, Deutschland und die und Moldau sind bereits auf den Zug auf- Gründerstaaten könnte eine solcherart über- gesprungen und haben Anfang März gleich- dehnte Union wohl immer weniger zusam- falls Anträge gestellt, ein Akt, von dem die menhalten. Es träten Länder einer womög- EU zuvor oftmals abgeraten hatte, da er zu lich noch stärker als heute integrierten EU früh komme und eine Antwort wohl nega- bei, die ein ungebrochenes Selbstverständ- tiv ausfallen würde. Die Kandidatenländer nis von nationaler Souveränität im Sinne des Westbalkans werden voraussichtlich des 19. Jahrhunderts mitbringen und sich – ebenso den Druck auf die EU dahingehend polemisch zugespitzt – von Brüssel so be- erhöhen, die laufenden bzw. stockenden herrscht sähen wie weiland von Moskau. Verhandlungen zügig abzuschließen. Für die Aufnahme von Ländern der ÖP Beim informellen Gipfel in Versailles An- ist die EU heute und auf absehbare Zeit fang März 2022 einigten sich die 27 Staats- nicht reif. Um tatsächlich effektiv die Gren- und Regierungschefs auf die zweite Option: zen zu Russland sichern zu können, müsste Sie würdigten den Antrag Kiews diplo- sie ihre militärischen Fähigkeiten im Rah- matisch (Anerkennung der »europäischen men der Gemeinsamen Sicherheits- und Bestrebungen« und der »Entscheidung [der Verteidigungspolitik (GSVP) wesentlich Ukraine] für Europa«). Sie verweisen darauf, erweitern und die Zusammenarbeit mit dass der Rat schon rasch gehandelt und die der Nato ausbauen. Kommission um Stellungnahme gebeten SWP-Aktuell 23 März 2022 6
hat. Damit kommt das übliche Verfahren »rhetorical entrapment«), wenn sie sich die nach Artikel 49 EUV in Gang. Zudem wer- moralische Argumentation von Präsident den die 27 nationalen Parlamente und das Selenskyj zu eigen macht. Dieser forderte Europäische Parlament über den Antrag vor den EU-Staats- und Regierungschefs informiert. Aber eine Antwort auf das Ge- und den Europaabgeordneten eine Beitritts- such wird faktisch bis zum Ende der Kampf- perspektive für sein Land. Mit einer solchen handlungen in der Ukraine vertagt. Denn Zusage könnten sich die Entscheidungs- eine eingehende Prüfung des Antrags durch träger als Europäer beweisen und zeigen, die Kommission, bei der es ja im Wesent- dass sie auf der Seite der Ukraine stehen, die lichen um die Frage geht, wie die aktuelle für ihre Rechte, ihre Freiheit und ihr Leben Beitrittsreife eines Landes im Lichte der kämpfe und darum, gleichberechtigtes Mit- Kopenhagener Kriterien einzuschätzen ist glied Europas zu werden. Er appelliert da- (»Screening«), kann angesichts des Krieges mit an die normativen Grundlagen der EU als und seiner Folgen gar nicht in sinnvoller Friedensgemeinschaft und setzt die Union so Weise stattfinden. Deshalb kündigen die 27 moralisch unter Druck. Weil die Ukraine das auch an, die Beziehungen zur Ukraine zu Opfer des russischen Angriffskriegs ist und vertiefen, bis die Stellungnahme der Kom- in ihrer Gegenwehr jene Werte verteidigt, mission vorliegt. Bezugspunkt bleibt das auf die die EU, aber auch die Nato gründen, Assoziierungsabkommen. Ferner hat der »verdiene« sie (so der polnische und der Rat die Kommission geschäftsmäßig um litauische Präsident in Kiew am 23. Februar Stellungnahme zu den Anträgen Moldaus 2022) den Kandidatenstatus. Je stärker und Georgiens gebeten. Mit Blick auf die sich die EU auf die Argumentation einlässt, Ukraine versichern die 27, dass sie »Teil desto schwieriger wird es, dieser andere unserer europäischen Familie« ist. Ins- Gesichtspunkte und Interessen (Aufnahme- gesamt werden damit Formeln gewählt, die fähigkeit, Sicherheit der EU) entgegenzuset- die hochfliegenden Erwartungen all jener zen und auf die technokratische Logik der beitrittsaffinen Kräfte dämpfen, zu denen Beitrittsverhandlungen zu verweisen. nicht nur die Ukraine selbst gehört, son- dern auch diejenigen EU-Länder, die jetzt offensiv für einen Kandidatenstatus der Perspektiven: Ukraine werben (z. B. Estland). Diese haben Ambivalenzen bleiben sicher die Solidarität mit der Ukraine im Sinn. Aber zumindest Polen und auch das Die EU hat die geopolitischen Implikationen in Sachen Ukraine verhaltener auftretende der Erweiterung wie auch der ÖP lange Ungarn könnten das Momentum der Ver- unterschätzt oder falsch eingeschätzt. Das sicherheitlichung, von dem die EU nun zeigte sich 2013, als die russische Interven- ergriffen worden ist, auch dazu nutzen, um tion gegen das Assoziierungsabkommen den Konflikt mit Brüssel über Rechtsstaat- Kiews mit der EU verhindern sollte, dass die lichkeit und Demokratie als irrelevant von Ukraine in Richtung der Ordnungsvorstel- der Tagesordnung zu drängen. lungen des Westens und seiner Organisatio- Die EU sollte sich auch angesichts der nen abbiegt. Die EU hatte/hat ihren öst- Weichenstellung von Versailles fragen, wie lichen Nachbarn mit der ÖP durchaus ein tragfähig eine Beitrittsperspektive für die weitgehendes Assoziierungsangebot ge- Ukraine ist, wenn ihr eine kühle Kosten- macht, das aber nur in einem kooperativen Nutzen-Kalkulation einzelner Mitglied- Umfeld, sprich, mit einem nicht revisionis- staaten gegenübergestellt wird und die jetzt tischen Russland Entwicklungsmöglich- noch unabsehbaren geopolitischen Effekte keiten bis hin zur Mitgliedschaft bot. Letz- eingerechnet werden. Wie bei der Ost- tere ist ja von der EU zu keinem Zeitpunkt erweiterung von 2004 läuft die EU Gefahr, ausgeschlossen worden. sich in ihrer eigenen politischen Rhetorik Mit dem Krieg in der Ukraine wird, wenn zu verstricken (Frank Schimmelfennigs sich die EU auf die geopolitische Logik ein- SWP-Aktuell 23 März 2022 7
lässt, die Epoche der inkrementellen EU- Osterweiterung enden. Mit dem Ende des Kalten Krieges 1989/90 öffnete sich un- verhofft das Gelegenheitsfenster, mit der Aufnahme mittel- und osteuropäischer Nachbarstaaten in die EU die Friedenszone in Europa auszudehnen. Die Rahmen- bedingungen für Kooperation und Integra- tion in Europa waren günstig, und es gab eine berechtige Hoffnung auf konvergie- © Stiftun g Wissenschaft rende Ordnungsvorstellungen unter den und Politik, 2022 KSZE-Staaten. Alle Rechte vorbehalten Es spricht viel dafür, dass die EU ihre Erweiterungspolitik unter den Bedingungen Das Aktuell gibt die Auf- der neuen Blockbildung in Europa mit fassung der Autorin wieder. dem Ziel einer Konsolidierung der Beitritts- In der Online-Version dieser versprechen weiterführt. Eine Notaufnah- Publikation sind Verweise me ist höchst unwahrscheinlich; ein regu- auf SWP-Schriften und lärer Beitritt liegt in sehr weiter Ferne. wichtige Quellen anklickbar. Deshalb sollte die EU (zumindest) mit Blick SWP-Aktuells werden intern auf die ÖP-Länder Integrations- und Koope- einem Begutachtungsverfah- rationsarrangements unterhalb der EU- ren, einem Faktencheck und Mitgliedschaft – wie oben skizziert – ent- einem Lektorat unterzogen. wickeln und ihre eigene Handlungsfähig- Weitere Informationen keit auf allen Feldern verbessern, um ihre zur Qualitätssicherung der Werte und Interessen selbst behaupten zu SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https://www. können. Insofern werden Ambivalenzen swp-berlin.org/ueber-uns/ im Hinblick auf die Ukraine und andere qualitaetssicherung/ Länder der ÖP noch bestehen bleiben. So- lange Russland eine aggressive und impe- SWP riale Politik gegenüber seinen Nachbar- Stiftung Wissenschaft und Politik ländern betreibt, muss die EU, zusammen Deutsches Institut für mit den USA, dem mit allen Mitteln und Internationale Politik und auf längere Sicht entgegenwirken. Sicherheit Nichts schweißt so zusammen wie ein gemeinsamer Gegner. Der von Putin ini- Ludwigkirchplatz 3–4 tiierte Krieg gegen die Ukraine könnte 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 bewirken, dass die äußere Bedrohung die Fax +49 30 880 07-100 27 zu einer nie dagewesenen politischen www.swp-berlin.org Geschlossenheit und Konsequenz im Han- swp@swp-berlin.org deln zusammenführt. Die EU hat in ihrer Reaktion auf den Überfall der Ukraine ge- ISSN (Print) 1611-6364 ISSN (Online) 2747-5018 zeigt, dass sie in dieser Ausnahmesituation doi: 10.18449/2022A23 zu gemeinschaftlicher Machtprojektion in der Lage ist. Die Basis dafür ist ihre Wirt- schafts- und Finanzmacht sowie eine supra- nationale Exekutive, die es zu vertiefen bzw. zu sichern gilt. Dr. Barbara Lippert ist die Forschungsdirektorin der SWP und Mitglied der Institutsleitung. SWP-Aktuell 23 März 2022 8
Sie können auch lesen