Diskurs Auf der Highroad - der skandinavische Weg zu einem zeitgemäßen Pflegesystem
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
April 2015 Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik Diskurs Auf der Highroad – der skandinavische Weg zu einem zeitgemäßen Pflegesystem Ein Vergleich zwischen fünf nordischen Ländern und Deutschland I
II
Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Auf der Highroad – der skandinavische Weg zu einem zeitgemäßen Pflegesystem Ein Vergleich zwischen fünf nordischen Ländern und Deutschland Cornelia Heintze
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Inhaltsverzeichnis Abbildungs- und Tabellenverzeichnis 3 Abkürzungsverzeichnis 4 Vorwort und Zusammenfassung 5 1. Einführung: Wie demografischer Wandel, Frauenerwerbstätigkeit und die Grundausrichtung der Pflegesysteme zusammenhängen 8 2.Pflegesysteme folgen überwiegend, aber nicht durchgängig der wohlfahrtsstaatlichen Grundorientierung 14 2.1 Deutschland: Enger Pflegebegriff stützt die Familialisierung in einem Kernsicherungssystem 18 2.2 Skandinavische Länder: Universalistisches System mit weitem Pflegebegriff und Ergebnisverantwortung durch die Kommunen 23 2.3 Exkurs demenzgerechte Pflege: Wie der Norden die Herausforderung zu bewältigen sucht 33 3. Formale Pflege und Alltagsunterstützung: Leistungsempfänger, Leistungsarten und die Bedeutung öffentlicher Finanzierung 36 3.1 Empirischer Leistungsvergleich nach Reichweite und Leistungsdichte 36 3.2 Die Bedeutung öffentlicher Finanzierung: ein knapper Überblick 45 3.3 Zusammenfassung 50 4. Trägerstrukturen formeller Pflege und Beschäftigungspfade zwischen Highroad und Lowroad 53 4.1 Trägerstrukturen: Privates Geschäftsfeld contra kommunale Pflichtaufgabe 53 4.2 Beschäftigungspfade: Highroad contra Lowroad 57 5. Resümee 70 6. Literaturverzeichnis 73 Die Autorin 83 Diese Expertise wird von der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind von der Autorin in eigener Verantwortung vorgenommen worden. Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung | Herausgeber: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung | Godesberger Allee 149 | 53175 Bonn | Fax 0228 883 9205 | www.fes.de/wiso | Gestaltung: pellens.de | Fotos: Fotolia | Druck: bub Bonner Universitäts-Buchdruckerei | ISBN: 978-3-95861-127-6 | Eine gewerbliche Nutzung der von der FES herausgegebenen Medien ist ohne schriftliche Zustimmung durch die FES nicht gestattet.
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abbildung 1: Zusammenhang von Geburtenrate und Care-System: Europäische Länder im Vergleich 1980 bis 2011 9 Abbildung 2: Gesunde Lebensjahre im Alter von 65 Jahren 2000 bis 2012: Frauen 13 Abbildung 3: Outsourcing von Altenpflegeleistungen in schwedischen Gemeinden: 1998 bis 2013 30 Abbildung 4: Geleistete Wochenstunden für Home-Help-Leistungen im freien Wahlsystem: 2008 bis 2012 39 Abbildung 5: Die Entwicklung von Stundenlöhnen (brutto) von Pflegefachkräften im dänischen Home-Help-Service der Kommunen: 1999 bis 2009 67 Abbildung 6: Monatsgehälter (€) von kommunal beschäftigten „Nurses“ in Schweden 2008 bis 2012 69 Tabelle 1: Pflege der älteren Bevölkerung im Systemvergleich 16 Tabelle 2: Deutsches Altenpflegesystem im Vergleich zu skandinavischen Altenpflegesystemen am Beispiel von Dänemark 32 Tabelle 3: Laufende öffentliche Pflegeausgaben 1999 bis 2012 im deutsch-skandinavischen Vergleich: Jährliche Ausgaben je EW, pro 65+EW (€) und BIP-Anteile (%) 47 Tabelle 4: Formelle Hilfs- und Pflegeleistungen für Einwohner ab 65 Jahren im deutsch-skandinavischen Vergleich: Pflegequoten und öffentliche Ausgaben 2011/2012 51 Tabelle 5: Beschäftigungsstruktur in der Langfristpflege von Deutschland (Heime) und Norwegen (häuslich und institutionell): 2007 bis 2011/2012 62 3
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Abkürzungsverzeichnis Abb. Abbildung AT Österreich BE Belgien BGBL Bundesgesetzblatt BIP Bruttoinlandsprodukt BMAS Bundesministerium für Arbeit und Soziales BT-Drs. Bundestag-Drucksache Destatis Deutsches Statistisches Bundesamt DK Dänemark DKK Dänische Krone EU Europäische Union ES Spanien EW Einwohner FI Finnland FR Frankreich FTE Full Time Employment (rechnerische Vollzeitkräfte) GG Grundgesetz GR Griechenland i.d.F. in der Fassung ISK Isländische Krone k.A. Keine Angabe MDK Medizinischer Dienst der Kassen Mio. Million MISSOC Informationssystem zu den sozialen Sicherungsleistungen Mrd. Milliarde mtl. monatlich NHS National Health Service NL Niederlande NO Norwegen NOK Norwegische Krone o. J. ohne Jahresangabe OECD Organisation of Economic Cooperation and Development PM Pressemitteilung, Pressemeldung PNG Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz PPP Purchasing Power Purity (Kaufkraftparität) auf US-Dollarbasis priv privat PT Portugal SE Schweden SEK Schwedische Krone SGB Sozialgesetzbuch SI Slowenien SK Slowakei Tab. Tabelle Tsd. Tausend VZÄ Vollzeitäquivalent 4
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Vorwort und Zusammenfassung Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um unterschiedlichen Städten. Und: Pflegeverant- die zweite, überarbeitete Auflage der Studie von wortung kommt auch auf immer mehr Männer Dr. Cornelia Heintze. Die erste Studie erschien im zu, weil sie als Single leben oder weil sie bewusst Jahr 2012 und sorgte für große Aufmerksamkeit selber Verantwortung übernehmen möchten. sowie eine lebhafte Diskussion zur zukünftigen Während sich Arbeitswelten, Geschlechter- Ausrichtung der Pflegepolitik. Aus diesem Grund rollen und Familienarrangements verändern, hat sich die Friedrich-Ebert-Stiftung dazu ent bleiben die aktuellen Reformanstrengungen dem schlossen, eine zweite Auflage zu veröffentlichen, überholten Leitbild der unter einem Dach zusam- die aktuelle Zahlen und Entwicklungen aufnimmt. menlebenden Großfamilie mit männlichem Fami- Die Zahlen sprechen für sich. Laut einer Be- lienernährer verhaftet; ökonomische und sozio- rechnung des Deutschen Instituts für Wirtschafts- kulturelle Entwicklungen werden ausgeblendet. forschung (DIW) wird die Zahl der Pflegebedürf Das Problem liegt auf der Hand: Ein Pflegesystem, tigen bis 2050 auf fast fünf Millionen ansteigen, das für eine andere gesellschaftliche Realität „ge- das heißt: Sie wird sich mehr als verdoppeln. macht“ ist, überfordert die Pflegenden, stellt Fa- Schon heute hat laut Umfragen in Deutschland milien dauerhaft vor die Zerreißprobe und treibt jede/r Zweite Angst vor Pflegebedürftigkeit im sie in legale Grauzonen, wenn sie sich professio- Alter. Und zahlreiche Frauen und Männer fragen nelle Hilfe holen wollen (Stichwort: Pendelmigra- sich: Was tun, wenn die eigenen Eltern pflege tion). Überfällig ist darum eine gesellschaftliche bedürftig werden? Die Sorgen und Befürchtun- Debatte darüber, wie ein Pflegesystem aussehen gen deuten auf einen Missstand hin: Ganz offen- könnte, das den Möglichkeiten und Ressourcen sichtlich ist unsere Gesellschaft nicht auf eine der Pflegenden entspricht und den Pflegebedürf- stark wachsende Zahl pflegebedürftiger Men- tigen ein Leben in Autonomie und Würde ermög- schen vorbereitet. licht. Mit der Expertise „Pflege und Alltagsunter- Aktuelle Reformen greifen zu kurz, denn sie stützung älterer Menschen im deutsch-skandi basieren auf einer problematischen Grundan navischen Vergleich“ möchten wir einen Beitrag nahme. Sie setzen weiterhin voraus, dass in Zu- dazu leisten. kunft Pflegearbeit hauptsächlich von den Töch- Im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung hat die tern, Schwiegertöchtern, Enkeltöchtern und Ehe- Politologin Dr. Cornelia Heintze die Pflege und All- frauen geleistet wird – im Privaten, unentgeltlich, tagsunterstützung älterer Menschen in Deutsch- oft unter Aufgabe der eigenen beruflichen Ziele land und Skandinavien (Dänemark, Finnland, und der eigenen ökonomischen Unabhängigkeit. Island, Norwegen und Schweden) verglichen. In Hier wird ein Modell für die Zukunft fortgeschrie- der vorliegenden Expertise analysiert sie die Unter ben, für das schon heute die gesellschaftlichen schiede zwischen dem deutschen und dem skandi- Bedingungen erodieren: Die Zahl der „verfügba- navischen System und zeigt auf, welche Denktra ren“ Töchter, Schwiegertöchter und Enkeltöchter ditionen und Grundentscheidungen die jeweiligen sinkt, die Zahl der zu Pflegenden wächst; Frauen Systeme geprägt haben. Ein fruchtbarer Vergleich, streben nicht nur in viel höherem Maße als frü- denn er zeigt, vor welchen elementaren Weichen- her auf den Arbeitsmarkt, sie wollen dort auch stellungen das deutsche Pflegesystem steht. bleiben; Familien leben oft räumlich getrennt, in 5
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Die Zukunft des Pflegesystems: geln sich in der Struktur des Pflegesystems wider. familienbasiert oder servicebasiert? Kennzeichen des „servicebasierten Pflegesystems“ sind: Vorrang der formellen Pflege; mittlere bis Die Wohlfahrtstypologie von Gösta Esping-An- hohe öffentliche Finanzierung (Bedarfssteuerung); dersen modifizierend, unterscheidet Dr. Cornelia ein weiter Pflegebegriff; hohe Professionalisie- Heintze zwei Grundtypen von Pflegesystemen: rung; qualitativ hochwertige kommunale Pflege das „familienbasierte Pflegesystem“ und das „ser- infrastruktur. Das servicebasierte System zielt in vicebasierte Pflegesystem“. erster Linie darauf ab, das professionelle Pflege- Deutschland (genauso wie z. B. Österreich, system zu stützen und weiter zu entwickeln. die Schweiz und Italien) hat nach Esping-Ander- Was kann Deutschland vom „skandinavi- sen ein „konservatives Wohlfahrtsregime“; das schen Weg“ lernen? In der vorliegenden Exper bedeutet: Es setzt dem Subsidiaritätsprinzip fol- tise hat die Autorin bemerkenswerte und bisher gend in erster Instanz auf das „Solidarsystem Fa- wenig diskutierte Zusammenhänge herausgear- milie“, und erst in zweiter Instanz auf die gesamt- beitet, die geeignet sind, mit zahlreichen Mythen gesellschaftliche Solidarität, also auf staatliche im deutschen Pflegediskurs aufzuräumen und die Unterstützung. Ein solches Modell setzt jedoch Debatte über die Zukunft der Pflege auf einen eine klassische Arbeitsteilung in den Familien vo- neuen Pfad zu lenken. raus: Der eine Partner, meist der Mann, ernährt Verfechter_innen des aktuellen Pflegesystems die Familie, die – in der Regel – Frau übernimmt lehnen den skandinavischen Weg oft mit zwei Ar- unentgeltlich oder gegen eine geringe Anerken- gumenten ab: Erstens sei er nicht gewollt, weil er nungsprämie (Pflegegeld) die Fürsorgeaufgaben. nicht der deutschen Sozialstaatstradition ent Das „familienbasierte Pflegesystem“ korrespon- spräche und zweitens sei er nicht finanzierbar. In diert mit dem „konservativen Wohlfahrtsregime“; dieser Argumentation werden allerdings einige seine Kennzeichen sind: Vorrang der informellen bedeutende Punkte nicht mitgedacht. vor der professionellen Pflege; geringer Umfang der öffentlichen Finanzierung; ein enger Pflegebe- griff und eine zersplitterte, unübersichtliche Struk- Zentrale Erkenntnisse aus der Expertise tur mit schwer zugänglichen Leistungen (Misch- struktur aus gemeinnützigen, privat-gewerblichen Hohe vollzeitäquivalente Frauenerwerbstätigkeit korres und öffentlichen Anbietern). Eine hohe Anfällig- pondiert mit hohen Geburtenraten. Bislang herrschte – keit für die Entwicklung eines „Grauen Pflegemark- nicht nur unter konservativen Geistern – der Glau- tes“, insbesondere im Bereich der 24-Stunden- benssatz, dass eine niedrige Geburtenrate der Preis Pflege, kommt hinzu. Das „familienbasierte Mo- der Frauenemanzipation sei. Eine Steigerung der dell“ korrespondiert laut Dr. Heintze „mit einer Geburtenrate erschien aus dieser Perspektive nur Politik, die mehr an der Aufrechterhaltung eines möglich, wenn es gelänge, den Prozess der Gleich- möglichst hohen Anteils von Familienpflege als stellung von Männern und Frauen, also in erster daran interessiert ist, eine qualitativ hochstehen- Linie die Frauenerwerbstätigkeit, abzubremsen. de und für alle gut zugängliche Pflegeinfrastruk- Genau diese Annahme erweist sich bei näherem tur zu schaffen.“ Kurz gesagt: Es handelt sich um Hinsehen als überholt, denn sie gilt nur für wirt- eine Politik, die in erster Linie darauf abzielt, die schaftlich wenig entwickelte Gesellschaften. Aus Kosten für die Pflege gering zu halten. dem Beispiel Skandinavien jedoch können wir Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und lernen, dass in wirtschaftlich hoch entwickelten Schweden sind nach Esping-Andersen „sozialde- Gesellschaften das Gegenteil stimmt. Auch dort mokratische Wohlfahrtsregime“. Dieser Typus ist gingen Anfang der 1980er Jahre die Geburtenraten geprägt durch ein umfassendes wohlfahrtsstaat massiv zurück – sogar noch stärker als in West- liches Dienstleistungsangebot, es ist auf Egalität deutschland – doch im Gegensatz zu Deutschland ausgerichtet und bietet die Basis für eine zumin- gelang hier eine Trendwende durch einen mas dest annähernd gleich hohe Erwerbsbeteiligung siven Ausbau von öffentlicher Betreuungsinfra- von Männern und Frauen. Diese Merkmale spie- struktur gleichermaßen bezogen auf Kinder wie 6
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs auch bezogen auf Senioren. Die Zahlen zeigen: rere Jahre Angehörige pflegen, betreiben Raubbau Die Geburtenrate steigt in dem Maße, wie es der an ihrer Gesundheit. Sie geraten in eine Spirale Gesellschaft gelingt, sich von traditionellen Ge- der immer größeren permanenten Überforderung schlechterrollen zu lösen. Dort, wo Kinderbetreu- mit wachsenden gesundheitlichen Risiken. Sie ung und Pflege stark „familialisiert“ sind, sehen werden statistisch betrachtet selbst früher pfle wir die niedrigsten Geburtenraten. Das zeigt: In- gebedürftig, die Zahl ihrer „guten Jahre“ im Alter vestitionen in eine gute Pflege- und Betreuungs- sinkt, stattdessen ist – im krassen Gegensatz infrastruktur erzeugen eine „demografische Divi- zu Skandinavien – ein großer Teil dieser letzten dende“, entschärften also für die Zukunft das Jahre von chronischen Krankheiten geprägt. zahlenmäßige Verhältnis zwischen Pflegebedürf- Dr. Heintzes Diagnose lautet: Deutschland sitzt in tigen und Pflegenden. der Pflegefalle. Privat pflegende Frauen sind teuer. Eine weit ver- Die Akzeptanz von professioneller Pflege hängt von breitete Fehlannahme lautet: Frauen, die privat der Qualität der Pflege ab, nicht (nur) von kulturel- und unentgeltlich pflegen, „kosten“ im wahrsten len Präferenzen: Die herrschende Vorstellung in Sinne des Wortes nichts – ein gut ausgebautes Deutschland lautet: Eine qualitativ hochwertige öffentliches Pflegesystem hingegen sei unbezahl- Professionalisierung der Pflege wird hierzulande bar. Dieser Gedanke führt in die Irre. Wenn gut weder von den Pflegebedürftigen noch von ihren ausgebildete Frauen (und Männer) aus dem Ar- Angehörigen gewünscht; die Deutschen präfe- beitsmarkt austreten, um unentgeltlich zu pfle- rierten aus sozio-kulturellen Gründen die Famili- gen, geht der Volkswirtschaft erhebliches Bil- enpflege durch Angehörige. Doch in diesen Präfe- dungskapital verloren. Investitionen in ein gutes renzen spiegelt sich nicht zwangsläufig nur kul öffentliches Pflege- und Betreuungssystem hin turelle Prägung, sondern stärker noch ein Miss- gegen entlasten die Sozialkassen und steigern das trauen gegenüber dem deutschen Pflegemarkt, Potenzial an gut qualifizierten Arbeitskräften. dessen Angebote als unerschwinglich und wenig Dort, wo Pflege als öffentliche Aufgabe und öf- human (Stichwort: Minutenpflege) gelten – hier fentliches Gut betrachtet wird, entstehen im Pfle- erscheint zwangsläufig die Pflege innerhalb der gesektor gut bezahlte, qualifizierte Arbeitsplätze, Familie als die bessere Wahl. Diese Einstellung ist die für Wachstum sorgen. Insgesamt begibt sich der Preis und die Folge eines „Teilkasko-Systems“, die Volkswirtschaft so auf einen höheren Beschäf- das zudem in den vergangenen Jahren immer tigungspfad („High Road“). In Deutschland pas- stärker kommerzialisiert wurde, wie die Autorin siert das Gegenteil: Die geringen Investitionen in nachweist. das Pflegesystem führen auf eine „Low Road“. Die Lernende Gesellschaften, so Dr. Cornelia Autorin beschreibt, was die Abwärtsspirale in Heintze, zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Deutschland antreibt und wie sie gestoppt werden gesellschaftlichen Wandel nutzen, um Lebensqua- kann. Und sie erläutert, warum die Deutschen sich lität und Wohlstand zu steigern, statt ihn zu brem- damit so schwer tun, den Pflegesektor als Teil der sen und sich dadurch in eine Negativspirale zu be- Wertschöpfung statt als reinen Kostenfaktor zu se- geben. Sie demonstriert, wie stark das „familien hen: Die traditionelle Fixierung auf den Export basierte Pflegesystem“ angesichts des demogra führt zu einer fatalen Geringschätzung der bin- fischen Wandels unter Druck gerät und ihn nenmarktorientierten Dienstleistungen, die im ge- gleichzeitig noch mit beschleunigt. Und sie beweist sellschaftlichen Interesse stehen. den gesellschaftlichen Mehrwert einer qualitativ Deutschland in der Pflegefalle: Die Autorin be- hochwertigen, öffentlichen Care-Infrastruktur. schreibt noch ein weiteres Phänomen, das zum Der folgende Text ist die Kurzfassung einer Umdenken anhalten könnte: Menschen, die in umfangreichen Expertise, die Sie unter www.fes. hohem Maße und ohne Unterstützung über meh- de/forumpug/inhalt/publikationen.php finden. Christina Schildmann Severin Schmidt Forum Politik und Gesellschaft Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung der Friedrich-Ebert-Stiftung 7
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung 1. Einführung: Wie demografischer Wandel, Frauenerwerbstätigkeit und die Grundausrichtung der Pflegesysteme zusammenhängen Europäische Gesellschaften sind alternde Gesell- nur auf niedrigem Niveau, sondern reduzierte schaften. Der Anteil Älterer an der Gesamtbevöl- sich weiter. Abbildung 1 verdeutlicht, dass dies kerung ist in den letzten Jahrzehnten gewachsen kein zwangsläufiger Prozess war. Von den 13 er- und wird auf absehbare Zeit weiter zunehmen. In fassten Ländern hatten 1980 mehr als die Hälfte Deutschland nahm der Anteil der über 65-Jäh (Dänemark, Deutschland, Finnland, die Nieder- rigen an der Gesamtbevölkerung von 1995 bis lande, Norwegen, Österreich und Schweden) eine 2013 um rund 35 Prozent zu, in den skandina vergleichbar niedrige Geburtenrate zwischen rd. vischen Ländern um deutlich weniger. Die unter- 1,6 und rd. 1,7 Lebendgeburten pro Frau. Weit schiedliche Dynamik führt dazu, dass Deutsch- höhere Geburtenraten gab es in den südeuropäi- land im Jahre 2013 mit 20,7 Prozent in Europa schen Ländern wie auch in Frankreich. Ab Mitte die nach Italien zweithöchste und OECD-weit die der 1980er Jahre kehrten sich die Entwicklungs- dritthöchste Alterung aufweist.1 Die skandinavi- muster um. Über eine Art Scherenbewegung kris- schen Länder bewegen sich demgegenüber mit tallisierten sich zwei Ländergruppen mit je ähnli- Anteilen von 12,9 Prozent in Island, 15,7 Prozent chen Geburtenraten heraus. Deutschland wie in Norwegen und 17,8 Prozent in Dänemark auch Österreich ordnen sich nun in den Kreis der überwiegend unter dem EU-Mittel. Knapp über süd- wie osteuropäischen Länder ein. Die süd dem EU28-Mittel liegt Finnland (18,8 Prozent europäischen Länder – Gleiches gilt zeitversetzt gegenüber 18,2 Prozent in der EU28). Nur Schwe- für die osteuropäischen Neu-EU-Mitgliedsländer – den weist mit 19,1 Prozent eine deutlich über- erlebten bei ihren Geburtenraten einen dramati- durchschnittliche Quote auf. schen Absturz. 1980 rangierten sie an der Spitze; Hinter der in Deutschland ausgeprägten Al- nun bilden sie die Schlusslichter. Gegenläufig terungsdynamik steht eine Kombinationswirkung zum Geburtenabsturz in Süd- wie Osteuropa und aus niedriger Geburtenrate und einem in der län- dem Verharren auf niedrigem Niveau im deutsch- geren Frist fehlenden positiven Wanderungssaldo.2 sprachigen Raum gelang den skandinavischen Bis Anfang der 1980er Jahre ging die Geburten Ländern ein bemerkenswerter Wiederanstieg. Im rate in den skandinavischen Ländern teilweise Ergebnis erreichen alle nordischen Länder im (Norwegen, z. B.) noch stärker zurück als in West- Durchschnitt der zurückliegenden Dekade (2001 Deutschland.3 Während im skandinavischen bis 2011) Werte von über 1,8 (DK, FI und SE: 1,81; Raum danach jedoch eine Trendwende gelang, NO: 1,87; IS: 2,06) gegenüber nur 1,36 in Deutsch- verharrte die Geburtenrate in Deutschland nicht land. Belgien und die Niederlande durchliefen 1 2010 noch lag Deutschland vor Italien. Der Anteil Älterer entwickelte sich dann jedoch seitwärts, während er in Italien auf 21,2 Prozent (1.1.2013) weiter anstieg. Quelle: Eurostat, Bevölkerung am 1. Januar nach breite Altersgruppe und Geschlecht [demo_pjanbroad]; Update: 24.3.2014. 2 Letzteres allerdings wurde nach 2010 durch die krisenhafte Entwicklung in den südeuropäischen Ländern Spanien, Portugal und Grie- chenland unterbrochen. Die dort extrem hohe Arbeitslosenquote löste eine Auswanderungswelle aus, von der Deutschland kurzfristig profitiert. 3 1970 lag die westdeutsche Geburtenrate bei 2,03 gegenüber 1,95 in Dänemark, 1,92 in Schweden und 1,83 in Finnland. In der anschlie- ßenden Entwicklungsphase gingen gleichermaßen in Westdeutschland wie in den skandinavischen Ländern die Geburtenraten zurück. Dies besonders ausgeprägt in Norwegen. Dort hatte die Geburtenrate 1970 bei 2,5 gelegen. Bis 1980 gab es einen Absturz um ein Drittel auf noch 1,72. 8
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Abbildung 1: Zusammenhang von Geburtenrate und Care-System: Europäische Länder im Vergleich 1980 bis 2011 2,30 FR 2,20 NO 2,10 Länder mit service- SE 2,00 basierten Care-Systemen FI 1,90 BE 1,80 DK 1,70 NL 1,60 GR Länder mit familien- basierten Care-Systemen SK 1,50 ES 1,40 AT 1,30 DE 1,20 PT 1,10 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 00 02 04 06 08 10 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 20 20 20 20 20 20 Erläuterung: Angegeben ist die Anzahl von Kindern pro Frau im gebärfähigen Alter. Quelle: OECD 2014, Daten zu GE2.2 Trends in Total Fertility since 1960 (Update: 4.12.2013); eigene Auswertung. eine ähnliche Entwicklung. Die nun erreichten Faktor betrifft die Frauenerwerbstätigkeit. In öko- Werte sichern zwar nicht die Stabilität der Bevöl- nomisch höher entwickelten Gesellschaften geht kerung – das Stabilitätskriterium liegt bei rund die Geburtenrate dort besonders stark zurück und 2,1 –, sorgen aber dafür, dass die Gesellschaft steigt in der Konsequenz der Anteil Älterer über- nicht unter Anpassungsstress gerät, weil die Quo- proportional, wo die Gesellschaft noch stark auf te Älterer weit schneller wächst als die Gesell- traditionelle Geschlechterrollen und eine niedri- schaft in der Lage ist, sich mental, wirtschaftlich ge Frauenerwerbstätigkeit hin orientiert ist. Sta- und infrastrukturell darauf einzustellen.4 tistisch korreliert in traditionellen Gesellschaften Bei der Frage nach den Ursachen der konträ- eine niedrige Frauenerwerbstätigkeit mit hohen ren Entwicklungen kristallisieren sich zwei mit Geburtenraten und in hoch entwickelten Gesell- einander verwobene Faktoren heraus. Der erste schaften – gegenläufig zu konservativen Familien- 4 Eine hohe Geburtenrate ist per se weder positiv noch negativ zu sehen. Im globalen Maßstab ist die durchschnittliche Geburtenrate viel zu hoch. Die ökologischen Folgen sind dramatisch. Dies sowohl bezogen auf die Stabilität des Weltklimas wie auch bezogen auf den Naturverbrauch allgemein. Die entscheidende Frage ist die nach der Verteilung. Im Kontext gering entwickelter Länder sind die dort weit über dem Stabilitätskriterium liegenden Geburtenraten Ausdruck von Unterentwicklung und einer nicht vorhandenen oder ineffizien- ten Familienplanung. Im Kontext hoch entwickelter Länder sind niedrige Geburtenraten umgekehrt solange kein Problem, wie sie die Anpassungsfähigkeit der Gesellschaft nicht überfordern. Unter diesem Blickwinkel sind Geburtenraten im Korridor von 1,6 bis 1,9 günstiger zu beurteilen als Geburtenraten zwischen 1,3 und 1,6. 9
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung leitbildern – eine niedrige Frauenerwerbstätigkeit sich dieser niedrige Wert nicht erklären. Die Ar- mit niedrigen Geburtenraten. Die skandinavischen beitszeitwünsche von Männern und Frauen ha- Länder kombinieren im internationalen Vergleich ben sich – dies ergeben Befragungen – europaweit hohe Geburtenraten mit den höchsten Frauener- stark angenähert. Frauen wie Männer wünschen werbstätigkeitsquoten, während die südeuropä demnach eine vollwertige Beteiligung am Erwerbs ischen Länder sowie die osteuropäischen Trans- leben in Form von kurzer Vollzeit- oder langer Teil- formationsländer durch das gegenteilige Muster zeitarbeit (vgl. Gleichstellungsgutachten 2011: 27; geprägt sind. Für den Zeitraum von 1999 bis 2012 Wanger 2011). Der Konvergenz bei den ge- wurde der Zusammenhang für 24 EU-Mitglieds- schlechterspezifischen Arbeitszeitwünschen ent- länder plus die Schweiz, Norwegen und Island spricht in den skandinavischen Ländern eine An- statistisch untersucht.5 Es ergab sich ein signi näherung bei den Arbeitszeitstrukturen. Nur in fikanter Zusammenhang: Gut 40 Prozent der Va- Dänemark und Norwegen freilich geht dies ein- rianz bei der Geburtenrate wird von der Höhe der her mit der Ausprägung eines familienfreund Frauenerwerbstätigkeit bestimmt.6 lichen Arbeitszeitstandards, der beide Geschlech- Zwar ist in Deutschland die Frauenerwerbstä- ter umgreift. In diesen beiden Ländern ist bei tigenquote (Altersabgrenzung 15 - 64 Jahre) in der Männern wie Frauen der Bereich von regulärer betrachteten Zeitspanne von 57,4 Prozent (1999) Vollzeit (35 bis 39 Wochenstunden) und von kur- auf 68 Prozent (2012) deutlich gestiegen. Vorder- zer Vollzeit (30 bis 34 Stunden) am stärksten be- gründig fand Deutschland den Anschluss an die setzt. In diesem mittleren Bereich arbeiteten 2013 skandinavische Ländergruppe. Bei genauerer Be- in Dänemark 70 Prozent der Frauen (NO: 63,3 Pro- trachtung jedoch zeigt sich, dass die Qualität der zent) und 75 Prozent der Männer (NO: 71,9 Pro- Erwerbsintegration von Frauen nicht an das zent); 2001 waren es erst 64 Prozent der Frauen skandinavische Niveau heranreicht (vgl. Heintze und 58 Prozent der Männer. Anders in Deutsch- 2013a). Das Beschäftigungswachstum wurde vor- land. Hier überlappen sich zwei Entwicklungen. rangig von geringfügiger und von Teilzeitbeschäf- Zum einen haben sich die Arbeitszeiten bei Frau- tigung getragen. War 1995 nur ein Drittel der en und Männern polarisiert. Nur noch ein gutes Frauen teilzeitbeschäftigt (33,7 Prozent), ist 2012 Viertel der Männer (2001: 44,4 Prozent) und we- fast jedes zweite Beschäftigungsverhältnis eines niger als 30 Prozent der Frauen (2001: 38,6 Pro- in Teilzeit gegenüber „nur“ einem guten Drittel zent) arbeiten im familienfreundlichen Arbeits- (34,1 Prozent) im skandinavischen Durchschnitt. zeitbereich. Gewachsen sind die Ränder: 70,6 Pro- Die Zunahme bei der vollzeitäquivalenten Be- zent der Männer (2000: 53,9 Prozent) und 52,4 schäftigung fällt entsprechend gering aus. Die voll- Prozent der Frauen (2000: 44,6 Prozent) arbeiten zeitäquivalente Beschäftigung von Frauen lag 2007 entweder in Minijobs oder mit Arbeitszeiten von in den skandinavischen EU-Mitgliedsländern zwi- 40 Wochenstunden und mehr. Da sich die Ar- schen 61,9 Prozent (Schweden) und 63,9 Prozent beitszeiten bei Männern aber stärker polarisiert (Finnland), in Deutschland dagegen bei nur haben als bei Frauen, wuchs die Geschlechter 48,2 Prozent (Lehndorff et al. 2010: 17, Tab. B). diskrepanz weiter an.7 Während Arbeitszeitpräfe- Mit den Arbeitszeitpräferenzen von Frauen lässt renzen und tatsächliche Arbeitszeiten in den 5 Einbezogen wurden: Belgien, Bulgarien, Dänemark; Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Island; Italien, Lettland, Litauen, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweiz, Schweden, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, Ungarn, Vereinigtes Königreich. 6 Eigene Berechnung anhand von Eurostat: Tabelle „demo_find-Fruchtbarkeitsziffern“ mit Update vom 26.2.2014 und Datensatz „Er- werbstätigkeit – Jahresdurchschnitte [lfsi_emp_a] mit Update vom 10.7.2013. Ermittelt wurde ein Korrelationswert von 0,665, wenn die Beschäftigung von Frauen im Alter von 20 bis 64 Jahren herangezogen wird. Das Bestimmtheitsmaß beträgt 0,4423. Der Befund ist sig- nifikant zum Niveau
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs skandinavischen Ländern im Groben aufeinander mal einer nicht vollwertigen Arbeitsmarktintegrati- abgestimmt sind, liefert die deutsche Entwicklung on von Frauen. Ins Bild passt, dass Nicht-Erwerbstä- Hinweise auf eine wachsende Diskrepanz.8 tigkeit von Frauen wegen familiärer Verpflichtun- An dieser Stelle kommt der zweite wichtige gen in Deutschland eine relevante Größenordnung Faktor ins Spiel. Er betrifft die Vollwertigkeit der von über neun Prozent erreicht gegenüber weniger Arbeitsmarktintegration von Frauen. Frauen mit als zwei Prozent in den skandinavischen Ländern.10 guter Ausbildung wollen ihren erlernten Beruf Die positiven Wirkungen einer öffentlich heute dauerhaft so praktizieren, dass sie ökono- verantworteten Care-Ökonomie, die sich an den misch selbstständig sind. Lernfähige Gesellschaf- Bedarfen entlang des Lebenslaufs von Menschen ten unterstützen diesen Prozess. Zum einen, in- orientiert, sind vielfältiger Natur. Die bessere Ver- dem sie Anreizstrukturen, die der steigenden Er- einbarkeit von Familie und Beruf ist ein Moment. werbsneigung entgegenstehen (wie etwa das Ehe- Die Beförderung der faktischen Geschlechter- gattensplittung) abschaffen; zum anderen, indem gleichstellung ein weiteres. Ein drittes Moment sie Tätigkeiten der Pflege, Sorge und Betreuungs- betrifft das Wachstumsmodell. Werden bislang arbeit, die traditionell in den Familien vorrangig unentgeltlich von in der Regel Frauen in Familien von Frauen wahrgenommen werden, so profes und sozialen Netzwerken erbrachte Care-Tätig- sionalisieren und in eine öffentlich verantwortete keiten auf professioneller Basis in das Erwerbs Infrastruktur überführen, dass ein Gesellschafts- system überführt, entsteht Einkommen und vertrag entsteht, der partnerschaftlich zwischen Wirtschaftswachstum ohne zusätzlichen Natur- den Geschlechtern wie zwischen Familie und verbrauch. Unter ökologischen Gesichtspunkten Staat neu austariert ist. Der Aufbau einer öffent sind ein Mehrkonsum und eine Mehrproduktion lichen Infrastruktur von Betreuung und Pflege von sozialen Dienstleistungen ergo anzustreben. betrifft dabei nicht nur die Kinderbetreuung, son- Auch ein Zusammenhang mit der steigenden Le- dern auch die häusliche und institutionelle9 Pfle- benserwartung deutet sich an. Einerseits ist die ge älterer Menschen. Dort, wo eine qualitativ steigende Lebenserwartung ein Segen; anderer- hochstehende öffentliche Infrastruktur gleicher- seits geht sie einher mit der Zunahme chronischer maßen der Kinderbetreuung wie auch der Pflege Erkrankungen, woraus erhöhte Anforderungen an und Betreuung alter Menschen existiert, lassen sich gute Pflege und früh einsetzende Krankheitsprä- für Frauen, zunehmend aber auch für Männer, vention erwachsen. Wird dies vernachlässigt, Familie und Beruf gut vereinbaren. Gleichzeitig weil auf der gesellschaftlichen Ebene Gesund- entstehen Arbeitsplätze, die in dem Maße attrak- heitsprävention klein geschrieben wird, so mag tiv sind, wie Tätigkeiten der Pflege und Betreuung die Lebenserwartung zwar weiter ansteigen, nicht eine Professionalisierung erfahren haben. Empi- aber die Zahl der gesunden Jahre. Sinkt die Zahl risch zeigt sich: Länder, die Pflege und Betreuung der gesunden Jahre und steigen im Gegenzug die als eine öffentlich zu finanzierende und zu er- Lebensjahre mit gesundheitlicher Beeinträchti- bringende Aufgabe ausgeprägt haben, weisen Ge- gung, wirkt dies im Gesundheitssystem als Kos burtenraten oberhalb von 1,7 aus; Länder mit tentreiber, obwohl die Lebensqualität der Betrof familialisierten Pflege- und Betreuungssystemen fenen gar nicht besser, sondern schlechter gewor- teilen dagegen das Merkmal niedriger Geburten- den ist. Länder, die Pflege im Alter als eine primär raten und mit wenigen Ausnahmen auch das Merk- von Familien und sozialen Netzwerken zu erbrin- 8 Nicht überraschen kann deshalb, dass sich mittlerweile nach Wanger 2011 rd. die Hälfte der in Teilzeit erwerbstätigen Frauen längere Arbeitszeiten wünscht. 9 Sofern häusliche Pflege in Deutschland unter Einschaltung professioneller Pflegedienste erfolgt, spricht die deutsche Statistik von ambu- lanter Pflege (analog zur ambulanten Versorgung im Gesundheitssystem). In der englischen Übersetzung heißt es dagegen „home care.“ Die institutionelle Pflege in Heimen wird wiederum in Anlehnung an das Gesundheitssystem als „stationär“ bezeichnet und als „insti- tutional care“ übersetzt. In dieser Arbeit werden die Begriffe „ambulant“ und „häuslich“ sowie „stationär“ und „institutionell“ synonym gebraucht. 10 Dänemark hat mit 1,4 Prozent den EU-weit niedrigsten Wert. Eurostat, PM 185/2010 v. 7.12.2010. 11
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung gende Aufgabe begreifen, sind auch hier im Nach- den Alterns ein Stück näher gekommen. Die Zu- teil. Die Kombination von steigender Lebenser- wächse bewegen sich zwischen einem Plus von wartung bei sinkendem Anteil gesunder Lebens- knapp 50 Prozent in Schweden (von 9,4 Jahren jahre bedeutet für pflegende Angehörige nämlich, auf 14 Jahre) und von knapp 38 Prozent in Däne- dass sie in eine Spirale der permanenten Überforde- mark (von 7,7 auf 10,6 Jahre). rung mit wachsenden gesundheitlichen Risiken Die Veränderungen bei den gesunden Lebens- geraten.11 In der deutschen Debatte um die Alte- jahren, die ältere Menschen noch zu erwarten ha- rung der Gesellschaft wird dieser Aspekt wenig ben, sind für unseren Zusammenhang von erheb beleuchtet. Dabei ist er von großer Relevanz, licher Bedeutung. Wächst nämlich die Zahl ge- denn vorliegende Daten deuten darauf hin, dass sunder Lebensjahre bei den Älteren in dem Maße sich Deutschland in der beschriebenen Falle be- wie auch ihre gesamte Lebenserwartung steigt, findet. Frauen, die im Jahr 2012 das 65. Lebens- so verschiebt sich der Eintritt des medizinischen jahr erreichten, konnten noch eine Lebensspan- Pflegerisikos mit der steigenden Lebenserwar- ne von 21,2 Jahren erwarten; bei den Männern tung. Tritt jedoch eine Entwicklung ein, wie sie waren es 18,2 Jahre. Dies entspricht dem Durch- die Daten von Abbildung 2 für Deutschland sig- schnitt des nordischen Länderquintetts. In der Ein- nalisieren, so kommt es zu einer Expansion der zelbetrachtung schneidet Dänemark am schlech- Zeitspanne, wo ältere Menschen chronisch krank testen und Island am besten ab (DK: Frauen: 20,2, und pflegebedürftig sind. Unsere Analyse führt zu Männer: 17,5; IS: Frauen: 21,5, Männer: 20,1). folgender These: Ökonomisch hoch entwickelte Die anderen nordischen Länder liegen teils unter, Länder, die die Gleichstellung der Geschlechter teils über dem deutschen Niveau (Frauen: FI: 21,6, aktiv betreiben, indem sie für Pflege und Betreu- NO: 21; SE: 21,5; Männer: FI: 17,8, NO: 18,3, DE: ung am Anfang wie am Ende des Lebens eine für 18,5).12 Während jedoch in Deutschland das Gros alle gut zugängliche servicebasierte Infrastruktur dieser Jahre durch chronische Erkrankungen ge- vorhalten, die Familien wirksam entlastet und prägt sein dürfte, verhält es sich in den skandina- unterstützt, erzielen höhere Geburtenraten als vischen Ländern bei Männern wie Frauen um Länder, die diese Aufgaben primär den Familien gekehrt. Abbildung 2 stellt die gesunden Jahre und damit vorrangig den Frauen zuweisen. Zu- der 65-jährigen Frauen dar. Im Jahr 2000 lagen gleich ist die Frauenerwerbstätigkeit höher, denn Deutschland, Dänemark und Schweden ziemlich erstens werden Frauen durch Familienpflichten gleichauf mit etwas über neun gesunden Jahren. weniger an der Ausübung beruflicher Tätigkeit Finnische Frauen bewegten sich abgeschlagen bei gehindert und zweitens trägt die Care-Ökonomie 6,9 Jahren. Dies hat sich umgekehrt. In allen skan- selbst zur Schaffung von Arbeitsplätzen bei. Da dinavischen Ländern gab es beim Gesundheitszu- die Arbeitsplätze, die aus der Professionalisierung stand älterer Frauen Fortschritte, in Deutschland von Care-Tätigkeiten hervorgehen, nicht mit Rückschritte. Bei den Männern ist das Muster ähn- einem zusätzlichen Naturverbrauch einhergehen, lich. Während in Deutschland von 2000 bis 2012 fügt sich ein Mehrkonsum von solchen sozialen ein Rückgang der gesunden Lebensjahre um rund Dienstleistungen in eine auf sozial und ökolo- ein Drittel von zehn auf 6,7 zu verzeichnen ist, gisch nachhaltige Wertschöpfungen gerichtete sind skandinavische Männer dem Ziel des gesun- Wachstumsstrategie. Gesellschaftlich resultiert 11 Die Siemens Betriebskrankenkasse hat diesbezüglich eine Untersuchung durchgeführt. Ergebnis: Pflegende Angehörige werden weit überdurchschnittlich häufig krank und entwickeln Medikamentenabhängigkeiten. Bei chronischen und schwerwiegenden Erkrankun- gen liegen sie um gut 50 Prozent über dem Durchschnitt. Stärker noch als die körperliche Belastung wirkt die psychische Belastung krankmachend. Die Depressionshäufigkeit liegt dreifach über dem Normalwert. Trotzdem, es fällt vielen pflegenden Angehörigen schwer, sich die Überforderung einzugestehen. Sie bewegen sich auf einer Negativspirale, die erst durchbrochen wird, wenn es zum Zu- sammenbruch kommt. Zit. nach Frankfurter Rundschau Nr. 23 v. 28.1.2011, S. 2. 12 Vgl. Eurostat: Datensatz „Gesunde Lebensjahre (ab 2004) [hlth_hlye]“ mit Update vom 24.3.2014. 12
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Abbildung 2: Gesunde Lebensjahre im Alter von 65 Jahren 2000 – 2012: Frauen 17,0 16,0 16,3 15,9 15,7 15,9 15,5 15,2 15,4 15,0 14,7 14,8 Gesunde Jahre der ab 65-Jährigen: Frauen 14,3 14 14,3 14,0 14 13,9 13,7 13,5 13,0 13,1 13 12,9 12,8 12,3 12,1 12,0 11,9 11,0 11,1 10,4 10,0 9,9 9,9 9,5 9,2 9 9 9,0 9,3 8,9 8,9 8,6 8,0 7,7 7,1 7,1 7,3 7,0 6,9 6,9 6,6 6,7 6,0 5,9 5,0 2000 2003 2005 2007 2009 2010 2011 2012 Deutschland Finnland Dänemark Island Norwegen Schweden Lesehilfe: Vor dem Jahr 2005 konnten in Deutschland diejenigen Frauen, die in dem jeweiligen Jahr 65 Jahre alt geworden waren, noch jeweils gut 9 von Gesundheit geprägte Lebensjahre erwarten. Ab dem Jahr 2005 sind es nur noch zwischen 6 und 7,5 Jahre. Die Daten vor 2004 und danach sind wegen eines Bruchs in der Zeitreihe nur bedingt vergleichbar. Quelle: Eurostat, Strukturindikatoren über Gesundheit [hlth_hlye], Updates vom 22.5.2013 (Daten vor 2004) und 24.3.2014 (Daten ab 2004); eigene Darstellung. daraus ein Mehrwert, der über die Beförderung ben. Neben den fünf nordisch-skandinavischen der Geschlechtergleichstellung hinaus auch dem Ländern gehören dazu aus dem Bereich der kon- Altern in guter Gesundheit dient. Dass dieser Weg tinentaleuropäischen Sozialstaaten Belgien und finanzierbar ist, zeigen all die Länder, die sich aus die Niederlande. dem Vorrang familienbasierter Pflege gelöst ha- 13
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung 2. Pflegesysteme folgen überwiegend, aber nicht durchgängig der wohlfahrtsstaatlichen Grundorientierung „Wir brauchen ein neues Gesellschaftsmodell wie in Skandinavien. Pflege gehört dort zum Gemeinwesen, man setzt auf kommunale Infrastruktur und gesellschaftliches En gagement. Es gibt Nachbarschaftskonzepte und Altentagesstätten mit Öffnungszeiten, die den Arbeitszeiten entsprechen. Da existiert ein ganz anderer Zusammenhalt.“ (Jürgen Gohde, Vorsitzender des Kuratoriums Deutscher Altenhilfe, zit. nach Windmann 2011: 129) Im Großen und Ganzen folgen die national ausge- ren, halten die familiären Abhängigkeiten auf- prägten Pflegesysteme13 den jeweiligen wohlfahrts- recht. Drittens bindet der konservative Sozialstaat staatlichen Grundorientierungen. Die Wohlfahrts im zumindest deutschsprachigen Raum die Aus- typologie von Esping-Andersen (1990, 2000), auf gestaltung der Sozialversicherungssysteme an die die üblicherweise Bezug genommen wird, un ter Wahrung der Statusorientierung. Bei der Kran- scheidet drei bis vier verschiedene Grundtypen. kenversicherung gibt es dementsprechend gesetz- Die skandinavischen Länder sind durch ein um- liche Kassen für primär Arbeitnehmer_innen, pri- fassendes wohlfahrtsstaatliches Dienstleistungs vate Kassen für Selbstständige und Gutverdiener, angebot geprägt. Es ist auf Egalität ausgerichtet Beihilfekassen für Beamt_innen sowie Versor- und bietet eine Basis für die immerhin ange gungswerke für gut verdienende verkammerte Be- näherte Erwerbsbeteiligung von Männern und rufe (Ärzt_innen, Apotheker_innen, Rechtsan- Frauen. Deutschland gehört nach dieser Typolo- wält_innen) und die staatlich subventionierte gie zusammen mit den anderen mitteleuropä Künstlersozialkasse für finanziell darbende Autor_ ischen Ländern (Österreich, Schweiz, Frankreich, innen, Schauspieler_innen und Musiker_innen. Belgien, Niederlande) zu den konservativ-korpo- Öffentlich ist bei den Sozialversicherungssys ratistischen Sozialstaaten. Konservativ sind diese temen die Finanzierung und Steuerung. Die Leis- Sozialstaaten in mehrfacher Hinsicht. Erstens ha- tungserbringung dagegen basiert auf einer Misch- ben sie in Form stark ausgeprägter Statusorien struktur aus frei-gemeinnütziger, privat-gewerb tierungen ständestaatliche Muster konserviert. In licher und öffentlicher Leistungserbringung. den deutschsprachigen Ländern dient etwa das Nun ist die Realität meist komplexer als es nur dort anzutreffende gegliederte Schulsystem Modelle vorsehen. Auch Hybridsysteme, die Bau- mit seiner frühen Selektion der Statuskonservie- steine aus unterschiedlichen Systemkontexten rung. Zweitens sind sie Familienernährer-Modelle. kombinieren, kommen vor. Die Pflege liefert da- Nicht das Individuum mit je eigenständigen für ein gutes Beispiel. Theoretisch sind im Span- Rechten steht im Mittelpunkt, sondern die Fami- nungsfeld von Familie, Markt, Staat und sozialen lie mit Haupternährer und zuverdienendem Part- Netzwerken ganz unterschiedliche Arrangements ner. Wechselseitige Unterhaltspflichten, wie sie denkbar. Die Spannweite reicht von familien in Skandinavien schon lange nicht mehr existie- basiert-karitativen Ansätzen über Markt-Staat- 13 Zu den Details der in Europa und der OECD ausgeprägten Arrangements von Pflege und Unterstützung älterer Personen vgl. Hammer/ Österle 2004; BMASK 2005; Skuban 2004; Beadle-Brown/Kozma 2007; Brandt 2009; Haberkern/Brandt 2010; OECD 2011a und European Commission 2013. 14
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Mischmodelle bis zur rein staatlichen Leistungs- das etablierte System wegen schlechter Ergebnis- erbringung. Welche Arrangements sich durchset- se so massiv unter Druck steht, dass eine Politik, zen und wie sie sich entwickeln, hängt von vielen die einen alternativen Ansatz verfolgt, dafür auch Faktoren ab und kann hier nicht näher beleuch- Mehrheiten gewinnen kann. tet werden.14 Tabelle 1 versucht eine Systematisie- Aus der Perspektive der Gesundheitssysteme, rung des Status-quo.15 Sie folgt der Auffassung, die in den konservativ-korporatistischen Sozial- dass zwei Fragen für die Abgrenzung innerhalb versicherungsstaaten ausgeprägt wurden, könnte von EU und OECD zentral sind: erstens die Frage, man erwarten, dass die Pflegesysteme der glei- ob Pflegeleistungen eher informell oder formell, chen Logik folgen. Was für Medizin im Gesund- eher von den eigenen Familienangehörigen oder heitssystem gilt, würde dann analog für Pflege im von professionellen Diensten erbracht werden, Pflegesystem gelten und zugleich die Basis bilden und zweitens die Frage nach der Höhe öffentli- für die Verzahnung beider Systeme. Tatsächlich cher Finanzierung in Bezug auf die Wirtschafts- ordnen sich die konservativen Sozialstaaten bei kraft. Wählt man dieses Doppel-Kriterium als der Pflege jedoch unterschiedlichen Grundtypen Scheidelinie, ergeben sich zwei Grundtypen, die zu. Während Belgien und die Niederlande Pflege sich entlang der wohlfahrtsstaatlichen Grund professionell und bedarfsorientiert ausgeprägt orientierung in Sub-Typen auffächern. Als Grund- haben, weisen Deutschland und Österreich einen typen unterschieden werden ein familienbasier- vergleichsweise geringen Professionalisierungs- tes System mit geringem bis mittlerem öffentli- grad auf. Die deutschsprachigen Länder teilen chem Finanzierungsanteil und ein servicebasier- mit süd- wie osteuropäischen Ländern ein hohes tes System mit mittlerem bis hohem öffentlichem Maß an Familialisierung und informeller Leis- Finanzierungsanteil. Im familienbasierten System tungserbringung. Das familienbasierte System va- hat die informelle Pflege durch Familienangehö- riiert nach zwei, das servicebasierte System nach rige und soziale Netzwerke Vorrang vor der pro- drei Untertypen. In diesen Untertypen kommen fessionellen Pflege; im service-basierten System Merkmale zum Tragen, die in der wohlfahrts- ist es umgekehrt. Die Politik ist je nach Grundtyp staatlichen Grundorientierung angelegt sind. So anders ausgerichtet. Der familienbasierte Grund- stützt sich die familialisierte Pflege in den süd typ korrespondiert mit einer Politik, die mehr an europäischen Ländern auf Familie im erweiterten der Aufrechterhaltung eines möglichst hohen Sinne resp. den Familienclan (Hammer/Österle Anteils von Familienpflege als daran interessiert 2004: 46), in den deutschsprachigen Ländern ist, eine qualitativ hochstehende und für alle gut dagegen auf die Kernfamilie. Kernfamilie contra zugängliche Pflegeinfrastruktur zu schaffen. Im erweiterte Familie ist nicht das Einzige, was die servicebasierten System dagegen ist die Politik deutschsprachigen Länder von den süd- wie ost- primär darauf ausgerichtet, das professionelle europäischen Ländern trennt. Ein weiterer zen Pflegesystem zu stützen und weiterzuentwickeln. traler Unterschied ist darin zu sehen, dass es in Dies mit der Einschränkung, dass sich die Pflege- Deutschland bei den professionell erbrachten politik im Markt-Staat-Untertyp (Variante S-2) Pflegeleistungen eine strikte öffentliche Regulie- vorrangig auf die öffentlichen Leistungen be- rung gibt, die einem eng verrichtungsbezogenen zieht. Hier wie dort ist denkbar, dass die Wei Konzept von Pflege folgt. Nicht der konkrete Be- terentwicklung Schritte beinhaltet, die auf eine darf des pflegebedürftigen Menschen wie in den Systemtransformation hinauslaufen. Etwa weil skandinavischen Ländern, sondern die Gering- 14 Siehe die in der vorangegangenen Fußnote aufgeführte Literatur und für die Regelungen im Detail das MISSOC-Informationssystem der Europäischen Kommission zu den sozialen Sicherungsleistungen. 15 Neben den für diese Arbeit ausgewerteten Originalquellen stützt sie sich auf die Länderprofile von OECD (2011a) und das MISSOC-In- formationssystem (Update vom Juni 2013). Einschränkungen der Vergleichbarkeit müssen dabei beachtet werden. Die Daten der OECD- Studie erfassen bei Deutschland, den Niederlanden, Italien, Polen und einer Reihe anderer Länder sowohl die medizinisch veranlassten Pflegeleistungen wie die sozialen Unterstützungsleistungen (nursing resp. health-related-care und social longterm care), bei anderen Ländern (u. a. Belgien, Dänemark, Island, Norwegen, Schweiz und Österreich) dagegen nur die Nursing-Leistungen. 15
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Tabelle 1: Pflege der älteren Bevölkerung im Systemvergleich Familienbasiertes Pflegesystem Servicebasiertes Pflegesystem (Vorrang der informellen Pflege; (Vorrang der formellen Pflege; Grundsystem geringe öffentliche Finanzierung) mittlere bis hohe öffentliche Finanzierung) F-1 F-2 S-1 S-2 S-3 Varianten Erweiterte Familie; Kernfamilie; Markt-Staat-Misch- Umfassende Universalistisches prekäre Regulierung enge Regulierung systeme; enge Leistungsdichte; öffentliches System; der öffentlichen der öffentlichen Regulierung gemischte Träger- hohe Leistungs- Pflegeleistungen Pflegeleistungen struktur integration Länder Italien, Spanien, Deutschland, Irland, Großbritan- Belgien, Dänemark, Griechenland, Österreich, nien, Neuseeland, Niederlande, Finnland, Island, Portugal, Polen, Australien (Frankreich) Norwegen, Slowakei, (Slowenien)1 Schweden Tschechien, Korea (Schweiz)1 Pflegebegriff Enger Pflegebegriff; Enger Pflegebegriff Erweiterter Pflegebegriff kein ganzheitlicher Ansatz Professio- Sehr gering Gering bis mittel Unterschiedlich Hoch nalisierung Professionelle Sehr geringe Mittlere Hohe Hohe Hohe Pflege Bedeutung Bedeutung Bedeutung Bedeutung Bedeutung Leistungs- Hürdenlauf Schwierig (polarisierte Schwierig (polarisierte Niedrigschwellig Niedrigschwellig zugang Strukturen) Strukturen) „Grauer Hohe Relevanz Mittlere Relevanz Mittlere Relevanz Geringe Relevanz Geringe Relevanz Pflegemarkt“ Öffentliche < 0,8 % des BIP > 0,8 % bis 0,8 % bis > 1,8 % bis > 1,8 % bis Finanzierung2 < 1,2 % des BIP < 1,6 % des BIP nahe 4 % des BIP nahe 4 % des BIP Öffentliche Prekär Ausgabensteuerung Ausgabensteuerung Bedarfssteuerung Bedarfssteuerung Steuerung 1) Die Zuordnung von Slowenien wie auch der Schweiz ist nicht eindeutig. In Slowenien liegt ein dominant öffentliches, auf Sachleistungen basierendes System vor mit allerdings kaum mittelhoher öffentlicher Finanzierung. Die Schweiz setzt höhere öffentliche Mittel ein (2011: 1,5 Prozent des BIP), die jedoch weniger als 50 Prozent der Gesamtausgaben decken. Gleichzeitig ist das System familienbasiert. 2) Bei den F-1-Ländern hat Spanien (0,6 Prozent des BIP) und bei den F-2-Ländern Österreich (1,2 Prozent des BIP) den höchsten öffentlichen Finanzierungsanteil. Das österreichische System wird dabei anders als das deutsche über Steuern finanziert. In der Markt-Staat-Gruppe ist die Finanzierung in Neuseeland am stärksten öffentlich geprägt (1,4 Prozent des BIP werden öffentlich, nur 0,1 Prozent des BIP privat bereitgestellt). In der S-2-Gruppe liegen die Niederlande auf dem Niveau der skandinavischen Kernländer. Quelle: Eigene Darstellung; Angaben zu den öffentlichen Ausgaben aus OECD 2013. haltung der öffentlichen Ausgaben ist die Ziel und die Finanzierung gestaltet sich als Misch stellung. Ein öffentliches Steuerungssystem, das finanzierung aus privaten Pflegeausgaben und nach strikt bürokratischem Reglement Pflegebe- öffentlichen Zuschüssen. Neben den skandina dürftigkeit nach verschiedenen Stufen feststellt vischen Ländern und einer Teilgruppe aus dem und mit Ansprüchen auf Geld- und/oder Sach- kontinentaleuropäischen Raum gehören auch leistungen verknüpft, fehlt in den südeuropä einzelne angelsächsische Länder zum service ischen Ländern. Die dortige Steuerung ist prekär basierten Grundtyp. Ein Pflegearrangement, das 16
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs die Bezeichnung „System“ rechtfertigt, existiert tische Logik spricht für die Familialisierung. Auf- dort aber nur eingeschränkt. In Großbritannien gabe der Politik ist es dabei, einerseits den für die prägt der staatliche Gesundheitsdienst (NHS) die Gesellschaft extrem billigen Familienpflegedienst medizinische Pflege; analog den skandinavischen durch etwas Unterstützung stabil und anderer- Ländern wird sie kostenlos gewährt. Die nicht an seits das Qualifikationsniveau der Pflegefach den NHS angedockte Pflege ist als kommunale kräfte in einem Bereich zu halten, der sich mit Aufgabe in jeder Region anders gestaltet, wobei niedriger Bezahlung vereinbaren lässt. Im F-2-Typ meist hohe Zuzahlungen verlangt werden. Wo finden wir genau die angesprochenen, sich wech- weder die universalistischen Leistungen des NHS selseitig bedingenden Merkmale: (1) einen engen greifen noch die Zugangskriterien für kommuna- Pflegebegriff; (2) eine nur schleppend vorankom- le Leistungen erfüllt werden, gilt die Marktlogik. mende Professionalisierung; (3) hohe Zutrittsbar- Warum einzelne mitteleuropäische Länder rieren zu guter Pflege aufgrund einer zersplitter- analog zu den skandinavischen Ländern ein auf ten, intransparenten Angebotsstruktur mit großen professionalisierten Dienstleistungen gegründe- Qualitätsunterschieden; (4) eine hohe Bedeutung tes Pflegesystem aufgebaut haben, während die kommerzieller Träger einschließlich eines Ein- Pflegearrangements im deutschsprachigen Raum fallstors zum grauen Pflegemarkt, über den sich ihren Anker immer noch in der Familie haben, Angehörige preisgünstige Pflegehilfe organisieren kann hier nicht weiter erörtert werden. Ich will es und (5) eine auf die Geringhaltung der öffent bei einem Hinweis belassen, der mir zentral er- lichen Ausgaben gerichtete Steuerung. Der ange- scheint. Die Benelux-Länder teilen mit den skan- sprochenen Gemeinsamkeit steht als zentraler dinavischen Ländern, dass sich Pflege und Medi- Unterschied jedoch nicht nur die Trägerstruktur zin im Gesundheitswesen weit mehr auf Augen- (dominant kommunale Leistungserbringer in höhe begegnen als in Deutschland, wo bis heute den nordischen Ländern; dominant kirchliche ein hierarchisches Gefälle zwischen einer männ- und frei-gemeinnützige Leistungserbringung in lich geprägten Medizin und einer weiblichen den Niederlanden und in Teilen von Belgien) ent- Pflege, die zur Medizin in einem Unterordnungs- gegen. In die öffentliche Finanzierung sind in den verhältnis („Pflege als Magd der Medizin“) steht, nordischen Ländern höhere Einkommen und Ar- überlebt hat. Das deutsche Gesundheitssystem beitgeber_innen weit stärker eingebunden als etwa ist medizinzentriert und aufgeladen mit ärztli- in den Niederlanden. Die stärkere Einbindung er- chen Standesinteressen. Bis heute spielen ärztli- gibt sich aus zwei Momenten: Die Langfristpflege che Standesvertreter_innen und eine ihnen zuge ist steuerfinanziert; die Akutpflege ist überwie- neigte Politik bei der Verhinderung der Akade gend steuerfinanziert. Dort, wo sie wie in Norwe- misierung von Pflege erfolgreich über Bande. Bei gen über Sozialbeiträge finanziert wird, lastet die der Altenpflege kommt erschwerend hinzu, dass Finanzierung überwiegend bei den Arbeitgeber_ hier Gesundheitspolitik und Familienpolitik auf- innen. In den Niederlanden dagegen erfolgt die einandertreffen. Die gesundheitspolitische Logik Finanzierung sowohl der Langfristpflege wie der spricht für eine Professionalisierung, grenzt sie Akutpflege überwiegend durch Beiträge, von de- wegen der Subordination der Pflege unter die ren Mitfinanzierung die Arbeitgeber_innen frei- Medizin dann aber ein auf ein medizinisch ge- gestellt sind.16 prägtes Verständnis von Pflege. Die familienpoli- 16 Mit Stand 1.6.2013 sahen die Finanzierungsregeln wie folgt aus: Der Beitragssatz zur Allgemeinen Krankenversicherung (Health Insu- rance Act – Zorgverzekeringswet, Zvw) betrug für Arbeitnehmer_innen 7,1 Prozent und für Selbstständige 5,0 Prozent mit einer Beitrags bemessungsgrenze, die bei 50,853 Euro lag. Beim Allgemeinen Gesetz über Besondere Krankheitskosten als primärer Finanzierungs- quelle der Langfristpflege (Algemene wet bijzondere ziektekosten, AWBZ) musste jeder Einwohner bis zu einer Einkommensgrenze von 33.863 Euro einen Beitragssatz von 12,65 Prozent entrichten. Die Arbeitgeber sind freigestellt. Quelle: MISSOC, Stand 1.6.2013. 17
Sie können auch lesen