Gemeinsam - Raiffeisen-Jahr 2018

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Gemeinsam - Raiffeisen-Jahr 2018
gemeinsam
      DIE GENOSSENSCHAFTEN. DIE WIRTSCHAFT. DAS MAGAZIN.

                                                                 AUSGABE 03 2018

                      DIE
                WELTVERBESSERER
       Über Genossenschaften, ihre Gründer und wie sie unsere
       Gesellschaft nachhaltiger, sozialer und gerechter machen.

Unterwegs                 Überall                   Unruhig
Manuel Andrack entdeckt   Die Genossenschaftsidee   Wie Friedrich Wilhelm
Genossenschaften in       lebt, blüht und gedeiht   Raiffeisen im Ruhestand
Deutschland.              weltweit.                 weiterdachte.
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AN Z EI G E

              Selbständig sein mit REWE
              Vor mehr als 90 Jahren betrieb der Urgroßvater von Birgit Dederichs einen der ersten REWE Märkte in seinem
              eigenen Wohnhaus. Heute betreibt Familie Dederichs bereits in 5. Generation REWE Märkte mit voller Leiden-
              schaft und dem gemeinsamen Ziel aller REWE Kaufleute: Jeder Kunde soll sich bei ihnen wohlfühlen.

              Die REWE Group wurde 1927 als Einkaufsgenossenschaft von selbständigen Kaufleuten gegründet. Noch heute
              sind die Mitglieder unserer Genossenschaft, die selbständigen Kaufleute, ein wichtiger Teil unseres Unternehmens.
              Haben auch Sie Interesse, Teil unserer Genossenschaft zu werden und einen eigenen Supermarkt zu betreiben?
              Dann bewerben Sie sich bei uns.

              rewe-group.com | selbstaendigkeit.rewe.de
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KARIKAT U R

                                       Plaßmanns
                           Wunderbare Welt der Genossenschaften
FOTO: FRANK-LOTHAR LANGE

                             THOMAS PLASSMANN ist mehrfach preisgekrönter Karikatu-
                             rist, der regelmäßig für Tageszeitungen zeichnet. Er kommentiert
                             die Welt mit Feder und Tusche und wirft für unsere Leserinnen
                             und Leser einen satirischen Blick auf die Genossenschaftswelt.

                                                                                                          3
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I N HALT

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                                                                                                   Wie ihn kenia­nische
                                                                                                   Farmerinnen beeindruckt

                                                                      14
                                                                                                   haben, erzählt Fairtrade-­
                                                                                                   Chef Dieter Overath
                                                                                                   im Interview.

Hat an der Spree ein Refugium für Kreative geschaffen: Genossenschaftlerin Ania Pilipenko.

DIE WELT DER GENOSSENSCHAFTEN

08 DIE WELTVERBESSERER                       18 DIE MUTMACHER                          26 ZURÜCK INS LEBEN
Sie bauen Bio-Kartoffeln an, vernetzen      In der Werkstatt der MutMacherMen-       In Ronjas Leben lief schon früh viel
 Kommunen, verhelfen Jugendlichen zu          schen in Augsburg üben psychisch Er-     schief. Dass die 21-Jährige heute eine
 einem Neustart oder vermarkten ihre          krankte den Wiedereinstieg in Arbeit.    Ausbil­dung macht, verdankt sie auch
 Artikel gemeinsam – Genossenschaft-                                                   der Unter­stützung durch die
 ler engagieren sich in allen Bereichen                                                Jugend­agentur eG in Heidelberg.
 des Lebens. Was sie eint: Alle möchten      22	NETZWERK MIT
 die Welt ein bisschen besser machen.              ÖFFENTLICHEM AUFTRAG
                                             Ob E-Government oder Datenschutz:
                                             Die Anforderungen an kommunale IT         DAS INTERVIEW
10 JETZT HABEN SIE DEN SALAT                 sind gewaltig. Hier setzt die hessische
Die Kartoffelkombinat eG aus München         KOPIT eG an, eine Genossenschaft für      28 	„DIE WENIGSTEN HABEN
                                                                                                                                   FOTOS: FOTOLIA, TINA MERKAU, OLAF NITZ, JIM RAKETE, REGINA RECHT

ist das größte Projekt solidarischer Land-   öffentliche Auftraggeber im IT-Bereich.          UNS ERNST GENOMMEN“
wirtschaft in Deutschland. „Mehr ma-                                                   Am Anfang war Klinkenputzen
chen, weniger reden!“, lautet das Motto.                                                angesagt, heute vertritt die Organi­­sa­
                                             24 	JOURNALISMUS DIREKT                   tion Fairtrade 1,6 Million arbeitende
                                                   VOM ERZEUGER                         Menschen weltweit. Vorstandschef
14   URBANES DORF                            Sie haben Zeitungssterben und Fake         Dieter Overath spricht über einen
     IN BESTER LAGE                          News etwas entgegenzusetzen:               langen Weg, ehrgeizige Ziele und seine
Sie wollten nur tanzen: Als ein Berliner     Die RiffReporter entwickeln neue           beeindruckendsten Begegnungen.
Technoklub dichtgemacht werden soll,         Vertriebswege für freie Journalisten.
kämpfen die Betreiber. Heute bewirt-
schaften sie das ganze Areal.

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                                                                                                                                                     E DITORIAL

                                                                                                                            Liebe Leserin, lieber Leser!

                                                                                                                            Eigentlich merkwürdig: Wenn jemand
                                                                                                                            es gut mit den Menschen meint, gilt
                                                                                                                            er schnell als Gutmensch. Und trotz

                                                 10
                                                                                                                            des freundlichen Hintergrunds hat
                                                                                                                            das Substantiv hier und da einen leicht
                                                                                                                            negativen Sound. Das wollen wir ein
                                                                                                                            wenig geraderücken und laden Sie ein,
                                                                                                                            in diesem Heft sechs Geschichten
                                                                                                                            über Menschen zu lesen, die es besser
                                              Einfach mal wachsen lassen: Die Kartoffelkombinat eG wurde                    machen wollen. Die es auf ihre Weise
                                              mit Biokisten für Münchner zum Vorzeigeprojekt.                               gut meinen mit den Menschen und
                                                                                                                            deshalb auch so etwas wie Weltverbes-
                                                                                                                            serer im besten Sinne des Wortes sind.
                                                                                                                               Kurt Tucholsky hat uns viele Ge­
                                                                                                                            danken hinterlassen und einer dieser
                                                                                                                            Gedanken galt den für ein gelingendes
                                                                                                                            Leben notwendigen Ortskenntnissen.
                                                                                                                            Von denen haben wir im Raiffeisen-­
                                                                                                                            Jahr 2018 zahlreiche erworben. In die-

                                              52
                                                                                                                            ser Ausgabe von gemeinsam wollen wir
                                                                                                                            Sie daran teilhaben lassen. Wir zeigen
                                                                                                                            Ihnen, wo überall Manuel Andrack bei
                                              Ob Indien, USA oder Afrika: Genossenschafts­geschichten aus aller Welt.       seiner deutschlandweiten Raiff­­eisen-
                                                                                                                            Tour 2018 Genossenschaften entdeckt
                                                                                                                            hat, was er über ihre Arbeit und ihre
                                                                                                                            Motivation erfahren hat.
                                    DAS RAIFFEISEN-JAHR 2018                                                                   Schließlich wollen wir uns auch ein
                                                                                                                            wenig erinnern. Zum Beispiel an die
                                    34	SUCHBEWEGUNGEN                         46 AUF RAIFFEISENS SPUREN                    Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag
                                    Im Ruhestand hätte Raiffeisen zu-          Im Raiffeisen-Jahr 2018 entdeckt             von Friedrich Wilhelm Raiffeisen in
                                    frieden auf sein Lebenswerk blicken        Manuel Andrack Genossenschaf-                Mainz. Es war ein bewegender Tag,
                                    können. Stattdessen entwickelte er         ten in Deutschland. Impressionen             zunächst mit dem Gottesdienst in der
                                    die nächste gesellschaftsrelevante         der großen Raiffeisen-Tour 2018.             Christuskirche, anschließend mit dem
                                    Idee: Er wollte eine überkonfessio­                                                     eigentlichen Festakt im nahe gelege-
                                    nelle Hilfsorganisation gründen.                                                        nen Kurfürstlichen Schloss.
                                                                               52    AUS DEM WESTERWALD
                                                                                     IN DIE GANZE WELT                      Ich wünsche Ihnen einen schönen
                                    40   BESCHWINGTE FEIER                     Von Roosevelt bis Kibbuz: Der Genos-         Sommer 2018!
                                         IN MAINZ                              senschaftsgedanke ist weltweit vertre-
                                    Mehr als 600 Gäste kamen zum               ten. Wir haben die schönsten Beispiele       Herzlichst
                                    Festakt des Raiffeisen-Jahres in die       zusammengetragen.                            Ihr Werner Böhnke
                                    rheinland-pfälzische Landeshauptstadt.

                                                                                                                                            WERNER BÖHNKE
                                    42 RAIFFEISEN INTERAKTIV                   DIE RUBRIKEN                                                 ist seit über 40
                                                                               03 Karikatur
TITELILLUSTRATION: FLORIAN SÄNGER

                                    Moderne und Tradition vereint eine                                                                      Jahren genossen-
                                    Ausstellung des Landesmuseums              06 Einwurf: Andracks Backhaus                                schaftlich engagiert
                                    Koblenz auf der Festung Ehrenbreitstein.   32	
                                                                                  Nachrichten                                               und seit 2012
                                                                               45	
                                                                                  Rezension                                                 Vorsitzender der
                                                                               54 Kolumne                                                   Deutschen Friedrich-
                                                                               56 Vorgestellt                                               Wilhelm-Raiff­eisen-
                                                                               58	
                                                                                  Standpunkt                                                Gesellschaft.
                                                                               58 Impressum

                                                                                                                                                                5
Gemeinsam - Raiffeisen-Jahr 2018
E I N WU RF
­

    ANDRACKS
    BACKHAUS
    Was Männerbacken mit Raiffeisen zu tun hat und warum
    er 2018 als Wanderschüler unterwegs ist – darüber
    berichtet der Moderator, Autor und Genossenschafts­
    entdecker Manuel Andrack in unserer Kolumne.

    I
       n meinem saarländischen Dorf bin          wahrsten Sinne des Wortes – fruchtbaren
       ich Mitglied im Backhaus-Verein. Eine     Boden. Seit 1868 wird in Mayschoß an der
       tolle Idee: ein Backhaus als sozialer     Ahr genossenschaftlich Wein produziert.
    Mittelpunkt der Dorfgemeinschaft, so­           Auf meiner Raiffeisen-Tour 2018 ha­
    zusagen das Lagerfeuer, das die Seele        be ich ein Praktikum als Kassierer an
    wärmt. Aber es wird natürlich auch           der REWE-Kasse gemacht. Denn auch
    richtig gebacken, Flammkuchen, Brot,         Einkaufsgenossenschaften wie beispiels­
    Pizza. Und das Backen ist immer ein Ge-      weise REWE haben genossenschaftliche
    meinschaftsevent, zum Beispiel ist das       Wurzeln. Auf Feldern in der Nähe von
    Männer­backen sehr beliebt.                  Landshut durfte ich einen Hightech­
        Mitten im Westerwald steht eben­falls    traktor fahren. Na ja, was heißt fahren.
    ein Backhaus, es ist sehr berühmt. Als       Mein Fahrlehrer von der BayWa rief
    der Bürgermeister Raiffeisen dieses Back­­   nur: „Finger weg vom Lenkrad!“, dann
    haus in Weyerbusch baute, erfand er          zog das grüne Ungetüm zentimeterge-
    eine Art kommunale Staatsbäckerei, um        nau und GPS-gesteuert seine Bahnen.
    die größte Hungersnot der Landbevöl­            In Bad Marienberg im Westerwald habe
    kerung zu lindern. Das Backhaus als          ich mir eine Laborfiliale der Westerwald-
    christlicher Akt der Nächstenliebe: kei-     bank angeschaut, mehr Wohl­       fühl­oase
    ne wundersame Brotvermehrung, son-           als Bankinstitut. Am Raiff­eisen-Haus in
    dern konkrete Hilfe.                         Flammersfeld habe ich Bundespräsident
        Später, als Bürgermeister in Heddes-     Frank-Walter Steinmeier getroffen, auch
    dorf, hatte Raiffeisen die bahnbrechende     er ein Genossenschaftsfan und Schirm-
    Idee, Selbsthilfe in genossenschaftlicher    herr des Raiff­eisen-Jahres. Und von der
    Form zu organisieren. Er sandte Wander-      regionalen und ehrenamt­lichen Brauerei-
    lehrer aus, um die Idee der Genossen-        genossenschaft Oberhaching war ich
    schaften zu verbreiten. Heute werde ich      nach dem dritten Bier so begeistert, dass
    von der Raiffeisen-Gesellschaft als Wan-     ich einen Anteil erworben habe. Auch
    derschüler ausgeschickt, um in ganz          für ein Bier­  fass gilt bekanntlich der
    Deutschland Genossenschaften zu ent-         Satz Raiff­eisens: „Was einer alleine nicht
    decken und darüber zu berichten.             schafft, das schaffen viele.“
        Ich habe die älteste Winzergenossen-
    schaft der Welt im Ahrtal besucht. Dort      Lesen Sie mehr über meine Erlebnisse wäh-
    fiel die Idee der Wanderlehrer auf – im      rend der Raiffeisen-Tour 2018 ab Seite 46.

                     MANUEL ANDRACK wurde bekannt als Sidekick von Harald
                                                                                               FOTO: JULIANE HERRMANN

                     Schmidt in der gleichnamigen Late-Night-Show. Der gebürtige
                     Kölner betätigte sich schon als Redakteur, Moderator, Autor – und
                     ist leidenschaftlicher Wanderer. Für die Deutsche Friedrich-­Wilhelm-
                     Raiffeisen-Gesellschaft war er im Frühjahr 2018 unterwegs, um
                     Genossenschaften zu entdecken.

    6
Gemeinsam - Raiffeisen-Jahr 2018
A N Z EI G E

130 m GLÜCK.
     2
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Das wichtigste Fundament ist                                                Angebot
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Gemeinsam - Raiffeisen-Jahr 2018
DI E WELT DER GENO S S E NS C H A F TE N

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Gemeinsam - Raiffeisen-Jahr 2018
D I E W E L T D E R GE N OS S E N S CH AFT EN

      DIE
WELTVERBESSERER
     I L L U S T R AT I O N : F L O R I A N S Ä N G E R

                               U
                                             nsere Autorinnen und
                                             Autoren waren in ganz
                                             Deutschland unterwegs
                                             und haben sie gefunden:
                                  die Weltverbesserer. Zugegeben,
                                  das ist ein großes Wort. Und
                                  wohl kaum einer oder eine dieser
                                  Männer und Frauen würde von
                                  sich sagen: „Ich bin ein Weltver-
                                  besserer.“ In unse­ren Augen sind
                                  sie es dennoch. Denn sie eint das
                                  Ziel, die Dinge, die unser Leben
                                  bestimmen, anders zu gestalten,
                                  etwas besser zu machen. Das
                                  genossenschaftliche Dach hilft
                                  ihnen in allen Bereichen des
                                  Lebens dabei, ob Kultur oder
                                  Medien, Sozialem oder Bildung,
                                  Nach­hal­tig­keit oder Daseinsvor-
                                  sorge. Das ist uns eine Erzählung
                                  wert – oder eigentlich gleich sechs.

                                                                                                     9
Gemeinsam - Raiffeisen-Jahr 2018
DI E WELT DER GENO S S E NS C H A F TE N

10
D I E W E L T D E R GE N OS S E N S CH AFT EN

    Jetzt haben sie
       den Salat
 Diese Erfolgsgeschichte kann sich sehen lassen: Innerhalb von sechs
  Jahren ist das Kartoffelkombinat zum größten Projekt solidarischer
  Landwirtschaft in Deutschland geworden. Dabei hatten die beiden
Gründer der Genossenschaft, Daniel Überall und Simon Scholl, anfangs
         gar keine Ahnung von Landwirtschaft und Gärtnerei.
               Ihr Motto: „Mehr machen, weniger reden!“
                 T E X T : T H O M AS H O R S M A N N , F OTO S : R E G I N A R E C H T

                                                                                                                         11
DI E WELT DER GENO S S E NS C H A F TE N

                                             Im Kartoffelkombinat wird die gesamte
                                             wirtschaftliche Wertschöpfungskette ver­­
                                             eint. Die Genossen sind quasi gleichzei-     „Wir wollten sozial­
                                             tig Investoren, die ihr Kapital gut anle-
                                             gen möchten, und Arbeitgeber, die Wert
                                                                                          unternehmerisch
                     MÜNCHEN                 auf geringe Produktionskosten legen. Sie     etwas aufbauen
                                             sind Arbeitnehmer, die einen gerechten
                                                                                          und unsere Familien

I
                                             Lohn erwarten, und Kunden, die gute
   n einer Scheune in Spielberg bei          Produkte für ihr Geld wollen. Hinzu          ernähren.“
   Mammendorf, 30 Kilometer westlich         kommt, dass die Ökobilanz des Betriebs
   von München, packen Mitarbeiter           stimmt, die Qualität der Produkte gut        SIMON SCHOLL, GRÜNDER DER
des Kartoffelkombinats grüne Kisten mit      und der Betriebskostenanteil für die         KARTOFFELKOMBINAT EG
dem Ernteanteil der Woche. Diesmal           Genossen so niedrig ist, dass er für die
gibt es einen Kopfsalat, eine Schale         breite Masse bezahlbar ist. Und dennoch
Kresse, ein paar Mairübchen, einen Topf      sollen die Jobs gut bezahlt werden. „Wir     Hektar Anbaufläche zu erwerben. Elf Hek­
Basilikum, eine Stange Lauch, ein paar       suchen immer die optimale Lösung, die        tar wurden dazugepachtet. Insgesamt
Kartoffeln und einen Kohlrabi. Später        alle Aspekte berücksichtigt und einen        werden von den 25 Mitarbeitern zurzeit
werden die Kisten an Verteilpunkte in        Ausgleich herstellt“, sagt Scholl. So sind   18 Hektar Land bewirtschaftet.
München ausgeliefert, wo die Genossen        die Arbeitsbedingungen beim Kartoffel-
sie abholen.                                 kombinat deutlich besser als üblich. Alle    Krumme Rüben in der Biokiste
   Die 1.200 Mitglieder der Genossen-        Mitarbeiter haben unbefristete Verträge,     „Nun sind wir in der Lage, 70 Prozent
schaft, die eine Biokiste beziehen, lassen   ein Gärtner, der normalerweise in Bayern     unseres Bedarfs selbst anzubauen“,
sich das frische, saisonale und regionale    nur rund 2.000 Euro brutto verdient,         berichtet Überall, der das Kartoffelkom-
Gemüse des Naturland-Betriebs einiges        erhält 3.000 Euro monatlich.                 binat gemeinsam mit Scholl in Teilzeit
kosten. Jeder zahlt einen einmaligen            Überall ist genauso wie sein Vor-         leitet. Der Rest wird von Partnerbe­
Genossenschaftsanteil von 150 Euro und       standskollege Scholl Quereinsteiger in       trieben geliefert, ein kleiner Teil wird
einen jährlichen Kostenbeitrag von           der Landwirtschaft. Beide haben sich         noch dazugekauft. So ist sichergestellt,
900 Euro. Pro Woche sind das 17,30 Euro.     im November 2011 in der Münchner             dass die Versorgung der Genossen mit
Die Genossen decken mit ihrem Beitrag        Nachhaltigkeitsszene kennengelernt, bei-     Lebensmitteln abwechslungsreich ist.
die Kosten für den Betrieb des Kartoffel-    de hatten sich bereits für verschiedene          Dass das Kartoffelkombinat kein nor-
kombinats. „Die Ernte wird zu gleichen       Projekte engagiert, beide waren in einer     maler Betrieb ist, sieht man schon an der
Teilen aufgeteilt, egal, ob sie groß oder    ähnlichen Situation. „Wir wollten sozial-    Optik: Es gibt keine Felder. „Wir haben
klein ausfällt“, sagt Diplom-Betriebswirt    unternehmerisch etwas aufbauen und           eine Beetstruktur“, berichtet Überall.
Simon Scholl. Das ist sein Prinzip der       unsere Familien ernähren“, berichtet         Denn sonst können die Genossen nicht
solidarischen Landwirtschaft.                Scholl. Nach einem Besuch bei einer          regelmäßig Salat oder Karotten bekom-
                                             Initiative für solidarische Landwirt-        men. In einem Beet sind die Salatköpfe
Das Land in die Stadt importieren            schaft war klar, dass sie diesen Ansatz      bereit zur Ernte, im nächsten Beet sprie-
Mit der Form der Genossenschaft ist          weiterverfolgen wollen.                      ßen sie noch kräftig, im dritten wird
sichergestellt, dass das Projekt gemein-        „Wir sind dann schnell ins Handeln        gerade eingesät.
schaftlich getragen wird und nicht an        gekommen“, erzählt Überall stolz. Schon          Ein weiterer wichtiger Aspekt ist für
einzelnen Personen hängt. Zudem wollten      nach kurzer Zeit hatten die beiden ge­       die Genossenschaft, dass keine Lebens-
Scholl und sein Kompagnon Daniel Überall     nügend Unterstützer für ihr ehrgeiziges      mittel verschwendet werden. „Bei einem
kein profitorientiertes Unternehmen          Projekt gefunden. Bereits am 30. April       normalen landwirtschaftlichen Betrieb
gründen. „Uns geht es stattdessen um         2012 wurde das Kartoffelkombinat ge-         bleiben 30 bis 40 Prozent der Ernte auf
gemeinwohlorientierte Sinnhaftigkeit“,       gründet. Zunächst kooperierte die junge      dem Feld, weil sie sich wegen kleiner
sagt Diplom-Kommunikationswirt Über-         Genossenschaft mit einem Naturland-­         Mängel nicht verkaufen lassen“, erläutert
all. „Mit unserem Projekt wollen wir das     Betrieb, der das Gemüse erzeugte. Mit        Überall. Beim Kartoffelkombinat passiert
Land in die Stadt importieren, und es ist    der wachsenden Zahl der Genossen             das nicht. Hier landen krumme Karotten,
ein Experiment, um ein Postwachs-            gelang es dem Kartoffelkombinat 2017,        zu dicke Kartoffeln oder vom Hagel löch-
tums-System aufzubauen.“                     die Gärtnerei in Spielberg mit sieben        riger Salat in der Biokiste.

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D I E W E L T D E R GE N OS S E N S CH AFT EN

            So sehen Kartoffelbauern heute
               aus: Simon Scholl (links) und
               Daniel Überall beliefern 1.200
           Münchner mit frischem Gemüse.

                                          13
DI E WELT DER GENO S S E NS C H A F TE N

Urbanes Dorf
in bester Lage
Den Rhythmus der Beats aufge­
ben, um Großinvestoren Platz zu
machen? Das kam für die Betrei­
ber des legendären Technoklubs
„Bar25“ in Berlin-­Friedrichshain
nicht infrage. Als Genossenschaft
„Holzmarkt 25“ schafften sie es,
ein Filetgrundstück an der Spree
als Bauherren zu übernehmen –
mithilfe einer Schweizer
Pensionskasse.

TEXT: MECHTHILD HENNEKE,
F OTO S : T I N A M E R K AU

                         BERLIN

D
        as Millionenprojekt sieht aus
        wie ein Abenteuerspielplatz für
        Erwachsene: Hütten und Häuser
stehen verstreut auf einem Gelände,
das gleichzeitig urwüchsig und unfertig
wirkt. Hier ein Café, dort ein Büro, ein
Veranstaltungssaal oder ein Restaurant.
Dazwischen führen Trampelpfade berg-
auf und bergab, sie sind mit Naturstei-
nen eingefasst, überall stehen Holztische
und -bänke. Das Ufer der Spree schließt
das Gelände an der Südseite ab. Hier lädt
ein großes Holzpodest zum Rumlüm-
meln und Seele-baumeln-Lassen ein.
   Ania Pilipenko läuft leichtfüßig über
die Wege. Die junge Frau mit cooler
schwarzer Hornbrille und langem, dun-
kelbraunem Haar erklärt, was sich wo
befindet, ihr Handy mit einer rosa

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            Haben Investoren die Stirn
            geboten und ein Filetgrundstück
            in Berlin erobert: Ania Pilipenko
            und Friedrich Sefranek von der
            Genossenschaft Holzmarkt 25.

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DI E WELT DER GENO S S E NS C H A F TE N

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Vom Holzmarkt aus beliefert Konditorin
Sarah Klausen (links) Restaurants und
Cafés in ganz Berlin. Im Bild mit Kollegin
Julia Ronzheimer.

Comicfigurenhülle stets in der Hand           war die Berliner Stadtreinigung. Sie            Am 1. Mai 2017 wurde das Dorf eröff-
oder am Ohr. Die 34-jährige Wahlberline-      winkte schnell ab, als sie von den Ideen     net. „Jetzt ist die Herausforderung, die
rin aus Krasnodar im tiefen Russland ist      der Technofans hörte, denn als landes­       Community tagtäglich zu organisieren
von zarter Statur, aber eine Powerfrau        eigenes Unternehmen ist sie an ein           und weiterzuentwickeln“, sagt Pilipenko.
durch und durch. Sie kam vor zwölf            Bieterverfahren gebunden, bei dem vor        Ihr Blick schweift über das Gelände, wo
Jahren nach Berlin. Friedrichshain und        allem der Preis zählt. Doch die Gruppe       sich ein kleiner Bruder der Bar25, der
seine Klubs erschienen ihr damals als         gab nicht auf. Inzwischen begannen die       Kater Blau, angesiedelt hat. Es ist wieder
„schönster Ort, den ich je gesehen hatte:     Mitglieder, über Unternehmensformen          ein Technoklub. Hier tanzen sich die
frei, kreativ, herzlich und lebensfroh“.      nachzudenken, und fanden die Genos-          Bauherren von heute den Stress weg.
Sie blieb und, das darf man wohl sagen,       senschaft geeignet. „Jeder hat eine Stim-    Nebenan wird ein Gebäude abgerissen.
sie veränderte das Gesicht der Stadt. Sie                                                  „Als die Häuser mit Büros gebaut wur-
verpasste ihm eine dicke Sommersprosse.                                                    den, befanden sich hier die Werkstätten
                                                                                           der Bauarbeiter“, sagt Pilipenko. „Dem-
Traumgrundstück am Spreeufer                  „Jetzt ist die Heraus­                       nächst wollen wir Räume für Tattoo-
Pilipenko ist eine der Gründerinnen
einer Genossenschaft, die den Abenteu-
                                              forderung, die Com­                          und Lichtkünstler, Designer, Handwer-
                                                                                           ker und andere Kreative anbieten.“
erspielplatz am Holzmarkt 25 in Berlin-­      munity tagtäglich
Friedrichshain erfand. Das Gelände un-
                                              zu organisieren und                          Nachbarn und Touristen sitzen
weit des Ostbahnhofs hat eine Toplage.                                                     am Wasser und plaudern
Die Mercedes-Benz Arena ist nah, die          weiterzuentwickeln.“                         Die Vermietung der Räume an einzelne
großen Bürogebäude mit ver.di und dem                                                      Künstler oder an Unternehmen ist eine
Musikriesen Universal ebenfalls. Einst        ANIA PILIPENKO,                              Quelle, aus der sich das Projekt finan-
hatte der Berliner Senat hier das Investo-    MITGRÜNDERIN DER GENOSSEN­                   ziert. „Es gibt aber auch Gesellschaften,
renprojekt Media-Spree errichten wollen,      SCHAFT HOLZMARKT 25                          die zur Familie gehören“, sagt Sefranek
doch da hatte er nicht mit Ania Pilipenko                                                  und meint zum Beispiel das Restaurant
und ihren Mitstreitern gerechnet.                                                          auf dem Gelände. Daran ist die Genos-
   Sie waren Betreiber der Bar25, eines       me, alle sind gleichberechtigt“, nennt       senschaft beteiligt und wirtschaftet mit.
kultigen Technoklubs an der Stelle, wo        Friedrich Sefranek, 63, zwei wesentliche        Das reiche Angebot an Essen und
jetzt der Holzmarkt ist. Der Klub hatte es    Vorteile. Der ehemalige Banker und           Trinken am Holzmarkt 25 lockt inzwi-
in jeden Reiseführer geschafft, wenn          heutige Unternehmensberater aus Köln         schen am Wochenende Hunderte Gäste
auch längst nicht jeder Reisende es in die    lernte die Holzmarkt-Aspiranten kennen       an: Nachbarn, Berliner und Touristen sit-
von einer Türsteherin streng bewachten        und wurde zu ihrem Berater. Inzwischen       zen am Wasser, plaudern bei einer Tasse
Räume des Klubs schaffte. Die Lebens-         ist er Vorstand der Genossenschaft.          Kaffee und einem Stück Kuchen. Dann
zeit der Bar25 war aufgrund eines zeitlich                                                 muss Sarah Klausen, 31, fleißig backen.
befristeten Nutzungsvertrags begrenzt,        Musikstudios, eine Kita und jede             Die Konditorin hat vor einem Jahr eine
doch die Community, die hier die Wo-          Menge Leben                                  Patisserie auf dem Gelände eröffnet. Sie
chenenden durchtanzte, wollte sich mit        Irgendwann platzte der Knoten: Die           beliefert die Gastronomie vor Ort und in
dem Ende der Technonächte nicht abfin-        Schwei­zer Pensionskasse „Stiftung Abend­    ganz Berlin.
den. Vor allem wollten sie den Verkauf        roth“ erklärte sich bereit, das Grundstück      Ein Genossenschaftler steckt den
des Grundstücks an die Media-Spree-­          für die mittlerweile gegründete Genos-       Kopf in die Backstube, um nach einem
Investoren verhindern.                        senschaft zu erwerben. Die Genossen          Geburtstagskuchen für ein Vorstands-
   Die Gruppe organisierte sich als GmbH      schlossen mit der Stiftung einen Erb-        mitglied zu fragen. Man gehört zusam-
und mietete als Übergangsstandort eine        pachtvertrag über 75 Jahre ab, und was       men. „Jeder kann mitmachen – in sei-
ehemalige Seifenfabrik in der Nähe. Von       zunächst ein Traum war, wurde konkret:       nem Rahmen. Der Holzmarkt ist ein
dort konnte sie über die Spree auf das alte   Ein Dorf entstand, mit Häusern und           Chancengeber“, sagt Klausen und wen-
Gelände der Bar25 blicken und träumen.        Hütten aus Beton und Holz, modern und        det sich wieder der Mandeltarte mit roten
„Wir haben uns den Holzmarkt als urba-        ökologisch. Hinter den künstlerisch ge-      Johannisbeeren zu. Draußen scheint die
nes Dorf mit Schwerpunkt Musik, Gastro-       stalteten Fassaden befinden sich Musik-      Sonne und die ersten Besucher streunen
nomie und Kultur vorgestellt“, berichtet      studios, eine Kita, ein Café, ein Restau-    übers Gelände und suchen nach ihrem
Pilipenko. Eigentümerin des Geländes          rant und jede Menge Leben.                   Lieblingsplatz.

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               Die Mutmacher
          Nach psychischen Krisen wieder auf die Beine zu kommen und ein
         geregeltes Arbeitsleben zu führen, fällt vielen Menschen schwer. Hier
        setzt die Genossenschaft „MutMacherMenschen“ aus Augsburg an. Das
         Besondere an dem Projekt von Edith Almer und ihren Genossen ist,
          dass Betroffene und Helfer die Genossenschaft gemeinsam führen.
                                  T E X T : T H O M AS H O R S M A N N , F OTO S : R E G I N A R E C H T

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                         AUGSBURG

  R
           und um den großen Tisch im Werk­
           raum im Augsburger Betriebs­
           gelände martini-Park wird ge­
   arbeitet. Unter den wachsamen Augen
   von Chrys Hofstetter entstehen Wildbie-
   nenhotels aus Holz. Vor dem Beginn der
   Arbeiten hat der Werkstattleiter und
   zweite Vorstand der Genossenschaft jede
   und jeden seiner sechs Mitarbeiterinnen
   und Mitarbeiter der Frühschicht noch
   einmal in den Arbeitsschutz eingewiesen.
      Nun verleimen und verschrauben sie
   die Seitenwände und Dächer der Minia-
   turhäuser. In die so entstandenen Rah-
   men kommen Vierkanthölzer, die mit
   verschieden großen Löchern versehen
   sind. Es folgen Schilfröhrchen, die sorg-
   fältig in die verbleibenden Zwischen­
   räume eingesetzt werden. Die präzise ge-
   bohrten Löcher und die Schilfröhrchen
   sind das Herzstück jedes Wildbienen­
   hotels, denn die solitär lebenden Insek-
   ten verwenden sie als Brutzellen. Die
   noch rohen Häuschen werden zum
   Schluss noch sorgsam abgeschliffen.

   Zurück in die Normalität
   „Für die insgesamt 15 Frauen und Män-
   ner, die derzeit hier arbeiten, ist diese
   Tätigkeit ein Schritt zurück in die Norma-
   lität“, berichtet die geschäftsführende
   Vorsitzende Edith Almer. Die gelernte
   Holzbildhauerin coacht schon lange
   Menschen, die aus psychischen Krisen
   kommen. Meist liegen Erkrankungen wie
   Depressionen, Psychosen, Schizophre-
   nie, bipolare Störungen oder Borderline
   hinter ihnen und sie tun sich schwer
   damit, eine Arbeitsstelle zu finden.
       Ein Grund dafür ist, dass die meisten
   Betroffenen lange nicht am geregelten
   Arbeitsleben teilgenommen haben und
   noch nicht in der Lage sind, eine volle
   Stelle zu bewältigen, erzählt Edith
   Almer. Hinzu kommt, dass viele der
   Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine
   Erwerbsminderungsrente beziehen

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Glaubt, dass Betroffene selbst am besten wissen, was gut für sie ist: Vorständin Edith Almer von den MutMacherMenschen.
Psychisch Erkrankte trainieren in der Werkstatt beim Bau von Insektenhotels den Wiedereintritt ins Arbeitsleben.

und deshalb nur drei Stunden täglich für     Bau von Pizzaöfen aus Lehm begonnen           Fördergeld dient dem Betrieb der Genos-
einen Zuverdienst arbeiten dürfen – für      haben“, sagt Almer. Der Markt für die         senschaft. Der Gewinn aus dem Verkauf
viele ist aber auch das schon zu viel.       Lehmöfen war jedoch zu klein, sodass die      der Produkte geht in den Zuverdienst der
   Bei den MutMacherMenschen wird            Genossen sich auf den Bau von hochwer-        Mitarbeiter.
deshalb nur von Montag bis Mittwoch in       tigen Naturschutzprodukten aus Holz
zwei Drei-Stunden-Schichten gearbeitet.      spezialisierten: Vogelfutterhäuschen, Nist­   Sehen, was man geleistet hat
„Das haben unsere Leute so entschie-         hilfen und Bienenhotels. Den Namen zu         Wer zu den MutMacherMenschen möch-
den“, berichtet Almer. In der Genossen-      ändern, lag mit den veränderten Produk-       te, absolviert ein Praktikum. Wenn alles
schaft sind alle Mitarbeiter auch Ge­        ten nahe. 2017 hatte eine Gruppe Ehren-       passt, erhält der neue Mitarbeiter einen
nossen und alle Gremien sind auch mit        amtlicher, die die Genossenschaft beim        Vertrag über 100 Euro Zuverdienst und
Betroffenen besetzt. „Für uns ist es wich-   Marketing unterstützt, die zündende           entscheidet selbst, in welchem Bereich
tig, dass die Betroffenen die Fachleute      Idee für „MutMacherMenschen – Manu-           er im Betrieb arbeiten möchte, Produk­
sind, denn sie wissen, was sie brauchen      faktur mit Herz und Hand“.                    tion oder Verwaltung. Die meisten wäh-
und was nicht“, so Almer weiter.                Zunächst leitete Almer die Mitarbeite-     len die praktische Arbeit, weil sie sehen
                                             rinnen und Mitarbeiter an; mit der wach-      können, was sie geleistet haben.
Entscheidungen werden                        senden Zahl von Genossenschaftlern                Auch wenn in der gemeinnützigen
gemeinsam getroffen                          übernahm dann ein Schreiner in Teilzeit       Genossenschaft nicht therapiert wird, ist
Diese Idee verfolgten Edith Almer und        diese Aufgabe. Seither organisiert Edith      das Arbeitsklima doch ein besonderes,
ihre Mitstreiter, als sie 2014 die Genos-    Almer ehrenamtlich die Verwaltung der         betont Almer. Die Gemeinschaft und die
senschaft gründeten. Die dreifache Mut-      Genossenschaft – das heißt, sie ist stän-     Freude an der selbständigen Tätigkeit
ter arbeitete damals in einer gemein­        dig auf der Suche nach Fördermitteln.         sind den MutMacherMenschen wichtig.
nützigen GmbH, die psychisch Kranke          Denn die sind meist zeitlich begrenzt.        Der Stimmung im Team dient auch die
in den Arbeitsmarkt bringt. Dort wurde                                                     wöchentliche sogenannte Befindlich-
zur Eingewöhnung ein normales Unter­         Vom Verkaufsgewinn profitieren                keitsrunde, in der sich die Mitarbeiter
nehmen simuliert. „Wir wollten aber eine     die Mitarbeiter                               offen austauschen und Konflikte lösen.
richtige Firma gründen, in der Betroffe-     In den ersten zwei Jahren unterstützte            „Bei uns stehen immer der Mensch
ne gleichberechtigt sind“, erzählt Almer.    das Bayerische Staatsministerium für          und seine Bedürfnisse im Mittelpunkt
Ziel war, dass alle Entscheidungen ge-       Arbeit und Soziales, Familie und Integra-     und nicht das Produkt, ansonsten sind
meinsam getroffen werden und es kei-         tion die MutMacherMenschen, derzeit           wir ein ganz normaler Betrieb“, sagt
nen Chef gibt. Dafür war die Form der        gibt es Geld von der Heidehof-Stiftung        Chrys Hofstetter, der selbst aus einer
Genossenschaft ideal geeignet.               und vom Bezirk Schwaben, aber nur             psychischen Krise zu den MutMacher-
   „Damals haben wir uns Lehmbau-­           noch bis Ende des Jahres. Neue Förderer       Menschen kam. Er hat es geschafft und
Manufaktur genannt, weil wir mit dem         werden dringend gesucht, denn das             ist ganz normal in Teilzeit angestellt.

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„Bei uns steht der
Mensch im Mittelpunkt,
nicht das Produkt.“

CHRYS HOFSTETTER
WERKSTATTLEITER DER
MUTMACHERMENSCHEN EG

                                                                   21
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    Netzwerk mit
öffentlichem Auftrag
        Die Ansprüche an die IT im öffentlichen Sektor nehmen rapide zu.
   Es geht um E-Government, künstliche Intelligenz oder die neue Datenschutz­
 verordnung. Prozesse auf diesem Gebiet treibt in Hessen die KOPIT eG voran, eine
  Genossenschaft für öffentliche Auftraggeber im IT-Bereich. Die Geschäfte führt
        Johann Schweinitz – einer, der die Dinge gerne in die Hand nimmt.
                                       T E X T : A N N E T T E S T E T Z E R , F OTO : J Ö R G B AU M A N N

                                            nen Interessen unter einen Hut zu brin-                      IT-Strukturen, die sicherstellen, dass
                                            gen, stellte Johann Schweinitz ein Grün-                     öffentlich-rechtliche Einrichtungen an
                                            dungsteam mit jeweils einem Vertreter                        technischen Entwicklungen wie dem
                 WIESBADEN                  aus jeder Institution zusammen: „Und                         E-Government partizipieren. „Unter dem
                                            zwar nicht aus der Direktion, sondern                        Aspekt der begrenzten Ressourcen und
                                            aus der Fachebene“, sagt er. Vier Monate                     der Frage, woher man die IT-Experten

V
                                            dauerte es. Dann standen die finale Fas-                     bekommt, die eine zentrale Infrastruktur
          or drei Jahren entschied sich     sung der Satzung und das Geschäftsmo-                        aufbauen, ist die unternehmerische Idee
          das hessische Finanzministe­      dell. Für die Genossenschaft als Rechts-                     entstanden“, erzählt Johann Schweinitz.
          rium dafür, die IT-Bereiche       form hat sich das Land Hessen bewusst                        „Das Besondere ist, dass man Verwal-
öffentlich-rechtlicher Einrichtungen in     entschieden: „Jedes Mitglied hat eine                        tung und Wissenschaft zusammen­
einem genossenschaftlich geführten          Stimme in der Generalversammlung –                           gebracht hat. Bei aller Verschiedenheit
Unter­neh­men zusammenzubringen. Die        solidarisch, gleichberechtigt. Das hat                       geht es doch um zum Teil sehr ähnliche
Ziele: durch Kooperationen im Einkauf       sich in den drei Jahren bewährt.“                            Fragestellungen.“
das IT-Budget zu schonen und Moder­                                                                         Eine zentrale Rolle beim Beschaffen
nisierungsprozesse zu beschleunigen.        Innovation und Verwaltung                                    von IT-Material spielen komplexe Ver­
Mit der Gründung der Genossenschaft         verbinden                                                    gabeverfahren, die zeit- und kostenauf-
wurde die Hessische Zentrale für Daten­­­   Die Mitglieder sind durch ihre jeweiligen                    wendig sind und an die sich öffent-
ver­arbeitung HZD beauftragt. Johann        Rechenzentren vertreten. Schließlich geht                    lich-rechtliche Institutionen laut Kartell-
Schweinitz übernahm diese Aufgabe           es darum, Synergien beim Beschaffen                          vergaberecht halten müssen. An diesem
innerhalb der Organisation. „Dinge vor-     von IT-Komponenten herzustellen und                          Punkt setzt die Genossenschaft KOPIT
anzubringen, ist mir wichtig“, sagt der     durch das gemeinschaftliche Bestellen                        an: „Man nutzt das Vehikel, dass sowieso
gelernte Industriekaufmann, der seine       Kosten zu sparen – sowohl personell, als                     ein Mitglied eine Ausschreibung durch-
Karriere als kaufmännischer Leiter einer    auch beim Einkauf.                                           führt, und beteiligt die anderen“, erklärt
Brauereimaschinenfabrik begann und             In Deutschland herrschen auf vielen                       Johann Schweinitz das Geschäftsmodell.
danach ein eigenes Unternehmen grün-        Ebenen noch heterogene IT-Strukturen
dete, bevor er zur HZD wechselte.           vor. Ob ein Amt auch auf elektronischem                      Gemeinsam eine zukunftsfähige
   Die HZD steht in der KOPIT eG stell-     Weg mit seinen Bürgern und Bürgerin-                         IT-Struktur gestalten
vertretend für das Land Hessen. Weitere     nen kommuniziert und handelt (E-Go-                          Neben den drei Gründungsmitgliedern
Gründungsmitglieder sind die ekom 21 –      vernment), hängt beispielsweise von der                      gehören die Landeshauptstadt Mainz
Hessens größter kommunaler IT-Dienst-       IT-Landschaft der Kommune ab. Solche                         und die TU Darmstadt zur KOPIT eG.
leister – und die Goethe-Universität        Dinge könnten durch die KOPIT eG Im-                         Noch trägt sie sich nicht selbst, aber
Frankfurt am Main. Um die verschiede-       pulse erhalten. Angestrebt sind zentrale                     Johann Schweinitz ist zuversichtlich und

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D I E W E L T D E R GE N OS S E N S CH AFT EN

   „Jedes Mitglied hat
   eine Stimme in der
   Generalversammlung —
   solidarisch, gleich­
   berechtigt. Das hat
   sich bewährt.“
   JOHANN SCHWEINITZ,
   VORSTAND DER IT-GENOSSEN-
   SCHAFT KOPIT

   verweist darauf, dass die Genossenschaft
   über die Landesgrenzen hinaus agiert.
   Alle öffentlich-rechtlichen Einrichtun-
   gen, die über eine größere IT-Infrastruk-
   tur verfügen, kommen als Kooperations-
   partner grundsätzlich infrage. Je mehr
   hinzukommen, desto größer sind auch
   die Effekte beim Wissenstransfer und bei
   den Treffen auf Leitungsebene – zwei
   weiteren wichtigen Säulen. „Ein Beispiel:
   der Einsatz von Microsoft Windows 10
   unter Privacy- und Security-Aspekten.
   Das hat die HZD umfangreich unter Ein-
   bezug des hessischen Datenschutzbeauf-
   tragten getestet. Über die KOPIT wurde
   die Konfiguration dann den anderen
   Mitgliedern vertraulich zur Verfügung
   gestellt.“
      Der Austausch von Know-how, Erfah-
   rung und Best Practice findet auch in
   Form von Impulsvorträgen und Work-
   shops statt, die Johann Schweinitz regel-
   mäßig organisiert. Bei den kommenden
   Terminen stehen zum Beispiel die neue
   Datenschutzverordnung, Künstliche In-
   telligenz und Blockchain (fälschungs­
   sichere Datenbank) auf der Tagesordnung.
      „Bei unseren Netzwerktreffen ist
   schon die ein oder andere Idee geboren
   worden“, verrät Johann Schweinitz, der
   mit seinem Büro in der HZD sozusagen an
   der Quelle sitzt und alle wichtigen Ent-
   wicklungen im IT-Bereich mitbekommt.

                                          23
DI E WELT DER GENO S S E NS C H A F TE N

Statt sich über die Medienkrise zu
beklagen, haben Christian Schwägerl
und Tanja Krämer eine Genossenschaft
gegründet, die freien Journalisten
neue Einkünfte bescheren soll.

„Freie Journalisten
arbeiten oft allein vor sich
hin. In Teams zu arbeiten
ist dagegen inspirierend.“
                                           FOTO: VORNAME NAME

TANJA KRÄMER,
VORSTÄNDIN DER RIFFREPORTER EG

24
D I E W E L T D E R GE N OS S E N S C H AFT EN

      Journalismus
  direkt vom Erzeuger
Sie wollen dem Zeitungssterben und der Fake-News-Debatte etwas entgegensetzen:
  Christian Schwägerl und Tanja Krämer gründeten das Portal www.riffreporter.de
   als Genossenschaft. Freie Journalisten können hier professionell recherchierte
                Artikel veröffentlichen und damit Geld verdienen.
                                               TEXT: MECHTHILD HENNEKE, FOTO: TINA MERKAU

                         BERLIN
                                               munity. Diese liest Wolfangels Artikel          mehrere Journalisten zusammenarbei-
                                               nicht mehr nur in den etablierten Medi-         ten können und die sich thematisch
                                               en, sondern auch auf der Seite der RiffRe-      um ein einziges Gebiet dreht“, sagt
                                               porter, wo Wolfangel sich in Anspielung         RiffReporter-Vorständin Tanja Krämer.

W
                                               auf Virtual-Reality-Brillen keck „VR-Re-        Um die Recherchen und Projekte zu fi-
             ir würden von Bauern oder         porterin“ nennt. Die Leser-Autor-Bezie-         nanzieren, können Interessierte ein Abo
             Schreinern nicht erwarten,        hung ist direkt und persönlich geworden.        über 3,99 Euro monatlich abschließen –
             dass sie kostenlos arbeiten,         „Wir bieten Journalismus vom Erzeu-          dafür gibt es jede Woche mindestens
aber die Menschen tun sich schwer, für         ger“, nennt Schwägerl das. RiffRepor-           einen neuen Beitrag. Auch Einzelkauf
Online-Journalismus zu bezahlen“, sagt         ter-Autoren verfassen Texte, Podcasts           ist möglich.
Genossenschaftsgründer und Vorstand            oder Videos, die sie in Blogs, auf Face-
Christian Schwägerl. Und: „Die RiffRe-         book oder Twitter bewerben. Die Werke           Teamarbeit fördern
porter sind die Biobauern des Journalis-       sind mit der RiffReporter-Seite verlinkt.       „Nicht wenige zahlen freiwillig mehr,
mus.“ Gemeint ist: Wer auf der Plattform       Dort entscheiden die Autoren selbst, ob         weil sie seriösen Journalismus fördern
veröffentlicht, recherchiert selbst, arbei-    sie bezahlpflichtige Abonnements an-            wollen“, sagt Krämer. Die Plattform will
tet korrekt und ohne Beeinflussung von         bieten oder versuchen, eine Community           auch neue Arbeitsformen für freie Jour-
außen. Ein journalistischer Kodex, ein         freiwilliger Unterstützer aufzubauen.           nalisten schaffen. „Diese arbeiten oft
Ethikrat und eine strenge Auswahl der          Für das Bezahlen nutzen die RiffRepor-          allein vor sich hin. In Teams zu arbeiten
Autoren sollen die Qualität hoch halten.       ter PayPal oder Stripe. Ein Artikel kann        ist dagegen inspirierend.“ Hinzu kommt:
                                               0,59 Euro oder 1,99 Euro kosten – ganz          Um erfolgreich zu sein, müssen die
Von Flugbegleitern und Korallen                wie der Autor das festlegt.                     Reporter sichtbar sein – Vorträge halten,
Aber wie funktioniert die Plattform? „Als         Besonders beliebt bei den Lesern sind        Konferenzen besuchen oder sich persön-
Service-Tool“, sagt Schwägerl. Die Jour-       die „Flugbegleiter“, eine Gruppe von            lich den Fragen der Leser stellen.
nalistin Eva Wolfangel zum Beispiel ist        Journalisten, die sich auf das Thema                Oder Preise einheimsen: Die Genossen-
auf Themen aus der digitalen Welt spezi-       Vogelwelt spezialisiert hat. Zu ihnen           schaft hat von mehreren Stiftungen den
alisiert. „Virtuelle Realität ist ein großes   zählen prominente Journalisten wie die          Netzwende-Preis erhalten und wurde für
Thema“, sagt sie. Zurzeit veröffentlicht       GEO-­ Redakteurin Johanna Romberg.              den Grimme Online Award in der Katego-
die 42-Jährige bei Topmedien wie ZEIT,         Themen der Artikel sind zum Beispiel das        rie Wissen und Bildung nominiert. Der re-
Spiegel Online oder Süddeutscher Zei-          Über­leben des Sumpfvogels Seggenrohr­          nommierte Preis zeichnet Angebote aus,
tung. Doch sie fürchtet: „Die klassischen      sänger oder der Schutz der Moore.               „die einen Beitrag für gesellschaftliche Bil-
Geschäftsmodelle im Journalismus ge-              Die Flugbegleiter haben auf Twitter          dung, Beratung und Aufklärung leisten“.
hen nicht mehr lange gut.“ Immer mehr          mehr als 1.000 Follower, die sich dort
Medien würden verschwinden, die Ar-            über neue Artikel informieren. Bei den          Die Grimme-Gewinner werden erst nach
beitsbedingungen für freie Journalisten        RiffReportern haben die elf Journalisten        dem gemeinsam-Redaktionsschluss Mitte
verschlechterten sich drastisch. Deshalb       der Gruppe eine sogenannte Koralle ins          Juni bekannt gegeben.
entwickelt sie zurzeit eine eigene Com-        Leben gerufen. „Das ist eine Seite, auf der     Infos auf: www.grimme-preis.de.

                                                                                                                                         25
DI E WELT DER GENO S S E NS C H A F TE N

Hat ihr Leben wieder im Griff: Ronja konnte die Hilfe der Genossenschaft Jugendagentur annehmen und so auf die Beine
kommen. Jetzt absolviert sie eine Ausbildung zur medizinischen Fachangestellten.

            Zurück ins Leben
 Lange ausschlafen, sich mit Mädels treffen, trinken, ein bisschen Sachbeschädigung –
    so in etwa sahen die Tage von Ronja aus, bevor sie bei Friederike Erbe in der
Jugendagentur eG in Heidelberg landete. Die Sozialarbeiterin und Genossenschaft­
         lerin hat ein großes Herz für Jugendliche, denen die Richtung fehlt.
                                        T E X T : A N N E T T E S T E T Z E R , F OTO S : J Ö R G B AU M A N N

                                              Genossenschaft in Heidelberg hilft jun-                      21-Jährigen, Abstand von ihrem „alten
                                              gen Menschen mit dem Projekt „Kompe-                         Leben“ zu bekommen: „Ich bin das erste
                  HEIDELBERG                  tenzagentur“ auf die Beine: „Inzwischen                      Mal ins Heim gekommen, da war ich
                                              ist es so, dass wir nicht nur traditionell                   zwölf. Dann bin ich wieder nach Hause
                                              das Bewerbungstraining durchführen.                          gekommen. Das war immer so abwech-

I
                                              Sondern wir bearbeiten alles, was einem                      selnd. Und wenn ich mich mit meinen
  ch habe mein eigenes Leben bekom-           guten Start in das Berufsleben im Weg                        Freundinnen getroffen habe, haben wir
  men“, antwortet Ronja* auf die Frage,       stehen könnte“, sagt Friederike Erbe.                        alles Mögliche gemacht: getrunken,
  was sich für sie im Vergleich zu früher                                                                  Sachbeschädigung, Notrufmissbrauch,
geändert hat. Vor drei Jahren fing alles      Kräfte mobilisieren                                          Körperverletzung, geklaut – alles.“ Jetzt
an. Damals riet ihr die Gerichtshilfe, sich   Ein entscheidender Schritt für Ronja war                     führt sie ein geregeltes Leben, mit einem
an Friederike Erbe von der Jugendagen-        die Aufnahme in ein Wohnprojekt, das                         eigenen Haushalt und einer Ausbildung
tur eG zu wenden. Die gemeinnützige           die Jugendagentur betreut. Das hilft der                     zur medizinischen Fachangestellten.

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D I E W E L T D E R GE N OS S E N S CH AFT EN

Friederike Erbe (Bild oben) hat einen guten Draht zu ihren Schützlingen. Bild unten: Geschäftsführer Gerd Schaufelberger
vermittelt im Sinne der Jugendlichen zwischen den Ämtern. Das Olivenöl vertreibt ein Schülerprojekt der Genossenschaft.

   „Klar mache ich auch noch Party und        Friederike leistet Beistand, kümmert         „Wir sind die Ersten, die das in Heidel-
so, aber nicht mehr so asozial wie früher.“   sich um formelle Angelegenheiten, orga-      berg im Jugendbereich bekommen ha-
Einmal in der Woche trifft sie sich mit       nisiert Termine bei Therapeuten und          ben.“ Das heißt, die Geschäftsführungs-
Friederike Erbe, um aktuelle Themen           begleitet die Betroffenen zu Erstgesprä-     anteile sind gesichert und die Existenz
wie Schulden, Schulversäumnisse oder          chen. Die jungen Leute vertrauen ihr.        der Jugendagentur hängt nicht mehr
ganz persönliche Dinge zu besprechen.         90 Prozent halten sich an ihre Termine       von der Förderung einzelner Projekte ab.
„Sie hilft mir bei allem. Wenn ich Streit     und zehn von den 43 jungen Männern           Die Idee mit der Genossenschaft hatte
mit meinem Freund habe. Wenn ich              und Frauen, die Friederike Erbe betreut,     noch der Vorstandsvorgänger von Gerd
Ämtergänge erledigen muss. Auch beim          absolvieren inzwischen eine Ausbildung.      Schaufelberger: „Er wollte, dass die Mit-
Ausbildungsplatz. Immer hatte ich Absa-                                                    arbeiter sich mehr einbringen. Dass es
gen. Ich hatte keinen Bock mehr. Aber         Gemeinnützig, sozial, abgesichert            einfach ihr Kind ist.“
Friederike hat gesagt: Das schaffst du.“      Die Jugendagentur eG nimmt im sozialen          Die Teammitglieder der Jugendagen-
   Die studierte Sportpädagogin liebt ih-     Bereich eine wichtige Rolle ein. „Wir sind   tur gehen freundschaftlich miteinander
re Arbeit. „Ich habe die jungen Leute im-     an den Schnittstellen tätig. Das Jobcenter   um, die Atmosphäre ist locker. Sie duzen
mer ganz schnell im Herzen“, sagt Erbe.       will etwas anderes von den jungen Leuten     sich, kochen zusammen und einmal im
Aus diesem Grund verließ sie nach fünf        als das Jugendamt. Da vermitteln wir“,       Monat gibt es eine Supervision. Das und
Jahren den Vorstand der Jugendagentur         sagt Geschäftsführer Gerd Schaufelber-       eine Coachingausbildung helfen Friede-
und wechselte in die Betreuung. Sie           ger. Neben den Coachingprojekten initi-      rike Erbe im Kontakt mit den jungen Er-
möchte junge Menschen wie Ronja für           iert und betreut die Jugendagentur außer-    wachsenen. „Ich bewerte sie nicht. Des-
ihre eigenen Bedürfnisse sensibilisieren.     dem schulische und außerschulische An-       halb fällt es mir leicht, sie anzunehmen.“
„Was willst du in deinem Leben? Was ist       gebote wie die Schülerfirma Ragazzeria,      Und das spüren die Ratsuchenden, von
für dich eine gute Beziehung? Für solche      die eigenes Olivenöl vertreibt, oder „Cook   denen viele ein so enges Verhältnis zu ihr
Gespräche nehme ich mir viel Zeit“,           Your Future“, ein Projekt, das Geflüchtete   aufbauen wie Ronja. Die erzählt: „Friede-
erzählt sie und ist froh darüber, diese       für die Gastronomie qualifiziert.            rike ist wie meine zweite Mama. Sie wird
Freiheit zu haben. Ob Schulden durch             Seit 2014 steht die Genossenschaft        auch zu meiner Hochzeit eingeladen.“
Interneteinkäufe in großen Summen             auch finanziell auf stabilem Boden –
oder schwere psychische Probleme –            dank einer institutionellen Förderung.       * Name von der Redaktion geändert

                                                                                                                                  27
DAS INTERVIEW

28
DAS I N T ERV IEW

„Die wenigsten
haben uns ernst
 genommen“
     Am Anfang war Klinkenputzen angesagt, heute
vertritt die Organisation Fairtrade weltweit 1,6 Millionen
  arbeitende Menschen. Vorstandschef Dieter Overath
  spricht über einen langen Weg, ehrgeizige Ziele und
         seine beeindruckendsten Begegnungen.
                   INTERVIEW: YVONNE HOLL,
                       F OTO : J I M R A K E T E

                                                                  29
DAS INTERVIEW

Besuch an der Elfenbeinküste: Dieter Overath mit Beschäftigten der Kakao-Kooperative Ecookim.

Herr Overath, das grün-blaue Fairtrade-­      Selbsthilfe, Selbstverantwortung und      80 Prozent der Produzentenorganisatio-
Siegel auf schwarzem Grund hat es vom         Selbstverwaltung – die „drei S“ des ge-   nen sind Kleinbauernorganisationen,
Nischenprodukt auf den „Eine-Welt-Ba-         nossenschaftlichen Handelns – stehen      davon sind die meisten genossenschaft-
saren“ in die Regale der Supermärkte und      auch beim fairen Handel im Mittelpunkt.   lich organisiert.
Discounter geschafft. Das war keine leich-
te Aufgabe, oder?                             Wie viele der Rohstoffproduzenten, mit    Welchen Vorteil haben die Kaffee- und
Seit 1992 – dem Gründungsjahr von             denen Sie kooperieren, sind genossen-     Reisbauern, die Orangenpflücker und
TransFair e. V. in Deutschland – ist tat-     schaftlich organisiert?                   Näherinnen davon, genossenschaftlich
sächlich viel passiert. Der Erfolg von                                                  organisiert zu sein?
Fairtrade war nur möglich durch das brei-                                               Der genossenschaftliche Zusammen-
te zivilgesellschaftliche Engagement und        DER VEREIN TRANSFAIR E.V.               schluss von Kleinproduzenten ermög-
natürlich eine gewisse Hartnäckigkeit. In       wurde 1992 als unabhängige Initia­      licht es, das wirtschaftliche Handeln
den Anfangsjahren mussten wir Klinken           tive zur Förderung von fairem           optimal an den Zielen und Bedürfnissen
putzen. Ernst genommen haben uns die            Handel gegründet. TransFair ist         der eigenen Mitglieder, aber auch an den
wenigsten. Inzwischen hat sich Fairtrade        die deutsche Mitgliedsorganisation      politischen und kulturellen Gegebenhei-
als Handelsalternative im Bewusstsein           der Nichtregierungsorganisation         ten der Region auszurichten. Wichtig ist,
der Konsumentinnen und Konsumenten              Fairtrade International und firmiert    dass in jedem Land die Genossenschaf-
etabliert. Trotzdem fehlt uns bei vielen        deshalb auch unter dem Namen            ten und die sie tragenden Menschen
Produkten noch die Marktdurchdrin-              Fairtrade Deutschland. In dieser        ein eigenes Modell entwickeln, das ihrer
gung. Klimawandel, existenzsichernde            Funktion schließt Fairtrade Lizenz-     Situation entspricht. Wenn sich Klein-
Einkommen, Wertschöpfung in den An-             verträge mit Handelspartnern ab,        bäuerinnen und -bauern in demokrati-
bauländern – der faire Handel steht wei-        die nach festgelegten Standards         schen Organisationen zusammenschlie-
ter vor großen Aufgaben und muss sich           fair gehandelte Produkte anbieten.      ßen, können sie ihre Interessen auf dem
diesen globalen Fragen stellen.                 Getragen wird der Verein von rund       Weltmarkt gegenüber Händlern besser
                                                30 Mitgliedsorganisationen, darun-      vertreten. Sie können über gemeinsame
Über 1,6 Millionen Bäuerinnen und Bau-          ter Hilfswerke, kirchliche Einrich-     Anschaffungen und Fortbildungen ihre
                                                                                                                                    FOTO: FAIRTRADE

ern sowie Plantagenarbeiterinnen und            tungen und Gewerkschaften sowie         Ernteerträge erhöhen. Arbeiterinnen und
-arbeiter profitieren von ihrer Beteiligung     Stiftungen von Parteien.                Arbeiter auf Plantagen erhalten durch
an Fairtrade. Wie funktioniert das?                                                     Fairtrade die Unterstützung, ihren Rech-

30
DAS I N T ERV IEW

    ten und Bedürfnissen über demokratische                                                        schöne Entwicklung. Eine ähnliche Ent-
    Interessenvertretungen wie Gewerk­schaf­                                                       wicklung erlebte ich auf einer Fairtrade-­
    ten eine einflussreiche Stimme zu ver­        „Fairtrade ist viel                              Blumenfarm in Kenia. Bei meinem ers-
    leihen und bessere Arbeitsbedingungen
                                                  mehr als die Zahlung                             ten Besuch waren wir mit dem Prämien-
    sowie eine stabilere Lohnsituation zu                                                          komitee zu einem Gespräch verabredet.
    erreichen. Sie alle profitieren von der       eines Mindestpreises                             Die Mitglieder des Komitees waren aus-
    Fairtrade-Prämie, die Projekte zur Ver-       oder einer Prämie.                               schließlich Frauen. Das Gespräch war
    besserung des Lebensalltags dieser Men-                                                        sehr zäh, weil die Frauen es nicht ge-
    schen, ja sogar ihrer Familien und ihrer      Fairtrade stärkt                                 wohnt waren, mit Männern und dazu
    Umgebung finanziert: Bildung, Gesund-         Menschen und                                     noch ausländischen Gästen zu sprechen.

                                                  verhilft ihnen zu
    heitsversorgung, Verbesserungen der                                                            Sie waren sehr zurückhaltend. Als ich
    Wohnsituation und Maßnahmen zur                                                                wiederum sechs Jahre später auf ein und
    Steigerung der Produktivität landwirt-        mehr Selbst­                                     derselben Farm für einen Dreh mit ei-
    schaftlicher Kleinbetriebe.
                                                  bewusstsein.“                                    nem Fernsehteam zu Besuch war, platz-
                                                                                                   ten wir in eine Schulung des Prämien­
    Sind Sie selbst Mitglied einer Genossen-      DIETER OVERATH                                   komitees hinein. Selbstbestimmt wiesen
    schaft?                                       VORSTANDSVORSITZENDER                            die Frauen uns an, doch bitte noch eine
    Ja, seit vielen Jahren bin ich Genossen-      VON TRANSFAIR                                    halbe Stunde zu warten. Die Schulung
    schaftsmitglied der Kölner Bank, die ja                                                        zu Finanzmanagement und Buchhal-
    gewissermaßen zu Raiffeisen gehört.           dem Kaffeeanbaugebiet beim Frühstück             tung hatte für die Frauen in dem Moment
    Außerdem bin ich seit fünf Jahren             saß. Mein Blick schweifte über die vielen        Priorität. Sie wollten sich weiterbilden,
    Teil des genossenschaftlich organisier-       Kaffeesträucher der Gegend. In meiner            um die Fairtrade-Prämie besser einsetzen
    ten „Hope Theatre“ aus Nairobi.               Kaffeetasse gab es jedoch nur Kaffee von         zu können. Die Schulung selbst war von
                                                  Nescafé. Also keinen Kaffee aus der eige-        Fairtrade-­Prämien finanziert. Das selbst-
    Sie stehen seit mehr als 25 Jahren an der     nen Produktion. Als ich zehn Jahr später         bestimmte Auftreten der früher so schüch-
    Spitze von TransFair und sind viel gereist,   dieselbe Kaffeegenossenschaft noch ein-          ternen Frauen beeindruckte mich sehr.
    haben zahlreiche der Fairtrade-Produ-         mal besucht habe und wieder in der­
    zenten selbst getroffen. Gibt es ein Erleb-   selben Pension unterkam, bekam ich               Haben diese Erfahrungen Sie beeinflusst?
    nis, das Sie besonders beeindruckt hat?       frischen Kaffee der lokalen Fairtrade-­          Beide Erlebnisse haben mich in meinem
    Es gibt zwei Erlebnisse, die mir beson-       Kooperative serviert. Inzwischen hatten          Tun bestärkt. Denn Fairtrade ist viel
    ders in Erinnerung geblieben sind. Ich        die Kooperativen bewirkt, dass der lokal         mehr als die Zahlung eines Mindestprei-
    erinnere mich noch, wie ich bei meinem        angebaute Kaffee auch lokal weiter­­­        -   ses oder einer Prämie. Fairtrade stärkt
    ersten Besuch einer Kaffee­     genos­sen­    ­­­­­ver­arbeitet, ge­röstet und in der Gegend   Menschen und verhilft ihnen zu mehr
    schaft in Costa Rica in der Pension in        verkauft und ausgeschenkt wurde. Eine            Selbstbewusstsein.

                                                                                                                                          A N Z EI G E

                                                                           Wir sind die, die machen,
                                                                 dass Ihr Geld aus dem Automaten kommt,
                                                              wenn Sie Ihre PIN eingeben. Der Grund, warum Sie
                                                                 per Mausklick Geld von A nach B bewegen
                                                                   können. Und wir sorgen dafür, dass auf
                                                                          Ihrem Konto alles stimmt.

                                                                    Aber uns liegen nicht nur die Rechner
                                                                 der Volks- und Raiffeisenbanken am Herzen.
  Wir bringen Rechner                                          Deshalb unterstützen wir soziale Projekte, Sport,
zum Laufen. Und Kinder                                            Kunst, Kultur und Bildung, wo wir können.
    zum Schreiben.
                                                                           Denn vom Kindergarten bis zum
                                                                           ersten Job ist es ein langer Weg.
N ACHRIC HTEN

 Wohnen in Metropolen                                                                             Ihre Bücher haben sie
 Im Mai 2018 hat sich die erste                                                                   berühmt gemacht: Mit der
 europäische Wohnungsbaugenossen­                                                                 Genossenschaft pep coop!
 schaft gegründet: Living in Metropo-                                                             engagiert sich die Schrift-
 lises (LiM). Aus Deutschland, Frank-                                                             stellerin und studierte
 reich, den Niederlanden und Öster-                                                               Juristin Juli Zeh für Daten-
 reich stammen die 37 Mitglieder der                                                              sicherheit im Netz.
 Genossenschaft, die mit vollem Na-
 men „LiM Living in Metropolises SCE
 mit beschränkter Haftung“ i. G. heißt,
 wobei SCE für „Societas Co­operativa
 Europaea“ steht. Ziel der LiM ist es,
 neben bezahlbaren Mieten in den
 Metropolen Europas auch unkompli-
 zierte Wohnungswechsel innerhalb
 des europäischen genossenschaftli-
 chen Verbundes zu ermöglichen. Die
 LIM hat ihren Geschäftssitz in Berlin.
 Dort soll auch das erste Bauprojekt
 realisiert werden.

 Finanzen und die Bildung
 Es ist ein Dauerbrenner: Wie soll
 die Bildung rund um das Thema
 Finanzen in Deutschland verankert                      Privatsphäre für alle
 werden? Werden Schülerinnen und
 Schüler in Deutschland ausreichend              Die Genossenschaft pep coop! entwickelt leicht
 darauf vorbereitet, wichtige finanzi-              anwendbare Verschlüsselungstechniken.

                                          D
 elle Aufgaben zu bewältigen? Diese
 Fragen wurden lebhaft diskutiert auf              ie Botschaft, mit der sich die im    auf Privatsphäre verlangen, zählen die
 der Konferenz „Finanzbildung – im                 April 2018 gegründete Genos-         Autorinnen Juli Zeh und Sibylle Berg.
 Spannungsfeld zwischen Anspruch                   senschaft „pep coop!“ im Netz        „Wir holen uns das Netz zurück“, so Juli
 und Wirklichkeit“ am Berliner Stand­     präsentiert, ist eindeutig: „Wir sind eine    Zeh. Die neue Genossenschaft tritt an,
 ort der DZ Bank.                         Europäische Genossenschaft, die Privat-       um als Organisation der Selbsthilfe wirk-
    Initiator der Konferenz war Union     sphäre in der digitalen Welt mit techni-      same technische Werkzeuge in die Hand
 Investment, die Investmentgesell-        schen Mitteln schützt. Dazu entwickeln        zu geben und die Menschen in Europa
 schaft der DZ Bank und Teil der ge-      wir Tools, die so einfach und wirkungs-       vor Massenüberwachung und „algorith-

                                          99%
 nossenschaftlichen FinanzGruppe.         voll sind, dass sie jede/r nutzen kann.“ Zu   mischer Schubladisierung“ zu schützen.
 Eine hochkarätige Gästeliste, unter      den prominenten Köpfen, die ein Recht         Infos unter www.pep.coop.
 anderem mit dem ehemaligen Fi-
 nanzminister Peer Steinbrück und
 dem Olympiasieger Dieter Thoma,
                                                                                                                                 QUELLE: DGRV

 sorgte für lebhafte Diskussionsrun-
 den. Politiker, Profisportler, Lehrer
 und Eltern kamen auf der Konferenz
 in den Genuss der fachlichen Exper-
 tise der Volks- und Raiffeisenban-
 ken, die unter dem Hashtag #Ideen-
 reich gute Ansätze liefern, wie unse-
 re Gesellschaft Finanzwissen noch
 besser teilen kann.
                                          aller Landwirte sind Genossenschaftsmitglieder.

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