Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung

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Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung
Zeitschrift der       Hessen
  für Erziehung, Bildung, Forschung

74. Jahr      Heft 6        Juni 2021
                       zum Inhaltsverzeichnis

             TITELTHEMA:
              Soziale Ungleichheit
Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung
GEWERKSCHAFTSTAG                                                                                                                                 HLZ 6/2021          2

                                                                                                                            Zeitschrift der GEW Hessen
                    Landesdelegiertenversammlung am 23. und 24. September in Fulda                                          für Erziehung, Bildung, Forschung
                                                                                                                            ISSN 0935-0489
                    Die für November 2020 geplante or-         • eine Leiterin oder ein Leiter der Ab-
                    dentliche Landesdelegiertenversamm-        teilung Rechtsschutz                        I     M      P      R     E      S     S     U       M
                    lung der GEW Hessen (LDV) findet jetzt     • die Leiterinnen und Leiter der Refera-
                    in verkürzter Form am 23. und 24. Sep-     te Schule und Bildung, Hochschule und       Herausgeber:
                    tember 2021 in Fulda statt, um die sat-    Forschung, Sozialpädagogik, Weiterbil-      Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
                                                                                                           Landesverband Hessen
                    zungsmäßigen Wahlen durchzuführen          dung und Bildungsmarkt, Tarif, Besol-       Zimmerweg 12
                    und wichtige Weichen für die gewerk-       dung und Beamtenrecht, Mitbestimmung        60325 Frankfurt/Main
                    schaftlichen Schwerpunkte der nächs-       und gewerkschaftliche Bildungsarbeit        Telefon (0 69) 971 2930
                    ten Jahre zu stellen. Die Versammlung      sowie Aus- und Fortbildung.                 Fax (0 69) 97 12 93 93
                                                                                                           E-Mail: info@gew-hessen.de
                    wird 2022 mit weiteren inhaltlichen            Außerdem sind die folgenden weite-      Homepage: www.gew-hessen.de
                    Schwerpunkten fortgeführt. Nach der        ren Wahlfunktionen durch die LDV zu
                    Satzung sind die vorläufige Tagesord-      besetzen:                                   Verantwortlicher Redakteur:
                                                                                                           Harald Freiling
                    nung und die zu besetzenden Wahl-          • drei ständige und drei stellvertretende   Klingenberger Str. 13
                    funktionen in der HLZ anzukündigen.        Mitglieder der Landesschiedskommission      60599 Frankfurt am Main
                                                               nach § 6 der Wahlordnung                    Telefon (0 69) 636269
                    Tagesordnung                               • fünf Mitglieder für das Präsidium der     E-Mail: freiling.hlz@t-online.de
                    • Begrüßung, Ehrung der Verstorbenen       LDV nach § 2 der Geschäftsordnung           Mitarbeit:
                    • Wahl des Präsidiums, Wahl des Wahl-      • fünf Mitglieder des Wahlausschusses       Christoph Baumann (Bildung), Tobias Cepok (Hoch-
                    ausschusses, Bestätigung der Mandats-      nach § 2 Abs.1 der Wahlordnung              schule), Holger Giebel, Angela Scheffels (Mitbestim-
                    prüfungskommission und der Antrags-                                                    mung), Michael Köditz (Sozialpädagogik), Annette
                                                                                                           Loycke (Recht), Andrea Gergen (Aus- und Fortbildung),
                    kommission, Beschluss zur Tagesordnung     Kollektive Mandatsausübung                  Karola Stötzel (Weiterbildung), Gerd Turk (Tarifpolitik
                    • Ergänzungen zum Geschäftsbericht         Für die ehrenamtlichen Wahlfunktionen       und Gewerkschaften), Simone Claar (Hochschule)
                       und Aussprache                          im Geschäftsführenden Vorstand und
                                                                                                           Gestaltung: Harald Knöfel, Michael Heckert †
                    • Kassenbericht, Bericht der Revisoren     in den Fach- und Personengruppenaus-
                                                               schüssen können nach § 26 der Satzung       Titelthema: Harald Freiling, Kai Eicker-Wolf
                    • Entlastung des Vorstandes
                    • Satzungsändernde Anträge                 Teams, Tandems und Einzelkandidatin-        Illustrationen:
                    • Beratung und Beschlussfassung 		         nen und Einzelkandidaten gewählt wer-       David-W- | photocase.com (Titel), Thomas Plaßmann
                                                               den. Für die Funktion der oder des Lan-     (S. 15, 25, 27 und 29), Ruth Ullenboom (S. 4)
                       über den Haushaltsplan 2022-2024
                    • Antragsberatung                          desvorsitzenden können sich Tandems         Fotos, soweit nicht angegeben:
                    • Bestätigung der Vorstände der		          oder Einzelkandidatinnen und Einzel-        GEW
                                                               kandidaten bewerben, für die Funktion       Verlag:
                       Fach- und Personengruppen
                                                               der stellvertretenden Landesvorsitzen-      Mensch und Leben Verlagsgesellschaft mbH
                    Wahl des geschäftsführenden Vorstands      den ausschließlich Einzelkandidatin-        Niederstedter Weg 5
                                                                                                           61348 Bad Homburg
                    Für die Funktionen im geschäftsführen-     nen und Einzelkandidaten. Bis zu drei
                    den Vorstand sind nach § 21 Abs.1 der      gleichberechtigte Personen können als       Anzeigenverwaltung:
                                                               Team, zwei gleichberechtigte Personen       Mensch und Leben Verlagsgesellschaft mbH
                    Satzung zu wählen:                                                                     Peter Vollrath-Kühne
                    • eine Vorsitzende oder ein Vorsitzender   als Tandem gewerkschaftliche Mandate        Postfach 19 44
                    • zwei stellvertretende Vorsitzende        ausüben. Dabei ist der jeweilige Anteil     61289 Bad Homburg
                    • eine Schatzmeisterin oder ein Schatz-    von Frauen einzuhalten. Werden gewerk-      Telefon (06172) 95 83-0, Fax: (06172) 9583-21
                                                               schaftliche Mandate als Team ausgeübt,      E-Mail: mlverlag@wsth.de
                    meister
                    • eine Redakteurin oder ein Redakteur      entfallen die Wahlen der stellvertreten-    Erfüllungsort und Gerichtsstand:
                    der Zeitschrift des Landesverbands (HLZ)   den Vorsitzenden.                           Bad Homburg
                                                                                                           Bezugspreis:
                          Dieser Ausgabe der HLZ ist der Wandkalender                                      Jahresabonnement 12,90 Euro (9 Ausgaben, ein-
                                                                                                           schließlich Porto); Einzelheft 1,50 Euro. Die Kosten

                         der GEW für das Schuljahr 2021/2022 beigelegt.                                    sind für die Mitglieder der GEW Hessen im Beitrag
                                                                                                           enthalten.
                                                                                                           Zuschriften:
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                    Rubriken                                    Einzelbeiträge                             Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder
                                                                                                           wird keine Haftung übernommen. Im Falle einer Ver-
                     4   Spot(t)light                           5   Personalratswahlen 2021                öffentlichung behält sich die Redaktion Kürzungen
                     5   Meldungen                              6   Corona-Blog: Das sagt die GEW          vor. Namentlich gekennzeichnete Beiträge müssen
                                                                                                           nicht mit der Meinung der GEW oder der Redaktion
                    36   Recht: Pflichtstundenverordnung       23   Wahlen an den Hochschulen              übereinstimmen.
                    37   Jubiläen | Nachrufe                   24   Landesschülervertretung: Bildung
                                                                    für nachhaltige Entwicklung
                    Titelthema: Soziale Ungleichheit                                                       Redaktionsschluss:
                                                               26   Digitale Leere im Videounterricht
                     7 Soziale Folgen der Pandemie             28   Auslese und Bildungsgerechtigkeit      Jeweils am 5. des Vormonats
                     8 Ungleichheit in Hessen                  30   Mehrsprachigkeit in Schule und
                    10 Jugendliche und Beruf:                       Lehrerbildung                          Nachdruck:
                       Die Auswirkungen der Pandemie           32   Gedenkstätte Breitenau                 Fotomechanische Wiedergabe, sonstige Vervielfälti-
                    12 Ungleichheit und Steuerpolitik                                                      gungen sowie Übersetzungen des Text- und Anzei-
                                                               34   Kolumbien: Bildungsgewerkschaft        genteils, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher
                    14 Was verdienen Frauen und Männer?             unter Druck                            Genehmigung der Redaktion und des Verlages.
                    16 Hochbegabtenförderung: Zu viel          38   12. Juni: Tag gegen Kinderarbeit
                       Geld für Schloss Hansenberg?                                                        Druck:
                                                                                                           Druck- und Verlagshaus Thiele & Schwarz GmbH
                    18 Reichtum und Demokratie                  19-22 lea-Fortbildungsprogramm             Werner-Heisenberg-Str. 7, 34123 Kassel
Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung
3   HLZ 6/2021   zum Inhaltsverzeichnis                                                                 KOMMENTAR

             Ungleichheit bekämpfen
             Der gesellschaftliche Reichtum muss und kann ge-         braucht es neben einem armutssicheren Mindest-
             rechter verteilt werden. Dazu brauchen wir eine stär-    lohn auch die Absicherung durch ein Mindestkurz-
             kere Besteuerung von Vermögen, Erbschaften und           arbeitsgeld von 1.200 Euro und eine Ausdehnung des
             Spitzenverdiensten, aber auch mehr Einkommensge-         Schutzes der Sozialversicherungen. Prekäre Arbeits-
             rechtigkeit. Das bedarf sowohl tarifpolitischer An-      bedingungen müssen zurückgedrängt, 450-Euro-Jobs
             strengungen als auch dringender Korrekturen in der       und sachgrundlose Befristungen abgeschafft werden.
             Arbeitsmarktpolitik. Betrachtet man den Arbeits-         Es braucht eine verlässliche Absicherung von Fami-
             markt, so zeigt sich, dass die dortigen pandemiebe-      lien, die ihre Kinder zu Hause betreuen müssen, da-
             dingten Verwerfungen zu einer Verschärfung der so-       mit der Gender Time Gap nicht noch weiter ansteigt.
             zialen Ungleichheit geführt haben.                       Die Betriebskultur muss sich ändern, damit Gleich-
                Erschreckend ist, dass sich die Ungleichheit zwi-     stellung Realität wird und tradierte Rollenmuster bei
             schen Frauen und Männern verschärft. Der Gender          sorgebedingten Freistellungen verdrängt werden. Und
             Time Gap ist pandemiebedingt gestiegen. Frauen ha-       wir müssen konsequent die Einkommen in sozialen
             ben ihre Arbeitszeit stärker reduziert als Männer, wo-   und Sorgeberufen aufwerten, tarifpolitisch und ge-
             durch die Arbeitszeitlücke um weitere zwei Stunden       setzlich flankiert.
             pro Woche gestiegen ist. Alarmierend kommt hin-             Der elementarste Schritt zu mehr sozialer Gerech-
             zu, dass die Entgeltlücke durch die Pandemie wach-       tigkeit ist die bessere Tarifbindung. Höhere Gehälter,
             sen könnte. Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit haben        Sonderleistungen, bessere Arbeitszeitregelungen, eine
             für Frauen häufig negativere Auswirkungen auf das        Aufstockung des Kurzarbeitsgeldes und eine kleine-
             Einkommen. Beides ist vom Nettoeinkommen abhän-          re Entgeltlücke sind auf gute Tarifverträge zurück-
             gig, das bei Frauen in niedrigen Einkommensgrup-         zuführen. Um das durchzusetzen, organisieren sich
             pen, auch aufgrund des Ehegattensplittings, wesent-      Kolleginnen und Kollegen in starken Gewerkschaf-
             lich geringer ausfällt.                                  ten. Die Bindung dieser Regelungen muss aber auch
                Bereits vor der Coronakrise waren die Einkommen       gesetzlich gestärkt werden. Eine Grundbedingung
             in Deutschland ungleich verteilt. In der Krise sind es   hierfür ist es, die Allgemeinverbindlichkeitserklärung
             nun aber vor allem die unteren Einkommensgruppen,        von Tarifverträgen zu erleichtern. Öffentliche Aufträ-
             die von starken Einbußen betroffen sind. Besonders       ge dürfen nur noch an Unternehmen gehen, die ih-
             offensichtlich wird dies in den Branchen mit relativ     ren Beschäftigten Tariflöhne zahlen. Sonst untergräbt
             niedrigen Löhnen. Vielen Beschäftigten im Einzel-        die öffentliche Hand die Tarifbindung selber und för-
             handel oder im Hotel- und Gaststättengewerbe droht       dert den Dumpingwettbewerb. Die Hessische Landes-
             selbst bei 80 Prozent Kurzarbeitsgeld der soziale Ab-    regierung ignoriert diesen Ansatz vollends. Hier gibt
             stieg. Auch prekär Beschäftigte - ganz gleich ob be-     es noch viel zu tun.
             fristet oder geringfügig beschäftigt, mit Werkverträ-       Wir dürfen nicht zulassen, dass die aktuellen Ver-
             gen oder in Leiharbeit – sind mehr als andere von        werfungen auf dem Arbeitsmarkt zu einer Verschär-
             negativen Corona-Auswirkungen betroffen. Die sozi-       fung der sozialen Ungleichheit in Deutschland führen.
             alen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Pande-
             mie berühren daher Personen mit niedrigem Einkom-
             men und in prekären Beschäftigungsverhältnissen
             stärker. Durch die Pandemie sind besonders viele Ar-
             beitsplätze für Geringqualifizierte weggefallen und
             der Anteil Erwerbsloser ohne Berufsabschluss ist in
             Hessen um 26 Prozent gestiegen.
                Wenn wir soziale Ungleichheit abbauen wollen,
             gibt es mehrere Ansatzpunkte. Arbeit und Einkom-                                       Michael Rudolph
             men müssen wieder konsequent und lückenlos durch                                       Vorsitzender des DGB-Bezirks
             die Sozialversicherungen geschützt werden. Dafür                                       Hessen-Thüringen
Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung
SPOT(T)LIGHT                                                                                   zum Inhaltsverzeichnis      HLZ 6/2021       4

Marlon, das Wunderkind
                                                                                               „Bi-Ba-Butzemann“ tanzen. Lang Lang
                                                                                               und Anne Sophie Mutter haben schließ-
                                                                                               lich auch ganz früh angefangen! Mar-
                                                                                               lon hat sogar schon was komponiert,
                                                                                               behauptet die Mutter. Den Mäusewal-
      Bei Youtube gibt es nicht nur diese an-     stellt das Video später stolz bei Youtube    zer. Die Lehrerin gibt sich geschlagen.
      rührenden Katzenvideos, sondern auch        ein. Mit Altersangabe. Von Larissa Jego-     Sie unterrichtet Marlon eine halbe Stun-
      Sitzgymnastik für Senioren, silikonge-      rowna Tschemschuschina gibt es schon         de pro Woche. Die Mama ist immer da-
      stopfte Influencerinnen und jede Men-       über 30 solcher Filme! In zehn Jahren        bei und freut sich schon auf ihre ersten
      ge Wunderkinder. Wollen Sie für Ihre        wird sie mit Sicherheit von den Orches-      Interviews als engagierte Künstlermut-
      künstlerische Laientätigkeit am Kla-        tern der Welt begleitet.                     ter. Leider kann sich Marlon höchstens
      vier wissen, wie ein bestimmter Cho-            Marlon soll auch ein Wunderkind          zehn Minuten lang konzentrieren. Da-
      pinwalzer klingen muss, geben Sie ein-      werden! Er hat das richtige Alter (fast 5)   nach hüpft er auf einem Bein durch den
      fach den Titel im Youtube-Suchfeld ein.     und ein Klavier. Das haben die Großel-       Raum, haut mal auf dieses Instrument,
      Mit Sicherheit ist bei den Pianisten, die   tern spendiert. Es sieht entzückend aus,     mal auf jenes. Rasselt mal hier mit den
      jetzt aufploppen, ein kleines japanisches   wenn er auf dem Klavierhocker sitzt.         Maracas und probiert, ob er den Schle-
      Mädchen dabei oder ein kleiner russi-       Die Mama hat davon schon viele Fo-           gel am Metallophon klein kriegt.
      scher Junge. Oder umgekehrt. Ungefähr       tos an ihre Follower geschickt (noch             „Tja, das sind alles die Orff-Instru-
      drei, vier Jahre alt, trippelt das Kind     sind es nur die engsten Verwandten           mente aus der musikalischen Früher-
      zum Flügel. Hat ein Prinzesskleidchen       und Bekannten). Nun fehlt nur noch           ziehung“, sagt die Lehrerin. Hat sie ei-
      an oder einen winzigen Samtanzug mit        die richtige Lehrkraft. Leider hat man       nen maliziösen Unterton? Die Mama
      Rüschen. Süüüß! Ein erwachsener Coach       auf dem Land nicht allzu viel Auswahl.       verspricht, mit Marlon mehr zu üben.
      hebt das Kind auf den Hocker, stellt die    Die nächste russische Konzertpianis-         Die Lehrerin rät dringend davon ab. Sie
      richtige Höhe ein, Kinderbeine baumeln      tin unterrichtet 100 Kilometer entfernt.     hält nichts von Drill. Aber auch nichts
      in der Luft – und los geht’s! Chopin, wie   In der Kreisstadt gibt es in der Musik-      von stundenlangen Diskussionen mit
      Sie ihn vermutlich nie performen wer-       schule gerade mal einen freien Platz.        Müttern. Manchmal lässt sie den Jun-
      den. Mit winzigen Händen und großem         Die Lehrerin möchte eigentlich so klei-      gen zum Unterrichtsschluss etwas ma-
      Ernst. Das Kind rasselt schnelle Läufe      ne Kinder nicht unterrichten und emp-        len. All die Tiere, die in den Klavierstü-
      herunter und verspielt sich kein einzi-     fiehlt stattdessen die „Musikalische Frü-    cken für die frühe Jugend herumhüpfen:
      ges Mal. Beifall brandet im Konzertsaal     herziehung“. Aber Marlon soll Mozart         Elefanten, Pinguine, Katzen. Das macht
      auf. Vati filmt die Pokalübergabe und       und Beethoven spielen – und nicht den        Marlon Spaß, Klavierspielen nicht. Sei-
                                                                                               ne Mutter diskutiert mit ihm ausführlich
                                                                                               die Folgen für sein späteres Leben, wenn
                                                                                               er jetzt nicht am Klavier ausharrt. Mar-
                                                                                               lon heult. Die Lehrerin steht am Fens-
                                                                                               ter und trommelt. Klingt wie der Rhyth-
                                                                                               mus von Ravels „Bolero“. Anstatt sich
                                                                                               pädagogisch mehr zu bemühen, schlägt
                                                                                               sie vor, den Unterricht auszusetzen, bis
                                                                                               Marlon in die Schule kommt.
                                                                                                   Das dauert allerdings noch etwas.
                                                                                               Die Ärztin hält das Kind für nicht schul-
                                                                                               reif, weil es mit der linken Hand das
                                                                                               rechte Ohrläppchen nicht erreichen
                                                                                               kann. Außerdem malt Marlon noch
                                                                                               Menschen, die Arme und Beine direkt
                                                                                               am Kopf tragen. Das ist die Entwick-
                                                                                               lungsstufe eines Dreijährigen. „Er ist
                                                                                               doch noch so jung! Lassen Sie ihn ein
                                                                                               Jahr länger spielen und Kind sein! Der
                                                                                               Ernst des Lebens beginnt früh genug!“,
                                                                                               meint die Ärztin.
                                                                                                   Wehmütig betrachtet die Mama das
                                                                                               Fotoposter an der Wand: Marlon am
                                                                                               Klavier. Wie schön hätte das werden
                                                                                               können! Derzeit tobt Marlon nur drau-
                                                                                               ßen rum, steigt auf Bäume und spielt
                                                                                               mit den Nachbarskindern Fußball. Letz-
                                                                                               tens hat er sich dabei einen seiner Pia-
                                                                                               nistenfinger verstaucht. Aber vielleicht
                                                                                               wird er ja ein zweiter Mario Götze???

                                                                                                                    Gabriele Frydrych
Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung
5     HLZ 6/2021   zum Inhaltsverzeichnis                                                          P E R S O N A L R AT S WA H L E N 2 021

          Schulungen für neu                         GEW bleibt mit großem Abstand stärkste Kraft
          gewählte Personalräte
                                               Wahl des Hauptpersonalrats und der Gesamtpersonalräte der Lehrerinnen und Lehrer
    In der nächsten Zeit bieten die GEW        Stimmenanteil: nur Beamte
    und die Schulungsteams des Haupt-                                           GEW        GEW       DLH         UL      VBE
                                               Sitze: Beamte und Angestellte
    personalrats der Lehrerinnen und Leh-                                       (%)       (Sitze)     (%)       (%)      (%)
                                               (Veränderung zu 2016)
    rer (HPRLL) zahlreiche Schulungen für      Hauptpersonalrat                61,1 % 14 von 23     16,9 %     9,6 %   12,4 %
    neu gewählte Personalräte an. Termine      der Lehrerinnen und Lehrer (-2,0 %) (15 von 23) (+2,2 %) (-3,4 %) (+3,2 %)
    und Anmeldemodalitäten findet man
                                               Gesamtpersonalräte der Lehrerinnen und Lehrer bei den Staatlichen Schulämtern
    unter anderem
    • für Schulungsveranstaltungen des                                         73,5 % 15 von 19     26,5 %       0        0
                                               Stadt und Landkreis Kassel
                                                                              (-5,3 %) (15 von 19) (+5,3 %) (+/-0)     (+/-0)
    GEW-Bildungswerks lea in dieser HLZ
    auf den Seiten 21 und 22 und unter         Kreis Hersfeld-Rotenburg        62,1 %    9 von 15   23,3 %       0     14,6 %
    www.lea-bildung.de > Personal- und         und Werra-Meißner-Kreis        (-0,9 %) (10 von 15) (+2,6 %) (+/-0) (-1,7 %)
    Betriebsräte                               Schwalm-Eder-Kreis und          62,2 % 12 von 17     19,6 %       0     18,2 %
    • für Schulungsveranstaltungen der         Kreis Waldeck-Frankenberg (-4,8 %) (12 von 17) (+0,5 %) (+/-0) (+4,3 %)
    GEW-Kreisverbände unter https://www.                                       50,7 %    8 von 15   33,4 %       0     15,9 %
                                               Landkreis Fulda
                                                                                         %

    gew-hessen.de > Recht > Personalräte >                                   (+0,7 %) (7 von 15) (+2,0 %) (+/-0) (-2,7 %)
    Schulung für Personalräte 2021             Landkreis                       68,3 % 11 von 15     19,4 %    12,3 %      0
    • für die Schulungsteams des HPRLL:        Marburg-Biedenkopf            (+2,9 %) (11 von 15) (+3,9 %) (-6,8 %) (+/-0)
    https://akkreditierung.hessen.de/cata-     Lahn-Dill-Kreis und             52,9 % 11 von 21     16,5 %    10,9 % 19,7 %
    log > Thema: Qualifizierung für die Tä-    Landkreis Limburg-Weilburg (-1,1 %) (11 von 19) (+2,1 %) (-1,6 %) (+0,6 %)
    tigkeit in Mitbestimmungsorganen >         Landkreis Gießen                68,6 % 14 von 19     11,8 %    11,7 %    7,9 %
    Anbieter: Lehrkräfteakademie               und Vogelsbergkreis            (+5,8%) (13 von 19) (+0,1 %) (-5,7 %) (-0,2 %)
        Zu den Angeboten der HPRLL-Schu-       Hochtaunuskreis                 58,7 % 13 von 21     18,7 %     9,4 %   13,2 %
    lungsteams gehört auch eine Schulung       und Wetteraukreis             (+0,2 %) (13 von 21) (+0,5 %) (-3,1 %) (+2,4 %)
    für Personalräte an Studienseminaren       Rheingau-Taunus-Kreis           57,1 % 12 von 21     23,8 %       0     19,1 %
    am Mittwoch, dem 15. September, von        und Stadt Wiesbaden           (-12,2 %) (12 von 19) (+6,8 %)    (+/0)  (+5,4 %)
    10.15 Uhr bis 16.30 Uhr im DGB-Haus
                                               Landkreis Groß-Gerau            72,2 % 16 von 21     16,6 %       0     11,2 %
    in Frankfurt.
                                               und Main-Taunus-Kreis          (-6,2 %) (15 von 19) (+3,7 %) (+/-0) (+2,5 %)
        Personalräten ist nach § 40 Abs. 2
    HPVG für die Teilnahme an Schulungs-                                       74,8 % 17 von 23     17,0 %       0      8,2 %
                                               Stadt Frankfurt am Main
    veranstaltungen, die der Personalrats-                                    (-3,6 %) (16 von 21) (+ 3,1 %) (+/-0) (+0,5 %)
    arbeit dienen, Dienstbefreiung zu ertei-   Landkreis Offenbach             51,6 % 11 von 21     12,9 %    12,7 % 22,8 %
    len. Die Kosten trägt das Land.            und Stadt Offenbach            (-3,7 %) (12 von 21) (-0,7 %) (-2,3 %) (+6,7 %)
                                                                               64,8 % 12 von 19     18,6 %       0     16,6 %
          GEW fordert Stopp von                Main-Kinzig-Kreis
                                                                              (-7,0 %) (14 von 19) (+3,6 %) (+/-0) (+3,4 %)
          Abschiebungen aus Hessen             Kreis Darmstadt-Dieburg         64,7 % 14 von 21     11,8 %     5,9 %   17,6 %
                                               und Stadt Darmstadt            (-0,3 %) (12 von 19) (-2,9 %) (-2,9 %) (+6,1 %)
    Die GEW Hessen unterstützt den Auf-
                                               Kreis Bergstraße                66,3 % 11 von 17     19,0 %       0     14,7 %
    ruf für einen sofortigen Stopp aller Ab-
                                               und Odenwaldkreis             (+2,4 %) (11 von 17) (-2,5 %)    (+/-0) (+0,1 %)
    schiebungen aus Hessen. Immer wieder
    werden auch Menschen abgeschoben,          Bei der Wahl des Hauptpersonalrats der Lehrerinnen und Lehrer entfielen in der
                                               Gruppe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (Angestellte) 63,3 % der Stimmen
    die schon viele Jahre hier leben oder
                                               auf die GEW (-12,5 %). Die GEW stellt damit zwei der vier Vertreterinnen und Vertreter.
    sogar in Deutschland geboren wurden.       Auf die Angestelltenliste des DLH entfielen 17,6 % (1 Sitz), auf die des VBE 19,2 % (1 Sitz).
    In der HLZ 5/2021 hatten wir über die      2016 waren die Lehrerverbände im Beamtenbund mit einer gemeinsamen Liste angetre-
    Abschiebung von Mervan und sei-            ten. Eine ausführliche Analyse der Ergebnisse folgt in den nächsten Ausgaben der HLZ.
    ner Schwester Katia berichtet, die an
    der Walter-Lübcke-Schule in Wolfha-        Die GEW bezeichnete das Wahlergebnis            • Informationen zu den Personalrats-
    gen kurz vor ihrem Realschulabschluss      der Personalratswahlen in Hessen als            wahlen an den Hochschulen findet man
    stand. Das Bündnis gegen Abschiebung       respektabel und zufriedenstellend. Trotz        in dieser HLZ auf Seite 23.
    ruft am Mittwoch, dem 16. Juni, um         der Schließung vieler Schulen war die           • Auch bei den Wahlen in der Bil-
    17 Uhr zu einer Kundgebung in Wies-        Beteiligung an der Wahl zum Haupt-              dungsverwaltung (Schulämter, Lehr-
    baden auf.                                 personalrat der Lehrerinnen und Leh-            kräfteakademie und Kultusministe-
          Junge GEW: Einladung zur             rer (HPRLL) mit 70,2 % (-8,9) erfreu-           rium) war die gemeinsame Liste von
          Mitgliederversammlung                lich hoch. Hier bedankt sich die GEW            GEW und ver.di erfolgreich. Sie erhielt
                                               insbesondere bei den ehrenamtlichen             48,9 % der Stimmen der Beamtinnen
    Die Junge GEW Hessen lädt alle inte-       Wahlvorständen. Mit 14 von 23 Sitzen            und Beamten und 80,1% der Ange-
    ressierten jüngeren Mitglieder (U35)       verfügt die GEW weiter über eine über-          stellten. Im Hauptpersonalrat Verwal-
    zur Mitgliederversammlung in hybri-        zeugende Mehrheit im HPRLL. In der              tung stellt sie 5 von 9 Mitgliedern. Ge-
    der Form am Samstag, dem 3. Juli, um       neuen Amtszeit verfügt die GEW auch             wählt sind Esther Heck, Ute Höhmann,
    10.45 Uhr ein. Weitere Informationen       wieder in allen 15 Gesamtpersonalräten          Christopher Härmstädt, Regina Pomp
    in dieser HLZ auf Seite 23.                über eine absolute Mehrheit der Sitze.          und Gino Todisco.
Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung
CORONA-PANDEMIE                                                                              zum Inhaltsverzeichnis     HLZ 6/2021      6

                 Corona-Blog: Was sagt die GEW?
                   Abiturprüfungen, Selbsttests und die Bundesnotbremse
     Dieser Blog informiert über Aktivitäten     Freitag, 23. April                          stellung. Tatsächlich fordere die GEW
     der GEW Hessen in der Zeit von Mitte                                                    schon lange, die Schülerinnen und
     April bis zur Fertigstellung dieser HLZ     Das Hessische Kultusministerium erläu-      Schüler der Jahrgangsstufen 7 bis 11,
     Mitte Mai. Aktivitäten der Kreis- und Be-   tert in einem Schreiben an die Schul-       die mit Ausnahme der Abschlussklas-
     zirksverbände, der Personalräte und ande-   leitungen die Regelungen der „Bundes-       sen „seit Dezember nicht in der Schule
     rer Gremien der GEW sind hier nicht er-     notbremse“, die bereits am folgenden        waren“, nicht aus dem Blick zu verlie-
     fasst. Alle Statements im Wortlaut unter    Tag in Kraft tritt. Dies führt dazu, dass   ren und auch ihnen „mindestens einmal
     www.gew-hessen.de.                          an vielen hessischen Schulen bereits        in der Woche ein Unterrichtsangebot
                                                 zwei Wochen nach den Osterferien            im Wechselmodell zu machen“. Damit
     Mittwoch, 21. April                         der Präsenzunterricht mit Ausnahme          es möglich bleibt, die AHA-L-Regeln
                                                 der Abschlussklassen wieder abgesetzt       auch in der Schule weiterhin einzuhal-
     Zum Beginn der schriftlichen Abitur-        wird. In diesen zwei Wochen hatten die      ten, habe sie vorgeschlagen, auch für
     prüfungen kritisiert die GEW-Landes-        verpflichtenden Selbsttests vor Beginn      die Abschlussklassen ins Wechselmo-
     vorsitzende Maike Wiedwald, dass die        des Unterrichts bei Lehrkräften, Schü-      dell zu gehen. Die Stellungnahmen der
     Maskenpflicht während der Prüfung           lerinnen, Schülern und Eltern zusätz-       GEW kann man übrigens auch im Coro-
     für Schülerinnen und Schüler, die ne-       lichen Stress ausgelöst. Viele Schulen      na-Blog in der HLZ nachlesen, der jetzt
     gativ getestet sind, aufgehoben wird.       sprechen von einer weiteren Vertrau-        inzwischen seit mehr als einem Jahr er-
     Alle Fachleute seien sich einig, dass       enskrise, „wenn die Schulen jetzt den       scheint und die Kontinuität der GEW-
     die Selbsttests nur eingeschränkt zu-       Eltern mit Engelsgeduld erläutern, dass     Positionen zum Gesundheits- und Ar-
     verlässig seien. Außerdem fordert sie       das Testen die Möglichkeit erhöht, die      beitsschutz dokumentiert.
     „deutlich mehr Vorkehrungen zum Ge-         Schulen offen zu halten, und unmit-
     sundheitsschutz“. Dazu gehörten etwa        telbar nach der Einführung der Test-
     hochwertige Luftfilteranlagen und
                                                                                             Montag, 26. April
                                                 pflicht die Schulen wieder geschlos-
     Trennwände aus Plexiglas.                   sen werden“.                                Die GEW Hessen fordert die hessische
                                                     Die Freude von Kultusminister Lorz,     Landesregierung auf, bei der Regelung
     Donnerstag, 22. April                       dass nun auch die Schülerinnen und          zur Notbetreuung für die hessischen Ki-
     Im Rahmen einer landesweiten Presse-        Schüler der Jahrgangsstufen 7 und hö-       tas nachzusteuern. Die Einschränkun-
     konferenz erläutern die GEW-Landes-         her „endlich wieder vor Ort in der Schu-    gen ab einer Inzidenz von 165 hät-
     vorsitzende Birgit Koch, der Vorsitzen-     le unterrichtet werden“ können, wirkt       ten mit einem „echten Lockdown“, mit
     de des hessischen Grundschulverbands        wenig glaubwürdig, denn dies hatte er       dem man die dritte Welle brechen wol-
     Mario Michel und Thomas Schwar-             durch die Fixierung auf den vollen Prä-     le, „nichts zu tun“. Die hessische Rege-
     ze vom Arbeitskreis der Direktorinnen       senzunterricht für die Abschlussklassen     lung werde dazu führen, dass der Ki-
     und Direktoren hessischer Gesamtschu-       lange torpediert. Die „Bundesnotbrem-       ta-Betrieb weitgehend weiterlaufe und
     len die gemeinsamen Forderungen zur         se“ sieht dagegen den Wechselunter-         komme „einer Kapitulation gegenüber
     Schulentwicklung unter Pandemiebe-          richt für alle Jahrgangsstufen vor, wenn    der Pandemie gleich“. Die GEW-Vorsit-
     dingungen. Die Schulen benötigten           die Inzidenz regional den Wert von 165      zende Birgit Koch erneuert die Forde-
     dringend zusätzliche personelle Res-        nicht überschreitet. Die GEW hatte sich     rung nach einer verbindlichen Testung
     sourcen, um spätestens im kommenden         zuvor für eine vorsichtige Rückkehr der     von Kita-Kindern, um frühzeitig In-
     Schuljahr insbesondere Kinder und Ju-       höheren Klassen mit einem Präsenztag        fektionsketten unterbinden zu können.
     gendliche aus benachteiligten Famili-       pro Woche ausgesprochen. Den Wert
     en „intensiv und individuell zu fördern     von 165 hält sie allerdings weiterhin       Samstag, 1. Mai
     und zu unterstützen“. Birgit Koch und       für „deutlich zu hoch“ angesetzt.
                                                                                             Birgit Koch erneuert bei ihrer Rede zum
     Thomas Schwarze verwiesen auf die
     immensen Belastungen, denen Lehr-
                                                 Samstag, 24. April                          1. Mai in Fulda die Kritik der Gewerk-
                                                                                             schaften an der Schuldenbremse, die
     kräfte und Schulleitungen seit inzwi-       Wenige Tage vor der Personalratswahl        nach der Pandemie „fröhliche Urstän-
     schen einem Jahr ausgesetzt sind: „Der      wartet die bei Kolleginnen und Kolle-       de“ feiern könne. Aber auch nach der
     kurzfristige Wechsel zwischen Präsenz-      gen beliebte Plattform News4Teachers        Pandemie brauche man „Geld für In-
     unterricht, Wechselunterricht, Fernun-      mit der anonymen, tendenziösen              vestitionen und Daseinsvorsorge, für
     terricht und Notbetreuung, die häufig       Falschmeldung auf, die GEW Hessen           Bildung, Mobilität, Pflege, Gesundheit,
     auch noch parallel zu stemmen sind,         habe „einen rasanten Schwenk hinge-         Energie und Klimaschutz".
     zehrt an den Nerven." Die Schulleitun-      legt“ und sich „von einer harten Kriti-
     gen mussten die Weisungen aus Wies-         kerin der Schulöffnungspolitik der Lan-
     baden meist ausgesprochen kurzfristig       desregierung hin zur Dränglerin für            Alle weiteren Informationen:
     vor Ort umsetzen, häufig von Freitag        schnelle Schulöffnungen“ entwickelt.               www.gew-hessen. de
     auf Montag.                                 Die GEW reagiert mit einer Gegendar-
Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung
7     HLZ 6/2021    zum Inhaltsverzeichnis                                                                                  TITELTHEMA

                   Titelthema: Soziale Ungleichheit
                    Auch in der Pandemie sitzen nicht alle im selben Boot
    „Das Virus macht keine Unterschiede.“ Diese und andere Pa-       • Zu ähnlichen Ergebnisse kommt der Datenreport 2021 des
    rolen sollen den Zusammenhalt befördern und suggerieren,         Statistischen Bundesamts. Danach berichteten während der
    dass „alle im selben Boot sitzen“. Aber die Behauptung ist wie   ersten Welle von März bis Juli 2020 17 Prozent der an- und
    so oft, wenn dieses Bild bemüht wird, falsch. Denn Corona        ungelernten Arbeiterinnen und Arbeiter und 14 Prozent der
    macht Unterschiede, trifft Arme häufiger als Reiche, Men-        einfachen Angestellten von finanziellen Schwierigkeiten:
    schen in prekären Lebensverhältnissen mehr als in gut situ-      „Bei Bezieherinnen und Beziehern von Niedrigeinkommen war es
    ierten Verhältnissen, soziale Brennpunkte mehr als wohlha-       fast jede/-r Fünfte. Bei den Facharbeiter-, Meister- und qualifi-
    bende Wohngebiete. Das höhere Risiko betrifft nicht nur die      zierten Angestelltenberufen fielen die Anteile mit rund 9 % deut-
    Häufigkeiten einer Infektion, sondern auch den Krankheits-       lich niedriger aus. Am häufigsten waren Alleinerziehende (25 %)
    verlauf und die Gefahr, an Sars-CoV-2 zu sterben.                und Selbstständige (20 %) von finanziellen Problemen im Zuge
        Die Gründe liegen auf der Hand: enge Wohnverhältnisse        der Pandemie betroffen. Auch Menschen, die nach Deutschland
    im sozialen Brennpunkt oder in Gemeinschaftsunterkünften,        zugewandert sind, berichteten mit 15 % fast doppelt so häufig
    schlechtere Zugänge zum Gesundheitssystem, Arbeitsplät-          von finanziellen Schwierigkeiten wie Menschen ohne Migrati-
                                                                     onshintergrund.“ (2)
    ze im Niedriglohnbereich ohne ausreichenden Arbeitsschutz
    und ohne Chance auf Home-Office, Abhängigkeit vom öf-            • Ein ähnliches Bild zeichnet eine Studie der Hans-Böck-
    fentlichen Personennahverkehr u.v.m.                             ler-Stiftung, für die im April und Juni 2020 mehr als 6.000
        Nivellierende Aspekte wie der Ischgl-Tourismus der Schö-     Erwerbspersonen befragt wurden (siehe Abbildung):
    nen und Reichen waren schnell verflogen. Seit August 2020        „Insgesamt gaben rund 32 Prozent der Befragten an, Einkommen
    nahm der Anteil von Menschen mit hohem Einkommen, die            durch die Pandemie eingebüßt zu haben. Erwerbstätige mit Mi-
                                                                     grationshintergrund waren stärker betroffen: Selbst wenn man
    an Corona erkrankten, rapide ab.
                                                                     Faktoren wie das Bildungsniveau oder die Branche herausrech-
        Und schließlich sind Frauen stärker betroffen als Männer,    net, kam es bei ihnen öfter zu Einkommensverlusten. Eltern
    da sie in Bereichen mit einem besonderen Infektionsrisiko bis    mussten im Vergleich zu Kinderlosen häufiger Einbußen verkraf-
    zu 100 Prozent der Beschäftigten ausmachen: in Pflege, Be-       ten. In der unteren Einkommensgruppe mit maximal 900 Euro
    treuung und Erziehung, im Bereich der körpernahen Dienst-        netto monatlich waren fast 48 Prozent betroffen, während es in
    leistungen oder im Einzelhandel.                                 der obersten Gruppe mit mehr als 4.500 Euro netto knapp 27
        Die Pandemie trifft also nicht alle gleich. Das gilt aber    Prozent waren. Auch Befragte in Leiharbeit oder Minijobs be-
    nicht nur für das Infektionsrisiko und das höhere Risiko, an     richteten häufiger von einem Minus.“ (3)
    Sars-CoV-2 zu versterben, sondern auch für die sozialen und      Stark betroffen sind aber auch Selbstständige, Kleingewer-
    gesellschaftlichen Folgen der Pandemie, für die Einkommens-      betreibende oder Künstlerinnen und Künstler, die keinen An-
    entwicklung, für die Gefahr von Überschuldung und Arbeits-       spruch auf Kurzarbeitergeld haben und lange vergeblich auf
    losigkeit oder für die Bildungschancen.                          staatliche Ausgleichszahlungen warten. Das Kurzarbeiter-
        All das ist leicht zu erahnen, aber inzwischen auch viel-    geld konnte einige Härten ausgleichen und Menschen vor-
    fach begründet und belegt:                                       erst in Arbeit halten.
    • Nach dem aktuellen Entwurf des neuen Armuts- und                                                          Harald Freiling
    Reichtumsberichts der Bundesregierung haben 30 Prozent           (1) https://www.aerzteblatt.de/archiv/218459
    der Befragten mit besonders niedrigen Einkommen seit Be-         (2) Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts vom 10.3.2021:
    ginn der Pandemie Probleme, ihre laufenden Ausgaben zu           https://bit.ly/2PzG3Ea
    decken und zusätzlich auch noch Schutzmasken, Corona-            (3) Böckler-Impuls 17/2020: https://www.boeckler.de/data/im-
    Selbsttests und Desinfektionsmittel zu finanzieren. Bei einem    puls_2020_17_S1.pdf
    Fachgespräch der Friedrich-Ebert-Stiftung Hessen erneuer-
    te Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK, ihre
    Forderung nach einem Corona-Zuschlag von 100 Euro zur
    Grundsicherung. Dafür sollten Menschen und Betriebe mit
    großem Vermögen mit einer einmaligen Vermögensabgabe
    herangezogen werden.
    • Die soziale Schere wird auch durch eine Studie des Ro-
    bert-Koch-Instituts (RKI) bestätigt (1). In den sozial benach-
    teiligten Regionen Deutschlands ist die Corona-Sterblichkeit
    um 50 bis 70 Prozent höher als in privilegierten Regionen.
    So lag der Inzidenzwert zu Beginn der zweiten Welle An-
    fang November bei ärmeren Menschen im Alter von 60 bis
    79 Jahren bei rund 80, bis Januar stieg er auf 190. Bei den
    bessergestellten Senioren im gleichen Alter fiel der Wert in
    der gleichen Zeit von rund 110 auf rund 100, also auf knapp
    die Hälfte der Inzidenz der Ärmeren.
Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung
SOZIALE UNGLEICHHEIT                                                                                                                                                      zum Inhaltsverzeichnis       HLZ 6/2021      8

                                                                                                                                                           Ungleiches Hessen
                                             Regionale Disparitäten und ungleiche Bildungschancen
     Die zunehmende soziale Spaltung der Gesellschaft spiegelt                                                                                        können. Sie wurde im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung
     sich auch in regionaler Hinsicht, denn die Gemeinden und                                                                                         von einem Team um Professor Stefan Fina am Institut für
     Regionen driften wirtschaftlich und sozial immer weiter aus-                                                                                     Landes- und Stadtentwicklungsforschung in Dortmund er-
     einander. Während sich primär in den Universitätsstädten                                                                                         stellt. Dabei werden Regionen im Rahmen einer Cluster-Ana-
     wissensintensive Industrie- und Dienstleistungsunternehmen                                                                                       lyse anhand von einer Vielzahl an Indikatoren typologisiert.
     ansiedeln, qualifizierte Fachkräfte in diese oder in die attrak-                                                                                 Hier soll nicht versucht werden, diese umfangreiche Arbeit
     tiven Umlandgemeinden zuziehen, werden andere, vor allem                                                                                         in allen Facetten wiederzugeben, deren Ansatz auch kritisch
     ländliche Regionen mehr oder weniger abgehängt. Auch in                                                                                          gesehen werden kann. So droht hinter einer solchen Typolo-
     den an sich prosperierenden Städten konzentrieren sich die                                                                                       gisierung der Blick für divergierende Entwicklungstrends im
     sozialen Problemlagen. Andererseits gibt es auch Gemein-                                                                                         Detail verloren zu gehen, auch ließen sich alternative Clus-
     den und Städte, denen der Strukturwandel in einem schwie-                                                                                        terbildungen diskutieren. Gleichwohl ermöglicht die Fülle der
     rigen Umfeld gut gelingt. Die Herausforderungen, die sich                                                                                        regionalen Daten den mit dem Bundesland vertrauten Lese-
     den Bildungseinrichtungen vor Ort stellen, sind in vielerlei                                                                                     rinnen und Lesern vielfache Aha-Erlebnisse.
     Hinsicht durch ihr Umfeld bestimmt. Das gilt gerade auch für
     das Bundesland Hessen, das sich durch ausgesprochen star-
                                                                                                                                                              Dynamische Städte - ländlicher Raum
     ke regionale Gegensätze auszeichnet – von der boomenden
     Rhein-Main-Region hin zu sehr ländlichen Kreisen in Mit-                                                                                         In die Analyse fließen Indikatoren zu fünf Themenberei-
     tel- und Nordhessen. Viele der größeren Städte, wo in alten                                                                                      chen ein:
     Industrien zahlreiche Arbeitsplätze weggebrochen sind, sind                                                                                      • Das Feld Arbeitsmarkt und Beschäftigung umfasst unter
     massiv vom Strukturwandel betroffen.                                                                                                             anderem die regionale Arbeitslosigkeit und den Anteil der
         Dieser Thematik widmet sich die aktuelle Studie „Unglei-                                                                                     hochqualifizierten Beschäftigungsverhältnisse.
     ches  Hessen“,
      Abbildung 27 die bereits in ihrem Untertitel die Frage auf-                                                                                     • Die Lebens- und Bildungschancen werden unter anderem
      Schulabgänger_innen
     wirft,                ohneLebensverhältnisse
            wie gleichwertige    Abschluss 2017     erreicht werden                                                                                   an den Ausmaßen der Kinderarmut sowie an der Erreichbar-
      Anteil der Schulabgänger_innen ohne Hauptschulabschluss
      an allen Schulabgänger_innen
                                                                                                                                                      keit von Bildungseinrichtungen festgemacht.
      in Prozent                                                                                                                                      • Beim dritten Feld geht es um Wohlstand und Gesundheit,
     Schulabgänger_innen                                                                                                                              beispielsweise bemessen an der Höhe der durchschnittlichen
     ohne Abschluss 2019                                                                                                   NIEDER-                    Entgelte und des Mietniveaus.
                                                                                                                          SACHSEN                     • Das vierte Feld Staatliches Handeln und Partizipation
                                                                                                Kassel                                                fokussiert die kommunalen Steuereinnahmen und auch die
                                                                                                       Kassel                                         Wahlbeteiligung bei der letzten Bundestagswahl.
                                                                                                                                                      • Fünftens geht es um Wanderungen, also um das Verhält-
                                                                  Waldeck-Frankenberg
                                                                                                                           Werra-Meißner-Kreis
                                                                                                                                                      nis von Zu- und Abwanderungsbewegungen.
                        NORDRHEIN-
                        WESTFALEN                                                                                                                         Daraus werden dann vier unterschiedliche Raumtypen
                                                                                        Schwalm-Eder-Kreis                                            konstruiert. Die Gebietskörperschaften, die dem gleichen
                                                                                                                Hersfeld-Rotenburg                    Raumtyp zugeordnet werden, weisen bei einer Vielzahl der
                                                     Marburg-Biedenkopf
                                                                                                                                                      Einzelindikatoren ähnliche Ausprägungen auf.
                                                                                                                                          THÜRINGEN
                               Lahn-Dill-Kreis
                                                                                                                                                      • Die dynamischen Städte und Umlandgemeinden mit Ex-
                                                                                   Vogelsbergkreis
                                                                                                                                                      klusionsgefahr finden sich vornehmlich in der Rhein-Main-
                                                                  Gießen                                                Fulda                         Region und in Südhessen, auf sie entfallen 1,7 Millionen Ein-
                                                                                                                                                      wohnerinnen und Einwohner.
                       Limburg-Weilburg
                                                             Wetteraukreis                                                                            • Um diese herum liegt Hessens solide Mitte, in der 2,2 Mil-
                                           Hochtaunus-
                                              kreis                                                                              BAYERN               lionen Menschen leben. Auch diese zeichnen sich durch wirt-
                Rheingau-Taunus-Kreis
                                                                                   Main-Kinzig-Kreis                                                  schaftliche Stärke und hohe Verdienstmöglichkeiten aus, die
                                           Main-
                                          Taunus-    Frankfurt                                                                                        dynamischen Städte sind gut erreichbar.
                                                       a.M.
                            Wiesbaden       Kreis

                                                            Offenbach
                                                                                                                                                      • Deutlich heterogener ist die Lage in den Städten und Ge-
                                                                                                                                                      meinden mit deutlichen sozioökonomischen Herausforderun-
                                                                                                                                                      gen, auf die 1,4 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner
                                        Groß-Gerau       Darm- Darmstadt-
                                                         stadt
                RHEINLAND-                                      Dieburg
                                                                                               in Prozent
                   PFALZ                                                                                                                              entfallen. Hier sind die Verdienstmöglichkeiten schlechter,
                                                                   Odenwaldkreis                                                bis unter 4,5         die Arbeitslosigkeit höher. Dieses Cluster umfasst viele länd-
                                                     Bergstraße
                                                                                                                    4,5         bis unter 5,0         liche Regionen im ganzen Bundesland, aber auch die Städ-
                                                                                                                                                      te Kassel und Offenbach.
                                                                                                                    5,0         bis unter 5,5
                                                                                                                                                      • Die wenigsten Menschen, rund 0,9 Millionen, leben im
                                      BADEN-
       0   10       20 km
                                    WÜRTTEMBERG                                                                     5,5         bis unter 6,0         flächenmäßig am stärksten vertretenen Raumtypus, den länd-
                                                                                                                    6,0 und mehr                      lichen Gemeinden mit langfristigen strukturellen Heraus-
                                                                                                                                                      forderungen. Zu einem schwachen Arbeitsmarkt kommt die
     Anteil    der Schulabgänger_innen
      Quelle: eigene Darstellung.                     ohne Hauptschulabschluss an allen
      Datengrundlage: INK AR: Statistik der allgemeinbildenden Schulen des Bundes
     Schulabgänger_innen               in Prozent (Quelle: Fina/Heider 2021, S.34)
      und der Länder, GeoBasis-DE/BKG 2020.
Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung
9       HLZ 6/2021           zum Inhaltsverzeichnis                                                                                                                                                                                                                                                                TITELTHEMA

    schlechte Erreichbarkeit des Einzelhandels und der Einrich-                                                      die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen und für die
    tungen im Gesundheits- und Bildungssektor.                                                                       sich der Übergang in Ausbildung oder auf den Arbeitsmarkt
       Kinderarmut wird an der Anzahl der Kinder unter 15 Jah-                                                       ausgesprochen schwierig gestaltet. Überdurchschnittlich hohe
    ren festgemacht, die sich im SGB II-Leistungsbezug befin-                                                        Quoten finden sich erwartungsgemäß primär in den größe-
    den. Die höchsten Quoten verzeichnen die Städte Kassel, Gie-                                                     ren Städten Kassel (7,0 Prozent), Offenbach (6,8 Prozent)
    ßen, Wetzlar und Offenbach, in denen jedes vierte Kind als                                                       und Wiesbaden (6,5 Prozent). Deutlich überdurchschnitt-
    arm gilt. Auch in den als dynamisch charakterisierten süd-                                                       liche Werte weisen allerdings auch zwei ländlich geprägte
    hessischen Städten ist die Armutsquote von Kindern hoch:                                                         Landkreise auf, der Odenwaldkreis und der Vogelsbergkreis.
    Sie beträgt 17 Prozent in Frankfurt, 22 Prozent in Wiesba-                                                           Diese wenigen Befunde machen hinreichend deutlich, dass
    den und 20 Prozent in Darmstadt, so dass der Zusatz „mit                                                         Bildungseinrichtungen in den verschiedenen Regionen Hes-
    Exklusionsgefahr“ durchaus berechtigt ist. In den ländlichen                                                     sens mit unterschiedlichen Ausgangslagen und mit stark di-
    Gemeinden spielt Kinderarmut eine deutlich geringere Rolle,                                                      vergierenden Anforderungen konfrontiert sind. Darauf müs-
    hier bewegt   sich die
             Abbildung
              Abbildung    53Quote zumeist im einstelligen Bereich.
                          53                                                                                         sen sie passgenaue Antworten finden. Das Bildungssystem
    Für KitasDigitalisierung
              und Schulen in
              Digitalisierung      den Städten bedeutet das hohe Maß
                                2019                                                                                 alleine kann allerdings nicht die Schäden reparieren, die
             Anteil
    an Kinderarmut
              Anteilderder
                        Haushalte
                        eine      mit einem
                             besondere
                           Haushalte         Breitbandanschluss
                                        mit Herausforderung.
                                             einem                 Da sie sich
                                                      Breitbandanschluss                                             entstehen, wenn Gemeinden       NortheimundNIEDER-
                                                                                                                                                                 Regionen mit den Folgen
             von
              vonmindestens  50 Mbit/s
                    mindestens          an allen
                                  50 Mbit/s    anHaushalten
                                                   allen Haushalten
    in bestimmten     Stadtvierteln      konzentriert,     gilt das insbeson-                                        des Strukturwandels alleine gelassen      SACHSEN  werden. Nicht zuletzt
             in
              inProzent
                 Prozent
    dere für die  in diesen angesiedelten Bildungseinrichtungen.                                                     die von der
                                                                                                                               HöxterGEW aufgezeigten Unterschiede beim Schulbau
                                                                                                                     machen deutlich, dass die finanziellen Handlungsspielräume
                                                                                                                     der finanzschwächeren Schulträger                dringend gestärkt wer-
            Auch die Kinderarmut ist ungleich verteilt                                                                                                          Göttingen
                                                                                                                     den müssen. Angesichts neuer Aufgaben für die Schulträger
    Wie gut sich Kommunen ihren Aufgaben stellen können,                                                             beispielsweise imKassel
                                                                                                                                         Bereich der IT-Ausstattung müssen zusätz-
    hängt maßgeblich von dem vor Ort gegebenen Steueraufkom-                                                         liche Ressourcen bereitgestellt werden. Die Entwicklung der
    men ab. Wenn die Steuereinnahmen gerade so ausreichen, um                                                        „dynamischen Städte“    Kassel muss so gestaltet werden,Eichsfeld dass „Ex-
    die gesetzlichen Pflichtaufgaben zu erfüllen, schrumpft der                                                      klusionsgefahren“ abgebaut werden.
    Handlungsspielraum für eine gestaltende Kommunalpolitik           Hochsauer-
                                                                       landkreis                                                                                                          Roman George
    auf ein Minimum. Wenn durch den Strukturwandel                                   Steuer-                                                                            Werra-Meißner-Kreis
    einnahmen wegbrechen und sich die Möglichkeiten für In-Waldeck-Frankenberg
                                                                                                           Stefan Fina und Bastian Heider (2021): Ungleiches Hessen.
    vestitionen immer weiter reduzieren,          NORDRHEIN-droht eine sich selbst
                                                                                                           Wie können gleichwertige Lebensverhältnisse erreicht wer-
    verstärkende Abwärtsspirale: DieWESTFALEN        sinkende Attraktivität als
                                                                                                           den. Herausgeber: Friedrich-Ebert-Siftung, Landesbüro Hes-
    Unternehmensstandort führt zur Abwanderung mobiler Fa-
                                                                                                           sen Wiesbaden.                  Download: https://ungleiches-hessen.de
    milien, wodurch das Steueraufkommen letztendlich noch                                                                        Schwalm-Eder-Kreis                                                   Eisenach
                                                 Siegen-
    weiter sinkt. Angesichts der kommunalen    Wittgenstein       Zuständigkeit              für
    den Schulbau, für die Schulsozialarbeit und für die außer-Abbildung                          Abbildung 5353
                                                                                                                                                       Hersfeld-Rotenburg                       THÜRINGEN
                                                                                                           Digitalisierung
    schulische Bildung in Musikschulen oder VolkshochschulenAnteil der Haushalte mit einem Breitbandanschluss
                                                                                                 Digitalisierung
                                                                                                 Digitalisierung 2019
                                                                                   Marburg-Biedenkopf                                    2019
                                                                                                     Anteil der Haushalte mit einem Breitbandanschluss                               NIEDER-                                                                        Northeim
                                                                                                     von mindestens 50 Mbit/s an allen Haushalten
    ist das Bildungssystem davon ganz unmittelbar betroffen. invon                                    mindestens 50 Mbit/s an allen Haushalten
                                                                                                 inProzent
                                                                                                    Prozent
                                                                                                                                                                                    SACHSEN
                                                                                                                                                                                        Wartburgkreis                             Höxter

        Die kommunale Steuerkraft wird im Landesdurchschnitt                                                                                                                                                                                                                        Göttingen

    mit 841 Euro pro Einwohnerin bzw.Lahn-Dill-Kreis      Einwohner im Jahr be-                                                                                                                                                                  Kassel

    ziffert. Die Spannweite ist allerdings extrem und reicht bis                                                            Vogelsbergkreis
                                                                                                                                                                                                                                                                                                       Eichsfeld
    knapp 6.000 Euro in Eschborn.
                               Westerwaldkreis Auch die Stadt Frankfurt und
                                                                                                                                                                                                                                                          Kassel

    weitere Umlandgemeinden weisen deutlich erhöhte Werte
                                                                                                                                                                             Hochsauer-
                                                                                                Gießen                                                          Fulda
                                                                                                                                                                              landkreis
                                                                                                                                                                                                                                                                                       Werra-Meißner-Kreis

    auf. Ursächlich hierfür ist die Ansiedlung von umsatzstar-                                                             NORDRHEIN-
                                                                                                                                                                                                            Waldeck-Frankenberg

    ken Großunternehmen. Im Zeitverlauf ist das Steueraufkom-                                                               WESTFALEN

    men zudem dort besonders gewachsen,                      wo es ohnehin schon
                                                                                                                                                                                                                                      Schwalm-Eder-Kreis                                                              Eisenach
                                               Limburg-Weilburg                                                                                    Siegen-
                                                                                                                                                 Wittgenstein

    hoch war, während es andernorts stagniert. Eine GEW-Unter-                                                                                                                                     THÜRINGEN                                                          Hersfeld-Rotenburg

                                                                                           Wetteraukreis                                                                                   Marburg-Biedenkopf

    suchung der Schulbauinvestitionen in Hessen hat aufgezeigt,                                                                                                                                                                                                                                       Wartburgkreis

                                                                    Hochtaunus-
    dass diese ausgesprochen stark zwischen den                             Schulträgern
                                                                         kreis
                                                                                                                                                          Lahn-Dill-Kreis
                                                                                                                                                                                                                                  Vogelsbergkreis

    variieren (www.gew-hessen.de
                     Rhein-Lahn-Kreis          > Themen > Finanzpolitische                                                     Westerwaldkreis
                                                                                                                                                                 BAYERN                                   Gießen
    Arbeitspapiere 4). Dabei überrascht es nur wenig, dass die mit
                                                                                                                                                                                                                                                                               Fulda
                                                                                                                            Main-Kinzig-Kreis
                                      Rheingau-Taunus-Kreis
    Abstand höchsten Schulbauinvestitionen                        für den Hochtau-                                                               Limburg-Weilburg
                                                                  Main-
    nuskreis und den Main-Taunus-Kreis zu konstatieren           Taunus-         Frankfurtsind,                                                                   BAYERN                              Wetteraukreis

                                                                   Kreis
                                                                        ausfällt.a.M.
                                                                                                                                                                            Hochtaunus-
    wo die kommunale Steuerkraft amWiesbaden           höchsten                                                      Rhein-Lahn-Kreis
                                                                                                                                                                               kreis

                                                                                                                                                                                    BAYERN
        Im Zusammenhang mit dem Distanzunterricht während                                                                Aschaffenburg  Rheingau-Taunus-Kreis
                                                                                                                                                                                                                                  Main-Kinzig-Kreis

                                                                                          Offenbach                                                                    Main-
    der Corona-Pandemie hat auch dieMainz                Versorgung mit schnel-                                                                        Wiesbaden
                                                                                                                                                                      Taunus-
                                                                                                                                                                        Kreis
                                                                                                                                                                                    BAYERNFrankfurt
                                                                                                                                                                                            a.M.

    lem Internet massiv an Brisanz gewonnen: Ohne Breitband-                                                           Aschaffenburg                                                                Offenbach
                                                                                                                                                                                                                               Aschaffenburg

                                      Mainz-Bingen              Groß-Gerau                                                                                              in Prozent
    anschluss sind Videokonferenzen nicht durchführbar.                                Nur in
                                                                                                                                                       Mainz
                                                                                   Darm-                                                                                               in Prozent
                                                                                                                                                                                                                              Aschaffenburg

                                                                                    stadt      Darmstadt-                               Mainz-Bingen                 Groß-Gerau
                                                                                                                                                                                            Darm-

    den größeren Städten, in weiten Teilen Südhessen und in ei-Dieburg
                                                                                                                                                                                                         Darmstadt-
                                                                                                                                                                                               bis unter 65
                                                                                                                                                                                            stadt
                                                                                                                                                                                                          Dieburg                                                                                            bis unter 65
                                                                                                                                                                                                                                                                                                     65      bis unter 90
    nigen mittelhessischen Regionen verfügt eine Mehrheit der
                                                                                                                                                                                                                                   Miltenberg
                                                                                                                      RHEINLAND-
                                                                                                                             Miltenberg
                                                                                                                         PFALZ                                                         65      bis unter 90                                                                                          90      bis unter 95

    Haushalte über einen – immer        RHEINLAND-
                                               noch vergleichsweise langsa-                                                                                                                                  Odenwaldkreis
                                                                                                                                                                                                                                                                                                     95      bis unter 98
                                                                                                                                                                                       90 bis unter 95
    men – Breitbandanschluss vonPFALZ
                                                                                                                                                                                          Bergstraße
                                                  mindestens 50 Megabit pro Odenwaldkreis                                                                                                                                                                                                            98 und mehr
                                                                                                                                                           Worms

                                                                                                                                                                                                                                                                                                     keine Daten

    Sekunde. In Nordhessen ist diese Bandbreite außerhalb der                                                                                                                          95 bis unter 98
                                                                                                                                                                  Mittelwerte der Stadt-
    Stadt Kassel praktisch nicht verfügbar.               Worms                   Bergstraße             0            10        20 km
                                                                                                                                                      BADEN-
                                                                                                                                                                  und Gemeindetypen
                                                                                                                                                                  in Prozent           98 und mehr
                                                                                                                                                                                          Heidelberg

        Im Zusammenhang mit Bildungsthemen betrachtet die                                                                                           WÜRTTEMBERG                                                                                  81,4           Hessen
                                                                                                                                                                                       keine Daten                                               98,9
    Studie auch den Anteil der Schülerinnen und Schüler, die                                                 Anzahl der Kreise im Wertebereich
                                                                                                                                                                                                                                                 96,9
                                                                                                                                                                                                                                                                Großstadt
                                                                                                                                                                                                                                                                Mittelstadt
                                                                                                         50

                                                                                                         40          Anteil der Haushalte mit Breitbandanschluss
                                                                                                                                     Mittelwerte  der Stadt-               von mind. 50 Mbit/s
                                                                                                                                                              große Kleinstadt
                                                                                                                                                         80,6 kleine Kleinstadt
                                                                                                                                                                                                                                                 91,1

                        0       10       20 km
                                                                                                         30          an allen Haushalten
                                                                                                                                     undin Prozent (Quelle:
                                                                                                                                          Gemeindetypen       Fina/Heider
                                                                                                                                                         66,4 Landgemeinde       2021, S.57)
                                                                                       Heidelberg
                                                                                                         20
                                                                                                                       BADEN-    in Prozent
                                                                                                         10

                                                                                                             0
                                                                                                                     WÜRTTEMBERG 81,4 Hessen
                                                                                                                 0         5       10          15        20         25          30         35          40        45      50        55           60         65       70         75        80      85    90     95     100
                                                                                                                                                                                                                                                                                       Indikatorenausprägung in Prozent
Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung
SOZIALE UNGLEICHHEIT                                                                        zum Inhaltsverzeichnis        HLZ 6/2021      10

                                                                              Jugend und Beruf
                      Wer sind die Verliererinnen und Verlierer der Pandemie?
     Abitur, Prüfungen, Abschlüsse, Versetzungsregelungen: Das         sich die Zahl der jungen Menschen, die in das sogenannte Über-
     sind die großen Themen, wenn es um Schule in der Pande-           gangssystem einmünden, in den vergangenen Jahren deutlich auf
     mie geht. Aber wie geht es Jugendlichen und jungen Erwach-        über 250.000 erhöht.“
     senen beim Übergang von der Schule in den Beruf? Was ist          Eine Befragung von jungen Menschen, die im Februar und
     mit jungen Menschen, die ihre Ausbildung in der Gastrono-         März 2021 im Auftrag der Bertelsmannstiftung durchgeführt
     mie oder in der Veranstaltungsbranche machen? Was ist mit         wurde, zeigt ein ähnlich gespaltenes Bild:
     Azubis, deren Betriebe die Pandemie nicht überstehen oder         „71 % aller Befragten – das sind 10% mehr als im Vorjahr – sind
     die gut ausgebildete junge Menschen nicht mehr überneh-           der Ansicht, dass sich die Chancen auf einen Ausbildungsplatz
     men? Wer „sozialer Ungleichheit“ begegnen will, darf seinen       durch Corona verschlechtert haben. Für zukünftige Studierende
     Blick nicht nur auf Abiturientinnen und Abiturienten richten.     sieht es deutlich besser aus: Weniger als ein Viertel (24 %) al-
         Im Vergleich zum Vorjahr wurden laut Berufsbildungs-          ler Befragten glaubt, die Chancen auf einen Studienplatz seien
     bericht 2020 in Hessen 13 % weniger Ausbildungsverträ-            durch Corona beeinträchtigt.“
     ge abgeschlossen. Im Februar 2021 verzeichneten die Ar-           Auch die stellvertretende DGB-Vorsitzende Elke Hannack
     beitsagenturen einen Rückgang der gemeldeten Stellen um           warnt vor „Langzeitschäden auf dem Ausbildungsmarkt“,
     12,8 %, aber auch die Zahl der Bewerberinnen und Bewer-           nachdem das Minus von 11 % bei den neuen Ausbildungs-
     ber ging um 15,6 % zurück. Die Ursachen sind vielschichtig:       verträgen jetzt schon das in der globalen Finanzkrise 2009
     Praktika zur Berufsorientierung fielen aus, Berufsberaterin-      übersteigt (-8,4 %):
     nen und Berufsberater der Bundesagentur für Arbeit wurden         „Vor allem junge Menschen mit niedrigen oder mittleren Schul-
     für die Bearbeitung des Kurzarbeitsgeld eingespannt, Bera-        abschlüssen sowie Jugendliche aus Einwandererfamilien drohen
     tungen an Schulen und in den Berufsberatungszentren, Tage         zu den Verlierern der Krise zu werden. Die Corona-Krise trifft
     der Offenen Tür und Berufsbildungsmessen wurden gecan-            auf einen ohnehin schon angespannten Ausbildungsmarkt. Schon
                                                                       vor Corona blieb gut jeder dritte Jugendliche mit Hauptschulab-
     celt und viele Jugendliche entscheiden sich aufgrund der Un-
                                                                       schluss ohne Ausbildung. Insgesamt hatten bereits vor der Pan-
     sicherheiten der Pandemie für einen längeren Schulbesuch.
                                                                       demie mehr als 1,3 Millionen junge Menschen im Alter von 20
         Unter dem Titel „Kein Anschluss trotz Abschluss?“! be-        bis 29 Jahren keine abgeschlossene Ausbildung. Das sind 14 %
     fasst sich eine aktuelle Studie des Forschungsinstituts für       dieser Altersgruppe.“
     Bildungs- und Sozialökonomie (FIBS) mit der Situation be-         Im Ausbildungsplatzförderungsprogramm des Landes wur-
     nachteiligter Jugendlicher am Übergang Schule – Ausbil-           de die Förderberechtigung auf Betriebe mit bis zu 499 Be-
     dung. Danach sank die Zahl der neuen Ausbildungsverträge          schäftigten ausgeweitet (bisher 299). Kleinere Betriebe mit
     schon in den letzten Jahren vor der Pandemie deutlich und         249 Beschäftigten können einen Zuschuss von 75 Prozent
     erreichte 2020 mit unter 470.000 „einen historischen Tief-        der Ausbildungsvergütung erhalten, wenn der Betrieb in
     stand“. Diese Entwicklung werde lediglich durch die Tatsache      Kurzarbeit ist und jungen Menschen trotzdem die Fortfüh-
     gebremst, dass der Anteil der Abiturientinnen und Abiturien-      rung der Berufsausbildung ermöglicht.
     ten, die im Anschluss an das Abitur eine duale Ausbildung             Nach Angaben der Agentur für Arbeit werden in Hes-
     absolvieren, steigt:                                              sen für das neue Ausbildungsjahr 27.600 Ausbildungsstel-
     „Stattdessen sind die Chancen sowohl für Jugendliche mit als      len angeboten, dem stehen 27.532 Bewerberinnen und Be-
     auch ohne Hauptschulabschluss deutlich schlechter als noch
                                                                       werber gegenüber. Aus dem laufenden Ausbildungsjahr sind
     Anfang des letzten Jahrzehnts - in beiden Fällen sind die Über-
     gangsquoten mit knapp 50 % bzw. knapp 80 % um etwa zehn           noch 16.000 Stellen unbesetzt, dem stehen 15.800 unver-
     Prozentpunkte niedriger als noch 2012. Dementsprechend hat        sorgte Bewerberinnen und Bewerber gegenüber. Die Zahl
                                                                       der Jugendlichen, die weitere schulische Maßnahmen an-
                                                                       streben, ist deutlich höher als in Zeiten vor der Pandemie.
                                                                           Das Ausmaß der Krise wird an der Tatsache deutlich, dass
                                                                       jetzt sogar die wirtschaftsnahe Bertelsmannstiftung Ausbil-
                                                                       dungsprämien für Betriebe für „nicht mehr ausreichend“
                                                                       hält und sich der Forderung nach einer Ausbildungsga-
                                                                       rantie anschließt, wie sie auch von DGB-Vize Elke Han-
                                                                       nack gefordert wird:
                                                                       „Notwendig ist eine Ausbildungsgarantie nach dem Vorbild Ös-
                                                                       terreichs, um den Jugendlichen, die keinen betrieblichen Aus-
                                                                       bildungsplatz finden, den Einstieg in das erste Ausbildungsjahr
                                                                       zuzusichern. Und dies notfalls auch bei einem außerbetriebli-
                                                                       chen Träger. Diese Garantie muss immer die Möglichkeit um-
                                                                       fassen, die Ausbildung komplett zu absolvieren und eine Ab-
                                                                       schlussprüfung zu machen.“

                                                                                                                          Ralf Becker
     Abbildung: Bertelsmann-Stiftung (https://bit.ly/33sU2Pb)
11      HLZ 6/2021   zum Inhaltsverzeichnis                                                                                    TITELTHEMA

     Nachgefragt
                                                Auszubildende vor verschlossenen Türen
     Vor genau einem Jahr berichteten die Berufsschullehrerinnen         Der schulische Teil bietet eine größere Kontinuität, aber auch
     Frauke Matthes und Sonja Steppich in der HLZ 6/2020 über            hier fehlen die Praxis in der Schulküche, das legendäre Prü-
     die Herausforderungen in multinationalen Lerngruppen, über          fungsessen, bei dem die Prüflinge die erweiterte Prüfungs-
     sprachsensiblen Unterricht und über den großen Ehrgeiz von          kommission bewirten, und natürlich der Austausch mit den
     Schülerinnen und Schülern der Bergiusschule in Frankfurt,           anderen Azubis und den Lehrkräften. Praxisaufgaben im The-
     die sich allen Widrigkeiten zum Trotz, mit noch unzureichen-        orieunterricht zu erläutern und zu hoffen, dass sie dann im
     den Deutschkenntnissen, ohne gesicherten Aufenthaltsstatus          Betrieb umgesetzt werden können, funktioniert nach Fraukes
     „durchbeißen“. Die Ausbildung im Bereich der Gastronomie            Erfahrungen nur bei wenigen, größeren Betrieben.
     und des Hotelgewerbes ist für sie ein wichtiger Schritt in ein          In den Gastroberufen findet der Berufsschulunterricht im
     Berufsleben, das ihnen das bieten soll, was ihnen bisher oft        Blockmodell statt: Die Schülerinnen und Schüler sind zwei
     verwehrt war: Sicherheit, eine materielle Existenz, die Mög-        Wochen im Betrieb und eine Woche in der Schule. Dankbar
     lichkeit, eine Familie zu gründen oder ihre Angehörigen zu          ist Frauke, dass die Schule im Projekt „Der zweite Berufs-
     unterstützen. Das Gespräch wurde damals noch vor Beginn             schultag“ einen zusätzlichen Schultag anbieten kann, der ge-
     der Pandemie aufgezeichnet.                                         rade für die Klassen, in denen alle Schülerinnen und Schü-
         Aber wie geht es den Azubis im Service, im Hotel oder           ler einen Migrationshintergrund haben, extrem wichtig ist.
     in der Küche eines Altenheims heute, nach einem Jahr des            Schon im letzten Jahr gab es einen massiven Einbruch bei
     Lockdowns, der kaum eine Branche so hart trifft wie das Ho-         den Ausbildungsverträgen, die Zahl der Parallelklassen ist
     tel- und Gaststättengewerbe? Darüber sprach HLZ-Redakteur           von vier auf drei reduziert worden:
     Harald Freiling mit Frauke Matthes, der Klassenlehrerin der         „Im neuen Schuljahr werden es wohl nur noch zwei Parallelklas-
     11Kö – so das schulische Kürzel für Köchinnen und Köche im          sen sein. Vor einem Jahr waren die Betriebe noch optimistisch
     zweiten Ausbildungsjahr. Schon meine Frage, wie es ihren            und es gab kein Szenario, dass die Gaststätten ein Jahr später
     Schülerinnen und Schülern geht, bringt Frauke ins Grübeln:          immer noch dicht sind. Die Zeit, in der es viel zu wenige Bewer-
     „Wenn ich das nur wüsste? Auch bei uns ist fast alles dicht.        berinnen und Bewerber für die Ausbildungsstellen gab, ist vor-
     Selbst die Abschlussklassen sind vor der Kammerprüfung in frei-     bei. Heute sind wir schon froh, wenn die Ausbildungsverträge
     willige Quarantäne gegangen, damit niemand am Prüfungstag           auch bei einer Insolvenz fortbestehen, dass andere Betriebe ein-
     infiziert ist und ein halbes Jahr auf den nächsten Termin warten    springen oder die Förderprogramme des Landes oder des Bun-
     muss. Wir machen natürlich Online-Unterricht und der klappt         des zum Zuge kommen. Aber machen wir uns nichts vor: Viele
     auch viel besser als beim ersten Lockdown. Aber viele Schü-         Jugendliche werden in kleinen Betrieben, in Familienunterneh-
     lerinnen und Schüler machen ihre Kamera nicht an. Und das           men ausgebildet. Von denen werden viele auf der Strecke blei-
     nicht nur, um das Datenvolumen zu reduzieren, nein, sie schot-      ben. Das will ich mir noch gar nicht ausmalen, auch nicht, wie
     ten sich und ihre Sorgen ab, sie wollen keinen Blick in die oft     viele ausgebildete Jugendliche nicht mehr übernommen werden.“
     beengten Wohnverhältnisse zulassen. Und auch das beschäftigt        Unzufrieden ist Frauke Matthes mit der Organisation der
     mich sehr: Wenn eine Schülerin im Präsenzunterricht bedrückt        Abschlussprüfungen. Die aufwändigen Hygienemaßnahmen
     wirkte, stiller war als sonst, dann konnte ich sie nach dem Un-     würden es zwar möglich machen, dass auch der praktische
     terricht ansprechen. Jetzt ist Stille und nur vereinzelt erreicht   Teil absolviert werden kann, denn schließlich könne man die
     mich ein persönlicher Hilferuf.“                                    Abschlussprüfung für den Koch oder die Köchin nicht „rein
        Natürlich hat Frauke Matthes Informationen, was in den           theoretisch“ durchführen. Für den Theorieunterricht wünscht
     Betrieben läuft. Viele Jugendliche sind in Kurzarbeit, seit ei-     sich Frauke mehr Flexibilität:
     nem Jahr nicht mehr im Betrieb oder nur noch tageweise. We-         „In der theoretischen Prüfung müsste man dringend an die Inhal-
     nige Hotels haben noch für Geschäftsreisende geöffnet, aber         te ran, nicht nur in den sprachsensiblen Klassen. Auch wir wol-
     auch hier ist die praktische Ausbildung nur noch rudimentär:        len keine Corona-Köche oder Corona-Servicekräfte. Aber so zu
     „Gut, sie können dann das Frühstück servieren, aber die Viel-       tun, als gäbe es Corona nicht, das geht nicht. Gerade bei Schü-
     falt des Berufs ist tot: Es gibt keine Veranstaltungen, kein Ban-   lerinnen und Schülern aus benachteiligten Familien lässt sich
     kett, keinen Brunch, kein Catering. Auch viele Ausbilderinnen       der Präsenzunterricht nicht in dem Umfang, wie wir es jetzt er-
     und Ausbilder sind in Kurzarbeit.“                                  leben, durch Distanzunterricht ersetzen.“

     Auch in der Lehrküche der Bergiusschule in Frankfurt fehlt der Präsenzunterricht. (Foto: Atelier Altenkirch)
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