DENKEN GLAUBEN www.khg - graz.at - Nachhaltig in Graz

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DENKEN GLAUBEN
   Nr. 195 Frühjahr | Sommer 2020
   Zeitschrift der Katholischen Hochschulgemeinde für die Grazer Universitäten und Hochschulen                 www.khg - graz.at

Techno-
Biotope
Katholische Hochschulgemeinde Graz                                                               Denken + Glauben – Nr.195 – Frühjahr | Sommer 2020   1
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Breathe Earth Collective, Klima-Kultur-Pavillon (Systemschnitt), 2020. © Breathe Earth Collective

    Klima-Kulturwandel
    Steigende Durchschnittstemperaturen führen immer häufiger zur Überhitzung von Stadträumen während des Sommers. Für die Zukunft von Städten
    wie Graz spielen Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel eine entscheidende Rolle. Der „Klima-Kultur-Pavillon“ des Breathe Earth Collective
    ist eine Installation am Grazer Freiheitsplatz im Rahmen von „Graz / Unser Kulturjahr 2020“ im öffentlichen Raum, die zukünftige Modelle der
    Stadtkühlung präsentiert.
    In der Langen Nacht der Kirchen am 5. Juni ist die KHG zu Gast im „Klima-Kultur-Pavillon“: Vertreter/innen des Breathe Earth Collective, der
    Treeworker Alexander Spitz, die diözesane Umweltbeauftragte Hemma Opis-Pieber und KHG-Bildungsreferent Florian Traussnig werden darüber
    diskutieren, wie ein Klima-Kulturwandel gelingen und wie man die diskursive mit der praktischen Ebene zusammen führen kann.
    Im Herbst bespielt Markus Jeschaunig vom Breathe Earth Collective mit einer Video-Installation die QL-Galerie.

2       Denken + Glauben – Nr.195 – Frühjahr | Sommer 2020
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Editorial
                                                                                                 „Unser Raumschiff ist die Erde.“
                                                                                                     Richard Buckminster Fuller

                                                             Es ist einer der besonders kostbaren Nachdenk-Orte für mich,
                                                             an den ich im Zweijahresrhythmus der Kunstbiennale von Vene-
                                                             dig immer wieder gerne und voller Erwartung zurückkehre: die
                                                             sinnlich-ästhetischen Gaggiandre, die Trockendocks im Bereich
                                                             des Arsenale außerhalb des historischen Stadtzentrums der Lagu-
                                     nenstadt. Sie sind Teil einer der größten und architektonisch beeindruckendsten vorin-
                                     dustriellen Produktions- und Reparaturstätten, die längst ihre ursprüngliche Aufgabe
Techno-Biotope                       verloren und sich in einen Präsentationsort für zeitgenössische Kunst verwandelt haben.
                                     Im vergangenen Jahr hat dort der argentinische Künstler Tomás Saraceno mit einer
Gegenseitigkeiten                    raumgreifenden Installation auf die nach Entwürfen des Architekten Jacopo Sansovino
Türkis-Grün regiert Österreich ...   im 16. Jahrhundert errichteten Werften reagiert. Während in einem Teil der direkt am
Von Marie-Theres Zirm (2)            Wasser gelegenen Anlage immer wieder die für Venedig spezifischen Warntöne erklan-
Von Agnes Hobiger (3)                gen, an denen Kundige den Stand der Wasserhöhe erkennen können, konnte man in
                                     einem anderen Teil auf eigens errichteten Stegen ans Ende der überdachten Wasserflä-
Das Coming of Age
                                     che gehen. Dort schwebten in luftiger Höhe an Wolkenformationen erinnernde geo-
des Zauberlehrlings (4)
                                     metrische Formen. Sie waren Teil des utopischen Kunstwerks „Aeroscene“ (siehe Abb.
Von Thomas Gremsl
                                     auf S. 17 in diesem Heft). Dieses interdisziplinäre Projekt propagiert nach dem Ende
Mangel provoziert Kreativität (8)    des Anthropozäns eine neue Phase globaler Entwicklungen und erforscht alternative
Florian Traussnig im Gespräch mit    Lebensräume und Transportmittel in der Luft, die ohne schädliche Emissionen und
dem Theologen András Máté-Tóth       fossile Energiegewinnung auskommen. Die Biennale war noch nicht geschlossen, als
                                     über die Lagunenstadt nach furchtbaren Unwettern eine der verheerendsten Hochwas-
Ein schönes Märchen (11)
                                     serüberflutungen ihrer Geschichte hereinbrach – eine unbarmherzige Erinnerung an die
Von Anja Höfner
                                     Auswirkungen der Erderwärmung und die Versäumnisse im Blick auf die Eindämmung
Ach, du analoges Gestern (14)        des überbordenden Kreuzfahrttourismus.
Von Franzobel                        „Dreamscanner“, Werner Schimpls Coverbild für diese Ausgabe von Denken+Glauben,
Eine Frage der Lebenskunst (16)
                                     bildet ein anderes Spektrum der Reaktion auf neue technische und digitale Möglichkei-
Von Hans-Walter Ruckenbauer
                                     ten ab. Egal, ob es real möglich ist oder nicht, ein wohliges Gefühl erzeugt die Vorstel-
                                     lung, dass man mit technischen Geräten persönliche Traumbilder scannen könnte, wohl
Gegen den Egoismus                   bei den wenigsten Menschen. Ob wir wie die Generation der Digital Natives ganz selbst-
in unserer Welt (19)                 verständlich die sich rasant entwickelnden Möglichkeiten im digitalen Bereich nutzen
Alois Kölbl im Gespräch mit dem      oder nicht – entkommen kann ihnen in unserer globalisierten Welt niemand. Das macht
Künstler Erwin Lackner               auch Angst. Und so pendelt der öffentliche Diskurs zwischen dystopischer Technolo-
„Ich tu es einfach“ (22)             giefurcht und utopischer Begeisterung für neue Entwicklungen und Möglichkeiten.
Von Florian Traussnig                Die Einschränkung des Gebrauches digitaler Medien und Technologie als persönlicher
                                     Vorsatz für die Fastenzeit macht Sinn in unserer reizüberfluteten Zeit. Ebenso gilt es,
So normal wie der Kühlschrank (24)
                                     kreative Denkprozesse über deren Einsatzmöglichkeit für einen verantwortungsvollen
Von Maria Riegelnegg
                                     Umgang mit unserem Ökosystem anzustoßen. Über beides will diese Ausgabe unserer
Einwürfe (26)                        Zeitschrift, die wir mit der durchgehenden farbigen Bebilderung einem sanften Relaunch
Von Ursula Fatima Kowanda-Yassin     unterzogen haben, nachdenken und in beide Richtungen Beiträge leisten.
                                     Ich wünsche eine anregende Lektüre und eine gesegnete Fastenzeit, in der der eine oder
Bin das ich? (27)
                                     andere Vorsatz gelingen und kreativer sowie spiritueller Freiraum entstehen möge.
Von Harald Koberg

khg community (28)                   Alois Kölbl, Hochschulseelsorger

                                                                                    Denken + Glauben – Nr.195 – Frühjahr | Sommer 2020   1
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Gegenseitigkeiten
     Türkis-Grün regiert Österreich –
     Finden Wirtschaft und Umweltschutz am Ende doch zusammen?
     Von Marie-Theres Zirm

    Inwiefern die österreichische Bundesregierung im Farbenspiel
    von Türkis und Grün Umweltschutz und Wirtschaft zusam-
    menbringen kann, wird die Zukunft zeigen. Das ist also mal
    unklar. Die Farbwahl könnte aber ein gutes Omen sein.               immer mehr Unternehmen, die diese Herausforderung anneh-
    Doch dazu später.                                                   men und Maßnahmen setzen, beides zu verbinden. Einige
    Die Klimapolitik liegt nun politisch in grünen Händen. Die          von ihnen erstellen eine Gemeinwohl-Bilanz. Das führt mich
    Verantwortungsbereiche Landwirtschaft, Wirtschaft und Bil-          zurück auf Türkis-Grün: Die heuer ihr 10jähriges Jubiläum fei-
    dung sind nach wie vor in türkiser Hand. Da stellt sich mir die     ernde Gemeinwohl-Ökonomie trägt in ihrem Logo die Farben
    Frage, wie Klimapolitik grundlegend neu gestaltet werden kann,      Grün und Türkis.
    wenn genau diese drei Bereiche ein so hohes Potential für Verän-    Sie begeistert Unternehmen dafür, sich mit ethischem Wirt-
    derung hätten, aber die grünen Hände hier nicht so weit reichen?    schaften zu beschäftigen: Werte wie Transparenz und Mit-
    Wie groß ist das türkise Interesse für wirkliche Veränderung?       entscheidung, Ökologische Nachhaltigkeit, Solidarität und
    Das wird sich erst zeigen.                                          Gerechtigkeit sowie Menschenwürde gilt es in Bezug auf die
    Das große Ganze erlebe ich politisch stark verflochten. So          Berührungsgruppen der Lieferant/innen, Kooperationspartner/
    viele Interessen treffen aufeinander und so wenig gemeinsames       innen, Mitarbeitenden, Kundschaft, Eigentümer/innen und
    Anliegen ist spürbar – egal in welchem Farbenspiel. Wandern         gesellschaftliches Umfeld zu reflektieren.
    Geld und Macht nicht doch immer wieder von einer Tasche             Ich möchte gerne selber tätig werden und die oben eingeforder-
    in die andere? Und sind die Träger/innen dieser Taschen nicht       ten Werte in meinem konkreten Umfeld „auf den Boden brin-
    immer dieselben? In den Gemeinden, in denen die Auswirkun-          gen“. Daher hat mein Unternehmen eine Gemeinwohl-Bilanz
    gen von Entscheidungen noch viel näher erlebbar sind als auf        erstellt, wir sind Teil der netzwerkartig organisierten Weizer
    der Bundesebene, sind Macht und Beziehungen häufig stärker          Solidarregion, engagieren uns im örtlichen Weltladen, sind in
    als Verstand, Herz und Anstand. Ja ich weiß, Anstand ist ein        Kooperationsnetzwerken aktiv und haben die Initiative bil-
    altes Wort aus dem Bereich der Ethik und Moral, aber es ist für     dungweiz mitbegründet. Ich bin überzeugt, dass Veränderung
    mich aktueller denn je.                                             das Zusammenspiel aller Bereiche braucht: (Land-)Wirtschaft,
    Zurück zur Ausgangsfrage dieses Textes: Für mich sind klimapo-      Bildung, Menschenrechte, Gemeinwohl. Die Beschäftigung mit
    litische Veränderungen dringend notwendig, an der Klimakrise        der innovativen Weiterentwicklung von Wirtschaftsmodellen
    zweifle ich nicht. Wirtschaft neu zu denken hingegen scheint viel   verstehe ich als Basis dafür, auch morgen noch wirtschaftlich
    schwieriger zu sein. Zu lange wurde uns allen Wettbewerb, Kon-      tätig sein zu können – egal in welcher Farbe.
    sum und grenzenloses Wachstum als unumgänglich eingeredet.
    Jetzt glauben wir das. Zumindest aufs Erste. Als Unternehme-
    rin stelle ich mir diese Frage auch. Wie kann ich wirtschaftlich
    tätig sein und meine Umwelt schützen? Vielleicht sollten wir die
                                                                                                   Marie-Theres Zirm,
    Frage nach dem Umweltschutz mutig um den Begriff Gemein-
                                                                        ist Unternehmensberaterin, Germanistin und
    wohl erweitern. Wie können Unternehmen, die wirtschaftlich             Frauenforscherin. Seit 2007 ist sie Inhabe-
    erfolgreich sind, zugleich oder gerade dadurch dem Gemeinwohl            rin von cardamom – Agentur zur Förde-
    dienen? Diese Leitfrage wirkt bei uns Wirtschaftstreibenden in        rung des guten Geschmacks. Sie lebt und
                                                                            denkt in Kooperationen und hat sich auf
    die Auswahl der Kundinnen und Kunden, Kaufentscheidungen,           die Begleitung von Veränderungsprozessen
    Themenfelder und Kooperationsformen hinein.                           spezialisiert. Als Wienerin lebt sie mit ihrer
                                                                          Familie seit 2013 in einem 11-Häuser-Dorf
    Dem Gemeinwohl zu dienen ist doch die ureigene Aufgabe der                in Weiz und versteht sich als Brücken-
    Bundesregierung, der Gemeindepolitik … – eigentlich. Es gibt                     bauerin und Potentialentfalterin.
                                                                                                                           Foto: foto-MAXL.at

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Gegenseitigkeiten
                                                            Türkis-Grün regiert Österreich –
                              Finden Wirtschaft und Umweltschutz am Ende doch zusammen?
                                                                       Von Agnes Hobiger

Die – sich regelmäßig in „Stockwerksküchen“ über den Weg
laufenden – Bewohner/innen in unserem Studierendenheim im
Quartier Leech reagieren aufeinander. Wenn jemand viel selbst
kocht, ist es für andere attraktiv, das auch mal auszuprobieren.
Wenn einer anfängt, vegetarisch zu essen, kommen die anderen
vielleicht auch auf die Idee, das mal zu versuchen. Wenn einer
regelmäßig zum Markt geht, hat das eine Vorbildwirkung. Es ist
deshalb gut, dass mit den Grünen jetzt ein Konzept wie Nach-
haltigkeit ernsthaft in die Regierungsarbeit einzieht. Ich hoffe
auch hier auf eine Art Vorbildwirkung.
Die Grünen in der Regierung werden zumindest dafür sorgen,           gegenüber islamischen Mitmenschen. Allerdings sieht es im
dass das Thema Klima auf der Tagesordnung bleibt und, nach           Moment nicht wirklich danach aus. Das Kopftuchverbot in den
dem Abflauen der ersten Euphorie der Fridays for Future, nicht       Schulen für Mädchen unter 14 Jahren wurde nicht als allgemei-
in der Versenkung verschwindet. Im Regierungsprogramm wird           nes Verbot des religiösen Schmucks oder bestimmter Bekleidun-
mit den Begriffen „Kostenwahrheit“ auf der einen und „Sozialer       gen ausgesprochen. Allein dadurch hätte man vielleicht gemerkt,
Ausgleich“ auf der anderen Seite eine ökosoziale Steuerreform        wie absurd die Debatte ist. Vielmehr richtet es sich explizit gegen
zumindest angedacht. Diese soll allerdings frühestens 2022 rea-      eine bestimmte Religion, den Islam beziehungsweise gegen ein
lisiert werden. Immerhin nehmen sie es sich für diese Legisla-       bestimmtes Symbol: das Kopftuch. Von einem feministischen
turperiode vor und nicht für die nächste. Andererseits hat der       Standpunkt aus verstehe ich, dass die Grünen bei dieser Erwei-
aktuelle Kanzler in den letzten drei Jahren in drei unterschied-     terung mitgemacht haben, aber ich kann nachvollziehen, dass
lichen Regierungen gearbeitet, möglicherweise geht man in der        Musliminnen dies als demütigende Einschränkung und Bevor-
türkisen ÖVP davon aus, dieses Versprechen ohnehin nicht             mundung des Staates empfinden müssen.
mehr einhalten zu müssen.                                            Es wird viele solche kleine Streitpunkte geben, die den Grünen
Der springende Punkt ist die Frage, wie sozial diese ökosoziale      Geduld und möglicherweise auch einiges von ihrer Glaubwür-
Steuerreform sein wird. Klimaschutz lässt sich, dank guter Argu-     digkeit abverlangen werden. Trotzdem freue ich mich über das
mente aus der Wissenschaft einerseits und einem wachsenden           Zustandekommen der Regierung, drücke den Grünen die Dau-
kritischen Markt andererseits, relativ gut mit der (Real-)Wirt-      men und kann nur hoffen, von den Türkisen positiv überrascht
schaft vereinbaren. Ob er sich jedoch auch mit einem globalen        zu werden. Give it a try!
und weitgehend enthemmten Finanzkapitalismus vereinbaren
lässt, mögen Berufenere als ich beurteilen. Ich glaube jedoch
nicht, dass sich engagierte Sozialpolitik mit unserer momenta-
nen Art des Wirtschaftens besonders gut vereinbaren lässt. Die
Grünen standen in den vergangenen Jahren zudem nicht nur für
aktive Klimapolitik, sondern auch für eine solche Sozialpolitik
und für eine andere Integrationspolitik. Ob sie es schaffen, auch
etwas von diesen Schwerpunkten und Werten in die neue Regie-
                                                                                                   Agnes Hobiger,
rung einzubringen bleibt fraglich.                                     geb. 1993 in Graz. Sie studiert an der Karl-
                                                                       Franzens-Universität Chemie und Deutsch
Worauf zu hoffen ist: Dass sich in einer türkis-grünen statt einer
                                                                     auf Lehramt. Von 2015 – 2018 Vorsitzende der
türkis-blauen Regierung der Ton ändert. Der Ton gegenüber             Katholischen Hochschuljugend Österreichs.
Geflüchteten, der Ton gegenüber Kulturschaffenden, der Ton                 Denken+Glauben-Redaktionsmitglied.
                                                                                                                                          Foto: privat

                                                                                               Denken + Glauben – Nr.195 – Frühjahr | Sommer 2020        3
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Das
    Coming of Age
    des Zauberlehrlings
     Klimakrise und digitale Transformation sind ohne emanzipatorische
     Bewusstseinsbildung nicht zu meistern
     Von Thomas Gremsl

     Hat der alte Hexenmeister
     sich doch einmal wegbegeben!
     Und nun sollen seine Geister
     auch nach meinem Willen leben.
     Seine Wort und Werke
     merkt ich und den Brauch,
     und mit Geistesstärke
     tu ich Wunder auch.

    Der Zauberlehrling zählt zu den bekanntesten Werken
    Johann Wolfgangs von Goethe. Viele von Ihnen, geschätzte
    Leserinnen und Leser, mussten sich wohl – so wie ich – mit
    besagtem Werk während der Schulzeit auseinandersetzen.
                                                                 Fähigkeiten zu verfügen und selbst Wunder wirken zu
    In meinem sechsten Schuljahr galt es, diese Ballade im
                                                                 können. Er sieht die Chance gekommen, ohne die Regu-
    Deutschunterricht auswendig zu lernen und danach vor
                                                                 lierungen seines Meisters agieren zu können und hat sich
    der gesamten Klasse zu rezitieren. Eine intensivere Befas-
                                                                 den notwendigen Zauberspruch gemerkt. So verzaubert
    sung mit dem Inhalt oder gar eine Interpretation des Auf-
                                                                 er schließlich ohne große Mühe einen Besen, der ihm
    gesagten gab es, soweit mich meine Erinnerungen nicht
                                                                 Untertan sein soll. Der Besen soll für ihn niedrige Dienste
    täuschen, keine. Immerhin sind mir einige Zeilen und der
                                                                 verrichten und Wasser für ein Bad holen. Eigentlich läuft
    Kontext des Werks nachhaltig in Erinnerung geblieben,
                                                                 alles nach Plan, der Besen eilt vom Fluss, einen Eimer nach
    ansonsten würde ich hier nicht davon schreiben. Aber Sie
                                                                 den nächsten holend, Richtung Badewanne und füllt diese
    fragen sich vermutlich – und dies auch völlig zurecht –,
                                                                 nach und nach auf – ein voller Erfolg. Nach kurzer Zeit hat
    was nun neuzeitliche Dichtkunst und ein Zauberlehrling
                                                                 der Besen genug Wasser geholt und der Aspirant will den
    mit einem Heft zu tun haben, welches den Titel Techno-
                                                                 Rückverwandlungszauber sprechen, doch welch Schreck –
    Biotope trägt. Bringen wir uns einfach nochmals kurz den
                                                                 diesen hat er schlichtweg vergessen. Unermüdlich bringt
    Inhalt zu Gemüte.
                                                                 der verzauberte Besen weiter Eimer um Eimer ins Schloss
    Der Lehrmeister ist ausgegangen und der Zauberlehrling       und flutet die vielen Zimmer. Erzürnt schreit der Lehrling
    nutzt die Gunst der Stunde, alleine zu sein. Trotz relati-   das von ihm Geschaffene an, doch der Besen hört nicht
    ver Unerfahrenheit glaubt er, über beachtliche magische      auf ihn und macht einfach weiter. Langsam macht sich

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Werner Schimpl, Lightholes 1, 2018, digitale Fotografie. © Schimpl   Denken + Glauben – Nr.195 – Frühjahr | Sommer 2020   5
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Verzweiflung breit und so heckt er einen Plan aus, um        befinden. Das Konzept der planetaren Grenzen wurde
    den Besen aufzuhalten. Er greift sich eine Axt, lauert ihm   2009 erstmalig veröffentlich und benennt neun glo-
    auf und schlägt ihn entzwei. Doch die Freude über seinen     bale Prioritäten in Bezug auf durch menschengemachte
    „Erfolg“ war nur von kurzer Dauer, denn plötzlich waren      Umweltveränderungen. Diese neun Systeme und Prozesse
    es zwei Diener, die Eimer um Eimer Wasser holten und         bestimmen die Widerstandskraft des Erdsystems – sprich
    ins Schloss brachten. Der grobe, pragmatische Lösungs-       jene Umweltbedingungen, welche bestimmend dafür sind,
    versuch hatte das Problem noch weiter verschlimmert.         dass die Erde für uns Menschen bewohnbar ist. Umso
    Dem Zauberlehrling wird nach und nach bewusst, dass er       wichtiger erscheint es mir, eine begriffliche Nachschär-
    sich und seine magischen Fähigkeiten gänzlich selbstüber-    fung vorzunehmen, für die auch der Klimaforscher Dieter
    schätzt hatte. In der scheinbar ausweglosen Situation ruft   Gerten vom PIK eingetreten ist. Um den enormen Ausma-
    er verzweifelt nach seinem Meister, welcher auch alsbald     ßen der globalen klimatischen Veränderungen gerecht zu
    herbeigelaufen kam. Der alte Hexenmeister sah die durch      werden und die gesellschaftliche Verantwortung sowie den
    seinen Lehrling entstandene Misere, sprach gekonnt den       Bezug zu allen Menschen herzustellen, schlug er vor, von
    kurzen Zauber und löste schließlich ohne großen Auf-         „Klimakrise“ anstatt von „Klimawandel“ zu sprechen. Es
    wand das Problem.                                            ist kein Abstraktum und es betrifft nicht nur „die Ande-
                                                                 ren“ sondern geht alle Weltbürger/innen, besonders im
    Die Geister, die ich rief                                    Hinblick auf zukünftige Generation etwas an – schließlich
                                                                 haben wir die Erde von unseren Kindern nur gepachtet.
    Der Zauberlehrling hatte also keinerlei Kontrolle mehr
    über das von ihm Geschaffene. Anstatt über den Besen
    bestimmen zu können, wurde er letztlich selbst von ihm
                                                                 Keine digitale Greta in Sicht
    beherrscht. Selbstüberschätzung, die Gunst der Stunde        Wir befinden uns aber nicht nur in einer rein ökologisch
    und eine nicht zu Ende gedachte Idee führten zu einer        herausfordernden Zeit. Den zweiten, unsere heutige
    Katastrophe im Kleinen, die nur mehr von außen gelöst        Gesellschaft maßgeblich bestimmenden und beeinflus-
    werden konnte. Die (möglichen) Folgen seines Handelns        senden Faktor, stellt der digitale Wandel dar. Vor einigen
    waren dem jungen Hexer scheinbar egal, der eigene Nutzen     Wochen war ich in einem Restaurant Abendessen. Am
    stand im Vordergrund. Zugegebenermaßen, ich bin kein         Nachbartisch saß an einem schön gedeckten Tisch, bei
    Literaturwissenschaftler, kein Fachmann für Textinter-       einer stimmungsvollen Atmosphäre, ein junges Paar. Doch
    pretationen neuzeitlicher Lyrik. Doch man kann Goethes       statt sich gemeinsam zu unterhalten, wählten beide zumeist
    Sprachbilder durchaus mit den Problemen unserer heutigen     den Blick in das jeweils eigene Smartphone, den Blick in
    Zeit vergleichen. Wir schreiben das Jahr 2020, eine neue     die digitale Welt. Nachrichten wurden geschrieben, Fotos
    Dekade ist angebrochen und unsere Gesellschaft befindet      vom Essen wurden gemacht und das „hier und jetzt“ aus
    sich mitten in den unsicheren Zeiten des Umbruchs, in        den Augen verloren, vernachlässigt. Man muss scheinbar
    einer sprichwörtlich heißen Zeit. Dieser Umbruch wird        immer und überall erreichbar sein und der Social-Media-
    wesentlich von zwei Faktoren bestimmt. Hierzu zählen         Öffentlichkeit zeigen, wie schön und interessant und fancy
    einerseits der durch Menschen verursachte Klimawandel        das eigene Leben ist, auch wenn eigentlich gar niemand
    und andererseits die digitale Transformation. Ersterer       danach gefragt hat. Doch diese Medialisierung der Gesell-
    ist spätestens seit Greta Thunberg und der Fridays for       schaft, die vor allem durch den Siegeszug der Smartphones
    Future-Bewegung in der breiten (medialen) Öffentlich-        weiter beschleunigt wurde, ist nicht der einzige Aspekt der
    keit angekommen. Thunberg will durch ihre Bewegung           digitalen Transformation. Der technische Fortschritt und
    und ihren Aktionismus auf die enormen Ausmaße dieser         der damit verbundene Einzug sogenannter „smarter Tech-
    Katastrophe aufmerksam machen und Gesellschaft, Poli-        nologien“ in die individuellen Lebenswelten der Menschen
    tik und Wirtschaft zum Umdenken anstoßen. Skeptische         sind gerade in den letzten Jahren immer stärker beob-
    Stimmen halten hier fest, dass sich das Klima auf der Erde   achtbar. Hochleistungstechnologien werden in Industrie
    im Verlauf der Geschichte immer wieder verändert hat         und Wirtschaft gewinnbringend eingesetzt und manches
    und grenzen dabei, trotz des Vorliegens einer Vielzahl an    Eigenheim erinnert wohl schon eher an einen Multime-
    wissenschaftlichen Studien, aus, dass die Interventionen     diashop als an einen privaten Rückzugsort. Es gibt viele
    des Faktors Mensch diese „natürlichen“ Veränderungen         Aspekte der Digitalisierung: Internet, Big Data, 3-D-Dru-
    enorm beschleunigen und aus unserer Perspektive betrach-     cker, Algorithmen, Künstliche Intelligenz, Robotik,
    tet negativ beeinflussen. Weiters zeigen Studien des         Nanotechnologie, Autonomes Fahren oder Industrie 4.0 –
    renommierten Potsdamer Instituts für Klimaforschung          und alle von ihnen haben bestimmte Einflüsse auf unsere
    (PIK) und anderer namhafter Forschungseinrichtungen,         Gesellschaft. Oder hätten Sie sich vor zwanzig Jahren vor-
    dass bereits einzelne „planetare Grenzen“ überschrit-        stellen können, einen „Supercomputer“ im Taschenformat
    ten wurden und sich einige weitere in Grenzbereichen         zu besitzen? Alles scheint möglich zu sein, sogar autonome

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Fahrzeuge. Medienberichten zu folge kann man etwa um           gestalterische Chance für eine, wie es der Physiker, Phi-
das Jahr 2030 mit einer größeren Anzahl gänzlich selbst-       losoph und „Technikfolgenabschätzer“ Armin Grunwald
fahrenden Autos (Level 5) auf den heimischen Straßen           bezeichnet, nachhaltige Entwicklung zu begreifen. Der
rechnen. Anders als im gesellschaftspolitisch mittlerweile     Wissenschaftliche Beirat der deutschen Bundesregierung
stark beackerten Feld der Klimakrise gibt es im Bereich        für Globale Umweltveränderungen schreibt hierzu sehr
des Digitalen Wandels noch keine „Greta“, keine transna-       treffend, wenngleich vor allem auf den politischen Kontext
tionalen Aktionen von Jugendlichen und Erwachsenen,            abzielend: „Nur wenn der digitale Wandel und die Trans-
die auf eine nachhaltige Bewusstseinsbildung im Bereich        formation zur Nachhaltigkeit konstruktiv verzahnt wer-
der durch die verschiedenen Facetten der Digitalisierung       den, kann es gelingen, Klima- und Erdsystemschutz sowie
bedingten (gesellschaftlichen) Veränderungsprozesse            menschliche Entwicklung voranzubringen und menschli-
abzielen. Obwohl von politischen, wirtschaftlichen und         che Würde erfolgreich zu schützen. Ohne aktive politische
gesellschaftlichen Verantwortungsträgern immer wieder          Gestaltung birgt der digitale Wandel das Risiko, den
behandelt sowie medial propagiert – und auch kritisiert –,     Ressourcen- und Energieverbrauch sowie die Schädigung
scheint das Phänomen der Digitalisierung von großen Tei-       von Umwelt und Klima weiter zu verstärken. Zudem droht
len der Bevölkerung überwiegend als sehr abstrakte und         ein ungesteuerter digitaler Wandel wichtige Fundamente
vielschichtige Thematik akzeptiert oder einfach pragma-        demokratischer Rechtsstaaten zu unterminieren. Daher
tisch angenommen zu werden.                                    ist es eine vordringliche politische Aufgabe Bedingungen
Um wieder auf das eingangs verwendete Sprachbild               dafür zu schaffen, die Digitalisierung in den Dienst nach-
zurückzukehren: Ist der Mensch wirklich mit dem Zau-           haltiger Entwicklung zu stellen.“
berlehrling aus Goethes gleichnamiger Ballade gleichzu-
setzen oder nicht? Ein einfaches „Ja“ oder „Nein“ würde        Bewusstseinsbildung und Emanzipation
der Komplexität der Sachlage schlichtweg nicht gerecht         Was wir neben einer handlungsorientierten politischen
werden. Eines gleich vorweg: Digitale Transformation und       Willensbildung benötigen, ist vor allem eine breite gesell-
Klimakrise wurden uns nicht von „außen“ aufoktroyiert          schaftliche Bewusstseinsbildung und eine menschenge-
oder sind über Nacht entstanden, sie haben ihre Ursprünge      rechte Gestaltung des digitalen Transformationsprozesses.
in konkreten menschlichen Handlungen. Wir – das waren          Dass diese Gestaltung auch umweltgerecht erfolgen muss,
und sind viele, ja irrsinnig viele Zauberlehrlinge. Es han-    liegt auf der Hand. Wir befinden uns schließlich bereits
delt sich um vielschichtige und verworrene Aspekte im ver-     inmitten dieses Wandels, dieser enormen Veränderung.
gangenen Tun unserer Vorgängergenerationen und auch in         Durch eine derartige Sensibilisierung sowie Bewusstseins-
unserem eigenen Tun im hier und jetzt. Zumeist galt es,        bildung und durch (radikales) Um- bzw. Neudenken in
dadurch wirtschaftliche Profite zu steigern oder im bes-       verschiedensten Lebensbereichen besteht die Chance, mit-
ten Fall das Leben der Menschen zu verbessern. Egal, ob        tels des menschlichen Entwicklergeistes und mit Hilfe der
all diese Handlungen nun kapitalistisch oder altruistisch      immer fortschrittlicheren Technologien die Klimakrise
motiviert waren – wir sind letztlich selbst verantwortlich     zu stoppen und unter Umständen gar bereits entstandene
für unsere heutige Situation. Doch was können wir tun?         Schäden rückgängig zu machen. Beim „Ozonloch“ ist da
                                                               ja schon gelungen. Ob dieser emanzipatorische Prozess des
Verzahnung von „Techno“ und „Bio“                              Menschen vom unvorsichtigen Zauberlehrling zum schöp-
Es sind Fragen des richtigen Umgangs mit digitalem Wan-        fungsverantwortlichen Hexenmeister vollzogen werden
del und Klimakrise, die es zu beantworten gilt und derart      kann, oder ob die von uns geschaffene Technosphäre den
komplexe Sachverhalte bedingen auch komplexe Lösungs-          Fortbestand der Biosphäre am Ende unmöglich macht, ist
ansätze. Verkürzte, einfache Antworten auf schwierige und      offen. Es liegt in unser aller Händen.
weitläufige Fragestellungen stellen einen falschen Weg im
Umgang mit diesen herausfordernden Situationen dar.
Der in Bezug auf den durch den Menschen verursachten                                 Thomas Gremsl,
                                                                ist Assistent am Institut für Ethik und
Klimawandel – der Klimakrise – eingesetzte Bewusstseins-       Gesellschaftslehre an der Kath.-Theol.
bildungsprozess ist ein wichtiger Schritt in die richtige          Fakultät der Uni Graz und Mitglied
Richtung, er ist aber lediglich einer unter vielen weiteren,     des interdisziplinären Schwerpunk-
                                                                   tes „Smart Regulation“ sowie des
die notwendig sind. Dieser Prozess muss zweifelsohne
                                                                Doktoratsprogramms „Human Factor
auch im Kontext der digitalisierungsbedingten Verände-           in Digital Transformation“. Er forscht
rungen vollzogen werden, um letztlich unserer Verantwor-         über Sozialethik sowie die Ethik des
                                                                 digitalen Wandels der Technik, des
tung für heute, morgen und übermorgen gerecht werden
                                                                    Sports und der Werte. Fußballafi-
zu können. Es gilt die noch ungenützten bzw. bis dato              cionado und -schiedsrichter sowie
unzureichend genützten Potentiale der Digitalisierung als             ehrenamtlicher Notfallsanitäter.
                                                                                                                               Foto: privat

                                                                                   Denken + Glauben – Nr.195 – Frühjahr | Sommer 2020         7
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Mangel provoziert Kreativität
     Florian Traussnig im Gespräch mit dem Theologen András Máté-Tóth

     Dass der biografische Blick auf einen politischen Umbruch auch interessante Erkenntnisse für die ökologischen und techno-
     logischen Umwälzungen in unserer „heißen Zeit“ bringen kann, zeigt das im Grazer Welthaus geführte Gespräch mit Prof.
     András Máté-Tóth. 1957 im südungarischen Kolcasa geboren, musste er aus politischen Gründen im Jahr 1982 Hochschule
     und Priesterseminar offiziell verlassen und sich mit diversen Hilfsarbeiterjobs über Wasser halten – nach dem Fall des
     Eisernen Vorhangs (1989) folgte dann die persönliche „Wende des Máté-Tóth“ (Michael Weiss): der breitschultrige und
     lebensbejahend auftretende Religionswissenschaftler promovierte 1991 am Institut für Pastoraltheologie in Wien und fun-
     giert seitdem als eine Art akademische und menschliche Nahtstelle zwischen zwei Kulturen. Der heute an den Universitäten
     Szeged und Wien lehrende Pastoraltheologe sprach mit Florian Traussnig über die medialen Schleier, die den Blick auf die
     Wende verstellen, über die Kraft der Erinnerung, die Kreativität in Zeiten des Mangels, das Schöne am Nichtwissen und
     einen krassen Dirndlkleid-Moment.

                                                                                          Foto: Zerche

    Heuer jährt sich die Wende zum drei-                     sich hier nämlich um eine Krisen-Zeit im    Backlash in Ländern wie Ungarn nach
    ßigsten Mal – Herr Máté-Tóth, welches                    positiven Sinne des Wortes. Als zeitge-     einer demokratisch-liberalen Umwäl-
    Fazit, welche „Message“ schält sich für                  schichtlich und theologisch Forschender     zung am Ende gar zu erwarten?
    Sie hier heraus?                                         denke ich, dass Erinnerung immer eine
                                                             Deutung ist. Wenn wir also geistig in das   Hier möchte ich ein entschiedenes Nein
    Es geht mir vor allem ums Erinnern.                      Zimmer der Wende eintreten, müssen          entgegenhalten. Es gab meines Erachtens
    Über diesen großen Umbruch, die Wende                    wir den oben erwähnten Schleier beiseite    noch nie in der Geschichte der Mensch-
    in Ostmitteleuropa, diese epochale Ver-                  ziehen – dann sieht man die „Krise“ in      heit eine derartige Befreiung nach 40 oder
    änderung in der der Geschichte des 20.                   einem anderen Licht.                        50 Jahren der Unterdrückung. Niemand
    Jahrhunderts, haben sich mittlerweile                                                                wusste, welchen Weg die Gesellschaften
    düstere, nebelhafte Schleier gelegt – diese              Bleiben wir noch kurz beim Schat-           des ehemaligen „Ostblocks“ einschlagen
    verstellen den Blick auf die vielschichti-               ten. Rechtspopulismus, Nationalismus        würden. Es wäre naiv, anzunehmen,
    gen Entwicklungen seit 1989. Es handelt                  und Autoritarismus – War ein solcher        dass nach der Wende dasselbe geschehen

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wird, wie etwa in Deutschland oder             wurde diese Grenze nach dem Zweiten        Es war wirklich eine schlichtweg dumme,
Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg.         Weltkrieg willkürlich gezogen und wenn     brutale und sinnentleerte Entscheidung,
Auch der Weg der USA eingeschlagen             wir dreißig Jahre nach der Wende immer     die die ungarische Regierung hier zu
haben, ist keine Blaupause für ostmit-         noch über diese Trennung reden, dann       Ungunsten der CEU gefällt hat. Die Men-
teleuropäische Länder, die ja ein völlig       erhalten wir eine politische Hermeneu-     schen, die dies zu verantworten haben,
anderes kulturelles Gepräge haben. Auf         tik aufrecht, die nicht mehr relevant      waren nie wirklich in dieser liberalen,
Ungarn gemünzt kann man sagen, wir             ist. Die Forschungen, die ich etwa mit     offenen und auch mir aufgrund meiner
wandern wie Moses. Vielleicht nicht in         Paul Zulehner gemacht habe, zeigen,        wissenschaftlichen Einbindung als Theo-
der Wüste, eher in einem Dschungel –           dass innerhalb des sogenannten ehema-      loge gut bekannten akademischen Stätte
dem Dschungel der Marktwirtschaft              ligen Ostblocks größere Unterschiede       zu Gast. Aber die Leute rund um George
und des Liberalismus. Was hierbei wich-        innerhalb der Gesellschaften existie-      Soros sind ja keine Anfänger – sie haben
tig ist: Wir haben keine Karte, es gibt        ren als innerhalb des „Westblocks“! In     das Beste aus der Situation gemacht.
keinen vorgezeichneten Weg.                    Bezug auf die sehr stark mit Zahlen        Übrigens übersiedelt die CEU nicht nach
                                               und Statistiken operierende Säkula-        Westeuropa, sondern es handelt sich um
Keine Karte zu haben kann ja auch ent-         risierungsthese und die Unterschiede       einen Umzug innerhalb von Zentraleu-
lastend sein …                                 zwischen West- und Osteuropa plädiere      ropa. Damit komme ich auch zur Frage
                                               ich nun dafür, auch andere religionsso-    der jeweiligen Interpretation der christ-
Zum Thema Entlastung passt auch die            ziologische „Brillen“ aufzusetzen: eine    lichen Werte in Ungarn und Österreich
luzide Aussage von Rolf Dahrendorf,            solche Brille ist die rituelle Dimension   zurück: Gerade die öffentlich gezeigte
der behauptete, dass man ein System in         der Gesellschaft. Riten haben eine kul-    Sensibilität der gegen die Behandlung der
sechs Monaten zerstören kann, aber es          turübergreifende Logik, sie sind nicht     CEU protestierenden Zivilgesellschaft
etwa sechzig Jahre braucht, um ein neues       nur für religiöse Gemeinschaften und       ist ein Beweis, dass die oben skizzierten
aufzubauen. Da sind wir jetzt mal in der       Institutionen bedeutend, sondern für       christlich-europäischen Grundwerte auch
Mitte (lacht). Der Kulturanthropologe          die profane Gesellschaft allgemein!        tief in die Gesellschaft Ungarns einge-
Victor Turner geht wiederum davon aus,         Populismus etwa ist nicht Inhalt, Popu-    schrieben sind. Man sieht das auch beim
dass in sogenannten liminalen Perioden         lismus ist vor allem Ritual. Die Men-      Veranstaltungsflyer des Grazer Welthauses
viele Turbulenzen auftreten. Dabei ver-        schen lieben diese Rituale, sie wollen     zu meinem Vortrag „Wende in der Krise“,
lieren ehemals starre Traditionen ihre         offensichtlich Angst haben, in Angst       der hier am Tisch liegt: er zeigt Ungarin-
Relevanz und orientierende Unterschiede        und Schrecken versetzt werden – ich        nen und Ungarn, die 30 Jahre nach der
zwischen Mann und Frau, Jung und Alt,          weiß nicht, warum. Zurückkommend           Wende für die Freiheit der Wissenschaft
wichtig und unwichtig, werden suspen-          auf die angebliche West-Ost-Schere: die    und die CEU auf die Straße gehen.
diert. Es herrscht eine Art Chaos. Und         europäischen Gesellschaften, etwa jene
laut Turner entwickelt sich aus diesem         Österreichs oder Ungarns, sind letzt-      Welches wissenschaftliche Erlebnis und
Chaos die neue Epoche. Diese bildet sich       lich alle von christlichen Leitgedanken    welche persönliche Anekdote fallen
natürlich teils aus dem Alten, teils aus dem   geprägt, so dass sie gar nicht nicht-      Ihnen spontan zu Ihrer eigenen Wende-
Neuen. Doch diese liminale, krisenhafte        christlich sein können. Auch wenn sich     biografie ein?
Phase sollte nicht allzu lange dauern! Eine    das Christliche heute anders formatiert,
Gesellschaft kann nicht lange mit über-        so gehören der Wert der Schöpfung und      Wissenschaftlich gesehen erwies sich für
höhter Temperatur leben. Es droht dann         des Menschlichen, der Wert der Verant-     mich die nach 1989 entdeckte theologi-
eine emotionale Überhitzung, wenn man          wortung des Individuums und der Wert       sche Freiheit an der Katholischen und
so will. Diese Gefahr sehe ich schon.          der wissenschaftlichen Erkenntnissu-       Evangelischen Fakultät der Uni Wien
                                               che zu den judeo-christlichen und auch     als ein großes Geschenk, eine positive
In Ihrem Buch Freiheit & Populismus            prophetischen Grundeinstellungen in        Provokation, eine Freude, eine einzige,
schreiben Sie, dass die Präsuppositionen       ganz Europa.                               bis heute anhaltende Feier. Dort habe
der Säkularisierungstheorie (die einen                                                    ich auch eine methodische Strenge bei
gesellschaftlichen Bedeutungsverlust von       Das sind sehr idealistische Deutungen.     gleichzeitiger inhaltlicher Offenheit
Religion annimmt, Anm. d. Red.) nur auf        Wenn man aber sieht, wie die ungari-       kennengelernt, die vorbildlich ist. In
den „Sonderfall“ Westeuropa, nicht aber        sche Regierung mit der Central Euro-       diesem Teich schwimme ich sehr gerne.
auf Osteuropa zutreffen. Wie kann man          pean University (CEU, auch als „Soros-     In anekdotischer Hinsicht erinnere ich
diesen innereuropäischen Graben zwi-           Universität“ bekannt, Anm. d. Red.)        mich an ein Begebnis des Jahres 1989,
schen West und Ost überbrücken?                umgeht, zeigen sich da nicht fundamen-     ebenfalls in Wien: Auf Einladung von
                                               tale Unterschiede bei der Interpretation   Prof. Zulehner durchschritt ich als wis-
Erlauben sie mir eine Vorbemerkung zur         dieser Grundwerte? So übersiedelt die      senschaftlicher Neuankömmling knapp
Ost-West-Unterscheidung: Einerseits            CEU jetzt sogar nach Wien.                 nach der Wende den Flur des Instituts

                                                                                           Denken + Glauben – Nr.195 – Frühjahr | Sommer 2020   9
für Pastoraltheologie am Schottentor. Da                digitalen Medien stellen ja gern das
     kam mir eine attraktive Frau im Dirndl                  Schrille und Negative in den Vorder-
     entgegen. Ganz verblüfft fragte ich sie,                grund. Wie sehen Sie das?
     was sie denn hier mache. Sie antwortete                                                                Apropos Kreativität & Mangel: Ist es
     mir, dass sie die Assistentin eines Sozi-               Es ist etwa für die Menschen in Ungarn         sinnvoll, einen solchen Mangelzustand
     alethik-Professors sei. Das war für mich                immer noch eine Übungssache, mit               politisch herbeizuführen, damit die ange-
     ein veritabler Kulturschock, ein Exotis-                öffentlichen und offenen Medien, vor           schlagenen Ökosysteme und erschöpften
     mus. In Ungarn liefen ja damals auf den                 allem aber mit den modernen Online-            Ressourcen des Planeten sich wieder
     Instituten nur Priester herum und Assis-                Netzwerken, umzugehen. Diese Proble-           erholen können?
     tenten oder gar Assistentinnen gab es                   matik relativiert für mich jedoch einmal
     nicht. Heute schmunzle ich freilich über                mehr den Unterschied zwischen West             Ich habe hier keine klare, einfache Ant-
     diesen Moment – auch mein ungelenkes,                   und Ost. Weil auch in Westeuropa, wo           wort anzubieten. Die Moderne ist im
     fast machohaftes Verhalten in der dama-                 es eine langjährige demokratische und          Grunde genommen davon ausgegangen,
     ligen Situation sehe ich mittlerweile dis-              publizistische Kultur gibt, scheinen die       dass wir wissen, dass wir den rechten
     tanzierter (lacht).                                     Menschen versucht, vieles oder alles           Weg quasi wissenschaftlich ausleuchten
                                                             zu glauben, was sie im Internet lesen.         und ausforschen. Heute aber hat das
     Wechseln wir wieder auf die Meta-Ebene:                 Wahrscheinlich hat die Welt durch die          Nichtwissen einen besonderen Stellen-
     Heute wirkt es medial nahezu so, als ob                 digitalen Medien ein Werkzeug bekom-           wert. Gerade die aktuelle Umwelt- und
     die von Ihnen so bezeichneten „verwun-                  men, mit dem man erst lernen muss,             Klimakrise mit all ihren Unabwägbar-
     deten Identitäten“ der Menschen in Ost-                 richtig umzugehen.                             keiten und Widersprüchen zeigt: Wissen
     mitteleuropa die Errungenschaften der                                                                  trennt, Nichtwissen einigt. Das habe
     Wendezeit überschatten.                                 Der Klimawandel ist momentan das               ich bisher noch nie so zugespitzt gesagt,
                                                             Thema unserer Zeit. Gefragt ist hier           aber speziell die ökologische Krise bringt
     Die deutliche Mehrheit hat 1989 in                      nicht nur ein Kulturwandel, sondern            Menschen, – Wissenschaftler wie mich,
     Ostmitteleuropa klar positive Wende-                    auch technische Innovation. So trägt           aber auch Normalbürger und Politiker –
     erfahrungen gemacht – das waren keine                   dieses Heft den Titel „Techno-Biotope“.        vielleicht dazu, sich zu öffnen. Eben weil
     vereinzelten Lichtblicke, das war ein                   Was können Länder wie Ungarn, Polen            ich den richtigen Weg nicht kenne, weil
     großes Ganzes. Wir waren nun frei, wir                  oder Tschechien mit ihrer historischen         wir alle ihn nicht kennen. Nur als Nicht-
     konnten reisen! Man konnte in die Kir-                  Erfahrung hier beitragen? Gibt es Samen,       Wissende können wir unseren Zweifel
     che gehen ohne Angst zu haben, es gab                   die dort ausgebracht worden sind?              und unsere Erfahrungen miteinander
     freie Wahlen – und diese Freiheit ist auch                                                             teilen und in eine neue Epoche des Mit-
     dann noch wertvoll, wenn die heute ins                  Mein bester Freund war ein ungarischer         einanders eintreten. Die Zeit drängt zu
     Parlament gewählten Politiker eben keine                Laserphysiker, ein wirklich engagierter        einer neuen Art (stockt) …
     gute oder konstruktive Rolle spielen und                Forscher, der eine hochdotierte Stelle in
     einige unserer alten Wunden wieder                      Schweden bekommen hat. Als ich ihn             … die Philosophie nennt das Erhaben-
     aufbrechen. Angesichts des dreißigjäh-                  dort einmal besuchte, fragte ich ihn, ob       heit. Man wird ehrfürchtig im Angesicht
     rigen Wendejubiläums gilt es dennoch,                   er deshalb den Ruf erhalten hatte, weil er     einer großen Macht, erstarrt aber nicht.
     sich daran zu erinnern, dass die Wende                  „billiger“ sei als ein Amerikaner oder Japa-
     für die gesamte Region eine Wende zum                   ner. Er verneinte vehement – die Hono-         Genau. Das Konzept der in den letzten
     Guten war. Fragen Sie doch jemand in                    rare seien für alle gleich. Er sagte: „Weißt   zehn Jahren von Gianni Vattimo und
     der Ukraine oder Litauen, was der Unter-                Du warum ich hier so gefragt bin? Das          John D. Caputo sowie anderen Denkern
     schied zwischen dem Leben inner- und                    Arbeiten in einer grundsätzlichen Man-         entwickelten Weak Theology fügt sich
     außerhalb der Sowjetunion ist! Es ist                   gelsituation in Ungarn und Russland pro-       gut in diese Haltung ein. Man geht ange-
     einfach nicht wahr, dass mit der Wende                  vozierte damals unsere Kreativität. Des-       sichts offener Fragen und komplexer Pro-
     Armut oder Unfrieden gekommen sind.                     halb bin ich hier angestellt.“ Dieser quasi    bleme suchend vor, nimmt keine starken,
     Es ist aber wahr, dass durch die freien                 erzwungene Einfallsreichtum erwies sich        keine starren Positionen ein. Gerade mit
     und sich auch widersprechenden öffentli-                auch in den Laboren Skandinaviens als          Blick auf unser Gottes- und Menschen-
     chen Stimmen eben mehr über die Armut                   wertvolles Gut und kann für globale Her-       bild weicht diese Form der Theologie
     und die Schattenseiten in unseren Gesell-               ausforderungen nutzbar gemacht werden.         viele festgefahrene Sichtweisen auf und
     schaften berichtet wird.                                Gute Wissenschaft ist blockübergreifend        ermöglicht neue Blicke auf vermeint-
                                                             und international orientiert. Sie vernetzt     lich unverbrüchliche Traditionen. Sie ist
     Da dieses Heft sich stark mit der Digita-               bestimmte Forschungskulturen mitein-           quasi eine Strategie des Nichtwissens, die
     lisierung befasst, hake ich hier ein. Die               ander, versucht aber auch nationale Hege-      man auch auf ökologische Fragestellun-
     regelmäßig „Eilmeldung!“ krähenden                      monien aufzubrechen.                           gen anwenden kann.

10      Denken + Glauben – Nr.195 – Frühjahr | Sommer 2020
Ein schönes Märchen
                                            Über Dematerialisierung durch digitale Technik
                                                                        Von Anja Höfner

                                                                                                           Foto: shutterstock

Es war einmal ein Land, in dem Ressourcen knapp waren      Der erste Geschäftemacher schlug vor, Bücher zu verban-
und das Wetter sich änderte. Es wurde schon im März        nen und durch „E-Books“ zu ersetzen. Klar, dachte der
ungewöhnlich warm und im Winter gab es kaum noch           König: Ein Buch muss gedruckt und transportiert wer-
Schnee. Der König des Landes wusste, dass dies Folgen      den. Einen E-Book-Reader kauft man nur einmal und
des unverhältnismäßig hohen Lebensstandards in seinem      kann dann seine Geschichten im Internet herunterladen.
Land waren, doch gleichzeitig war er ratlos, denn er       Aber nach einiger Zeit zeigte sich: Viele E-Book-Reader
ahnte, würde er den Lebensstil seiner Untertanen ein-      wurden viel zu wenig genutzt. Dafür war es aufwändig,
schränken, gäbe es große Unruhen. Da traten vier findige   sie zu produzieren. Rechnerisch lohnten sie sich erst ab
Geschäftemacher auf den Plan, die verschiedene Ideen       etwa 50 gelesenen E-Books. Aber selbst diejenigen, die die
hatten, das Problem zu lösen.                              Reader emsig nutzten, hatten ein Problem. Bald machte

                                                                           Denken + Glauben – Nr.195 – Frühjahr | Sommer 2020   11
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     der Akku schlapp und ließ sich nicht austauschen. Also       Filme ansehen so einfach, dass die Menschen viel mehr
     mussten sie einen neuen Reader kaufen. Der König war         schauten als früher.
     enttäuscht. So trat der zweite Geschäftemacher schnell       Irgendwann beschäftigten sich große Denker mit dem
     mit einem anderen Vorschlag auf den Plan.                    Thema und fanden heraus, dass Streamen sehr viel Treibh-
                                                                  ausgas produziert. Schließlich benötigte eine Stunde HD-
     Streamen, Streamen, Streamen                                 Streaming etwa drei Gigabyte Daten. Menschen streamten
                                                                  aber nicht nur Spielfilme und Serien, sondern auch Musik-
     Wie wäre es, sagte er, wenn wir Filme nicht mehr auf
                                                                  videos und Missgeschick-Videos. Einige streamten sogar
     DVDs schreiben und in Videotheken stellen? Dann muss
                                                                  Filme mit nackten Menschen. Die Server wurden häufig
     auch niemand mehr durch die halbe Stadt fahren, nur um
                                                                  mit Kohlestrom betrieben. Es war sogar absehbar, dass
     Filme zu kaufen oder auszuleihen. Stattdessen können wir
     Filme einfach im Internet „streamen“. Das geht schnell       sich der Datenverkehr vom Videoschauen in den nächsten
                                                                  Jahren vervierfachen würde. Für die Umwelt war das alles
     und ist einfach. „Das leuchtet ein“, sagte der König. Bald
                                                                  nichts. Langsam wurde der König sauer.
     streamten die Menschen im ganzen Land. Dafür wur-
     den riesige Serverparks gebaut. Irgendwo mussten ja die      Na gut, die anderen haben es vermasselt, gab der dritte
     ganzen Daten gespeichert werden. Streamen machte das         Geschäftemacher zu. „Ich habe aber eine Idee, die ganz

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sicher funktioniert. Wenn die Menschen ihre Hütten          neues, noch größeres Auto bestellt. Die anderen stimm-
verlassen, dann lassen sie oft das Licht brennen. Bei       ten in die Erzählung ein. Jeder der Berater hatte seine
einem Untertan macht das zwar kaum was aus“, sagte der      eigene Optimierungsgeschichte. Schließlich machte der
Geschäftemacher, „aber wenn das viele machen, kostet        König sich bemerkbar und löste die Versammlung auf.
das eine Menge Energie. Ich schlage vor: Wir setzen auf     Die Erklärung, die er suchte, hatte er schon gefunden.
das „Smart Home“. Das heißt, dass alles ist miteinander     Ihm war klar, dass er in seinem Land den sogenannten
vernetzt ist Und wenn ich das Haus verlasse, dann merkt     Rebound-Effekt beobachten konnte. Davon hatte er
das mein Telefon und schaltet das Licht aus“. „Genial“,     vor einigen Jahren auf einer Reise in ein fernes Land
meinte der König. „Setz das um, lieber Geschäftema-         gehört. Gelehrte hatten ihm nämlich erzählt, dass Ein-
cher.“ Anfangs schien die Idee zu funktionieren. Aber der   sparpotenziale von Effizienzsteigerungen nicht oder nur
Geschäftemacher hatte vergessen, dass die ganze Tech-       teilweise verwirklicht werden. Aber leider hatte er zuvor
nik, die man für so ein fancy Smart Home braucht, auch      nicht daran gedacht, als er sich von der Begeisterung des
Strom verbraucht. So stieg sogar in vielen Häusern der      Geschäftemachers anstecken ließ.
Energieverbrauch. Der König war verzweifelt. Wenn die       Am Ende hatte keiner der Geschäftemacher sein Verspre-
Geschäftemacher keine Lösung für das Problem hatten,        chen eingelöst. Enttäuscht, aber ohne Zweifel, verbannte
wer sonst sollte ihm helfen? Doch es war noch ein letzter   der König die vier Männer. Er beschloss, dass jeder
Geschäftemacher da, den er noch nicht angehört hatte.       Untertan nur noch neue Geräte kaufen durfte, wenn die
Dieser vierte Geschäftemacher freute sich, dass er nun      alten kaputt und nicht mehr reparierbar waren. Außer-
seine alles verändernde Idee präsentieren durfte. „Meine    dem legte er für jeden Menschen ein Energiebudget fest.
Vorredner haben alle gut gemeinte Vorschläge zur            Wer mehr verbrauchte, musste dafür viel Geld bezahlen.
Lösung einzelner Probleme gemacht. Ich schlage hin-         Mit diesem Geld finanzierte er Reparaturcafés im ganzen
gegen eine grundlegende Veränderung vor. Wir müssen         Land, die jeden Tag geöffnet waren.
einfach nur unsere eingesetzten Gerätschaften optimie-      Der König suchte im ganzen Land weitere Fachleute mit
ren. Also nicht nur die Lampe muss noch weniger Strom       echten Lösungen. Zusammen mit ihnen verbesserte er
verbrauchen, sondern auch die Rechenzentren müssen          das Leben der Menschen. Auch die Natur wurde geschont
Energie sparen. Und auch die Verarbeitung der Daten         und nicht weiter zerstört. Und wenn er nicht gestorben
für Videostreaming muss noch sparsamer von statten          ist, dann lebt er noch heute.
gehen, dann lösen wir alle Probleme auf einmal!“ Der
                                                            Die Moral von der Geschicht: Wie im Märchen ist‘s im
König war skeptisch, nachdem er bereits die anderen
                                                            wahren Leben leider nicht.
Versuche scheitern sah. Doch der Geschäftemacher war
von seiner Idee überzeugt: „Glaub mir, das wird mal eine
führende Strategie, der viele Menschen vertrauen. Und       Epilog
sie wird nicht nur für Geräte gelten, sondern für alle      Mit der Digitalisierung wird oft die Hoffnung verbun-
anderen Lebensbereiche auch!“ – Na gut, stimmte der         den, dass diese durch Effizienzsteigerungen zu Ressour-
König ein, probieren wir es aus.                            ceneinsparungen, also zu weniger absolutem Ressour-
Nachdem alles im Königreich effizienter – so war der        cenverbrauch führt. Diese „Dematerialisierung“ hätte
Fachbegriff dafür – gestaltet wurde, sank der Stromver-     wiederum einen positiven Effekt auf die Umwelt. Auf
brauch im ganzen Land. Doch eines Abends bekam der          dem 36. Chaos Communication Congress in Leipzig
König einen Anruf vom seinem Energiebuchhalter. „Ich        habe ich diese, sich u.a. in der Digitalstrategie der deut-
kann es mir nicht erklären, lieber König,“ wimmerte er,     schen Bundesregierung widerspiegelnde, Hoffnung in die
„aber der Energieverbrauch explodiert.“                     obige Erzählung gepackt.

Rebound-Effekt statt Ressourceneffizienz
Am nächsten Morgen sammelte der König seine klügs-
                                                                                      Anja Höfner,
ten Berater um sich. Als er in den Besprechungsraum         Mitarbeiterin beim Konzeptwerk neue
kam, bemerkten diese ihn nicht. Denn sie unterhielten         Ökonomie, das sich mit alternativen
sich gerade begeistert über ihre persönlichen Strom-        Wirtschaftskonzepten und der Suche
                                                                 nach einem guten Leben für alle
rechnungen. Diese waren in den Tagen davor an alle           befasst. Beschäftigt sich aus sozial-
Haushalte des Landes verschickt worden. Jeder der            ökologischer Perspektive mit Fragen
Berater hatte Energie und damit Geld gespart. Einer          rund um die „Digitalisierung“ und hat
                                                            die Konferenz „Bits & Bäume“ in Berlin
erzählte, dass er von dem gesparten Geld einen Schein-
                                                               mitgestaltet. Mitherausgeberin des
werfer für seinen Sohn gekauft hatte, damit dieser auch     daraus entstandenen Buchs Was Bits
nachts Fußball spielen konnte. Ein anderer hatte sich ein           und Bäume verbindet (2019).
                                                                                                                       Foto: McKown

                                                                               Denken + Glauben – Nr.195 – Frühjahr | Sommer 2020     13
Ach, du analoges Gestern
      Textfragment aus „Pause“ von Franzobel

      Digitalkameras sind toll, keine roten Augen,
      keine Unschärfen, Verwackler, nichts.
      Und doch geht bei so viel Perfektion auch etwas ab.
      Hat man die Kappe abgenommen,
      alles richtig eingestellt?
      Das Abholen entwickelter Filme war, lang ist es her,
      wie Zeugnisverteilung, Kühlschranktüren öffnen.
      Man weiß nie, was drinnen ist.
      Licht oder Finsternis?

     Franzobel,
     geb. 1967 in Vöcklabruck als Franz Stefan Griebl. Germanistik- und Geschichtestudium in
     Wien, seit 1989 als freier Vielschreiber tätig. Verfasst zwischen Pichlwang, Kitzbühel und Algier
     Theaterstücke, Kinderbücher, Romane, Gedichte, Sportkolumnen, Essays und Satiren.
     Zahlreiche Auszeichnungen und Preise, 2020 Stadtschreiber in Dresden.

14       Denken + Glauben – Nr.195 – Frühjahr | Sommer 2020   rechte Seite: Werner Schimpl, Auf der Mausspur zu Mausgott, 2019, Zeichnung, Röntgenbild. © Schimpl
Denken + Glauben – Nr.195 – Frühjahr | Sommer 2020   15
Eine Frage der Lebenskunst
      Damit der Weg in die Digitalität zum Weg aus der Klimakrise wird
      Von Hans-Walter Ruckenbauer

                                                                                             Tomás Saraceno, Aero(s)cene: When breath
                                                                                             becomes air, when atmospheres become the
                                                                                             movement for a post fossil fuel era against carbon-
                                                                                             capitalist clouds, 2019. Mixed media
                                                                                             58. Biennale von Venedig.
                                                                                             Foto (l + r): Italo Rondinella
                                                                                             Courtesy: La Biennale di Venezia

     „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind
     mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“
     Hans Jonas

     Eigentlich leben wir in einer großartigen Zeit: Noch        Das ist doch eine tolle, wunderschöne und vielfach ver-
     nie zuvor in der Menschheitsgeschichte vermochte sich       netzte Welt, in der wir leben. Was brauchen wir uns noch
     ein derart großer Teil der Weltbevölkerung so abwechs-      darum zu scheren, welchen Fußabdruck wir auf dieser
     lungsreich zu ernähren wie heute – dank der industri-       Erde hinterlassen oder woran wir einen gegenüber Mit-
     ellen Nahrungsmittelproduktion und globaler Märkte!         und Umwelt verantwortungsvollen Lebensstil festmachen
     In keiner historischen Epoche war es einfacher, sicherer    können? – Ich lasse erstmal die Haarspalterei beiseite, ob
     und bequemer, ins nahe Umland oder in ferne Länder          wir der Beantwortung dieser Frage überhaupt entgehen
     zu reisen – dank der Mobilitätstechnologien in SUV,         können, weil doch jeder Lebensvollzug in sich Ziele ver-
     Flugzeug und Kreuzfahrtschiff! Der einst privilegierte      folgt, Interessen realisiert und Orientierungen enthält –
     Zugang zu Informationen und die auf den sozialen            vielleicht unbewusst, vielleicht unreflektiert und unaus-
     Nahraum beschränkte Kommunikation sind nunmehr              gesprochen, aber faktisch sind diese Ziele und Interessen
     Geschichte – dank der Digitalisierung im Allgemeinen        klar rekonstruierbar. Für diesen Fall empfiehlt sich eine
     und sozialer Medien im Besonderen!                          Fertigkeit, welche uns helfen würde, die unterschiedlichen

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