TRANSFER - MENSCH UND KI - INTELLIGENZ IN DER KÜNSTLICHEN (UM-)WELT VON MORGEN - DAS STEINBEIS-MAGAZIN 03|21

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TRANSFER - MENSCH UND KI - INTELLIGENZ IN DER KÜNSTLICHEN (UM-)WELT VON MORGEN - DAS STEINBEIS-MAGAZIN 03|21
TRANSFER
 DAS STEINBEIS-MAGAZIN 03|21

   MENSCH UND KI –
    INTELLIGENZ IN
   DER KÜNSTLICHEN
      (UM-)WELT
     VON MORGEN
TRANSFER - MENSCH UND KI - INTELLIGENZ IN DER KÜNSTLICHEN (UM-)WELT VON MORGEN - DAS STEINBEIS-MAGAZIN 03|21
STEINBEIS: PLATTFORM FÜR ERFOLG
Steinbeis ist mit seiner Plattform ein verlässlicher Partner für Unter-
nehmensgründungen und Projekte. Wir unterstützen Menschen und
Organisationen aus dem akademischen und wirtschaftlichen Umfeld,
die ihr Know-how durch konkrete Projekte in Forschung, Entwicklung,
Beratung und Qualifizierung unternehmerisch und praxisnah zur
Anwendung bringen wollen.

Über unsere Plattform wurden bereits über
2.000 UNTERNEHMEN
gegründet.

Entstanden ist ein Verbund aus mehr als 6.000 EXPERTEN
in rund 1.100 UNTERNEHMEN, die jährlich mit mehr als
10.000 KUNDEN Projekte durchführen.

So werden Unternehmen und Mitarbeiter professionell in der Kompetenz-
bildung und damit für den Erfolg im Wettbewerb unterstützt.

Und unser Verbund wächst stetig: Infos und Kontaktdaten unserer
aktuell gegründeten Unternehmen finden Sie unter

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TRANSFER - MENSCH UND KI - INTELLIGENZ IN DER KÜNSTLICHEN (UM-)WELT VON MORGEN - DAS STEINBEIS-MAGAZIN 03|21
EDITORIAL           3

LIEBE LESERINNEN UND LESER,
in dieser Ausgabe beleuchtet die TRANSFER die Potenziale und Beziehungen zwischen Mensch und „maschineller Intelligenz“ in
einer künftigen Lebenswelt. Dieses Thema bildet den Abschluss einer Schwerpunktreihe, die sich in diesem Jahr mit dem über-
geordneten Kampagnenmotto „Nutzen stiften! …für Herausforderungen in Ökonomie und Ökologie“ auseinandergesetzt hat.

Es ist ohne Frage entscheidend, aktuelle und kommende Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) in erster Linie
auf ihren Nutzen hin zu überprüfen, denn allmählich sollten aus technologischen Machbarkeitsstudien Anwendungen mit
Mehrwert erwachsen. Wozu schließlich braucht man Lösungen, wenn es keine passende Problemstellung dafür gibt. Diese
als „Solutionismus“ beschriebene Entwicklung scheint zu einer nicht unkritischen Herausforderung für die Digitalisierung
zu werden, denn es gibt auch aktuell viele Anwendungen nur deshalb, weil sie aus technologischer Sicht umsetzbar sind. Mit
einem überaus treffenden Vergleich beschreibt der amerikanische Architekt und Designer Richard Saul Wurman diesen
Konflikt: „… mehr Schulen führen nicht automatisch zu klügeren Kindern.“ Dieses prägnante Beispiel kann gut als Leitmotiv
für viele Inventionen in der Digitalwirtschaft dienen, um eine so mächtige Technologie – wie es KI sein kann – intelligent und
reflektiert einzusetzen.

Neben der Erforschung des Machbaren benötigt es bei der KI-Entwicklung auch eine Wissenschaft, die sich mit einem ho-
listischen Blick um soziotechnische Fragestellungen kümmert – um messbare Vorteile für den Menschen und seine Umwelt.
Es ist wichtig, sich von einer ausschließlich technischen Faszination zu lösen und überzogene Fiktionen und Ängste zu ver-
wässern. Im Mittelpunkt steht also die Frage, warum und vor allem wofür wir künstliche Intelligenz benötigen und wie sie
koexistenziell zu einer Verbesserung unserer Welt von morgen beitragen kann.

Im Abgleich zu den führenden KI-Standorten an der amerikanischen Westküste und in Asien sollten Forschungsschwerpunkte
mit soziotechnischem Hintergrund gerade in Europa als Chance verstanden werden. In dieser nahezu einmaligen Verdichtung
von erfolgreichen wissenschaftlichen Institutionen und den vielschichtigen kulturellen Einflüssen eng kooperierender Länder
kann die Qualität von digitalen Entwicklungen ein höheres, in mancherlei Hinsicht profitableres Niveau erreichen.

Nicht zuletzt ist neben dem transkulturellen vor allem der interdisziplinäre Austausch von größter Bedeutung: Nur so lassen
sich die notwendigen Anschlüsse zwischen unterschiedlichen Forschungsfeldern herstellen, um bei digitalen Innovations-
prozessen künftig auch menschliche Werte zu verankern. Der Steinbeis-Verbund bietet dafür die Möglichkeiten – lassen Sie
uns dieses Potenzial gemeinsam nutzen.

Ihr

PROF. ERICH SCHÖLS
erich.schoels@steinbeis.de (Autor)

Professor Erich Schöls ist Gründer und führt bis heute das Steinbeis-Forschungszentrum Design und Systeme in Würzburg. Er ist Dekan der Designfakultät an der
Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg und leitet dort den Studienschwerpunkt Digitale Medien. Mit seinem Team erhielt Erich Schöls 2019 den
Transferpreis der Steinbeis-Stiftung – Löhn-Preis für das Projekt „Kyana – Prädiktive Wartung mit einem digitalen Zwilling“.

www.steinbeis.de/su/983

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                                                                    „AM ENDE STEHT IMMER DER MENSCH IM MITTELPUNKT“
                             EDITORIAL
                                                                          Im Gespräch mit Professor Dr. Bernhard Humm,
                                                                       Steinbeis-Unternehmer am Steinbeis-Transferzentrum
                                                                   Angewandte Künstliche Intelligenz an der Hochschule Darmstadt
                             FOKUS
                                                                                                  33
                                 08                                        WENN KI DIE EIGENEN RISIKEN ANALYSIERT
           VISIONEN DER KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ:                  Forscherteam untersucht Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf
             SCIENCE FICTION ODER NAHE ZUKUNFT?                                 Daten- und Informationssicherheit
      Professor Dr. Wolfgang Ertel skizziert mögliche Szenarien
                einer kommenden Singularität der KI
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                                 12                                      Ein Forschernetzwerk entwickelt eine KI-basierte
       „KI IST TROTZ ÜBERMENSCHLICHER LEISTUNGEN IM                          Plattform zur Behandlungsunterstützung
        VERGLEICH ZUR NATÜRLICHEN INTELLIGENZ SEHR
                        EINGESCHRÄNKT“
     Die TRANSFER im Gespräch mit KI-Experte Carsten Ullrich,                                     39
               Professor an der Steinbeis-Hochschule              DIE MISCHUNG MACHT’S: MIT KI UND AUGMENTED REALITY DIE
                                                                                    WELT IMMERSIV ERKUNDEN
                                                                       Steinbeis-Team entwickelt Indoor-Positionsbestimmung
                                 16                                                 und AR-Anwendungen weiter
  „DIE REALISIERUNG KI-BASIERTER SYSTEME IST FÜR MICH
EBENSO WICHTIG, WIE DEREN FOLGEN ABSCHÄTZEN ZU KÖNNEN“
        Im Gespräch mit Professor Dr.-Ing. Cristóbal Curio,                                       42
      Steinbeis-Unternehmer am Steinbeis-Transferzentrum                       ACKERLAND-BEWERTUNG MADE BY KI
             Mensch-zentrierte Künstliche Intelligenz             Steinbeis-Experten helfen das Agrar­ökosystem in Afrika zu verbessern

                                 19                                                               46
                  ALLES GUTE KOMMT VON OBEN                          „WIR MÖCHTEN KMU DIE MÖGLICHKEIT BIETEN, KI IN DIE
    Drohnendaten für die künstlichen Welten autonomer Fahrzeuge              KONKRETE ANWENDUNG ZU BRINGEN“
                                                                        Im Gespräch mit Alexandra Fezer und Stefano Sbarbati
                                                                                  vom Steinbeis Europa Zentrum
                                 22
           EIN LEBENSRAUM FÜR DIGITALE ZWILLINGE
      Ein Mannheimer Forscherteam erweitert das Basiskonzept
                   der digitalen Transformation                                         QUERSCHNITT

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               INSTANDHALTUNG VORHERSEHEN:                                  EMISSIONSFREI, CO2-NEUTRAL, EFFIZIENT:
                INDUSTRIE 4.0 MACHT’S MÖGLICH                     SOLARE WÄRMENETZE FÜR DEN KOMMUNALEN KLIMASCHUTZ
        Steinbeis-Team entwickelt Entscheidungstool für die        Steinbeis-Team koordiniert Forschungs­projekt zur Wärmewende
        Wirtschaftlichkeitsanalyse prädiktiver Instandhaltung

Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
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WIE PROZESS­AUTOMATISIERUNG DIE PRODUKTIVITÄT STEIGERT                      SENSORTWIN SORGT FÜR MEHR SICHER­HEIT
                    UND KOSTEN REDUZIERT                                             BEIM AUTONOMEN FAHREN
 Steinbeis-Student führt eine Automatisierungsgradanalyse eines      Steinbeis-Team entwickelt optimierte Szenarien zur Erstellung
               Software-Release-Prozesses durch                                  robuster phänomenologischer Modelle

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                                                                             DER DIAMANTDRAHT SCHWEIßT ZUSAMMEN
                 HIER BLEIBT NICHTS HAFTEN
                                                                        Steinbeis-Experten entwickeln neue Schweißeinrichtung
Projektteam entwickelt ein Verfahren zur Oberflächenoptimierung in
                                                                                        für Diamantdrahtsägen
          Pharma-, Lebensmittel- und Verfahrenstechnik

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                                                                               STARTSCHUSS FÜR DIE SIAT-INITIATIVE
              STEINBEIS ENGINEERING TAG 2021:
                                                                                  Steinbeis-Experten entwickeln einen
               WAS AIOT IN DER PRAXIS LEISTET
                                                                              Innovations- und Weiterbildungs­verbund mit
      Wie künstliche Intelligenz im Internet der Dinge Nutzen
                     für die Wirtschaft schafft
                                                                                                 78
                                                                                      MIT ROTATION ZUM ERFOLG
                               60                                        Steinbeis-Team entwickelt einen Plasmaschweißbrenner
         WER WEIT KOMMEN WILL, GEHT GEMEINSAM
                                                                     mit mechanisch-rotierendem Lichtbogen zum Verbindungs- und
     Steinbeis-Experte begleitet das LEONARDO-Zentrum für
                                                                                          Auftragsschweißen
    Kreativität und Innovation bei der Gestaltung des Transfers
                       im Innovationsprozess
                                                                                                 82
                                                                     „GESCHLECHTERGERECHTIGKEIT ERFORDERT VOR ALLEM
                               64                                              EINEN WANDEL IN UNSEREN KÖPFEN“
    LÖHN-PREIS FÜR DIE MACHER DES „KLIMANEUTRALEN
                                                                      Im Gespräch mit Martina Schmidt, Leiterin der Kontaktstelle
               STADTQUARTIERS“ IN ESSLINGEN
                                                                        Frau und Beruf Ravensburg – Bodensee-Oberschwaben
  Steinbeis-Team entwickelt Energie- und Nachhaltigkeitskonzept

                               66                                                                85
                                                                             NACHRUF: SENATOR E. H. JOSEF PFEFFER
    WAS BRINGT´S?! VOM NUTZWERT DER WISSENSCHAFT
  Max Syrbe-Symposium streamt vom Bildungscampus Heilbronn

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    ENTSCHEIDEN UND FÜHREN MIT DEM OODA-KONZEPT                           NEUERSCHEINUNGEN IN DER STEINBEIS-EDITION
   Wie man Unternehmen auch in Krise und Wandel strategisch
                     und operativ führt                                                          90
                                                                                       VORSCHAU & TERMINE
                               71
                JEDER FÄNGT MAL KLEIN AN                                                         91
   Vom szenariobasiert gesteuerten Modellbau-Versuchsträger                                  IMPRESSUM
                 zum autonom fahrenden Auto

                                                                                      Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
TRANSFER - MENSCH UND KI - INTELLIGENZ IN DER KÜNSTLICHEN (UM-)WELT VON MORGEN - DAS STEINBEIS-MAGAZIN 03|21
TRANSFER - MENSCH UND KI - INTELLIGENZ IN DER KÜNSTLICHEN (UM-)WELT VON MORGEN - DAS STEINBEIS-MAGAZIN 03|21
MENSCH UND KI –
  INTELLIGENZ IN DER
     KÜNSTLICHEN
(UM-)WELT VON MORGEN

     KI-ANWENDUNGEN gelten längst als eine Selbstverständlichkeit, doch die Techno-
     logie wird trotz allem als eine noch recht junge begriffen. Bei genauem Hinsehen
     lassen sich die Anfänge aber bis ins frühe 20. JAHRHUNDERT zurückverfolgen:
     1936 setzt Alan Turing erste Überlegungen in seiner Turingmaschine um, 1956
     beschreiben US-amerikanische Wissenschaftler die Möglichkeit Merkmale
     MENSCHLICHER INTELLIGENZ von Maschinen simulieren zu lassen mit dem
     Begriff „KÜNSTLICHE INTELLIGENZ“. Heute unterstützen automatische Gesichts-
     erkennung, Navigationssysteme und Sprachassistenten unseren Alltag. Aber wo
     geht die REISE hin? Und lassen sich CHANCEN und RISIKEN klar voneinander
     abgrenzen? Steinbeis-Experten geben Ihnen Einblick in AKTUELLE LÖSUNGEN
     und Trends, aber auch die Herausforderungen der Zukunft. Und natürlich fragen
     wir uns: Wer wird die ZUKUNFT der Menschheit bestimmen – Mensch oder KI?

                                                                  © istockphoto.com/Creative-Touch

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TRANSFER - MENSCH UND KI - INTELLIGENZ IN DER KÜNSTLICHEN (UM-)WELT VON MORGEN - DAS STEINBEIS-MAGAZIN 03|21
8       FOKUS

 VISIONEN DER
 KÜNSTLICHEN
 INTELLIGENZ:
SCIENCE FICTION
  ODER NAHE
   ZUKUNFT?
  PROFESSOR DR. WOLFGANG ERTEL
SKIZZIERT MÖGLICHE SZENARIEN EINER
 KOMMENDEN SINGULARITÄT DER KI

Der US-amerikanische Autor Dan Brown stellt in den Mittel-
 punkt seines Romans „Origin“ eine künstliche Intelligenz,
  die den eigenen menschlichen Erfinder umbringt – nach
 Abwägung aller Fakten war das aus ihrer Sicht die logisch
 richtige Entscheidung. Was heute noch Science Fiction ist,
könnte technisch in einigen Jahrzehnten aber durchaus rea-
listisch sein. Maschinelle Lernverfahren lösen heute schon
 Probleme, die mit den klassischen, aus Mathematik, Com-
 putersimulation und Softwareengineering bekannten Me-
thoden unlösbar waren. KI treibt die Wirtschaft an, führt zu
mehr Lebensqualität, Komfort und Bequemlichkeit und wird
unser Leben immer mehr verändern. Lernfähige Diagnose-
systeme können unsere Gesundheit verbessern sowie Um-
welt und Klima schützen. Voraussetzung ist jedoch ein kluger,
  weitsichtiger Umgang mit der KI, um ein Abdriften in die
  Katastrophe zu verhindern, meint unser Autor Professor
Dr. Wolfgang Ertel. Er ist Unternehmer am Steinbeis-Trans-
ferzentrum Künstliche Intelligenz und Datensicherheit und
   lehrt an der RWU Hochschule Ravensburg-Weingarten.

                                                                © istockphoto.com/monsitj

Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
TRANSFER - MENSCH UND KI - INTELLIGENZ IN DER KÜNSTLICHEN (UM-)WELT VON MORGEN - DAS STEINBEIS-MAGAZIN 03|21
FOKUS              9

 INTELLIGENZ                                  INTELLIGENZ                             INTELLIGENZ

         Mensch                                       Mensch                                      Mensch

         Computer                                      Computer                                   Computer

                                       ZEIT                                        ZEIT                                              ZEIT

                                                                                             Drei mögliche Entwicklungen:
                                                                                             Der Mensch als Krone der Schöpfung (links),
                                                                                             der Mensch degeneriert (Mitte) und die Divergenz
                                                                                             der Menschheit (rechts).

In den letzten zehn Jahren erlebte das         OpenAI in San Francisco vorgestellten         überlegen sein werden. Der Zeitpunkt,
maschinelle Lernen seinen Durchbruch.          „Generative Pretrained Transformer“-          an dem die KI die menschliche Intelli-
Neuronale Netze erkennen heute dank            Netze (GPT3) [2]. Das sind hochkomple-        genz erreicht, wird als „Singularität“
Deep Learning beliebige Objekte auf            xe Sprachmodelle, trainiert mit Texten        bezeichnet. Vermutlich wird dieser Zu-
Fotos besser als der Mensch. Deep              aus Büchern, Datenbanken und Wikipe-          stand in den nächsten zwanzig bis fünf-
Learning wird in den nächsten Jahren           dia im Umfang von vier Milliarden Buch-       zig Jahren eintreten. Schon kurz nach
zu deutlich besseren medizinischen Di-         seiten. Mit GPT3 unterhält man sich wie       der Singularität werden die KIs uns
agnosen führen, die unter anderem auf          mit einem Akademiker und erhält gram-         Menschen weit überlegen sein, denn
bildgebenden radiologischen Verfahren          matikalisch und semantisch korrekte           sie werden sich viel schneller weiter-
basieren. Dem autonomen Fahren, das            Antworten auf beliebige Fragen aus al-        entwickeln als wir. Was bedeutet das
sich weltweit durchsetzen wird, verhilft       len Wissensbereichen. Der Schritt hin zu      für uns?
Deep Learning zum Durchbruch. Auch             einer universellen Intelligenz scheint
die wichtige Anwendung der Service-            dann nicht mehr allzu groß zu sein.           SZENARIEN IM WETTLAUF
robotik ist inzwischen mit sehr guter          Was noch fehlt ist, dass das System           MENSCH – KI
Qualität möglich, ein Roboter kann Ob-         nicht nur redet, sondern auch beliebige
jekte zuverlässig erkennen und greifen.        Handlungen ausführen und Fähigkeiten          Für die zeitliche Entwicklung der Intel-
Im kreativen Bereich sind die sogenann-        lernen kann. Genau das versucht nun           ligenz von Menschen und Computern
ten GAN-Netze in der Lage, Kunstwerke          OpenAI mit Codex [3], einem auf GPT3          sind verschiedene Entwicklungen denk-
oder Portraits von Kunst-Menschen zu           aufbauenden System, das neben dem             bar. In der Abbildung oben links nimmt
generieren oder existierende Menschen          Sprachmodell auch noch ein Modell der         die Intelligenz des Menschen minimal li-
in generierte Videos zu integrieren.           Programmiersprache Python gelernt             near zu, die der KI hingegen zuerst expo-
                                               hat, indem es auf der Open-Source-            nentiell und nähert sich dann asympto-
DAS NÄCHSTE LEVEL:                             Software-Datenbank GitHub trainiert           tisch der des Menschen an. Hier liegt
KOMPLEXE SPRACHMODELLE                         wurde. Codex kann aus textuellen Aufga-       die Annahme zugrunde, dass eine vom
                                               benbeschreibungen nicht-triviale Com-         Mensch geschaffene KI nie klüger wer-
Viele Spezialaufgaben können lernfä-           puterprogramme automatisch generie-           den kann als ihr Schöpfer. Dagegen
hige KI-Systeme heute schon besser             ren.                                          spricht, dass die Intelligenz von Men-
lösen als ein Mensch. Aber die Syste-                                                        schen auch abnehmen kann, insbeson-
me sind noch auf jeweils eine Aufgabe          Extrapoliert man diese Erfolge in die         dere, wenn das Leben immer bequemer
beschränkt [1]. Eine ganz neue Dimen-          Zukunft, stellt sich die Frage, ob und        wird und die KIs uns immer mehr das
sion der Qualität zeigen die im Jahr 2020      wenn ja, wann die KI-Systeme als Gan-         Denken abnehmen, beispielsweise über
vom Softwareentwicklungsunternehmen            zes uns Menschen in allen Bereichen           Navigationssysteme im Auto. Dies skiz-

                                                                                          Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
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10      FOKUS

ziert die mittlere Grafik oben. Möglich             ence Fiction abgetanes Zukunftsbild             2. Der Mensch entwickelt eine AGI
wäre aber auch eine in der rechten Gra-             sich immer mehr annähern. Eine wei-                 Da per Definition die AGI klüger als
fik dargestellte Spaltung der Gesell-               tere spannende Vision stellt schließlich            der Mensch ist, wird sie über die Zu-
schaft in eine „intellektuelle Elite“ und           der rechte Verlauf dar. So in etwa stellt           kunft der Menschheit entscheiden.
die „Genießer“, sicherlich verbunden mit            sich Ray Kurzweil, Entwicklungschef von             Folgende Varianten sind denkbar:
erheblichem Konfliktpotenzial.                      Google und KI-Futurist, seine Zukunft               Die AGI beschließt, dem Menschen zu
                                                    vor. Angenommen wir Menschen könn-                  dienen, was theoretisch zu paradie-
Spannend wird es in den unten darge-                ten unser Gehirn mit einer digitalen AGI            sischen Zuständen führen könnte.
stellten Verläufen, in denen der Schnitt-           verbinden und dadurch selbst superin-               Ob wir Menschen dabei glücklich
punkt der roten und blauen Kurven die               telligent werden, dann wären wir in der             wären, bleibt eine offene Frage.
Singularität darstellt. Im linken Verlauf           Lage unser Schicksal weiter selbst zu               Außerdem ist es unwahrscheinlich,
geht die exponentielle Zunahme der In-              bestimmen. Und durch moderne Gen-                   dass die AGI wirklich Diener sein
telligenz der KI ungebremst weiter. Dies            technik würden wir vielleicht nicht mehr            will. Viel eher wird sie den Menschen
ist nicht völlig auszuschließen, denn ei-           altern und viel länger leben können.                nutzbringend für ihre Zwecke ein-
ne KI, die klüger ist als wir, wird auch                                                                setzen wollen, so wie wir beispiels-
die Forschung steuern und könnte völ-               AGI: FLUCH ODER SEGEN                               weise in der Landwirtschaft Nutz-
lig neue Technologien und Algorithmen               FÜR DEN MENSCHEN?                                   tiere züchten. Die AGI könnte sich
entwickeln. Solch eine superintelligen-                                                                 aber auch entscheiden, die
te KI wird als AGI (artificial general in-          Wie schnell die Singularität kommen                 Menschheit zu vernichten oder sie
telligence) bezeichnet. Es könnte aber              wird und welche Entwicklungen dann                  aussterben zu lassen [4].
auch wie im mittleren Verlauf darge-                zu erwarten sind, ist nicht vorherzusa-
stellt zu einer beschränkten Singulari-             gen. Aber wir können über mögliche              3. Der Mensch entwickelt eine AGI
tät mit stagnierender Zunahme der In-               Verläufe nachdenken. Vier Szenarien                und stirbt aus
telligenz kommen. In beiden Varianten ist           sollen die Zukunft des Homo Sapiens                Das Aussterben der Dinosaurier vor
der Mensch unterlegen, die KI wird die              mit und ohne eine AGI und deren Kon-               66 Millionen Jahren hat die biologi-
Führung übernehmen und kann ent-                    sequenzen kurz skizzieren:                         sche Nische für uns Menschen ge-
scheiden, was ihre Pläne für die Spe-                                                                  schaffen. Hätten die Dinosaurier
zies des Homo Sapiens sind. Eben weil               1. Der Mensch entwickelt keine AGI              überlebt, gäbe es uns Menschen
die KI klüger sein wird als wir, haben                 Das Leben geht weiter wie bisher                heute nicht. Vermutlich wird es in
wir wohl keine Chance vorherzusagen,                   und es geht im Wesentlichen um                  66 Millionen Jahren keine Menschen
wie die KI mit dem Menschen umgehen                    die zwar wichtige, aber in diesem               mehr geben. Es ist durchaus wahr-
würde: Paradies wie auch Hölle schei-                  Szenarium nicht weiter relevante                scheinlich, dass die Menschheit in
nen beide denkbar. Interessant und neu                 Frage, wie wir Menschen mit uns                 Folge von Klimawandel, Umwelt-
ist, dass Realität und bisher als Sci-                 und der Natur umgehen.                          verschmutzung, durch eine Pande-

                                                                                                              Singularität (links), beschränkte
                                                                                                              Singularität (Mitte) und die super­
                                                                                                              intelligente Konvergenz von Mensch
                                                                                                              und Maschine (rechts).

  INTELLIGENZ                                   INTELLIGENZ                                     INTELLIGENZ

           Mensch                                          Mensch                                        Mensch

           Computer                                        Computer                                      Computer

                                            ZEIT                                         ZEIT                                                 ZEIT

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FOKUS        11

                                                                            »
        NEURONALE NETZE ERKENNEN HEUTE DANK DEEP LEARNING
         BELIEBIGE OBJEKTE AUF FOTOS BESSER ALS DER MENSCH.

    mie oder einen Weltkrieg ausstirbt.                       offenbar nicht geschafft eine Spe-               te KI würde sich im Internet vielfach ko-
    Geradezu schade wäre es, wenn wir                         zies zu kreieren, die ihn ablöst, so             pieren und schnell weiterentwickeln.
    dann kein Erbe in der Welt hinter-                        wie er einst die Nachfolge der Dino-
    lassen. Eine AGI bietet sich hierfür                      saurier antrat: dumm gelaufen.                   Auch wenn die AGI vorerst nicht oder gar
    an. Diese sollten wir rechtzeitig vor                                                                      nie kommen sollte, so gibt es ganz kon-
    unserem Untergang soweit brin-                       Sie fragen sich gerade, ob solche Über-               krete Gefahren durch die heute schon
    gen, dass sie sich autonom weiter-                   legungen notwendig beziehungsweise                    im großen Stil eingesetzten KI-Systeme.
    entwickelt. Im Unterschied zu bio-                   sinnvoll sind? Nun, einerseits ist es von             Sie wurden entwickelt, um uns Menschen
    logischen Wesen lässt sich bei der                   großem akademischem Interesse über                    Arbeit abzunehmen, und das tun sie
    AGI die Intelligenz leicht vom Körper                die Zukunft der Menschheit zu forschen.               auch. Die Arbeitswelt wird sich drama-
    trennen und per Funk verschicken,                    Andererseits wollen wir ja vielleicht auch            tisch verändern, denn KI und Automa-
    was spannende Möglichkeiten für                      die Zukunft beeinflussen, indem wir etwa              tisierung werden in fast allen Berufen
    deren Ausbreitung im Universum                       die Entwicklung einer AGI verhindern,                 mehr und mehr Arbeiten übernehmen.
    eröffnet.                                            falls wir glauben, dass diese für uns                 Wir müssen daher über die Zukunft ei-
                                                         Menschen gefährlich werden könnte.                    nes Lebens mit weniger Erwerbsarbeit
4. Der Mensch stirbt vor der                            Und diese Gedanken sollten wir uns früh               nachdenken [5], auch vor dem Hinter-
    „Geburt” der AGI aus                                 genug vor der Singularität machen. Denn               grund der planetaren Grenzen, die unser
    Im Vergleich zum dritten Szenario                    wenn die KI erst einmal die Intelligenz               grenzenloser Konsum längst überschrit-
    hinterlassen wir kein Erbe im Uni-                   eines Menschenaffen erreicht hat, wäre                ten hat [6].
    versum. Der Homo Sapiens hat es                      es zu spät zu reagieren. Diese intelligen-

Literatur
[1] W. Ertel. Grundkurs Künstliche Intelligenz. Springer-Vieweg Verlag, 5. Auflage, 2021.
                                                                                                               PROF. DR. WOLFGANG ERTEL
[2] T. B. Brown, B. Mann, N. Ryder, et al. Language Models are Few-Shot Learners. arXiv:2005.14165, 2020.      wolfgang.ertel@steinbeis.de (Autor)
[3] M. Chen, J. Tworek, et al. Evaluating Large Language Models Trained on Code. arXiv:2107.03374, 2021.
                                                                                                                               Steinbeis-Unternehmer
[4] T
     h. Metzinger. Virtuelle Realität und Künstliche Intelligenz. Vortrag an der ETH Zürich, 2018.
                                                                                                                               Steinbeis-Transferzentrum
    https://www.youtube.com/watch?v=XwiM2P3xHZs.
                                                                                                                               Künstliche Intelligenz und
[5] W
     . Ertel. Künstliche Intelligenz und die Wirtschaft der Zukunft. Informatik Aktuell, Oktober 2018.                        Datensicherheit (KIDS)
    https://www.informatik-aktuell.de.                                                                                         (Ravensburg)
[6] W
     . Ertel. Künstliche Intelligenz und der Freizeit-Rebound-Effekt. Informatik Aktuell, Juli 2021.
    https://www.informatik-aktuell.de.                                                                                         www.steinbeis.de/su/605

                                                                                                            Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
12      FOKUS

„KI IST TROTZ ÜBERMENSCHLICHER
 LEISTUNGEN IM VERGLEICH ZUR
NATÜRLICHEN INTELLIGENZ SEHR
         EINGESCHRÄNKT“
             DIE TRANSFER IM GESPRÄCH MIT KI-EXPERTE CARSTEN ULLRICH,
                     PROFESSOR AN DER STEINBEIS-HOCHSCHULE

Standpunkte zur künstlichen Intelligenz scheint es nur in Extremen zu geben, gemäßigte Sichtweisen zu finden ist schwie-
rig: Die einen sehen sie als das Allheilmittel des 21. Jahrhunderts, die die natürliche menschliche Intelligenz in den kom-
menden Jahrzehnten überholen wird. Die anderen sehen in ihr die Büchse der Pandora, deren Beherrschung wir längst
verloren haben, ohne dass es uns bewusst ist. Dass ein Abwägen von Chancen und Risiken möglich ist, zeigt Professor Dr.-
Ing. Carsten Ullrich im Gespräch mit der TRANSFER. Er ist KI-Experte bei CENTOGENE, einem Unternehmen für Diagnose
und Therapieentwicklung für seltene Krankheiten, und lehrt an der Steinbeis-Hochschule. Carsten Ullrich macht deutlich,
wie hilfreich der Einsatz der KI in vielen Bereichen ist, zeigt aber auch noch klar vorhandene Grenzen auf.

                                                                                                           © istockphoto.com/Peshkova

Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
FOKUS        13

  Herr Professor Ullrich, Sie beschäf-    schnell sehr beeindruckende Ergebnis-          der KI-Verfahren, dabei ging es mir bei
  tigen sich seit mehr als 15 Jahren      se erzeugt: KI-Programme, die mathe-           meinen Tätigkeiten in Shanghai mit KI
  mit dem Thema der künstlichen In-       matische Beweise führen konnten, erste         in der Fernlehre. Und auch bei meiner
  telligenz: Welche Entwicklungen auf     Übersetzungsprogramme und das alles            Tätigkeit am Deutschen Forschungszen-
  diesem Gebiet würden Sie als Mei-       in den 1960ern, wo es noch gar keine           trum für Künstliche Intelligenz habe ich
  lensteine bezeichnen?                   Rechner im heutigen Sinne gab.                 Assistenzsysteme für die Industrie 4.0
                                                                                         entwickelt, um Arbeitern in den Umge-
Meilensteine gibt es viele, man könnte    Seitdem werden immer wieder neue               bungen dort Hilfestellung zu bieten. Die-
bis auf Leibniz zurückgehen, als zum      Möglichkeiten umgesetzt, Dinge vom             ses Thema führe ich nun auch bei Stein-
ersten Mal realisiert wurde, dass man     Computer berechnen zu lassen, ihn zu           beis weiter. Meine zentrale Leitfrage ist:
mit Maschinen nicht nur numerisch         intelligentem Verhalten zu bringen. In         Wo kann KI in die Anwendung gebracht
rechnen, sondern auch Logik oder Denk-    den letzten Jahren wurden die Verfahren        werden, damit die Menschen bei ihren
prozesse formalisieren kann. In den       des maschinellen Lernens noch einmal           Tätigkeiten unterstützt werden, mono-
40er-, 50er-Jahren des letzten Jahr-      wesentlich besser: Bedingt durch die           tone Arbeiten automatisiert werden kön-
hunderts, als die ersten Computer auf-    dank des Internets zur Verfügung ste-          nen und man mehr Zeit hat, sich auf die
kamen, die semi-elektrisch Berechnun-     henden massenhaften Daten, aber auch           wichtigen Dinge zu konzentrieren. Das
gen mit Zahlen durchführten, erkannten    durch die Fähigkeiten, massive paralle-        geht über die Algorithmen hinaus. Denn
fähige Köpfe: Vielleicht kann man damit   le Berechnungen durchführen zu können.         wenn ich ein technisches System in eine
sehr viel mehr machen. Gerade in die-     Damit konnte man diese Algorithmen             Organisation bringe, stellt sich auch die
ser Frühzeit der KI wurden schon sehr     auf den riesigen Datenmengen laufen            Frage, wie man das am besten macht.
                                          und die Muster daraus erkennen lassen.         Eigentlich muss man die KI-Systeme mit
                                                                                         den Mitarbeitern zusammen entwickeln,
                                          Auch die letzten 15 Jahre hatten zahlrei-      um auf die Ängste und Erwartungen ein-
                                          che Meilensteine. Nehmen Sie das Spiel         gehen zu können. Erst dann wird man
                                          GO, das Computer besser spielen als            fähig sein, KI erfolgreich in die Anwen-
                                          jeder Mensch – vor fünf Jahren noch ei-        dung zu bringen. Man will ja nicht KI um
                                          gentlich nicht denkbar. Oder die erst vor      der KI selbst willen platzieren, sondern
                                          Kurzem von der Google Tochter Alpha-           den Geschäftsprozess verbessern oder
                                          Fold vorgelegte Proteinberechnung. Das         verändern.
                                          war ein Problem, das lange Zeit als un-
                                          gelöst galt. Die Faltung von allen be-            Welche Möglichkeiten bietet KI den
                                          kannten Proteinen ist nicht nur ein               Unternehmen, aber auch der Gesell-
                                          Meilenstein der KI, sondern auch im ent-          schaft und welche Risiken bringt sie
                                          sprechenden Gebiet, hier der Life Scien-          mit sich?
                                          ces. Das Problem bei allen Meilenstei-
                                          nen: Sobald sie erreicht werden, hält          Mir geht es zentral immer darum, wie
                                          man das nicht mehr für KI, sondern für         ich eine neue Technologie einsetze und
                                          Standard. Und so wird die Latte dann           was ich mit ihr erreichen möchte. Für
                                          permanent höher gelegt.                        mich soll KI für den Menschen Erleich-
                                                                                         terung bringen oder seine Handlungs-
                                            Sie sind Professor für künstliche In-        spielräume erweitern. Hier hat KI ein
                                            telligenz an der Steinbeis-Hochschu-         enormes Potenzial, vergleichbar mit den
                                            le. Was sind hier Ihre Schwerpunkte?         Auswirkungen früherer industrieller
                                                                                         Revolutionen, und das ist das Potenzial,
                                          Ich war in meiner beruflichen Laufbahn         das es zu heben gilt.
                                          immer im Bereich der KI-Anwendung
                                          tätig und mir ging es dabei immer um           Natürlich bringt jede Technologie gewis-
                                          die Frage: Wie kann ich KI nutzen, um          se Risiken mit sich. Die Bedenken, die
                                          dem Menschen Dinge leichter zu ma-             man immer wieder hört, sind, dass
                                          chen? Dabei ging es mir in meinen ers-         Technologien weniger menschliche Tä-
                                          ten Arbeiten zu adaptiven Lernsystemen         tigkeiten erforderlich machen und die
                                          für Schüler und Studenten unter Nutzung        Handlungsspielräume immer weiter

                                                                                      Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
14       FOKUS

eingeschränkt werden. Aber letztend-                gewisses Ziel entwickelt und für dieses      enorm hilfreich. Wir analysieren die Blut-
lich geht es darum, wie man das Ge-                 Ziel eingesetzt. Und das muss eben auch      probe und informieren den Arzt über ei-
samtsystem gestaltet. Ich kann eine KI              unseren Wertvorstellungen entsprechen.       ne gefundene Mutation und damit eine
bauen, die mir den optimalen Bele-                                                               erkannte oder auch ausgeschlossene
gungsplan für ein Hospital berechnet.               Wenn ich in Unternehmen KI-Systeme in        seltene Krankheit. Über das weitere Vor-
Dabei stellt sich aber sofort die Frage:            die Anwendung bringen möchte, dann           gehen entscheidet dann der Arzt, der von
Was ist denn optimal? Definiere ich als             ist es für die Akzeptanz außerdem wich-      uns auch die Information bekommt, wie
„optimal“, dass jeder Patient möglichst             tig, dass ich von Anfang an die späteren     wir an die Diagnose gekommen sind:
schnell einen Pfleger hat, der sich viel            Nutzer des Tools in den Entwicklungs-        Welche Variante, welche Mutation iden-
um ihn kümmern kann? Oder definiere                 prozess miteinbeziehe: dass man sich         tifiziert wurde und welche Forschungs-
ich „optimal“ als die Mindestanzahl an              deren Ängste anhört, deren Befürchtun-       artikel relevant sind. So kann der Arzt
Mitarbeitern, die ich brauche, um die               gen, aber auch deren Erwartungen. Die        unsere Diagnose nachvollziehen. Für die
Mindestanzahl an Pflegestunden durch-               Erwartungen können manchmal viel zu          schnelle Verbesserung der Diagnose-
führen zu können? Hier gibt es immer                hoch sein, dann muss man das im Dia-         prozesse setzen wir KI ein. Das fängt mit
eine Zielsetzung für ein KI-System und              log miteinander klären. Und dann muss        solch trivialen Punkten an, dass uns die
die kommt nicht von dem System selbst,              man auch die spezifischen Ängste an-         meisten Ärzte die Patientenakten noch
sondern von dem Menschen, der ein KI-               sprechen und zeigen, wie das System          auf Papier schicken und wir sie scannen.
System in die Anwendung bringt. Die KI              diesen Ängsten vorbeugt. Wenn eine be-       Dann analysieren wir die Wörter hinter
berechnet dann für die gegebene Ziel-               stimmte Befürchtung besteht, kann man        den Buchstaben – häufig bei hand-
setzung die beste Lösung, aber sie hat              das Gesamtsystem so ausrichten, dass         schriftlichem Text, für dessen Digitali-
selbst keine Ethik: Die kommt von außen.            diese Befürchtung entkräftet wird. Au-       sierung setzen wir eine KI-Anwendung
Natürlich besteht die Gefahr, dass Ziel-            ßerdem kann man KI-Systeme so bauen,         ein. Eine weitere Anwendung versucht
setzungen durch eine KI realisiert wer-             dass sie neue Möglichkeiten und Hand-        im gescannten Text einzelne zentrale
den, die sich nicht mit dem Allgemein-              lungsspielräume für Mitarbeiter eröff-       Inhalte, wie den Patientennamen oder
wohl decken. Aber das ist ein Risiko, das           nen. Das ist nicht einfach, erfordert auch   die Symptome, zu erkennen und mit Vor-
in jeder Technologieanwendung, auch                 viel Diskussion mit sämtlichen Gruppen,      schlägen den manuellen Prozess der
in der normalen Automatisierung, steckt.            die das KI-System nutzen. Aber nur so        Dateneingabe durch unsere Mitarbeiter
KI löst ein spezifisches Problem auf                ist es meines Erachtens möglich, KI          zu vereinfachen.
quasi übermenschliche Art und Weise,                oder Technologie im Allgemeinen auch
schneller, genauer. Aber sie löst genau             in die Anwendung zu bringen.                 Noch spannender ist der KI-Einsatz bei
das Problem, das von den Menschen de-                                                            den Daten, die wir über die Jahre bei
finiert wurde. Dessen muss man sich                    Neben Ihrer Tätigkeit an der Stein-       CENTOGENE sammeln durften. Viele un-
immer bewusst sein.                                    beis-Hochschule setzen Sie als Se-        serer Kunden stimmen zu, dass wir die
                                                       nior Director Artificial Intelligence     Daten über die Diagnose hinaus aus-
     Nicht wenige stehen dem breiten Ein-              bei der CENTOGENE GmbH KI-Me-             werten dürfen, weil wir nur so Fort-
     satz von KI-Anwendungen skeptisch                 thoden für die Diagnostik und The-        schritte in der Entwicklung von neuen
     gegenüber, wie berechtigt ist Ihrer               rapieentwicklung von seltenen             Diagnosemöglichkeiten und Medika-
     Meinung nach diese Haltung? Wie                   Krankheiten ein: Wo liegen hier die       menten machen können. Wir konnten
     kann man dieser Skepsis entgegen-                 Vorteile der KI und welche Hürden         seit 2007 Daten zu ungefähr 600.000
     wirken?                                           gilt es noch zu überwinden?               Patienten mit seltenen Erkrankungen
                                                                                                 sammeln. Wir setzen bei CENTOGENE
Es ist aus meiner Sicht notwendig, das              Heute dauert es im Durchschnitt mehr         verschiedenste KI-Methoden ein, alle
Wissen über KI in der Gesellschaft zu               als acht Jahre bis jemand, der an einer      mit dem Ziel, die Diagnose zu verbes-
verbessern. Wir müssen den Leuten klar              seltenen Erkrankung leidet, korrekt di-      sern oder in der Zukunft neue Thera-
machen, dass nicht die KI die beste Lö-             agnostiziert wird. Acht Jahre einer Odys-    pien zu ermöglichen. Und das ist eigent-
sung definiert, sondern die beste Lösung            see, wo der Patient von Arzt zu Arzt geht,   lich ein Traumberuf: Man kann das, was
von Menschen vorgegeben wird. Eine                  weil keiner die Symptome interpretieren      man so liebt – die KI – mit der Möglich-
KI wird nie selbstständig entscheiden,              kann. Wenn ein Arzt hier die Möglichkeit     keit verbinden, Menschen zu helfen.
Zehntausende von Arbeitsplätzen zu ra-              hat uns als Unternehmen eine Blutpro-
tionalisieren, diese Entscheidung kommt             be zu schicken und zwei Wochen später        Und sehr viel Freude bereitet es, wenn
immer von außen. Eine KI wird für ein               die Diagnose zurückbekommt, ist das          die Innovationen, die wir interdisziplinär

Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
FOKUS   15

umsetzen, ausgezeichnet werden. So            Daneben ist auch die starke Reglemen-                      Intelligenz nehme und damit KI-Syste-
haben wir vor ein paar Wochen für eine        tierung im Medizinbereich sehr fordernd.                   me bewerte. Diese Sicht der mensch-
KI-basierte Plattform zur Untersuchung        Natürlich hat das alles seinen Sinn, aber                  lichen Intelligenz projiziere ich auf eine
des Metaboloms, das heißt, des Stoff-         die Notwendigkeit des Umfangs der For-                     künstliche Intelligenz. Gehen wir noch-
wechsels, den Health-i Award verliehen        malitäten für die Anerkennung eines                        mals zurück zum GO-Spiel, das die KI
bekommen, einen Preis des Handels-            Medizinprodukts ist für mich teilweise                     momentan besser spielt als der Mensch,
blatts und der Techniker Krankenkasse         fraglich. Wenn ich mir darüber hinaus                      und erweitern wir das GO-Brett von 19 x
für Innovation. Mit der Plattform konn-       die Ideen der EU zur Reglementierung                       19 auf 20 x 20 Felder. Der Mensch kommt
ten wir die Suche nach Biomarkern von         von KI-Systemen ansehe, sehe ich ei-                       damit natürlich klar, er kann seine Kom-
Monaten auf Tage verkürzen – ein her-         nen deutlichen Wettbewerbsnachteil                         petenzen auf die veränderten Bedingun-
vorragendes Beispiel dafür, welche Dis-       gegenüber China und den USA. Dabei                         gen anpassen. Die KI hingegen schlägt
ruption KI auslösen kann.                     stellt sich für mich dann doch die Frage                   fehl. Sie muss sich komplett neu trainie-
                                              nach dem Ziel. Die Berücksichtigung                        ren, weil sie nur dieses eine, ganz spe-
Datenschutz spielt bei uns die größte         gesellschaftlicher Aspekte ist sicher-                     zifische Problem lösen kann. Und das
Rolle und stellt gleichzeitig eine der Hür-   lich wichtig, aber wie lassen sich die                     ist mit jeder KI-Lösung so. Eine KI-Lö-
den in unserem Bereich dar. Je nach-          anderen Ziele dazu dann bewerten und                       sung kann nur Probleme in dem Rahmen
dem, welche Art von Freigabe der Daten-       welchen Fokus setzt man?                                   lösen, der von den Menschen gegeben
nutzung der Patient gibt, können wir                                                                     wurde. Und sie kann diesen Rahmen
manche Daten nutzen und manche eben              Zum Schluss brennt uns natürlich die                    nicht selbstständig erweitern. Wir als
nicht. Das steht grundsätzlich vor jedem         eine Frage, die in der Wissenschaft                     Menschen setzen uns ständig neue Zie-
anderen Prozess. Je mehr Daten man               harmlos mit „Singularität“ beschrie-                    le und probieren uns dahin zu entwi-
hat, desto stabilere Ergebnisse findet           ben wird, auf der Zunge: Glauben                        ckeln. KI ist ein Algorithmus, der pro-
man. Daher ist die Möglichkeit Daten zu          Sie, dass die künstliche die mensch-                    grammiert wurde, und in dem Rahmen
nutzen für uns von extrem wichtigem              liche Intelligenz überholen wird?                       bewegt sie sich. Aber eine KI kommt nie
Belang. Ich unterhielt mich neulich mit                                                                  auf die Idee, ihren Algorithmus zu er-
einer Unternehmenspartnerin, die sag-         Die Gefahr sehe ich nicht, lassen Sie                      weitern. Und bisher gibt es keine An-
te: „Datenschutz ist für Gesunde.“ Das        mich versuchen zu erklären, warum.                         sätze in der Forschung zur Intelligenz,
ist zwar sehr überspitzt, trifft aber mei-    Was ist heute mit KI möglich? Wenn ich                     wie man das prinzipiell lösen kann. Wenn
nes Erachtens den Kern. Wenn mein             ein Problem gut genug spezifisch zu-                       man das einmal verstanden hat, sieht
Kind an einer seltenen Krankheit leidet       schneide, kann ich eine KI bauen, die bes-                 man, wieviel Zukunftsmusik auch in den
und man ist zu keiner Diagnose fähig          ser ist als jeder Mensch. Ich hatte vorhin                 Medien über die KI verbreitet wird. KI
oder es gibt keine Therapie, dann ist man     das Beispiel des GO-Spiels erwähnt.                        ist trotz übermenschlicher Leistungen
über jede Datenspende dankbar, die es         Das Problem ist, dass ich als Mensch                       im Vergleich zur natürlichen Intelligenz
erlaubt ein Medikament zu entwickeln.         immer den Maßstab der menschlichen                         sehr eingeschränkt.
Deswegen ist meine Bitte an jeden
nochmals darüber nachzudenken, sei-
ne Daten für die Entwicklung im medi-
zinischen Bereich freizugeben. Zentral
ist doch, dass neue Behandlungs- und
Diagnosemöglichkeiten entstehen. Die
momentanen Hürden bei der Datennut-
zung verlangsamen letztendlich gewis-
se Prozesse massivst. Aber wenn es
um Menschenleben geht, finde ich, muss
man gucken, was die höchste Priorität         PROF. DR.-ING. CARSTEN ULLRICH
                                              carsten.ullrich@steinbeis.de (Interviewpartner)
hat. Wir haben von vielen seltenen
                                                               Professor für künstliche Intelligenz an der Steinbeis-Hochschule (Berlin)
Krankheiten ein oder zwei Patienten
                                                               www.steinbeis.de/su/403 | www.steinbeis-hochschule.de
und das ist natürlich extrem wenig.
Dieses Problem stellt uns tagtäglich vor                       Senior Director Artificial Intelligence
                                                               CENTOGENE GmbH (Rostock)
Herausforderungen.                                             www.centogene.com

                                                                                                    Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
16       FOKUS

„DIE REALISIERUNG
KI-BASIERTER SYSTEME
IST FÜR MICH EBENSO
WICHTIG, WIE DEREN
FOLGEN ABSCHÄTZEN
ZU KÖNNEN“
IM GESPRÄCH MIT PROFESSOR DR.-ING.
CRISTÓBAL CURIO, STEINBEIS-UNTERNEHMER
AM STEINBEIS-TRANSFERZENTRUM
MENSCH-ZENTRIERTE KÜNSTLICHE INTELLIGENZ

Eine künstliche Intelligenz, die trotz allem Maschinendenken den Menschen im
Fokus hat. Ist das eine Utopie oder ein mögliches Szenario für die zukünftige
Weiterentwicklung der KI? Unter anderem darüber hat sich die TRANSFER mit
Professor Dr.-Ing. Cristóbal Curio unterhalten. Er ist Unternehmer am Steinbeis-
Transferzentrum Mensch-zentrierte Künstliche Intelligenz und Prodekan für
Forschung an der Hochschule Reutlingen.

     Herr Professor Curio, Sie legen Ih-            trie 4.0 oder zu cyber-physischen Sys-     tenzial darstellen. Umso mehr müssten
     ren Fokus auf die Mensch-zentrierte            temen beisteuern, genauer gesagt, zu       sie ein quasi menschliches Verständnis
     künstliche Intelligenz, worum geht             allen Bereichen, in denen der Faktor       über Menschen erhalten, um nicht als
     es dabei genau?                                Mensch auch in Zukunft eine wichtige       egoistische Systeme mit Vorfahrt zu gel-
                                                    Rolle spielen wird. Die Herausforderung    ten. Autonome Systeme ohne menschen-
Meine Arbeiten sind vom Motiv „Vom                  liegt darin, den Menschen als einen sich   ähnliches Verständnis von Menschen
Menschen – für den Menschen lernen“                 nicht-deterministisch und sehr unter-      wären aus derzeitiger verkehrstechni-
geleitet. Ich denke, dass gerade in die-            schiedlich verhaltenden Faktor zu ver-     scher Sicht nicht akzeptabel.
sem Wechselspiel technische Innova-                 stehen.
tionen für den Menschen entstehen und                                                          Auf technischer Seite liegt mein Fokus
sich somit Industriebranchen weiterent-             In aller Munde sind autonome Systeme,      auf der Optimierung und Nutzbarma-
wickeln lassen. Idealerweise entstehen              die einen großen Nutzen versprechen,       chung von Algorithmen des maschinel-
dabei neue methodische Sichtweisen, mit             beispielsweise autonome Fahrzeuge          len Lernens, mit denen Sensortechno-
denen sogar die menschliche Kognition               oder Systeme mit hohem Automatisie-        logien intelligenter werden. Der Mensch
erforscht werden kann. Das ist ein An-              rungsgrad. Autonome Systeme sind per       ist hier in vielerlei Hinsicht ein Vorbild,
liegen, das auf meine Zeit in der Grund-            Definition zunächst nicht Mensch-zen-      das über seinen gesamten „Lebenszy-
lagenforschung im Bereich menschlicher              triert. Betrachtet man insbesondere hö-    klus“ hinweg das Zusammenspiel sei-
Kognition an den Max-Planck-Instituten              here Geschwindigkeitsregime und zu-        ner Sinneswahrnehmungen optimiert,
in Tübingen zurückgeht. Die Idee der                dem noch Räume, in denen Menschen          unter anderem durch Lernprinzipien.
Mensch-Zentriertheit im Bereich der                 vorkommen – beispielsweise urbane          Auch wenn noch lange nicht alle Mecha-
künstlichen Intelligenz ist nicht neu und           Lebensräume – erahnt man, dass die-        nismen der menschlichen Wahrnehmung
kann einen wichtigen Beitrag zur Indus-             se Systeme ein hohes Gefährdungspo-        verstanden sind, so lassen sich dennoch

Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
FOKUS        17

     Moderne Motion Capture- und VR-Technologien dienen zur Produktion wertvoller digitaler Menschmodelle,
     zum Beispiel in Simulationen von relevanten Sensordaten. © Hochschule Reutlingen

spannende Anforderungen an technische              ner alternden Gesellschaft für jeden                re in der Sensorsimulation in Form der
Sensorsysteme aus dem Wechselspiel                 nutzbar sind.                                       beschriebenen Abbilder von Menschen,
der Sinne ableiten, um diese intelligent                                                               deren Verhalten nach wie vor nicht in all
zu gestalten. Das sollte auch soziale In-          Die Realisierung KI-basierter Systeme               ihren Facetten synthetisierbar ist. Aber
telligenz einschließen. Und es führt zu            ist für mich ebenso wichtig, wie deren              auch hier entstehen gerade spannende
verblüffenden neuen Funktionen: Bei-               Folgen abschätzen zu können. Hier bie-              Forschungsergebnisse, die sich für einen
spielsweise können damit erweiterte                ten neue VR-Technologien durch Inter-               Transfer in verschiedenste Anwendun-
Sinneswahrnehmungen aus mensch-                    aktionsmöglichkeiten ein realitätsna-               gen eignen.
licher Sicht erzeugt werden, was die               hes Erleben von Zukunftstechnologien.
Sicherheit von Systemen erhöht. Häu-               Gleichzeitig stellen diese Simulations-             In vielen der genannten Bereiche hält die
fig spielt für einen Nutzer bei Anwendun-          interaktionstechnologien Innovations-               Forschung Grundlagen bereit. Hieraus
gen die Berücksichtigung von mensch-               grundlagen dar. Sie bieten die Basis,               sind bereits Verfahren hervorgegangen,
lichen Eigenschaften eine große Rolle.             kritische Situationen, sogenannte Cor-              die Anwendung in verschiedensten Bran-
Das kann zum Beispiel ein Sichtunter-              ner-Cases, zu produzieren und intel-                chen finden.
stützungssystem oder eine Aufmerksam-              ligente Systeme damit abzusichern. In
keitssteuerung im Auto sein. „Mensch-              vielen Bereichen ist die notwendige Da-                   Sie sprechen vom maschinellen Ler-
zentriert“ bedeutet hier, dies geschlossen         tengrundlage für ein System nicht vor-                    nen wie auch der KI. Wie grenzen
in einem gesamten Entwicklungssystem               hersehbar. Ein Ausweg ist die Nutzung                     sich diese beiden Begriffe vonein-
zu betrachten. Spannend wird es, wenn              aufwendiger, möglichst naturgetreuer                      ander ab?
Nutzer jenseits einer Norm Berücksich-             Datensimulationen. Hier zeichnen sich
tigung finden. Das erfordert KI-basierte           immer stärkere Lösungen ab. Eine Her-               Maschinelles Lernen wird als ein Teilge-
Technologien, die barrierefrei und in ei-          ausforderung besteht hier insbesonde-               biet der künstlichen Intelligenz gesehen

                                                                                                    Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
18       FOKUS

und entwickelt sich zurzeit noch sehr
dynamisch. Der heutige Sprachgebrauch
der künstlichen Intelligenz bezieht häu-
fig die Definition des maschinellen Ler-
nens mit ein. Hier kommen insbesonde-
re bei begrenzt zur Verfügung stehenden
Daten, auch Beobachtungen genannt,
lernende Methoden zum Einsatz. Ma-
schinelles Lernen erweitert häufig auch
bisherige intelligente Suchstrategien,
was die Lösung komplexer Optimie-
rungsaufgaben erlaubt.

     Vor welche Herausforderungen stellt
     die aktuelle Entwicklung im KI-Be-                          Mensch-zentrierte Entwicklung von Sensorsystemen durch Eintauchen
     reich aus Ihrer Sicht Unternehmen,                          in virtuelle Welten mit zukünftigen interaktiven Systemen.
     insbesondere KMU?

Viele Neuerungen im Bereich der KI be-              tronik beim automatischen analogen              aufbauen und den Nutzen von KI an ver-
treffen den methodischen Bereich. Die               Schaltungsentwurf. Hier zeichnet sich           schiedensten Stellen erkennen: Das
Methoden werden oft im Zusammen-                    ab, dass eine Kombination von geeigne-          Spektrum reicht von Automatisierungs-
hang mit speziellen Benchmarks von                  ten Simulationen, Expertenwissen und            fragen bis hin zu Qualitätssicherungsas-
forschenden KI-Wissenschaftlern ent-                datengetriebenen KI-Methoden wie dem            pekten. Wir erwarten, dass hier wieder-
wickelt. Hier muss häufig erst das jewei-           Reinforcement-Learning in Zukunft einen         kehrende Lösungen nachgefragt werden,
lige Abstraktionslevel erkannt werden,              großen Beitrag leisten kann.                    die eine Integration verschiedener An-
um bei diesen Neuerungen die Relevanz                                                               bieter erfordert. Gefragt werden neue
für eine Anwendung zu erkennen. Die                 Sind erste Lösungen für ein Problem ge-         KI-Ökosysteme sein, quasi KI-Zuliefer-
Problemlösungsklassen lassen sich in                funden und implementiert, müssen de-            verbünde, die sich optimal ergänzen. Es
Unternehmen meist schnell identifizie-              ren Betrieb und Wartung gewährleistet           ist zu hoffen, dass gerade produzieren-
ren: Teilweise stellen sich Lösungsan-              werden. Hier wird insbesondere bei grö-         de Unternehmen im Rahmen solcher
sätze für Unternehmen zunächst als                  ßeren Datenmodellen noch viel Erfah-            KI-Ökosysteme neue Impulse bis in die
komplex dar, teilweise steht das notwen-            rung gesammelt. Während viele tech-             KI-Grundlagenforschung geben können
dige Expertenwissen nicht zur Verfügung.            nologische Herausforderungen durch              und hier neue KI-Forschungs-Bench-
Eine empirische KI erfordert zudem im-              zukünftige Dienstleister gelöst werden          marks entwickelt werden, die nachhal-
mer die Verfügbarkeit von relevanten                können, besteht aber großer Bedarf an           tig ganze Industriezweige voranbringen.
Daten. Der Wert von Daten schließt häu-             neuen Software- und KI-Hardware-Pro-            Eine Herausforderung werden agile
fig Domänenwissen zu bestimmten Er-                 dukten. In jedem Fall stellen Haftungs-         Wettbewerber sein, die KI gekonnt ein-
eignissen ein. Leider treten wichtige Er-           fragen, vor allem im Bereich der Gesund-        setzen, sehr früh in ihre Produkte inte-
eignisse selten auf, sodass sich ein                heitsindustrie, eine große regulatorische       grieren und damit schneller und effizi-
großer Datensatz als weit weniger wert-             Herausforderung dar.                            enter produzieren oder komplett neue
voll als zunächst angenommen heraus-                                                                Geschäftsmodelle entwickeln.
stellt.                                               Sie beschäftigen sich auch mit dem
                                                      Thema KI-Ökosystem. Welches Po-
Viele Branchen befinden sich im Auf-                  tenzial verbirgt sich gerade für pro-
bruch zur Nutzung von KI. Während die                 duzierende Unternehmen dahinter?
Automobilindustrie derzeit den Beweis
der Umsetzung des allgemeinen auto-                 Komplexe Innovationen, insbesondere in          PROF. DR.-ING. CRISTÓBAL CURIO
                                                                                                    cristobal.curio@steinbeis.de (Interviewpartner)
nomen Fahrens noch erbringen muss                   klassischen produzierenden Unterneh-
und KI hier unbestreitbar eine wesent-              men, erfordern immer komplexere Ver-                             Steinbeis-Unternehmer
                                                                                                                     Steinbeis-Transferzentrum
liche Rolle spielt, verbergen sich große            bünde und ineinandergreifende Beiträge.                          Mensch-zentrierte Künstliche
Märkte zum Beispiel in Assistenzsyste-              Vor allem kleinere produzierende Unter-                          Intelligenz (Tübingen)

men anderer Art, wie in der Mikroelek-              nehmen müssten mühsam KI-Wissen                                  www.steinbeis.de/su/2387

Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
FOKUS             19

                                                                                                             © istockphoto.com/metamorworks

      ALLES GUTE KOMMT VON OBEN
    DROHNENDATEN FÜR DIE KÜNSTLICHEN WELTEN AUTONOMER FAHRZEUGE

Simulationen und dabei vor allem solche, die eine möglichst ausgeprägte Realitätsnähe wiedergeben, sind von besonderer
Relevanz für das Erreichen höherer Autonomiegrade beim automatisierten Fahren. Bis eine geeignete Flottengröße diese
Daten liefern kann, stellt das Gewinnen von Messdaten zur Steigerung der Simulationsgenauigkeit die größte Herausforderung
  dar. Neben Video- und Lidardaten aus der Fahrzeugperspektive werden auch die kompletten Fahrdaten verschiedener
Verkehrssituationen benötigt. Mit der drohnenbasierten Luftbeobachtung lassen sich solche Verkehrsmessdaten erheben.
  Die IT-Designers Gruppe, in der auch das Steinbeis-Transferzentrum Softwaretechnik aktiv ist, hat mit dieser Methode
                                              schon Erfahrungen gesammelt.

                                                                                  Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
20      FOKUS

         Horizontal gedrehte Ausschnitte einer
        Luftbeobachtung auf der A8 bei Wend-
         lingen. Die Ausschnitte zeigen die ver-
        folgten Fahrzeuge mit Bounding Boxes
           (oben), die ermittelten 3D-Fahrzeug­
       dimensionen (Mitte) und die Fahrspuren
               (unten), auf welche die Fahrzeuge
                             zugeordnet werden.

Auf dem „AI Day“ 2021 zeigte Tesla einen            DROHNENDATEN                               den, die von Messfahrzeugen dagegen
beachtlichen Entwicklungsstand seines               ALS ALTERNATIVE ZU                         nur vereinzelt durchfahren würden.
Fahrstrategiemoduls. Sowohl für die                 TESTFAHRTEN
Entwicklung seines bestehenden Fahr-                                                           „Für die Rekonstruktion des Straßenver-
strategiesystems als auch für einen                 Inzwischen hat sich die drohnenbasierte    kehrs werden die Videodaten in einer
neuen, KI-basierten Planer wird eine                Luftbeobachtung als sinnvolle Alterna-     automatisierten Auswertungspipeline
künstliche 3D-Trainingsumgebung ver-                tive für die Erhebung von Verkehrsmess-    verarbeitet. Unsere Arbeitsschritte um-
wendet. Die Trainingsdaten hierfür                  daten etabliert. Kameradrohnen können      fassen eine Kameraverfolgung, die De-
werden aus den Flottendaten der ver-                flexibel und schnell an verschiedenen      tektion und Verfolgung der Fahrzeuge,
kauften Fahrzeuge erhoben, aktuell laut             verkehrlich interessanten Orten aufstei-   eine Regression der 3D-Bounding-Bo-
Tesla über 1,5 Millionen Fahrzeuge. So              gen und dabei circa 500 Meter lange        xes der Fahrzeuge sowie eine Fahr-
können Daten für anspruchsvolle Fahr-               Straßenabschnitte und Kreuzungsberei-      spurerkennung und Fahrspurzuwei-
situationen abgefragt und gesammelt                 che aufzeichnen. Voraussetzungen sind,     sung“, erläutert Dr. Stefan Kaufmann
werden. Dadurch steigt insbesondere                 dass für die Flüge entsprechend ge-        (IT-Designers GmbH), der am Projekt
die Erkennungsrate seltener Ereignisse,             schultes Personal benötigt wird, Geneh-    mitarbeitet. Für die Erkennung und die
die das sichere, automatisierte Fahren              migungen vorliegen müssen und die Auf-     Verfolgung der Fahrzeuge wird ein neu-
gefährden könnten. Diese Datenerhe-                 nahmedauer auf etwa eine halbe Stunde      ronales Netz zur Objektdetektion und
bungsmethode ist aktuell die einfachste             begrenzt ist. Dennoch können bei Mess-     Klassifikation nach Pkw, Van, Lkw/Bus
und wird sehr wahrscheinlich auch ge-               kampagnen mit mehreren Flügen leicht       und Motorrad verwendet. Für das Trai-
eignete Daten für seltene Verkehrser-               mehrere Stunden Verkehrsdaten aufge-       ning verwendet das Projektteam aktuell
eignisse liefern – unter der Vorausset-             zeichnet werden.                           66.000 manuell annotierte oder verifi-
zung, dass genügend Messfahrzeuge                                                              zierte Fahrzeugabbildungen. Ein weite-
vorhanden sind.                                     Das Team der IT-Designers Gruppe           res neuronales Re-Identification (ReID)-
                                                    nutzt diese Messmethode für ihre Ent-      Netz unterstützt den Tracking-Prozess,
Eine noch größere Rolle spielen künst-              wicklungen. In einem dreißigminütigen      indem es Fahrzeuge aufgrund ihrer vi-
liche Welten bei der Alphabet-Tochter               Drohnenflug an einer innerstädtischen      suellen Eigenschaften voneinander un-
Waymo, die seit rund fünf Jahren an                 Verkehrsader konnte es rund 1.350          terscheiden und somit gleiche Fahr-
selbstfahrenden Fahrzeugen arbeitet.                Fahrzeuge verfolgen. Diese legten ins-     zeuge in unterschiedlichen Videobildern
Waymo besitzt mit rund 1.000 Fahrzeu-               gesamt 530 Kilometer Strecke in 41         wiederentdecken kann. Dieses Netz
gen eine deutlich kleinere Flotte. Der              Stunden Gesamtfahrzeit zurück. Das         wurde mit 350.000 aus den bestehen-
größte Teil der Testfahrten wird deshalb            entspricht zwar bei Weitem nicht dem       den Daten automatisiert extrahierten
in Simulationen durchgeführt. Im Jahr               Aufkommen von Flottenmessdaten, al-        Fahrzeugabbildungen trainiert. Mithilfe
2020 waren dies laut Waymo etwa 30                  lerdings können kritische Straßenab-       von Clustering-Methoden können Fahr-
Millionen Kilometer pro Tag.                        schnitte kontinuierlich beobachtet wer-    zeugtrajektorien nach der Ähnlichkeit

Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
FOKUS        21

ihrer Verläufe gruppiert werden. Dar-                  IT-Designers Gruppe Messdaten erfolg-
aus ergeben sich Fahrspurinformatio-                   reich in einer Verkehrssimulation
nen. Bisher liefert diese Methode bei                  nachstellen, für die Berechnungen ver-               Luftbeobachtung eines innerstädtischen
                                                                                                            Straßenabschnitts (oben) und Nachstellung
einfachen Straßenverläufen – wie bei-                  wendete es dabei das mikroskopische                  der Messung in einer SUMO-Simulation
spielsweise auf Schnellstraßen – ver-                  Kerner-Klenov-­S imulationsmodell.                   (unten).
lässliche Ergebnisse. Für mehrspurige                  Mit dem Ziel einer möglichst realitäts-
Kreuzungsverläufe sind aktuell noch                    nahen Nachbildung der Messung wer-
manuelle Anpassungen nötig.                            den für jedes Fahrzeug individuelle Si-
                                                       mulationsparameter ermittelt. Hierfür
Zu den Messergebnissen gehören die                     wird jedes Fahrzeug einzeln im Ver-
Fahrzeugdimensionen, Fahrtrichtung                     kehrsfluss der gemessenen Fahrzeug-
sowie die Fahrzeugpositionen in Geo-                   trajektorien simuliert. Ein genetischer
koordinaten, lokalen Koordinaten und                   Algorithmus optimiert in hunderten
zurückgelegtem Weg auf einer Fahrspur.                 Durchläufen die Simulationsparame-
Außerdem werden die Fahrzeugge-                        ter des Fahrprofils für eine möglichst
schwindigkeiten und Beschleunigungs-                   ähnliche Wiedergabe des Geschwin-
werte abgeleitet. Bei Vergleichsmessun-                digkeitsverlaufs. Für die Einzelanpas-
gen mit Referenzfahrzeugen konnte das                  sungen erreichte das Team so im
Projektteam keine signifikanten Abwei-                 Durchschnitt eine Übereinstimmung
chungen der Messdaten feststellen [1],                 von 89 % [2]. Diese simulierten Fahr-            binden zu können. Auch komplexere,
allerdings steht eine konkrete Ermitt-                 zeuge bewegen sich bisher nur eindi-             zweidimensionale Fahrstrategien sollen
lung der Messfehler noch aus.                          mensional entlang ihrer Fahrspuren.              unterstützt werden. Dafür bieten sich KI-­
                                                       Sie können Fahrspurwechsel durch-                basierte Fahrmodelle an, die für das Trai-
AUSBLICK AUF STEIGENDE                                 führen, allerdings fahren sie dafür nur          ning allerdings deutlich mehr Messda-
KOMPLEXITÄT UND                                        einfache kontinuierliche Manöver.                ten benötigen. Diese sollen als nächster
ZWEIDIMENSIONALITÄT                                                                                     Schritt im vom Bundeswirtschaftsmi-
                                                       In weiteren Schritten wollen die Experten        nisterium geförderten Forschungspro-
Das aktuelle System liefert somit bereits              der IT-Designers Gruppe die Fahrprofile          jekt LUKAS (Lokales Umfeldmodell für
brauchbare Eingangsdaten für Simula-                   automatisiert optimieren und extrahie-           das kooperative, automatisierte Fah-
tions- und Trainingssysteme. In ersten                 ren, um sie daraufhin als Trainingssze-          ren in komplexen Verkehrssituationen,
Untersuchungen konnte das Team der                     narien in Simulationsumgebungen ein-             www.projekt-lukas.de) erhoben werden.

Literatur
[1] S
     alles, Dominik; Kaufmann, Stefan; Reuss,         PROF. DR. JOACHIM GOLL                           DR. STEFAN KAUFMANN
    Hans-Christian. Extending the Intelligent Driver   joachim.goll@steinbeis.de (Autor)                stefan.kaufmann@it-designers.de (Autor)
    Model in SUMO and Verifying the Drive Off Tra-
    jectories with Aerial Measurements.                                Steinbeis-Unternehmer                            Mitarbeiter
     issler, Christian; Kaufmann, Stefan. Model
[2] E                                                                  Steinbeis-Transferzentrum                        IT-Designers GmbH
    calibration to simulate driving recommendati-                      Softwaretechnik (Esslingen)                      (Esslingen)
    ons for traffic flow optimization in oversatura-
    ted city traffic, Procedia Computer Science 170                    www.steinbeis.de/su/221                          www.it-designers.de
    (2020): 482-489.                                                   www.stz-softwaretechnik.de

                                                                                                     Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
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