Digital Ein Heft über Facetten von Digitalisierung - wirklich wahr

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Digital Ein Heft über Facetten von Digitalisierung - wirklich wahr
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Ein Heft über Facetten von Digitalisierung.
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Digital Ein Heft über Facetten von Digitalisierung - wirklich wahr
44 Seiten
                                  in
                         4 Wochen
                                 zu
                    Digitalisierung.

                          So lange hat die Entstehung
                           dieses Magazins gedauert.

wirklich\\wahr 04                                       3
Digital Ein Heft über Facetten von Digitalisierung - wirklich wahr
Chefredaktion

                    Jonas Seufert

                    ist Journalist mit dem Fokus Reportage und Recherche. Er
                    hat undercover bei Amazon gearbeitet, Fälle von sexuellem
                    Missbrauch in der Kirche aufgedeckt und geholfen, ein
                    Netzwerk von Klimawandelleugnern aufzuspüren. Er ist
                    Mitgründer der Journalistengemeinschaft Hermes Baby
                    und schreibt unter anderem für die ZEIT, Taz und Correctiv.

                    Manuel Stark

                    studierte Philosophie und Kommunikationswissenschaft
                    in Bamberg. An der Deutschen Journalistenschule wurde
                    er zum Redakteur ausgebildet, danach durchlief er
                    Fortbildungen an der Reporter Akademie Berlin und der
                    Reportageschule Reutlingen. Seinen thematischen Fokus
                    setzt er an die Schnittstelle von Gesellschaft, Wissenschaft
                    und Medizin. Er arbeitet als freier Journalist und ist Textchef
                    der Autorengemeinschaft Hermes Baby.

    Fotoredaktion
                    Maximilian von Lachner
                    arbeitet als freier Fotojournalist in Frankfurt am Main,
                    studiert aber schon viel zu lange Fotojournalismus und
                    Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover.
                    Während des Studiums lernte er erst als Bildredakteur und
                    später als Redaktionsfotograf beide Seiten einer Produktion
                    kennen. Diesertage ist seine Leidenschaft auf der Straße,
                    hinter der Kamera bei tagesaktuellen Themen.

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Digital Ein Heft über Facetten von Digitalisierung - wirklich wahr
Das Heft &
                    seine Entstehung
                    An und Aus, mehr ist es eigentlich nicht. Strom, der auf Platinen
                    fließt - oder eben nicht. 10110. Das ist das Prinzip hinter der Di-
                    gitalisierung. Und doch hat es unsere Leben in den letzten Jahr-
                    zehnten auf den Kopf gestellt.
                    Wir arbeiten vom Laptop oder in vernetzten Fabriken. Unsere
                    Heizungen gehen automatisch an, wenn es draußen kälter wird.
                    Wir pflegen Freundschaften über soziale Medien und verlieben
                    uns durch Apps. Und wir googlen alles.
                    Manche sprechen von einer Revolution, vergleichbar mit der Er-
                    findung der Dampfmaschine. Erst Industrialisierung, jetzt Digi-
                    talisierung.
                    In diesem Heft erkunden junge Journalistinnen und Journalisten,
                    was Digitalisierung in unserem Alltag bedeutet. Sie haben Gene-
                    rationen und Nomaden befragt. Sie sind zu den Wurzeln zurück-
                    gekehrt und haben Grenzen überwunden. Sie haben einfach mal
                    alle Apps ausgestellt.
                    Sie wollten wissen, ob man digital wirklich besser lernt, auch über
                    den Holocaust. Und wie Musiker und Aktivisten digitale Kanäle
                    nutzen. Sie waren bei denen, die die Digitalisierung fürchten und
                    sie haben in ihren eigenen Leben recherchiert. Und sie haben fest-
                    gestellt: Wer digital lebt, lebt nicht automatisch klimafreundlich.
                    Die Digitalisierung bringt immer neue Technologien hervor. Das
                    kann befreien und verbinden - oder einschränken und abhängig
                    machen. Es kommt darauf an, was wir daraus machen.

                                 Jonas Seufert               Manuel Stark

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Digital Ein Heft über Facetten von Digitalisierung - wirklich wahr
1 – digitale…    Chancen
10 - Digitale Proteste
12 - Musik und Digitale Medien
14 - Digitalisierung von Schulen
16 - Digitale Nomaden
20 - Rettung von Gesprächen

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Digital Ein Heft über Facetten von Digitalisierung - wirklich wahr
2 – digitale… Erfahrungen
                                        Digitalkonferenz - 24
                                           Digital Detox? - 28
                              Brief an die Vergangenheit - 30

                         3 – digitale…     Konflikte
                                              Klimaschutz - 34
                                    Historischer Rückblick - 36
                                             Funkstrahlen - 38
                                      Digitales Gedenken - 40

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Digital Ein Heft über Facetten von Digitalisierung - wirklich wahr
„Die Zeiten des rein
     digitalen Protests sind passé“
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Überall auf der Welt entstehen zur Zeit Pro-
testbewegungen, die sich über Facebook oder
Messenger-Dienste wie Telegram und Whats-
App organisieren. Ist das der Grund warum sie
so stark sind?
   Diese Bewegungen sind in einer Generation ent-
standen, in der die Nutzung digitaler Medien voll-
kommener Alltag ist. Ich denke, dass WhatsApp- oder
Telegram-Gruppen unheimlich hilfreich sind für die
spontane Koordination oder auch die Mobilisierung.
Aber ich denke auch, dass eine solch großflächige
Protestbewegung in der Vergangenheit schon möglich
war. Auch wenn der Aufwand, um so viele Leute zum
gleichen Zeitpunkt auf die Straße zu bringen, doch um
einiges größer war.
                                                              Online-Petitionen, #BlackLivesMatter, #MeToo – es scheint als würde
  Die Aktivisten mussten Plakate kleben oder
Flugblätter verteilen.                                        Protest zunehmend in den digitalen Raum wandern. Der Politikwissen-
   Was ja auch in der Vergangenheit schon der Fall war:
                                                               schaftler Daniel Staemmler widerspricht. Damit eine soziale Bewegung
Wenn man versucht für große Proteste zu mobilisieren,                     Erfolg hat, müsse sie digital und analog anschlussfähig sein.
lässt sich das schwierig unsichtbar machen. Man könnte
die These anstrengen, dass das über Messenger-Dienste
                                                                                                                                                 Von Elena Bruckner
um einiges leichter geworden ist. Das bleibt allerdings
auch ein wenig fraglich, denn natürlich können sich
                                                          schwieriger. Andererseits gibt es ganz gute Erkenntnisse         Das wäre zu viel. Sie sind aber nicht mehr so prä-
auch Vertreter der staatlichen Institutionen in diese
                                                          aus der Forschung, dass ein Hashtag immer dann be-            sent. Auch die Beteiligung an Online-Petitionen oder
Gruppen einschleusen.
                                                          sonders gut funktioniert, wenn er anschlussfähig ist.         an Hashtags reichen nicht aus, um in der Aufmerk-
 Ganz allgemein gefragt, wie verändern digitale           Zum Beispiel im Hashtag #WhyIStayed, wo es um                 samkeitsökonomie, die wir haben, ein Anliegen an die
Medien Protestbewegungen?                                 häusliche Gewalt geht. Diese Formulierung hat wun-            Politik heranzutragen. Dafür braucht es dann doch die
                                                          derbar dazu geführt, dass Leute das in eigene Aussagen        Kombination mit der Demonstration auf der Straße
   Zum einen gibt es das ganz alte Versprechen des In-
                                                          aufnehmen konnten.                                            oder mit weiteren kreativen Aktionen.
ternets, nämlich die Vernetzung: Jeder kann mit jedem
kommunizieren. Daraus wird immer wieder abgeleitet,         Braucht es dann analogenProtest überhaupt                      „Fridays for Future“ organisiert sich basisde-
dass es für soziale Bewegungen einfacher geworden ist,    noch?                                                         mokratisch in WhatsApp-Gruppen. Und doch
Leute zu mobilisieren. Zum anderen gibt es auch sozi-                                                                   sind Greta Thunberg und Luisa Neubauer für
                                                              Wir sprechen derzeit von einem hybriden Medien-
ale Bewegungen, die aus eher diffusen Massen online                                                                     uns die Gesichter der Bewegung. Kommen Pro-
                                                          system. Wir haben neben der digitalen Welt immer
entstehen. Die großen Beispiele hierfür sind #Black-                                                                    testbewegungen am Ende doch nicht ohne Füh-
                                                          noch eine politische Öffentlichkeit, die stark über die
LivesMatter oder #MeToo. Hier haben sich Leute um                                                                       rungsfiguren aus?
                                                          klassischen Zeitungen und das Fernsehen organisiert
einen Hashtag herum auf Twitter unterhalten und Dis-
                                                          ist. Das heißt nicht, dass man nicht auch unabhängig             Auf kurz oder lang kommt es immer zu gewissen
kriminierungserfahrungen ausgetauscht. Und über die
                                                          von diesen Medien Leute für ein Protestereignis errei-        Hierarchisierungen, einfach weil die Koordination von
Zeit werden aus diesen eher losen Assoziationen auch
                                                          chen kann. Aber um dauerhaft die Aufmerksamkeit               Bewegungen anders kaum zu leisten ist. Und Massen-
Proteste auf die Straße getragen.
                                                          von politischen Institutionen zu finden, muss man in          medien sind auf Ansprechpartner angewiesen. Aber na-
   Was können solche Hashtags denn für sich al-           die gesellschaftliche Debatte hereinkommen, die über          türlich, die Organisation von Protest über Telegram wie
leine bewirken?                                           die Massenmedien organisiert wird. Wenn der Thread            etwa in Hongkong ermöglicht es, zuerst einmal keine
                                                          auf Twitter es schafft, die Aufmerksamkeit von Me-            Bewegungspersönlichkeiten hervorzubringen. Dann hat
   Da ist zum einen das Empowerment, also die Tat-
                                                          dienvertreter*innen zu erlangen oder wenn sich Politi-        bei den letzten Protesten des Umbrella Movement 2014
sache, dass man sich mit vorher Unbekannten aus-
                                                          ker*innen beteiligen, dann ist der Weg frei, um in diese      Joshua Wong diese Rolle auf sich genommen und saß
tauschen kann. Zum anderen können gerade auf einer
                                                          klassische politische Öffentlichkeit zu kommen.               bis vor kurzem noch im Gefängnis. Das sind natürlich
Plattform wie Twitter Themen politisiert und an die
                                                                                                                        Sachen, die so eine Bewegung vermeiden will.
Politik oder die Massenmedien herangetragen werden.         Welche Vorteile sprechen für digitale, welche
Gerade dabei ist aber auch wichtig zu sehen, dass es so   für analoge Protestformen?                                       In Hongkong organisiert sich der Protest un-
was wie den Digital Divide gibt.                                                                                        ter anderem auch über Online-Rollenspiele, De-
                                                             Ich glaube, dass beides nicht so richtig voneinander
                                                                                                                        monstranten nehmen im echten Leben beispiels-
  Was bedeutet das?                                       zu trennen ist. Man hat das beispielsweise bei den Pro-
                                                                                                                        weise die Rollen von Feuer- oder Wassermagiern
                                                          testen gegen die Urheberrechtsreform in diesem Jahr ge-
   Nur ein sehr geringer Teil, circa vier Prozent der                                                                   ein.
                                                          sehen. Da gab es online schon lange Debatten um diesen
deutschsprachigen Bevölkerung, ist regelmäßig auf
                                                          berühmten Artikel 13. Es gab viel Kritik, die aber erst          Das hat mich an die Anti-Globalisierungsbewegung
Twitter unterwegs. Man könnte also davon sprechen,
                                                          dann richtig Schlagkraft entwickelt hat, als der Protest      erinnert. Also an groß angelegte Proteste, wie wir sie
dass es ein ziemliches Elitenmedium ist. Man erreicht
                                                          sich auf die Straße verlagert hat. Ich glaube, dass sich      heute noch bei G20 kennen oder gegen die Welthan-
über einen Hashtag vielleicht diese Eliten, aber damit
                                                          analoger Protest, von der Demo bis zu Formen des zi-          delsorganisation in Seattle 1999. Da gab es auch schon
ist noch lange nicht gesagt, dass man auch wirklich
                                                          vilen Ungehorsams, und digitale Formen ergänzen. Die          sehr performative Rollen, die verschiedene Gruppen
Erfolg hat. Dafür kommt es auch darauf an, dass der
                                                          Zeiten des rein digitalen Protests sind, glaube ich, passé.   eingenommen haben. Es gab Leute, die dafür zuständig
Druck auf die Massenmedien oder auch die Politi-
                                                          Die eher radikale Form wie der Aktivismus durch Ano-          waren, kreativ bestimmte Zufahrtswege zu blockieren,
ker*innen konstant gehalten wird. Da befindet sich so
                                                          nymous hat ja auch darauf gebaut, Aufmerksamkeit zu           geradezu karnevalesk mit Verkleidungen. Genauso se-
ein Hashtag-Aktivismus in der gleichen Konkurrenz
                                                          generieren. Sie ist aber auch sehr schnell kriminalisiert     hen wir auch in Hongkong, dass bestimmte Leute die
um Aufmerksamkeit wie viele andere Protestbewegun-
                                                          worden. Das sind Formen des digitalen Protests, die wir       Aufgabe haben, gegen Tränengaskanister vorzugehen.
gen auch.
                                                          derzeit gar nicht mehr so richtig sehen.                      Dass es da bei einer großen Verbreitung von Online-Ga-
  Wann hat so ein Hashtag Erfolg?                                                                                       ming naheliegt, sich etwa als Gilde zu verstehen, wie
                                                             Anonymous ist vor allem mit Hacking-Angrif-
                                                                                                                        wir es aus „World of Warcraft“ kennen, scheint mir
   Zum einen muss es ein gewisses Gelegenheitsfenster     fen, unter anderem gegen Scientology und die
                                                                                                                        einfach nur eine Übertragung altbekannter Rollenver-
geben. Wenn das Thema schon durch andere Bewe-            Regierungen mehrerer Länder, aufgefallen. Sind
                                                                                                                        ständnisse zu sein.
gungen oder Organisationen besetzt ist, macht es das      radikale digitale Proteste gescheitert?

  wirklich\\wahr 04                                                                                                                                                          11
Ich mache viel am Computer, also höre ich           Bei Facebook geben wir uns etwas mehr Mühe,         erschaffen, verbinden können und sehen, dass
auch viel Musik darüber. Ich stelle mir dann        pushen ab und zu Beiträge oder schalten be-         es ähnlich aussieht wie das Design einer ande-
eine Playlist zusammen oder haue ein neues          zahlte Anzeigen. Das Internet ist glaube ich        ren Band in dem Bereich.
Album rein und dann arbeite ich nebenher.           schon wichtig, um bekannt zu werden. Face-
                                                                                                        Mir macht die Arbeit live mehr Spaß, als die
Ich gebe zu, ich bin ein Internet-Pirat. Ich lade   book, YouTube, Spotify etc. sorgen automatisch
                                                                                                        im Studio. Die Arbeit im Studio ist sehr inten-
Sachen einfach runter. Man kann es jetzt mo-        für eine gewisse Reichweite, global betrachtet.
                                                                                                        siv und eher wie eine Fortbildung. Die Touren
ralisch sehen. Ich selbst sage, wenn eine Band      Das merken wir, wenn unter einem Video ein
                                                                                                        sind eher ein bisschen wie Urlaub. Wenn man
was released und es landet im Internet, dann        Kommentar auf Russisch steht: „Kommt mal zu
                                                                                                        mit seinen Kumpels im Bus rumfährt, Quatsch
downloade ich es. So denke ich auch über un-        uns!“ Ist natürlich schön, so etwas zu lesen. Es
                                                                                                        macht und dann abends die direkte Reaktion
sere Musik: Wenn die auf irgendeine Weise im        heißt, jeder Mensch kennt jeden über ein paar
                                                                                                        zu seiner Arbeit erhält. Das ist dann eigentlich
Internet landet und runtergeladen wird, den-        Ecken und es kann schnell passieren, dass je-
                                                                                                        viel wertvoller, als sich im Studio zu verbarrika-
ke ich, ja klar, ich habe vielleicht auch deine     mand aus Japan deine Musik hört. Das ist dann
                                                                                                        dieren und an etwas tagelang zu arbeiten, um es
Band runtergeladen. Das ist so der musikali-        schon ein Erfolgsgefühl.
                                                                                                        danach hochzuladen oder auf CD zu brennen.
sche Kommunismus.
                                                    Aber das Direkte, dass man etwas Umsatz
                                                                                                        Wir haben auch schon Konzerte gespielt, wo
Gegründet haben wir uns, als wir alle zufällig      macht und unterwegs ist, passiert über Konzer-
                                                                                                        fünf Leute da waren. Aber wenn die fünf wirk-
gemeinsam auf Das Fest 2010 waren, damals           te viel mehr. Auch der Umgang mit den Fans
                                                                                                        lich interessiert waren, hat es einem fast mehr
spielte eine amerikanische Post-Rock-Band.          unterscheidet sich. Über unsere Texte können
                                                                                                        gegeben als 1.000 Klicks. Online kannst du
Ich kannte die meisten von uns schon vom            wir gut vermitteln, was einen bewegt, was ei-
                                                                                                        einfach nicht beurteilen, ob die Person gleich
Sehen. Nach dem Konzert kam unser jetziger          nem auf der Seele lastet. Damit beschäftigen
                                                                                                        weitergeklickt oder es sich komplett angehört
Gitarrist auf mich zu und meinte, dass das          sich die Leute online und fragen, was das für
                                                                                                        hat. Ich glaube, das ist so ein psychologisches
                                                                                                        Ding, wie auch in den Nachrichten. Es ist nun
                                                                                                        mal ein Unterschied, ob jemand in Australien

     Talking ’bout                                                                                      stirbt oder in deiner Stadt. Ich glaube, so ähn-
                                                                                                        lich ist das mit Konzerten, wenn ich mich mit
                                                                                                        den Besuchern austausche und die mir sagen:

     my Generation
                                                                                                        „mega geil“. Das ist etwas anderes, wie wenn ich
                                                                                                        einfach eine Zahl sehe.

                                                                                                        Alfi ist Bassist der Postrock-Band Watered. Er ist
     Wer als Musiker Erfolg haben will, muss nicht nur gute Musik ma-                                   29, kommt aus Moskau und lebt seit 20 Jahren in
     chen, sondern sie auch zum Publikum bringen. Eine Solokünstlerin                                   Karlsruhe.
     und ein Bassist erzählen, wie ihnen digitale Medien dabei helfen.

     Protokolle aufgezeichnet von Sofie Woldrich                                                        +++

                                                                                                        Ich habe erst vor zwei, drei Jahren mit der Musik
                                                                                                        angefangen. Damals hatte ich schon gute Ideen,
                                                                                                        aber ich kannte mich mit der Technik nicht aus.
                                                                                                        Ich habe dann mit meinem Handy aufgenom-
                                                                                                        men, die Umsetzung war dadurch echt schlecht.
                                                                                                        Mittlerweile nutze ich Ableton Live, das ist ein
                                                                                                        professionelles Musikprogramm, das ich auf
                                                                                                        meinem MacBook installiert habe. Ich schließe
                                                                                                        mein Mikrofon über ein Audiointerface an und
                                                                                                        nehme dann erst einmal die Vocals und die Gi-
                                                                                                        tarre auf. Über ein Midiboard, das man sich wie
                                                                                                        ein kleines Keyboard vorstellen kann, und ein
                                                                                                        Launchpad spiele ich virtuell Instrumente und
                                                                                                        Effekte ein. Ein Schlagzeug zum Beispiel. Da-
                                                                                                        bei muss man aber darauf achten, dass die Töne
                                                                                                        nicht zu perfekt im Takt liegen, sonst wirkt das
                                                                                                        schnell undynamisch. Das passiert digital sehr
                                                                                                        schnell und in der Realität so gut wie nie.

                                                                                                        In einer Band zu spielen kommt für mich nicht
doch geil gewesen sei und wir sowas mal selbst      ein Zitat ist oder was wir damit zum Ausdruck       infrage. Ich habe hin und wieder Kollaborati-
machen sollten.                                     bringen möchten. Bei Konzerten kommt man            onen, aber das muss dann echt passen. Als So-
                                                    eher auf natürliche Weise ins Gespräch. Daher,      lokünstler ist man ungebunden und kann an
Heute haben wir 350 monatliche Hörer und                                                                seinem eigenen Ding arbeiten. Außerdem hätte
                                                    glaube ich, ist da die Person auch relevant, wäh-
2.000 Likes. Das kam etwas überraschend. Wir                                                            ich zu sehr Angst, dass ich inmitten eines Pro-
                                                    rend online die Musik deutlich bedeutender ist.
investieren eigentlich fast nichts in Spotify,                                                          jekts alleingelassen werde.
haben da einmal die Alben hochgeladen und           Ich mache die ganzen grafischen Sachen bei uns.
seitdem ist das irgendwie ein Selbstläufer.         Ein bisschen guckt man sich das von anderen         Für meine Uploads nutze ich SoundCloud und
Immer wieder mal steckt uns jemand in eine          ab. Angefangen beim Schriftzug über das Cover       YouTube. SoundCloud ist am einfachsten und
Playlist – „Postrock Germany“ oder sowas –          Art bis zu den Fotos. Man hat im Hinterkopf,        schnellsten. Auf YouTube dauert es schon mal
das hilft natürlich.                                etwas zu nehmen, das unseren Hörern gefällt,        vier Stunden. SoundCloud ist auch am billigs-
                                                    dass sie sich auch mit der Erlebniswelt, die wir    ten, aber ich fühle mich da nicht richtig wohl.

12                                                                                                                                  wirklich\\wahr 04
Da ist eher Rap und Trap vertreten und es ist
ziemlich ausgestorben. YouTube passt für mein
Genre besser, außerdem spielen die Visuals für
mich eine enorme Rolle. Ich habe zu meinen
Tracks eigentlich immer eine Story im Kopf, ir-
gendein Gefühl, das ich zu vermitteln versuche.
Die Leute wollen Identität, sie wollen etwas
von dir mitbekommen. Das geht auf Sound-
Cloud nicht.
Spotify habe ich überlegt, aber dafür ist mei-
ne Aufnahmequalität nicht gut genug. Außer-
dem kostet das mehr. Zum Hören nutze ich
es dafür sehr viel. Ich mag unkonventionelle
Sachen, also kein Mainstream-Zeug, was so in
den Charts ist, wo sich alles gleich anhört. Vie-
le kleine Künstler, Musik bei der ich denke, sie
ist anders. Die sind meist auf YouTube stärker
vertreten und unterwegs habe ich kein Spotify.
Live kann man viel programmieren, aber es ist
auch viel Impro, gerade mit Gitarre. Ich pro-
duziere nur eine Bassline und den Drum Beat,
weil der sonst echt aufwendig ist. Darunter lei-
det die Flexibilität, die live für mich besonders
macht. Die Strukturen sind dann vorgeschrie-
ben, aber es ist deutlich mehr als Playback.
Auf Instagram bin ich am meisten unterwegs,
deswegen bekomme ich da auch das stärkste
Feedback. Da knüpft man auch am schnells-
ten neue Kontakte. Manche Leute finden mich
über mein Kunstprofil und kommen darüber
auf mein Personenprofil. Letztens kam jemand
aus Australien auf mich zu, fand meine Kunst
cool und hat sich dann meine Musik angeguckt.
Wenn du dann daran arbeitest, guten Content
zu veröffentlichen, ist die Wahrscheinlichkeit
auch viel höher, dass du angeschrieben wirst.
Und dann kommt man ins Gespräch. Au-
ßerdem ist es Etikette, dass wenn dir jemand
folgt, du auch ihm folgst. Da ergeben sich ganz
schnell Netzwerke.
Meinen Feed fülle ich einfach mit irgendwel-
chen Ideen. Die fallen mir auf dem Klo oder
beim Duschen ein. Ich chille immer in der lee-
ren Badewanne, da habe ich auch schon viele
Lyrics entwickelt. Das Bad ist irgendwie mein
kreativer Ort.
Man muss sich halt darüber klar sein, dass In-
stagram ursprünglich eine Fotoplattform ge-
wesen ist, da steht die Person im Vordergrund.
Viele kommen erst später oder gar nicht auf
meine Musik. Aber ich bekomme insgesamt ei-
gentlich echt viel positive Rückmeldungen, das
ist sehr sehr cool.
Ich versuche immer innovativ zu sein, versuche
neue Technologien zu verbinden mit Kreati-
vität. Viel mit Licht zum Beispiel, ich mag es
Leute zu verblüffen. Dass sie nicht checken, wie
man es kreiert hat, das mag ich.

Die 23-jährige Solokünstlerin Sarah alias Miss Need-
le wohnt in Stuttgart. Sie beschreibt ihre Musik als
eine Mischung aus Dark Ambience, Elektro und Pop.

  wirklich\\wahr 04                                    13
Touchscreen statt
Tafel
Die Bundesregierung gibt Milliarden für die Digitalisierung
an Schulen aus. Unser Autor ist auf einer Vorreiter-Schule in
Sachen digitales Lernen, früher war er das nicht.

Wo lernt man besser?
Von Aaron Schröder

W           enn es nach der Bundesregierung
            geht, soll durch Deutschlands Schu-
            len eine Art Bildungsrevolution ge-
hen. Seit Mai 2019 ist der DigitalPakt Schule in
Kraft. Insgesamt fünf Milliarden Euro wollen
                                                   weise des Lehrers an und wie er seinen Unter-
                                                   richt durchführt. Digitale Medien könnten al-
                                                   lenfalls Ergänzung sein.
                                                      Als ich von dem Digitalpakt hörte, dach-
                                                                                                         kommen mit dem Tablet in die Klasse, verbin-
                                                                                                         den es drahtlos mit dem Beamer an der Decke
                                                                                                         und beginnen den Unterricht. Für alles außer-
                                                                                                         halb des Klassenzimmers gibt es eine Lernplatt-
                                                                                                         form im Internet. Das sieht dann zum Beispiel
                                                   te ich an meine bisherige Schulzeit. Ich war
Bund und Länder in den kommenden Jahren                                                                  so aus: Meine Religionslehrerin stellt in dieser
                                                   bis zur neunten Klasse auf einer öffentlichen
den Schulen zur Verfügung stellen. Damit soll                                                            Lernplattform eine Aufgabe ein, wir sollen zu
                                                   Schule, wo Digitalisierung nur ein Thema von
der Unterricht digitaler, vor allem aber besser                                                          einem Arbeitsblatt online Stellung beziehen.
                                                   vielen war. Später bin ich auf eine Privatschule
werden. Es soll mehr WLAN in den Schulen ge-                                                             Man kann aber auch auf einem Blatt Papier
                                                   gewechselt, die sich selbst als digitaler Vorreiter
ben, Lernplattformen im Internet, Tablets statt                                                          schreiben und es als PDF oder Foto hochladen.
                                                   sieht. Ich stellte mir die Frage: Kann man digi-
Schulbücher.                                                                                             Auf der Plattform kann ich meine Prüfungs-
                                                   tal eigentlich besser lernen?
                                                                                                         termine sehen und welche Aufgaben ich noch
  Doch es gibt auch Wissenschaftler, wie der
                                                     In meiner neuen Schule in Koblenz gibt es           erledigen muss.
Bildungsforscher John Hattie etwa, die sagen
                                                   mehrere Computerräume, ausgestattet mit mo-
Digitalisierung sei überschätzt. Hattie argu-                                                               Mir erleichtert das die Arbeit und das Ler-
                                                   dernster Technik. In den Klassenzimmern hän-
mentiert, es brauche keine Digitalisierung als                                                           nen. Mit wenigen Klicks kann ich auf alle wich-
                                                   gen zwar noch Kreidetafeln, aber wir können
Selbstzweck. Es komme vielmehr auf die Denk-                                                             tigen Informationen zugreifen. Wenn ich krank
                                                   auch Beamer benutzen. Viele meiner Lehrer

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bin, finde ich alles auf der Lernplattform. Mei-      von Cybermobbing gegeben, so Liebe. Er will             Beide Schulen setzen noch auf die bewährte
ne Schultasche ist jetzt viel leichter. Jeden Tag     WLAN in der Schule installieren, aber vorerst        Papierform. Das ist wohl auch ein Entgegen-
schleppen Schüler in Deutschland durchschnitt-        nur für das Kollegium. Er befürchtet, dass die       kommen an die Lehrer, die sich mit der Technik
lich zehn Kilogramm an Büchern in die Schule.         Schüler das ausnutzen würden, etwa für illegale      eines digitalen Klassenraums nicht vertraut ma-
Ich habe nur meinen Ordner dabei und ab und           Downloads.                                           chen wollen. Kai Liebe betont das so: „Ich den-
zu Bücher für die Hauptfächer.                                                                             ke das wäre schon ein ziemlich großer Schritt,
                                                         An meiner jetzigen Schule in Koblenz gibt es
                                                                                                           wo dann auch wirklich alle Kollegen mitziehen
   An meiner alten Schule im Westerwald gab           ab der Unterstufe iPad-Klassen. Die iPads sind
                                                                                                           müssen“.
es weniger technische Geräte – aber ganz analog       mit dem schulischen WLAN verbunden, aller-
waren wir nicht unterwegs. Es gab Smartboards         dings können die Schüler keine Apps herun-             Meine alte Schule im Westerwald erhält im
in den Klassenzimmern, interaktive Tafeln, bei        terladen und die Zugriffe für spezielle Websites     Zuge des Digitalpakts im kommenden Jahr
denen ein Beamer das Bild auf eine weiße Fläche       sind gesperrt – jeder Schritt des Schülers ist ge-   180.000 €. Ein Teil davon geht für das WLAN
projiziert. Wirklich benutzt hat das aber nie-        nau nachvollziehbar.                                 drauf. Ich finde, man sollte diese Summe auch
mand. Die Lehrer schrieben ihre Einträge meis-                                                             in Fort- und Weiterbildungen investieren –
                                                         Viele Lehrer setzen digitale Medien sinnvoll
tens auf die Whiteboards, die wie Flügel rechts                                                            für Lehrer und Schüler. Liebe macht deutlich:
                                                      ein, aber längst nicht alle. Oft müssen wir Schü-
und links an dem Smartboard angeschraubt wa-                                                               Um das gebrochene Vertrauensverhältnis wie-
                                                      ler aushelfen, beispielsweise wenn die Lehrer
ren. Auch die Technik funktionierte oft nicht,                                                             derherzustellen, müssen Schüler den richtigen
                                                      ihre iPads nicht mit dem Beamer verbinden kön-
manchmal war der Beamer verdreckt oder der                                                                 Umgang mit digitalen Medien lernen. Sie müs-
                                                      nen. An meiner alten Schule war das ähnlich. Ich
Stift musste neu kalibriert werden.                                                                        sen verstehen, sie richtig für sich zu nutzen. Das
                                                      kann mich an eine Lehrerin erinnern, die sich
                                                                                                           braucht Zeit und vor allem geschultes Personal.
   Kai Liebe, der Schulleiter meiner alten Schu-      von uns immer das Smartboard hat anmachen
le, bezeichnet die Smartboards heute als „guten       lassen. „Viele Kollegen sind nach wie vor skep-         Im Westerwald startet man gerade ein Ex-
Einstieg“, sie seien jedoch längst überholt. Bei      tisch“, sagt Liebe, auch nach zehn Jahren Smart-     periment: Lehrer produzieren mit Schülern
einem Besuch an meiner alten Schule führt mich        board. Es gebe motivierte Kollegen aber viele sei-   Erklärvideos. Das Prinzip ist einfach – Schüler
Liebe durch die Klassenräume der Zukunft. Wo          en auch überfordert. Diesen Eindruck teile ich;      präsentieren anderen Schülern ihr Wissen über
früher grüne Tafeln standen, stehen heute riesige     ich habe ihn auch bei meiner neuen Schule.           ein Video, das auch zu Hause abgerufen wer-
Bildschirme. Mit einem Stift kann man einfach                                                              den kann. Auch Lehrer können solche Videos
                                                         In Klassenzimmern beider Schulen gibt es
darauf schreiben, die Panels sind viel präziser                                                            aufnehmen. Die Lehrer werden so eher zu Lern-
                                                      noch ein Relikt aus alten Zeiten, es wirkt ein
als die Smartboards. Panels statt Tafelgrün und                                                            begleitern.
                                                      bisschen wie aus dem Museum: die Overhead-
Kreideweiß – es wirkt, als sei das der ganze Stolz
                                                      projektoren. An meiner alten Schule wurden              In einer kürzlich erschienenen Studie beno-
seiner Schule.
                                                      diese noch häufiger benutzt als an meiner neuen.     ten 5.000 Schulleiter die digitale Ausstattung
   Liebe glaubt an die Digitalisierung und ist of-    Es gibt iPads, Beamer, Smartboards und Doku-         ihrer Schule im Durchschnitt mit einer Drei
fen für neue Technologien. „Da geh’ ich mit der       mentenkameras – also wofür brauchen wir die          Minus. Kai Liebe sieht seine Schule mit einer
Zukunft“, sagt er. Aber er sieht ein zentrales Pro-   Dinger noch?                                         glatten Zwei auf einem guten Weg. Ich habe
blem: Das Vertrauen. Als ich vor einem Jahr noch                                                           auch die Schulleitung meiner neuen, digitalen
                                                        Mir scheint, bei all der Digitalisierung in der
an der Schule war, waren Handys zwar eigent-                                                               Schule nach einer Note gefragt. Der stellvertre-
                                                      Schule haben die „Digital Immigrants“ unter den
lich verboten aber wir durften sie oft trotzdem                                                            tende Schulleiter gab eine glatte Eins.
                                                      Lehrern noch ein zweites Relikt zum Rückzug
benutzen. Damit ist jetzt Schluss. Es habe Fälle
                                                      aus der digitalen Welt – das Klassenbuch.

  wirklich\\wahr 04                                                                                                                                       15
16   wirklich\\wahr 04
Eine ruhige Seitenstraße in der Altstadt von       eine andere Art von Rückzugsort unterwegs,           Sinnkrise gerutscht damals. Wusste überhaupt
Köln. Das Hupen der Großstadt ist kaum zu          wenn du dein eigenes kleines zu Hause hast.          nicht, was ich machen will.“ Sonst so ruhig,
hören. Etwa ein Dutzend Autos, geparkt auf         Das ist das ultimative Gefühl von Freiheit.“         spricht sie nun eilig und irgendwie etwas rast-
der rechten Straßenseite – auch Malenas VW                                                              los über diese Phase. Eine Phase der Verände-
                                                      Aufbruch und Freiheit. Zwei Worte, die ich
Bus. Seit September baut sie ihn um. Ab Som-                                                            rung. Erste Kontakte mit Ortsunabhängigen
                                                   in letzter Zeit oft gehört habe. Mit fünf digi-
mer 2020 will sie unterwegs sein.                                                                       entstanden durch eine Konferenz, in der die
                                                   talen Nomaden habe ich per „Zoom“, einem
                                                                                                        Teilnehmer „ermutigt werden, ihren eigenen
   Malena ist eine „digitale Nomadin“. Digitale    Service für Webkonferenzen, gesprochen. Fünf
                                                                                                        Weg zu gehen. Welcher auch immer das ist.“
Nomaden – so nennen sich Menschen, deren           Geschichten habe ich kennengelernt. Adrian,
                                                                                                        Gleichgesinnte, von denen manche ihr Leben
Arbeit durch Digitalisierung nicht an einen        zum Beispiel, ist Designer und Fotograf. Woh-
                                                                                                        bereits geändert haben. Sie lernt unter ande-
Ort gebunden ist. Sie studierte Design, arbei-     nungen mietet er an verschiedenen Orten der
                                                                                                        rem Johannes kennen, der ist Gründer einer
tete in Kapstadt, verbringt seit einigen Jahren    Welt, immer möbliert und für ein paar Mona-
                                                                                                        Kreuzfahrt für digitale Nomaden.
ihre Winter dort oder in Brasilien. Aber das       te. Dort arbeitet er, je nach Auftragslage. Da-

                             Schneckenhaus-Zuhause
              Dank Internet lassen sich viele Berufe von überall auf der Welt ausführen.
              Das hat eine neue Subkultur ermöglicht: Das digitale Nomadentum. Men-
             schen geben Haus oder Wohnung auf und ziehen alle paar Wochen an einen
             anderen Arbeitsplatz, rund um die Welt. Wir haben eine angehende Noma-
                        din bei der Vorbereitung für ihren Aufbruch begleitet.
                                                             Von Klara Hofmann

                                                                                                           Malena baute ihr Fundament zur Selbst-
reicht ihr nicht. Sie will in ihrem VW Bul-        nach zieht er weiter. Ganz anders reisen Eva,
                                                                                                        ständigkeit aus Berufserfahrung und „Skills“,
li umherreisen und von unterwegs arbeiten.         Jan und der sieben Monate alte Luis: Anfangs
                                                                                                        die sie sich angeeignet hat. Nicht zu vergessen
Über die Grenzen Deutschlands, ihrer Woh-          zu Fuß unterwegs, unterstützen und verbrei-
                                                                                                        aber auch Zweifel, die sie hatte. „Wer bin ich
nung, ihrer Stadt und ihres WLan-Netzwerks         ten sie inzwischen zu dritt und auf Rädern so-
                                                                                                        denn schon? Ich stehe noch ganz am Anfang.“
hinaus. Was treibt Menschen wie Malena an?         ziale Projekte in Europa. Arbeit und Studium
                                                                                                        Angst und Neugierde vor dem Unbekannten.
Wonach sind sie auf der Suche?                     laufen parallel dazu – dank Internetzugriff –
                                                                                                        Und dann ist da das Risiko der Einsamkeit.
                                                   von unterwegs.
   Eine Woche zuvor lädt sie mich per Tele-                                                             „Ich glaube, das Gefühl von Alleinsein, das
fongespräch ein, in ihre Wohnung zu kom-              Ungebunden sein ist unsere Idee von Frei-         kommt durchaus auf. Das gehört auch dazu.
men. Heute, an einem Sonntagnachmittag im          heit. Freiheit das große Projekt der Moder-          Zu lernen, damit umzugehen.“
November, wünscht mir ihre Fußmatte zur            ne, das Ideal unserer Zeit. Aber da ist auch
                                                                                                           Einer ihrer Freunde reiste allein nach Aus-
Begrüßung eine gute Reise. Später am Abend         eine andere Seite von Freiheit: Verzweiflung,
                                                                                                        tralien, arbeitete frei, besuchte eindrucksvolle
wird Malena mich mit einem „Komm, lass dich        Orientierungs- und Sinnlosigkeit. Wir haben
                                                                                                        Orte und erlebte tolle Dinge. Nach wenigen
drücken“ und einer Umarmung verabschieden.         mehr Möglichkeiten als jemals zuvor. Und
                                                                                                        Monaten kehrte er niedergeschlagen zurück.
Die 29-Jährige öffnet mir in Jeans und einem       doch mehr Angst vor Verpflichtungen als je-
                                                                                                        Geschichten wie seine hört man häufiger,
locker sitzenden Shirt. „Meine Unterstützung       mals zuvor. Wir müssen nichts mehr beweisen,
                                                                                                        spricht man mit Heranwachsenden, die auszo-
für den Bau am Bulli musste kurzfristig absa-      nichts mehr erkämpfen. Wir können schein-
                                                                                                        gen, die Welt zu erobern.
gen. Heute bin ich nicht dazu gekommen, da-        bar immer und überall sein, alles ist nah. Wo
ran zu arbeiten“. Malena zuckt die Schultern.      aber finden wir unseren Platz, wenn der über-          Wir sind Generation „Y“. Generation „Why“.
Kaffee? Kuhmilch hat sie nicht, der Zucker ist     all sein kann?                                       Und Generation „Maybe“. Es heißt, wir sind
leer. Dankend nehme ich Hafermilch entge-                                                               egoistisch, anspruchsvoll, faul, impulsiv, un-
                                                      Malena grinst, als ich sie frage, warum sie
gen.                                                                                                    geduldig und doch irgendwie willenlos. Wir
                                                   eine Digital-Nomadin werden will. „Den Mo-
                                                                                                        hinterfragen und wir kritisieren, wollen gese-
   Einer ihrer Freunde aus Berlin hatte mich       ment habe ich regelmäßig.“ Beispiele? „Sachen,
                                                                                                        hen werden und uns selbst verwirklichen. Wir
auf sie aufmerksam gemacht, ich fand ihn           die die deutsche Mentalität mitbringt. Dass
                                                                                                        wollen für uns das Beste rausholen. Wie das
durch Instagram. Jetzt sitzt sie vor mir und er-   alle sehr gestresst sind und Dinge sehr nega-
                                                                                                        aussieht? Wissen wir nicht. Deshalb sind wir
zählt von ihrem Projekt: Das erste Ziel: Skan-     tiv sehen. Sich über Sachen aufregen, die nicht
                                                                                                        auf der Suche. Wonach? Wissen wir nicht. Ha-
dinavien. Von dort aus weiter durch Europa.        wirklich schlimm sind.“ Ihre glatten blonden
                                                                                                        ben wir das Glücklichsein verlernt im Nebel
Wie lange genau ist noch unklar, sie möchte        Haare wippen während sie spricht.
                                                                                                        des ständig Möglichen?
spontan planen und flexibel bleiben – unter-
                                                      Nach ihrem Bachelor hat sie ein halbes Jahr
wegs sein. „schneckenhausmäßig“, beschreibt                                                               Kein Wunder, dass wir zerrissen sind. Wir
                                                   in Kapstadt gearbeitet, sieben Jahre ist das
sie den Lebensstil, den sie verfolgen will. Ihre                                                        blühen auf in der Welt, in der wir auf Ins-
                                                   jetzt her. „Die ganze Welt sagt dir ‚Nee, du
Stimme ist jetzt sanft und vorsichtig, forsch                                                           tagram allen Freunden und Nicht-Freunden
                                                   musst jetzt erwachsen werden, Malena, das ist
oder zackig war sie vorher nicht, aber eher lo-                                                         beweisen können, wie das perfekte Leben
                                                   jetzt so. Ist jetzt vorbei mit Freizeit.‘“ Schmun-
cker, entspannt, ungezwungen. „Es ist einfach                                                           aussieht. Dass die Realität weit weg ist davon?
                                                   zeln. Kurze Pause. „Bin dann in eine kleine

  wirklich\\wahr 04                                                                                                                                   17
Unwichtig. Aber genauso gut kennen wir die        verändert.“, sie stockt. Dieses Jahr haben sich    weilt sie in Gedanken. Freundschaften sind
Zeiten davor: Als ich klein war, machte ich       ihre beiden Leben vermischt: Menschen, die         auch auf Reisen entstanden, aber „so richtig
mir keine Gedanken darüber, welches der           sie auf Reisen kennenlernte, konnte sie auch       langjährige Freundschaften, die man hier hat,
45.647 Urlaubsbilder wohl am meisten Likes        „zu Hause“ in Deutschland treffen. Malena          ersetzt das nicht.“
bekommt, sondern, ob mein Vater gerade te-        lacht. „Das klingt irgendwie ein bisschen ko-
                                                                                                       Ihre Eltern, sagt sie, würden sich mehr wun-
lefoniert und ich deshalb das Analog-Modem        misch, aber es ist schön, wenn das gefühlt alles
                                                                                                     dern, wenn sie fest angestellt geblieben und
nicht unter Krachen und Krächzen mit dem          mehr Eins wird.“
                                                                                                     ihr Leben lang im Büro sitzen würde. Beim
Internet verbinden konnte. Auf dem Handy
                                                     Dann gibt es noch diejenigen, die genau das     Sprechen zeichnet sich ein Grübchen an der
aus Versehen die falsche Taste gedrückt? Zack,
                                                  nicht wollen. Die sich nur in dem einen Leben      rechten Seite von Malenas Mund ab.
willkommen im Vodafone-Store. Fünf Euro
                                                  verwirklicht sehen. Und eingeengt sind in dem
weniger auf meiner Prepaid-Karte.                                                                      Seit Kindheitstagen dieser Drang nach
                                                  anderen Leben. Abenteuer und Alltag – zwei
                                                                                                     Erlebnissen in fremden Umgebungen. Sich
   Langfristige Entscheidungen setzen wir         Gegensätze, die sich doch irgendwie gegensei-
                                                                                                     außerdem persönlich entwickeln, fern vom
gleich mit Begrenzungen: Sie machen uns           tig bedingen. Existiert das eine nicht, erleben
                                                                                                     gewohnten Umfeld. Dort, wo sie sich besser
Angst.                                            wir das andere nicht. Eine Flucht vor dem,
                                                                                                     kennenlernen und wachsen kann.
                                                  dessen Konfrontation „zu Hause“ wartet. Weg-
   An jedem Ort ein neues Umfeld aufbauen,
                                                  laufen ist so einfach.                               Sie erzählt mir von Naturphänomenen und
ein Abenteuer. An jedem Ort unbekannte
                                                                                                     Katastrophen, die sie miterlebt hat. Von Wald-
Nuancen seiner selbst entdecken, eine Chan-          Wir sprechen auch über Freundschaften, die
                                                                                                     bränden und anderen Dingen, die sie geprägt
ce. An jeden Ort den Anspruch stellen, die        noch nach Jahren bestehen. Und solche, die
                                                                                                     haben. „Das macht einen dankbarer. Und man
absolute Verkörperung von Glück zu sein, ein      es nicht tun. Viele ihrer Freundschaften sind
                                                                                                     hinterfragt auch viel: ‚Wie lebe ich hier? Muss
Problem?                                          zerbrochen, ein paar enge sind geblieben. Mit
                                                                                                     das so sein? Was kann ich mir von Anderen
                                                  ihnen trifft sie sich nur ein paar Mal im Jahr,
   Viele sind nach Jahren des Reisens auf der                                                        abgucken und lernen?‘“
                                                  unter ihnen hat sie ein Gefühl von Heimat.
Suche nach einem festen Wohnsitz. Malena
                                                                                                        Dort wo Risiko ist, ist auch ganz viel Mut.
hat Verständnis: „Weil es anstrengend ist, sich      „Die, die am meisten gegen schießen oder
                                                                                                     Im Dunst der Ungewiss- und Unentschieden-
alle zwei, drei Monate irgendwo einen neuen       Punkte finden, warum es nicht funktioniert,
                                                                                                     heit einen Schritt zu gehen, etwas zu wagen.
Lebensmittelpunkt aufzubauen. Neue Freunde        sind aber auch die, die es irgendwo selbst ger-
                                                                                                     Sich zu trauen und nicht nur äußere Umstän-
zu suchen. Aber auch viel arbeiten zu müssen.“    ne machen würden. Sich aber nicht trauen.“
                                                                                                     de, sondern auch innere Umstände zu hinter-
                                                  Andere Freunde raten ihr, doch „langsam mal
   Was oft untergeht: Digitaler Nomade zu                                                            fragen: sich selbst.
                                                  anzufangen, zu arbeiten.“
sein bedeutet nicht nur Reisen, Spaß und gute
                                                                                                       Die Arbeit vergisst Malena dabei nicht.
Laune.                                               Ihre Wohnung in Köln? „Ich bin nicht be-
                                                                                                     „Man braucht eine Menge Selbstdisziplin“,
                                                  reit, meinen Wohnsitz aufzulösen. Das hieße
   „Eine Zeit lang hatte ich damit zu kämp-                                                          sagt sie grinsend. Die sie nach eigener Aussage
                                                  auch, Freundschaften hier aufzugeben. Mehr
fen, dass man zwei Leben lebt. Man hat einen                                                         noch nicht immer besitzt.
                                                  oder weniger. Und da sind mir ein paar Leute
richtigen cut, als ob man eine Zeitreise zurück
                                                  zu sehr ans Herz gewachsen.“ Ihr Blick streift       Wie steht es um das Thema Liebe? Das Rei-
macht. Und in Deutschland hat sich nicht viel
                                                  meine Schulter und für einen Moment ver-           sen aufzugeben ist für sie keine Lösung auf

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Dauer: „Temporär machst du das. Aber dann
verleugnest du auch einen Teil von dir, der
dich ausmacht und der dir wichtig ist.“ Ma-
lena runzelt die Stirn. Wenn einer reist, sagt
sie, und der andere nicht, entwickelt sich eine
Seite sehr viel weiter und die andere stagniert.
Zukunftsplanung? Sie schmunzelt. „Ich glaub,
die habe ich gar nicht so richtig. Der Wunsch,
der bei mir in den letzten Jahren entstanden
ist, ist frei entscheiden zu können, wann ich
wo sein möchte.“ Dabei gehören Kompromisse
für sie dazu. „Wenn man es schafft, dass bei-
de ihre Leidenschaften leben können und die
auch noch teilen. Ich kann mir doch nichts
Schöneres vorstellen. Die Vorstellung finde ich
unfassbar toll.“
  Und Sicherheit? „Ich glaube, jeder hat so ein
bisschen das Streben nach Sicherheit. Aber ich
habe Vertrauen. Was ist das Schlimmste, was
passiert?“ Malena lehnt sich zurück und schaut
mich an. „Ich weiß, dass ich genug Berufserfah-
rung gesammelt habe, um jeder Zeit wieder in
Festanstellung gehen zu können“.
   Adrian, einer ihrer Freunde aus Berlin, hat
seinen Besitz minimiert. Sein Reisegepäck be-
schränkt sich auf einen Koffer, zehn T-Shirts,
drei Hosen. Viel Ballast bei sich haben, will er
nicht.
   Minimalismus, fast schon eine Art Askese,
als die vielleicht letzte übriggebliebene Art der
Rebellion gegen unsere Überflussgesellschaft?
Oder Befreiung von dem, was uns so unter-
schwellig als Lebensnotwendigkeit vermittelt
wird: Besitzt du viel, geht es dir gut.
  Ich hake nach: „Was brauchst du denn dann?“
„Die Flucht aus dem Alltag hier. In einen Ort,
an dem ich meine anderen Leidenschaften
mehr leben kann.“
   Während wir in der Dämmerung durch
Kölns Innenstadt schlendern, erzählt mir Ma-
lena von einer Frau, die das Singen liebte, da-
rin aber untalentiert war. Über den Zeitraum
der Kreuzfahrt für digitale Nomaden hinweg
nahm sie Gesangsstunden und präsentierte
am letzten Abend das Ergebnis. Sie schwärmt:
„Mit genug Hingabe und Übung kannst du al-
les schaffen. Hast du Talent, musst du eben nur
ein bisschen weniger dafür üben.“ Malena lacht
und sagt, sie würde gerne einmal in einer Ka-
raoke-Bar gehen. Aber da hätte sie Angst, vor
allen Leuten singen zu müssen. Schon komisch.
Eine Frau, die ihre Sachen packt, um alleine im
VW Bus um die Welt zu ziehen, hat Angst vor
einer Karaoke-Bühne.
   Ursprünglich war es mein Plan, einen Tag
im Leben eines digitalen Nomaden zu zeigen.
Jetzt, drei Wochen, viele Gespräche mit Di-
gitalnomaden und einige Erkenntnisse über
das Leben und mich selbst später, sitze ich am
Schreibtisch meines WG-Zimmers und schrei-          doch eins gelernt: Die Suche nach Freiheit,      anderes wagen: Eine Verpflichtung eingehen.
be. Aus den Augenwinkeln kann ich die Lich-         Glück, Zufriedenheit hat kein Ende. Es ist ein   Zwischen all den möglichen Wegen einen ehr-
ter der Autos vor meinem Fenster sehen. Hu-         Prozess, eine Reise. Und die sieht bei jedem     lich voll und ganz ausprobieren. Wenn es nicht
pen. Was würde ich dafür geben, jetzt an einem      Menschen anders aus. Welche Kontinente,          klappt, an der nächsten Kreuzung eine andere
Strand zu liegen und die Sonne zu genießen…         Länder oder vielleicht auch nur Städte man       Abzweigung nehmen. Sich selbst zuhören und
  Auch wenn ich – wie viele – nicht weiß,           kennenlernen muss, um bei sich anzukom-          ernst nehmen. Weiterschreiten statt flüchten.
wohin genau mein Weg führen wird, habe ich          men? Vielleicht sollten wir öfter etwas ganz     Entscheiden. Und dann: Machen.

  wirklich\\wahr 04                                                                                                                              19
Wie Digitalisierung den
Dialog retten kann
Reden wir über Digitalisierung, zeichnen wir oft ein negatives
Bild von ihrem Einfluss auf Kommunikation – Abhängigkeit
von Smartphones, Starren auf Displays. Dabei übersehen wir
die Chance, interkulturelle Barrieren zu überwinden und über
Grenzen hinweg ins Gespräch zu kommen.
Von Rebecca Ricker

20                                                               wirklich\\wahr 04
I   m Zug höre ich, dass sich hinter mir zwei
    Männer unterhalten. Sie sprechen Hebrä-
    isch, kommen vermutlich aus Israel. Was
sind ihre Erfahrungen in Deutschland? Neh-
men sie politische Diskussionen anders wahr?
                                                    schaft oder Freundschaft schließen? In der App
                                                    ist klar: Ich suche jemanden, um eine Fremd-
                                                    sprache zu üben. Vielleicht entwickelt sich eine
                                                    Freundschaft. Notwendig ist das nicht.
                                                                                                        Interessen angeben – und so Diskussionen zu
                                                                                                        TV-Serien des Landes, Politik oder dem Züch-
                                                                                                        ten von Kakteen starten.
                                                                                                           Im echten Leben bin ich darauf angewiesen,
                                                       Eine weitere Schwierigkeit beim interkultu-      Gemeinsamkeiten mit Menschen in meiner
Ich stelle mir vor, wie ich mich zu ihnen drehe
                                                    rellen Dialog ist die Sprache selbst. Ich spreche   Umgebung zu finden. In meinem Freundes-
und frage: „Ich habe gehört, dass ihr Hebräisch
                                                    zwar hebräisch, aber nicht fließend. Hinein-        kreis kann niemand verstehen, warum ich es
redet. Was denkt ihr über Deutschland und das
                                                    geworfen in eine spontane Situation, würde          liebe, Sprachen wie Hebräisch zu lernen. Im
Leben?“ Vielleicht haben sie gar keine Lust,
                                                    ich stottern, mir würden Worte fehlen. Mein         Internet finde ich Leute, die genauso begeistert
darüber zu sprechen. Oder sie müssen bei der
                                                    Gesprächspartner müsste geduldig sein, bis ich      sind wie ich. Dadurch kann ich mich ganz neu
nächsten Station aussteigen. Ich spreche sie
                                                    meine Sätze herausbringe – und konzentriert,        austauschen. Vielleicht sogar Freunde finden.
nicht an. Solche Hemmnisse erlebe ich häufig
                                                    um mich zu verstehen. Bei vielen meiner Freun-      Mit Freunden will ich meine Gedanken ordnen
– und spreche deshalb kaum mit Ausländern.
                                                    de bleiben Fremdsprachen deshalb Schulfach.         und versuchen, Empfindungen in Worten aus-
   Der Dialog scheitert. Nicht nur bei mir: Der     Auch meine Mutter hatte in der Schule meh-          zudrücken. Als ich in Frankreich lebte, habe
interkulturelle Dialog ist eine der größten He-     rere Jahre Französisch, später belegte sie einen    ich Gespräche gesucht, die mich zu neuen Er-
rausforderungen unserer Zeit. Laut Bundesamt        VHS-Kurs. Im Urlaub traut sie sich trotzdem         kenntnissen führen. Es war anstrengend, weil
für Migration und Flüchtlinge leben mehr als        nicht, mit Franzosen zu sprechen. Obwohl sie        mir Begriffe fehlten, um Nuancen zu vermit-
zehn Millionen Ausländer, Menschen ohne             genug Vokabeln kennt und viel versteht, fühlt       teln.
deutsche Staatsangehörigkeit, in Deutschland.       sie sich nicht bereit für ein Gespräch.
                                                                                                           Eine Tandem-Partnerin von mir hat diesel-
Trotzdem bestätigt eine Studie der Bonner
                                                       Im Internet ist das leichter: Ohne Zeitdruck     ben Probleme wie ich, auch sie tut sich schwer
Akademie für Forschung und Lehre prakti-
                                                    kann ich mich auf das Gespräch vorbereiten          damit, im Ausland Freunde zu finden. Nur ist
scher Politik: Wir hören meist nur Perspek-
                                                    und nach fehlenden Worten suchen, noch wäh-         Ausland für sie Berlin. Sie ist Israelin und lebt
tiven von Menschen aus unserer politischen
                                                    rend ich eine Antwort schreibe. Beide Seiten        seit einigen Jahren in der deutschen Haupt-
Strömung, unserer eigenen sozialen Schicht
                                                    werden Fehler machen und stellen sich darauf        stadt. Als sie mir von ihrem Leben dort erzähl-
und Nationalität.
                                                    ein, dem anderen zu helfen – beide wollen ja        te, fand ich meine Frankreich-Erfahrung darin
  Digitalisierung kann das ändern. Dialog           weiterkommen. Ich kann mich darauf konzen-          wieder. Wir beide hatten das Gefühl, wegen
muss nicht mehr im Zug anfangen, es reicht          trieren, wofür ich Fremdsprachen lerne: nicht       der Fremdsprache keine Freunde zu finden.
eine App.                                           für Perfektion, sondern für Kommunikation.          Auch uns fehlten in Gesprächen miteinander
                                                    Durch regelmäßige Gespräche sind wir ent-           immer wieder Worte. Trotzdem haben wir uns
   Tandem-Apps ermöglichen es, Mutter-
                                                    spannter und können auch tiefer über Themen         gut verstanden – und konnten eine Erfahrung
sprachler unzähliger Nationen zu finden. Nach
                                                    reden.                                              miteinander teilen, in der wir uns bisher un-
nur ein paar Klicks kann ich Menschen an-
                                                                                                        verstanden fühlten. Durch unsere Verbunden-
schreiben, und wenn sie Lust haben, antworten         Ein zusätzlicher Vorteil von Apps ist die
                                                                                                        heit fällt es uns beiden leichter, Zugang zu un-
sie mir. Wenn nicht, entsteht zumindest keine       Anonymität. Sie ermöglicht schnell Nähe.
                                                                                                        serer jeweiligen Kultur zu finden.
unangenehme Situation. Ich kann abwarten,           Meine Mutter hilft seit mehreren Jahren einer
wie sie auf Fragen reagieren und mir Zeit           syrischen Flüchtlingsfamilie. Ich habe schon           Eine andere Bekannte aus dem Internet
nehmen, meinen Chatpartner einzuschätzen.           oft mit den Kindern gespielt, bei den Hausauf-      wollte seit der dritten Klasse Hebräisch lernen,
Wenn wir uns gut verstehen, können wir tele-        gaben geholfen oder mit der Familie gegessen.       Bilder in der Kinderbibel von Israel hatten sie
fonieren, skypen oder uns im „real life“ treffen.   Aber über kontroverse Themen, wie Frauenbil-        begeistert. Jahrelang versuchte sie, mithilfe von
                                                    der, reden wir nie. Wir wären gehemmt, wür-         Lehrbüchern und Kassetten zu lernen und reis-
   Ein Hindernis für Dialog im echten Leben ist
                                                    den einen Konflikt vermeiden. Was, wenn ein         te von erspartem Geld nach Israel. Ohne israe-
die ungewollte Nähe. Wenn ich mit den Män-
                                                    Streit die Freundschaft gefährdet? Dabei brau-      lische Freunde kam sie nicht weit. Der Dialog
nern im Zug in Kontakt bleiben wollte, müsste
                                                    chen wir Konflikt, um ehrliches Verständnis         scheiterte. Sie war enttäuscht. Erst mit Mitte
ich ihnen meine Telefonnummer geben. Das ist
                                                    für den anderen zu entwickeln.                      40 begann sie wieder damit, die Sprache zu
mir zu viel Verpflichtung. Ich hatte in der Ver-
                                                                                                        lernen, nun mit Hilfe des Internets. Dort fand
gangenheit schon kurze Gespräche, nach denen           Im Internet habe ich keine Verbindung zur
                                                                                                        sie eine Familienmutter aus Eilat im gleichen
ich keinen Kontakt halten wollte, die andere        fremden Person. Das sorgt für Hasskommenta-
                                                                                                        Alter. Die beiden sind mittlerweile seit zehn
Person aber schon. Ein Mann folgte mir meh-         re, aber auch dafür, dass ich direkt nach dem
                                                                                                        Jahren befreundet. Diese Bekannte war in ihrer
rere Stunden, während ich Flyer verteilte und       „Hallo“ fragen kann: „Wie denkst du als Syrer
                                                                                                        Jugend angewiesen auf selten angebotene Alt-
bat mich über zehn Mal um ein Treffen. Noch         eigentlich über die Rolle der Frau?“ Damit be-
                                                                                                        hebräischkurse und teure Reisen nach Israel,
Wochen danach rief er mich zwei- oder drei-         komme ich noch keinen umfassenden Einblick,
                                                                                                        wenn sie die Sprache richtig lernen wollte. Bei
mal pro Tag an. In der App muss ich keinen          aber ein besseres Verständnis.
                                                                                                        mir reicht das Handy.
echten Namen, keine Nummer und noch nicht
                                                       Das Internet erleichtert den Dialog, auch
einmal meine Stadt angeben.
                                                    weil ich Menschen mit den gleichen Hobbys
  Wenn ich im Zug einer spontanen Begeg-            finden kann. Das gibt mir einen Anlass, das
nung meine Handynummer gebe, weiß die               Gespräch zu beginnen. Ähnlich wie bei Da-
Person nicht: Will ich ein Date, eine Bekannt-      ting-Apps, kann man auf Tandem-Apps seine

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digitale

                    …Erfahrungen
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Digitalkonferenz
Die Digitalisierung ist präsent in allen Bereichen unseres Lebens. Alte und Junge blicken unterschiedlich auf
diese Entwicklung. Wie verschieden ist die Lebensrealität von drei Generationen?
Wir baten eine Familie, über das Damals, Heute und Bald in einer digitalen Welt zu diskutieren.

Von Leonie Hartge im Gespräch mit einer Familie.

Ilse, die Großmutter, wohnt in einem großen          Ich glaube, es ist gut, wenn man da einen         begrüßt, das Letzte, was uns gute Nacht wünscht.
Reihenhaus am Rande von Bochum. Matthias, ihr        gemeinsamen Konsens hinkriegt, da gibt es auch    Algorithmen bestimmen, wen wir kennenlernen,
Sohn, erzählt, dass er und seine Geschwister hier    kein Falsch und kein Richtig.                     an welche Ereignisse wir uns erinnern, welche
aufgewachsen sind. Ich habe eine Familie gefunden,   Michaela: Ich bin der digitale Muffel von uns.    Informationen wir lesen. Als wären sie Naturgesetze
mit der ich mich über Digitalisierung unterhalten    (Lachen) Ich benutze ein Handy für den Job, ich   und wir ihnen willenlos unterworfen. Doch diese
kann. Drei Generationen, die unterschiedlich viele   muss erreichbar sein. Ansonsten aber wenig.       Trance stören, reicht aus, um uns in die reale Welt
Abschnitte der Digitalisierung miterlebt haben.      Ilse: Ich denke, dass im Alltag Fluch und Segen   zurückzureißen.
Die Konflikte, die dabei immer präsent sind, haben   der Digitalisierung ganz nah beieinanderliegen.
wir erlebt, konkret in einem Gespräch entlang der    Ich habe als Oma beobachtet, wie die jungen       Ilse: Wenn man alleine unterwegs ist, kann das
Konfliktlinien. Entlang der Generationen.            Leute so sehr damit beschäftigt sind. Das hat     Handy hilfreich sein, aber sonst erreicht mich
                                                     mich ängstlich gemacht, dass eine Sucht daraus    keiner. Ich will auch gar nicht erreichbar sein.
w\\w: Wo begegnet euch Digitalisierung im            werden könnte. Aber ohne geht es nicht mehr.      Dafür gibt es das Festnetz, das reicht mir.
Alltag?                                              Ich schreibe übrigens nur Briefe. Ich habe zwar   Matthias: Es ist spannend zu hören, dass für euch
Matthias: Prozesse verändern sich: Früher            ein Handy, aber das ist immer aus. (Lachen)       Digitalisierung zum Großteil das Handy ist. Für
hat man Briefe geschrieben, heute wird viel          Paula: Das darf man gar nicht mehr sagen!         mich geht das in eine ganz andere Richtung, so
schneller und kostenlos kommuniziert. Durch                                                            wie die Automatisierung von Prozessen.
die Digitalisierung hat sich die Kommunikation       Wir leben im Einklang mit dem Rhythmus unseres    Paula: In der Schule reden wir auch oft über
komplett verändert.                                  Handylichts. Es ist das Erste, was uns morgens    die Digitalisierung und da geht es eher primär

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um das Internet. Wir versuchen aber auch mit
verschiedenen Plattformen zu arbeiten. In Kunst
haben wir eine Abstimmungs-App, da muss
man sich nicht mehr melden, das ist dann viel
anonymer. Das finde ich total cool.
w\\w: Findest du das angenehmer, als dich zu            Michaela, die Mutter, ist 49 Jahre alt
melden?                                                 und Küsterin in einer evangelischen
Paula: Ja, auf jeden Fall! Ich bin viel offener, weil   Gemeinde in Bochum.
es anonym ist.
Matthias: Den Satz fand ich grade spannend,
Paula. Du sagst man wird offener, obwohl man
anonymer wird. Das ist doch eigentlich ein
Widerspruch, oder?
Paula: Diese Anonymität hat natürlich auch
Nachteile, grade bei Mobbing.

Die Selbstverständlichkeit mit der wir uns durch das
Netz bewegen, schenkt uns das Gefühl, digital zu
Hause zu sein. Diese Illusion zerbricht, sobald Hass    Matthias, der Vater, ist 51 Jahre alt
ihr entgegenschlägt. Durch das Internet überwinden      und Geschäftsführer des „Blauen
Mobbing und Hetze jede Grenze von Zeit und Raum         Kreuzes“, einer christlichen Organisa-
und gewinnen dadurch eine Macht, die wir kaum           tion zur Unterstützung von Sucht-
noch eingrenzen können.                                 kranken.
w\\w: Paula, könntest du in einer Welt ohne
Internet leben?
Paula: Nee, auf gar keinen Fall. Nicht mehr. Man
kann uns nicht dafür verurteilen, wir sind damit
aufgewachsen, wir kennen das gar nicht mehr
anders. Sogar die Kinder im Kindergarten haben
mittlerweile schon ein Handy.
w\\w: Siehst du das kritisch?
Paula: Ja, ich finde das viel zu früh, das muss
nicht sein. Kinder können doch mit anderen
Kindern spielen. Die müssen nicht direkt so ein          Ilse, die Großmutter, ist 79 Jahre alt,
Ding in der Hand haben.
                                                         gebürtig aus Bochum und Rentne-
Matthias: (leicht ironisch) Warum denn nicht,
ist doch toll. Ersetzt Kindergärten.                     rin.

Warum sollten wir uns einschränken lassen, auf der
Entdeckungsreise durch unsere schöne, neue Welt?
Manchmal fragen wir uns das. Dann sehen wir, jüngere
Generationen digitale Medien ohne jede Begrenzung
nutzen. Das beunruhigt. Vielleicht können wir die
Bedenken unserer Eltern und Großeltern manchmal
besser nachvollziehen als uns lieb ist.

w\\w: Matthias und Michaela, wie geht es Ihnen
damit?
Michaela: Ich fühle mich manchmal schon etwas
überfordert. Aber ich bin auch nicht diejenige
die überall „surft“ und neue Sachen ausprobieren
muss. Ich komme klar und das reicht für mich.
Ich habe auch nur so einen uralten Computer.
Matthias: Der ist gar nicht so uralt!
Michaela: Jaja, top aktuell. Da lachen immer             Paula, die Tochter, ist 18 Jahre alt
alle über mich, weil ich nicht immer mobil und           und in der zwölften Klasse, steht
erreichbar bin.                                          also kurz vor dem Abitur. Sie hat
Paula: (seufzt) Ja, echt schlimm.                        einen älteren Bruder der momentan
Michaela: Nur Zuhause habe ich Internet und
                                                         in Bremen studiert.
sonst kann man mich anrufen. Das wäre für viele
ja schrecklich.
w\\w: Paula, du hast eben genervt reagiert als
deine Mutter gesagt hat, dass sie nicht immer
erreichbar ist.
Paula: Ja, ich finde das nervig, wenn Leute nicht
erreichbar sind. Heutzutage könnte man das
schon sein.
Michaela: Ich bin doch über das Telefon
erreichbar.
Paula: (genervt) Ja schon, aber...

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