TRANSFER - MENSCH UND KI - INTELLIGENZ IN DER KÜNSTLICHEN (UM-)WELT VON MORGEN - DAS STEINBEIS-MAGAZIN 03|21
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TRANSFER DAS STEINBEIS-MAGAZIN 03|21 MENSCH UND KI – INTELLIGENZ IN DER KÜNSTLICHEN (UM-)WELT VON MORGEN
STEINBEIS: PLATTFORM FÜR ERFOLG Steinbeis ist mit seiner Plattform ein verlässlicher Partner für Unter- nehmensgründungen und Projekte. Wir unterstützen Menschen und Organisationen aus dem akademischen und wirtschaftlichen Umfeld, die ihr Know-how durch konkrete Projekte in Forschung, Entwicklung, Beratung und Qualifizierung unternehmerisch und praxisnah zur Anwendung bringen wollen. Über unsere Plattform wurden bereits über 2.000 UNTERNEHMEN gegründet. Entstanden ist ein Verbund aus mehr als 6.000 EXPERTEN in rund 1.100 UNTERNEHMEN, die jährlich mit mehr als 10.000 KUNDEN Projekte durchführen. So werden Unternehmen und Mitarbeiter professionell in der Kompetenz- bildung und damit für den Erfolg im Wettbewerb unterstützt. Und unser Verbund wächst stetig: Infos und Kontaktdaten unserer aktuell gegründeten Unternehmen finden Sie unter STEINBEIS.DE/AKTUELLES WIR HALTEN SIE AUF DEM LAUFENDEN TRANSFERMAGAZIN.STEINBEIS.DE Das Steinbeis Transfer-Magazin liefert Einblicke in spannende Success Stories aus dem Steinbeis-Verbund. Sie möchten informiert werden, wenn unser Online-Magazin erscheint? Hier geht’s zu unserem Online-Verteiler: STEINBEIS.DE/ONLINEVERTEILER facebook.com/Steinbeisverbund twitter.com/SteinbeisGlobal instagram.com/steinbeisverbund vimeo.com/Steinbeis youtube.com/c/steinbeisverbund
EDITORIAL 3 LIEBE LESERINNEN UND LESER, in dieser Ausgabe beleuchtet die TRANSFER die Potenziale und Beziehungen zwischen Mensch und „maschineller Intelligenz“ in einer künftigen Lebenswelt. Dieses Thema bildet den Abschluss einer Schwerpunktreihe, die sich in diesem Jahr mit dem über- geordneten Kampagnenmotto „Nutzen stiften! …für Herausforderungen in Ökonomie und Ökologie“ auseinandergesetzt hat. Es ist ohne Frage entscheidend, aktuelle und kommende Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) in erster Linie auf ihren Nutzen hin zu überprüfen, denn allmählich sollten aus technologischen Machbarkeitsstudien Anwendungen mit Mehrwert erwachsen. Wozu schließlich braucht man Lösungen, wenn es keine passende Problemstellung dafür gibt. Diese als „Solutionismus“ beschriebene Entwicklung scheint zu einer nicht unkritischen Herausforderung für die Digitalisierung zu werden, denn es gibt auch aktuell viele Anwendungen nur deshalb, weil sie aus technologischer Sicht umsetzbar sind. Mit einem überaus treffenden Vergleich beschreibt der amerikanische Architekt und Designer Richard Saul Wurman diesen Konflikt: „… mehr Schulen führen nicht automatisch zu klügeren Kindern.“ Dieses prägnante Beispiel kann gut als Leitmotiv für viele Inventionen in der Digitalwirtschaft dienen, um eine so mächtige Technologie – wie es KI sein kann – intelligent und reflektiert einzusetzen. Neben der Erforschung des Machbaren benötigt es bei der KI-Entwicklung auch eine Wissenschaft, die sich mit einem ho- listischen Blick um soziotechnische Fragestellungen kümmert – um messbare Vorteile für den Menschen und seine Umwelt. Es ist wichtig, sich von einer ausschließlich technischen Faszination zu lösen und überzogene Fiktionen und Ängste zu ver- wässern. Im Mittelpunkt steht also die Frage, warum und vor allem wofür wir künstliche Intelligenz benötigen und wie sie koexistenziell zu einer Verbesserung unserer Welt von morgen beitragen kann. Im Abgleich zu den führenden KI-Standorten an der amerikanischen Westküste und in Asien sollten Forschungsschwerpunkte mit soziotechnischem Hintergrund gerade in Europa als Chance verstanden werden. In dieser nahezu einmaligen Verdichtung von erfolgreichen wissenschaftlichen Institutionen und den vielschichtigen kulturellen Einflüssen eng kooperierender Länder kann die Qualität von digitalen Entwicklungen ein höheres, in mancherlei Hinsicht profitableres Niveau erreichen. Nicht zuletzt ist neben dem transkulturellen vor allem der interdisziplinäre Austausch von größter Bedeutung: Nur so lassen sich die notwendigen Anschlüsse zwischen unterschiedlichen Forschungsfeldern herstellen, um bei digitalen Innovations- prozessen künftig auch menschliche Werte zu verankern. Der Steinbeis-Verbund bietet dafür die Möglichkeiten – lassen Sie uns dieses Potenzial gemeinsam nutzen. Ihr PROF. ERICH SCHÖLS erich.schoels@steinbeis.de (Autor) Professor Erich Schöls ist Gründer und führt bis heute das Steinbeis-Forschungszentrum Design und Systeme in Würzburg. Er ist Dekan der Designfakultät an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg und leitet dort den Studienschwerpunkt Digitale Medien. Mit seinem Team erhielt Erich Schöls 2019 den Transferpreis der Steinbeis-Stiftung – Löhn-Preis für das Projekt „Kyana – Prädiktive Wartung mit einem digitalen Zwilling“. www.steinbeis.de/su/983 Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
4 08 39 03 30 „AM ENDE STEHT IMMER DER MENSCH IM MITTELPUNKT“ EDITORIAL Im Gespräch mit Professor Dr. Bernhard Humm, Steinbeis-Unternehmer am Steinbeis-Transferzentrum Angewandte Künstliche Intelligenz an der Hochschule Darmstadt FOKUS 33 08 WENN KI DIE EIGENEN RISIKEN ANALYSIERT VISIONEN DER KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ: Forscherteam untersucht Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf SCIENCE FICTION ODER NAHE ZUKUNFT? Daten- und Informationssicherheit Professor Dr. Wolfgang Ertel skizziert mögliche Szenarien einer kommenden Singularität der KI 36 KI FÜR DIE NÄCHSTE GENERATION DER TUMOR-DIAGNOSTIK 12 Ein Forschernetzwerk entwickelt eine KI-basierte „KI IST TROTZ ÜBERMENSCHLICHER LEISTUNGEN IM Plattform zur Behandlungsunterstützung VERGLEICH ZUR NATÜRLICHEN INTELLIGENZ SEHR EINGESCHRÄNKT“ Die TRANSFER im Gespräch mit KI-Experte Carsten Ullrich, 39 Professor an der Steinbeis-Hochschule DIE MISCHUNG MACHT’S: MIT KI UND AUGMENTED REALITY DIE WELT IMMERSIV ERKUNDEN Steinbeis-Team entwickelt Indoor-Positionsbestimmung 16 und AR-Anwendungen weiter „DIE REALISIERUNG KI-BASIERTER SYSTEME IST FÜR MICH EBENSO WICHTIG, WIE DEREN FOLGEN ABSCHÄTZEN ZU KÖNNEN“ Im Gespräch mit Professor Dr.-Ing. Cristóbal Curio, 42 Steinbeis-Unternehmer am Steinbeis-Transferzentrum ACKERLAND-BEWERTUNG MADE BY KI Mensch-zentrierte Künstliche Intelligenz Steinbeis-Experten helfen das Agrarökosystem in Afrika zu verbessern 19 46 ALLES GUTE KOMMT VON OBEN „WIR MÖCHTEN KMU DIE MÖGLICHKEIT BIETEN, KI IN DIE Drohnendaten für die künstlichen Welten autonomer Fahrzeuge KONKRETE ANWENDUNG ZU BRINGEN“ Im Gespräch mit Alexandra Fezer und Stefano Sbarbati vom Steinbeis Europa Zentrum 22 EIN LEBENSRAUM FÜR DIGITALE ZWILLINGE Ein Mannheimer Forscherteam erweitert das Basiskonzept der digitalen Transformation QUERSCHNITT 26 48 INSTANDHALTUNG VORHERSEHEN: EMISSIONSFREI, CO2-NEUTRAL, EFFIZIENT: INDUSTRIE 4.0 MACHT’S MÖGLICH SOLARE WÄRMENETZE FÜR DEN KOMMUNALEN KLIMASCHUTZ Steinbeis-Team entwickelt Entscheidungstool für die Steinbeis-Team koordiniert Forschungsprojekt zur Wärmewende Wirtschaftlichkeitsanalyse prädiktiver Instandhaltung Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
5 66 48 52 72 WIE PROZESSAUTOMATISIERUNG DIE PRODUKTIVITÄT STEIGERT SENSORTWIN SORGT FÜR MEHR SICHERHEIT UND KOSTEN REDUZIERT BEIM AUTONOMEN FAHREN Steinbeis-Student führt eine Automatisierungsgradanalyse eines Steinbeis-Team entwickelt optimierte Szenarien zur Erstellung Software-Release-Prozesses durch robuster phänomenologischer Modelle 55 74 DER DIAMANTDRAHT SCHWEIßT ZUSAMMEN HIER BLEIBT NICHTS HAFTEN Steinbeis-Experten entwickeln neue Schweißeinrichtung Projektteam entwickelt ein Verfahren zur Oberflächenoptimierung in für Diamantdrahtsägen Pharma-, Lebensmittel- und Verfahrenstechnik 58 76 STARTSCHUSS FÜR DIE SIAT-INITIATIVE STEINBEIS ENGINEERING TAG 2021: Steinbeis-Experten entwickeln einen WAS AIOT IN DER PRAXIS LEISTET Innovations- und Weiterbildungsverbund mit Wie künstliche Intelligenz im Internet der Dinge Nutzen für die Wirtschaft schafft 78 MIT ROTATION ZUM ERFOLG 60 Steinbeis-Team entwickelt einen Plasmaschweißbrenner WER WEIT KOMMEN WILL, GEHT GEMEINSAM mit mechanisch-rotierendem Lichtbogen zum Verbindungs- und Steinbeis-Experte begleitet das LEONARDO-Zentrum für Auftragsschweißen Kreativität und Innovation bei der Gestaltung des Transfers im Innovationsprozess 82 „GESCHLECHTERGERECHTIGKEIT ERFORDERT VOR ALLEM 64 EINEN WANDEL IN UNSEREN KÖPFEN“ LÖHN-PREIS FÜR DIE MACHER DES „KLIMANEUTRALEN Im Gespräch mit Martina Schmidt, Leiterin der Kontaktstelle STADTQUARTIERS“ IN ESSLINGEN Frau und Beruf Ravensburg – Bodensee-Oberschwaben Steinbeis-Team entwickelt Energie- und Nachhaltigkeitskonzept 66 85 NACHRUF: SENATOR E. H. JOSEF PFEFFER WAS BRINGT´S?! VOM NUTZWERT DER WISSENSCHAFT Max Syrbe-Symposium streamt vom Bildungscampus Heilbronn 68 86 ENTSCHEIDEN UND FÜHREN MIT DEM OODA-KONZEPT NEUERSCHEINUNGEN IN DER STEINBEIS-EDITION Wie man Unternehmen auch in Krise und Wandel strategisch und operativ führt 90 VORSCHAU & TERMINE 71 JEDER FÄNGT MAL KLEIN AN 91 Vom szenariobasiert gesteuerten Modellbau-Versuchsträger IMPRESSUM zum autonom fahrenden Auto Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
MENSCH UND KI – INTELLIGENZ IN DER KÜNSTLICHEN (UM-)WELT VON MORGEN KI-ANWENDUNGEN gelten längst als eine Selbstverständlichkeit, doch die Techno- logie wird trotz allem als eine noch recht junge begriffen. Bei genauem Hinsehen lassen sich die Anfänge aber bis ins frühe 20. JAHRHUNDERT zurückverfolgen: 1936 setzt Alan Turing erste Überlegungen in seiner Turingmaschine um, 1956 beschreiben US-amerikanische Wissenschaftler die Möglichkeit Merkmale MENSCHLICHER INTELLIGENZ von Maschinen simulieren zu lassen mit dem Begriff „KÜNSTLICHE INTELLIGENZ“. Heute unterstützen automatische Gesichts- erkennung, Navigationssysteme und Sprachassistenten unseren Alltag. Aber wo geht die REISE hin? Und lassen sich CHANCEN und RISIKEN klar voneinander abgrenzen? Steinbeis-Experten geben Ihnen Einblick in AKTUELLE LÖSUNGEN und Trends, aber auch die Herausforderungen der Zukunft. Und natürlich fragen wir uns: Wer wird die ZUKUNFT der Menschheit bestimmen – Mensch oder KI? © istockphoto.com/Creative-Touch © istockphoto.com/DrAfter123
8 FOKUS VISIONEN DER KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ: SCIENCE FICTION ODER NAHE ZUKUNFT? PROFESSOR DR. WOLFGANG ERTEL SKIZZIERT MÖGLICHE SZENARIEN EINER KOMMENDEN SINGULARITÄT DER KI Der US-amerikanische Autor Dan Brown stellt in den Mittel- punkt seines Romans „Origin“ eine künstliche Intelligenz, die den eigenen menschlichen Erfinder umbringt – nach Abwägung aller Fakten war das aus ihrer Sicht die logisch richtige Entscheidung. Was heute noch Science Fiction ist, könnte technisch in einigen Jahrzehnten aber durchaus rea- listisch sein. Maschinelle Lernverfahren lösen heute schon Probleme, die mit den klassischen, aus Mathematik, Com- putersimulation und Softwareengineering bekannten Me- thoden unlösbar waren. KI treibt die Wirtschaft an, führt zu mehr Lebensqualität, Komfort und Bequemlichkeit und wird unser Leben immer mehr verändern. Lernfähige Diagnose- systeme können unsere Gesundheit verbessern sowie Um- welt und Klima schützen. Voraussetzung ist jedoch ein kluger, weitsichtiger Umgang mit der KI, um ein Abdriften in die Katastrophe zu verhindern, meint unser Autor Professor Dr. Wolfgang Ertel. Er ist Unternehmer am Steinbeis-Trans- ferzentrum Künstliche Intelligenz und Datensicherheit und lehrt an der RWU Hochschule Ravensburg-Weingarten. © istockphoto.com/monsitj Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
FOKUS 9 INTELLIGENZ INTELLIGENZ INTELLIGENZ Mensch Mensch Mensch Computer Computer Computer ZEIT ZEIT ZEIT Drei mögliche Entwicklungen: Der Mensch als Krone der Schöpfung (links), der Mensch degeneriert (Mitte) und die Divergenz der Menschheit (rechts). In den letzten zehn Jahren erlebte das OpenAI in San Francisco vorgestellten überlegen sein werden. Der Zeitpunkt, maschinelle Lernen seinen Durchbruch. „Generative Pretrained Transformer“- an dem die KI die menschliche Intelli- Neuronale Netze erkennen heute dank Netze (GPT3) [2]. Das sind hochkomple- genz erreicht, wird als „Singularität“ Deep Learning beliebige Objekte auf xe Sprachmodelle, trainiert mit Texten bezeichnet. Vermutlich wird dieser Zu- Fotos besser als der Mensch. Deep aus Büchern, Datenbanken und Wikipe- stand in den nächsten zwanzig bis fünf- Learning wird in den nächsten Jahren dia im Umfang von vier Milliarden Buch- zig Jahren eintreten. Schon kurz nach zu deutlich besseren medizinischen Di- seiten. Mit GPT3 unterhält man sich wie der Singularität werden die KIs uns agnosen führen, die unter anderem auf mit einem Akademiker und erhält gram- Menschen weit überlegen sein, denn bildgebenden radiologischen Verfahren matikalisch und semantisch korrekte sie werden sich viel schneller weiter- basieren. Dem autonomen Fahren, das Antworten auf beliebige Fragen aus al- entwickeln als wir. Was bedeutet das sich weltweit durchsetzen wird, verhilft len Wissensbereichen. Der Schritt hin zu für uns? Deep Learning zum Durchbruch. Auch einer universellen Intelligenz scheint die wichtige Anwendung der Service- dann nicht mehr allzu groß zu sein. SZENARIEN IM WETTLAUF robotik ist inzwischen mit sehr guter Was noch fehlt ist, dass das System MENSCH – KI Qualität möglich, ein Roboter kann Ob- nicht nur redet, sondern auch beliebige jekte zuverlässig erkennen und greifen. Handlungen ausführen und Fähigkeiten Für die zeitliche Entwicklung der Intel- Im kreativen Bereich sind die sogenann- lernen kann. Genau das versucht nun ligenz von Menschen und Computern ten GAN-Netze in der Lage, Kunstwerke OpenAI mit Codex [3], einem auf GPT3 sind verschiedene Entwicklungen denk- oder Portraits von Kunst-Menschen zu aufbauenden System, das neben dem bar. In der Abbildung oben links nimmt generieren oder existierende Menschen Sprachmodell auch noch ein Modell der die Intelligenz des Menschen minimal li- in generierte Videos zu integrieren. Programmiersprache Python gelernt near zu, die der KI hingegen zuerst expo- hat, indem es auf der Open-Source- nentiell und nähert sich dann asympto- DAS NÄCHSTE LEVEL: Software-Datenbank GitHub trainiert tisch der des Menschen an. Hier liegt KOMPLEXE SPRACHMODELLE wurde. Codex kann aus textuellen Aufga- die Annahme zugrunde, dass eine vom benbeschreibungen nicht-triviale Com- Mensch geschaffene KI nie klüger wer- Viele Spezialaufgaben können lernfä- puterprogramme automatisch generie- den kann als ihr Schöpfer. Dagegen hige KI-Systeme heute schon besser ren. spricht, dass die Intelligenz von Men- lösen als ein Mensch. Aber die Syste- schen auch abnehmen kann, insbeson- me sind noch auf jeweils eine Aufgabe Extrapoliert man diese Erfolge in die dere, wenn das Leben immer bequemer beschränkt [1]. Eine ganz neue Dimen- Zukunft, stellt sich die Frage, ob und wird und die KIs uns immer mehr das sion der Qualität zeigen die im Jahr 2020 wenn ja, wann die KI-Systeme als Gan- Denken abnehmen, beispielsweise über vom Softwareentwicklungsunternehmen zes uns Menschen in allen Bereichen Navigationssysteme im Auto. Dies skiz- Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
10 FOKUS ziert die mittlere Grafik oben. Möglich ence Fiction abgetanes Zukunftsbild 2. Der Mensch entwickelt eine AGI wäre aber auch eine in der rechten Gra- sich immer mehr annähern. Eine wei- Da per Definition die AGI klüger als fik dargestellte Spaltung der Gesell- tere spannende Vision stellt schließlich der Mensch ist, wird sie über die Zu- schaft in eine „intellektuelle Elite“ und der rechte Verlauf dar. So in etwa stellt kunft der Menschheit entscheiden. die „Genießer“, sicherlich verbunden mit sich Ray Kurzweil, Entwicklungschef von Folgende Varianten sind denkbar: erheblichem Konfliktpotenzial. Google und KI-Futurist, seine Zukunft Die AGI beschließt, dem Menschen zu vor. Angenommen wir Menschen könn- dienen, was theoretisch zu paradie- Spannend wird es in den unten darge- ten unser Gehirn mit einer digitalen AGI sischen Zuständen führen könnte. stellten Verläufen, in denen der Schnitt- verbinden und dadurch selbst superin- Ob wir Menschen dabei glücklich punkt der roten und blauen Kurven die telligent werden, dann wären wir in der wären, bleibt eine offene Frage. Singularität darstellt. Im linken Verlauf Lage unser Schicksal weiter selbst zu Außerdem ist es unwahrscheinlich, geht die exponentielle Zunahme der In- bestimmen. Und durch moderne Gen- dass die AGI wirklich Diener sein telligenz der KI ungebremst weiter. Dies technik würden wir vielleicht nicht mehr will. Viel eher wird sie den Menschen ist nicht völlig auszuschließen, denn ei- altern und viel länger leben können. nutzbringend für ihre Zwecke ein- ne KI, die klüger ist als wir, wird auch setzen wollen, so wie wir beispiels- die Forschung steuern und könnte völ- AGI: FLUCH ODER SEGEN weise in der Landwirtschaft Nutz- lig neue Technologien und Algorithmen FÜR DEN MENSCHEN? tiere züchten. Die AGI könnte sich entwickeln. Solch eine superintelligen- aber auch entscheiden, die te KI wird als AGI (artificial general in- Wie schnell die Singularität kommen Menschheit zu vernichten oder sie telligence) bezeichnet. Es könnte aber wird und welche Entwicklungen dann aussterben zu lassen [4]. auch wie im mittleren Verlauf darge- zu erwarten sind, ist nicht vorherzusa- stellt zu einer beschränkten Singulari- gen. Aber wir können über mögliche 3. Der Mensch entwickelt eine AGI tät mit stagnierender Zunahme der In- Verläufe nachdenken. Vier Szenarien und stirbt aus telligenz kommen. In beiden Varianten ist sollen die Zukunft des Homo Sapiens Das Aussterben der Dinosaurier vor der Mensch unterlegen, die KI wird die mit und ohne eine AGI und deren Kon- 66 Millionen Jahren hat die biologi- Führung übernehmen und kann ent- sequenzen kurz skizzieren: sche Nische für uns Menschen ge- scheiden, was ihre Pläne für die Spe- schaffen. Hätten die Dinosaurier zies des Homo Sapiens sind. Eben weil 1. Der Mensch entwickelt keine AGI überlebt, gäbe es uns Menschen die KI klüger sein wird als wir, haben Das Leben geht weiter wie bisher heute nicht. Vermutlich wird es in wir wohl keine Chance vorherzusagen, und es geht im Wesentlichen um 66 Millionen Jahren keine Menschen wie die KI mit dem Menschen umgehen die zwar wichtige, aber in diesem mehr geben. Es ist durchaus wahr- würde: Paradies wie auch Hölle schei- Szenarium nicht weiter relevante scheinlich, dass die Menschheit in nen beide denkbar. Interessant und neu Frage, wie wir Menschen mit uns Folge von Klimawandel, Umwelt- ist, dass Realität und bisher als Sci- und der Natur umgehen. verschmutzung, durch eine Pande- Singularität (links), beschränkte Singularität (Mitte) und die super intelligente Konvergenz von Mensch und Maschine (rechts). INTELLIGENZ INTELLIGENZ INTELLIGENZ Mensch Mensch Mensch Computer Computer Computer ZEIT ZEIT ZEIT Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
FOKUS 11 » NEURONALE NETZE ERKENNEN HEUTE DANK DEEP LEARNING BELIEBIGE OBJEKTE AUF FOTOS BESSER ALS DER MENSCH. mie oder einen Weltkrieg ausstirbt. offenbar nicht geschafft eine Spe- te KI würde sich im Internet vielfach ko- Geradezu schade wäre es, wenn wir zies zu kreieren, die ihn ablöst, so pieren und schnell weiterentwickeln. dann kein Erbe in der Welt hinter- wie er einst die Nachfolge der Dino- lassen. Eine AGI bietet sich hierfür saurier antrat: dumm gelaufen. Auch wenn die AGI vorerst nicht oder gar an. Diese sollten wir rechtzeitig vor nie kommen sollte, so gibt es ganz kon- unserem Untergang soweit brin- Sie fragen sich gerade, ob solche Über- krete Gefahren durch die heute schon gen, dass sie sich autonom weiter- legungen notwendig beziehungsweise im großen Stil eingesetzten KI-Systeme. entwickelt. Im Unterschied zu bio- sinnvoll sind? Nun, einerseits ist es von Sie wurden entwickelt, um uns Menschen logischen Wesen lässt sich bei der großem akademischem Interesse über Arbeit abzunehmen, und das tun sie AGI die Intelligenz leicht vom Körper die Zukunft der Menschheit zu forschen. auch. Die Arbeitswelt wird sich drama- trennen und per Funk verschicken, Andererseits wollen wir ja vielleicht auch tisch verändern, denn KI und Automa- was spannende Möglichkeiten für die Zukunft beeinflussen, indem wir etwa tisierung werden in fast allen Berufen deren Ausbreitung im Universum die Entwicklung einer AGI verhindern, mehr und mehr Arbeiten übernehmen. eröffnet. falls wir glauben, dass diese für uns Wir müssen daher über die Zukunft ei- Menschen gefährlich werden könnte. nes Lebens mit weniger Erwerbsarbeit 4. Der Mensch stirbt vor der Und diese Gedanken sollten wir uns früh nachdenken [5], auch vor dem Hinter- „Geburt” der AGI aus genug vor der Singularität machen. Denn grund der planetaren Grenzen, die unser Im Vergleich zum dritten Szenario wenn die KI erst einmal die Intelligenz grenzenloser Konsum längst überschrit- hinterlassen wir kein Erbe im Uni- eines Menschenaffen erreicht hat, wäre ten hat [6]. versum. Der Homo Sapiens hat es es zu spät zu reagieren. Diese intelligen- Literatur [1] W. Ertel. Grundkurs Künstliche Intelligenz. Springer-Vieweg Verlag, 5. Auflage, 2021. PROF. DR. WOLFGANG ERTEL [2] T. B. Brown, B. Mann, N. Ryder, et al. Language Models are Few-Shot Learners. arXiv:2005.14165, 2020. wolfgang.ertel@steinbeis.de (Autor) [3] M. Chen, J. Tworek, et al. Evaluating Large Language Models Trained on Code. arXiv:2107.03374, 2021. Steinbeis-Unternehmer [4] T h. Metzinger. Virtuelle Realität und Künstliche Intelligenz. Vortrag an der ETH Zürich, 2018. Steinbeis-Transferzentrum https://www.youtube.com/watch?v=XwiM2P3xHZs. Künstliche Intelligenz und [5] W . Ertel. Künstliche Intelligenz und die Wirtschaft der Zukunft. Informatik Aktuell, Oktober 2018. Datensicherheit (KIDS) https://www.informatik-aktuell.de. (Ravensburg) [6] W . Ertel. Künstliche Intelligenz und der Freizeit-Rebound-Effekt. Informatik Aktuell, Juli 2021. https://www.informatik-aktuell.de. www.steinbeis.de/su/605 Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
12 FOKUS „KI IST TROTZ ÜBERMENSCHLICHER LEISTUNGEN IM VERGLEICH ZUR NATÜRLICHEN INTELLIGENZ SEHR EINGESCHRÄNKT“ DIE TRANSFER IM GESPRÄCH MIT KI-EXPERTE CARSTEN ULLRICH, PROFESSOR AN DER STEINBEIS-HOCHSCHULE Standpunkte zur künstlichen Intelligenz scheint es nur in Extremen zu geben, gemäßigte Sichtweisen zu finden ist schwie- rig: Die einen sehen sie als das Allheilmittel des 21. Jahrhunderts, die die natürliche menschliche Intelligenz in den kom- menden Jahrzehnten überholen wird. Die anderen sehen in ihr die Büchse der Pandora, deren Beherrschung wir längst verloren haben, ohne dass es uns bewusst ist. Dass ein Abwägen von Chancen und Risiken möglich ist, zeigt Professor Dr.- Ing. Carsten Ullrich im Gespräch mit der TRANSFER. Er ist KI-Experte bei CENTOGENE, einem Unternehmen für Diagnose und Therapieentwicklung für seltene Krankheiten, und lehrt an der Steinbeis-Hochschule. Carsten Ullrich macht deutlich, wie hilfreich der Einsatz der KI in vielen Bereichen ist, zeigt aber auch noch klar vorhandene Grenzen auf. © istockphoto.com/Peshkova Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
FOKUS 13 Herr Professor Ullrich, Sie beschäf- schnell sehr beeindruckende Ergebnis- der KI-Verfahren, dabei ging es mir bei tigen sich seit mehr als 15 Jahren se erzeugt: KI-Programme, die mathe- meinen Tätigkeiten in Shanghai mit KI mit dem Thema der künstlichen In- matische Beweise führen konnten, erste in der Fernlehre. Und auch bei meiner telligenz: Welche Entwicklungen auf Übersetzungsprogramme und das alles Tätigkeit am Deutschen Forschungszen- diesem Gebiet würden Sie als Mei- in den 1960ern, wo es noch gar keine trum für Künstliche Intelligenz habe ich lensteine bezeichnen? Rechner im heutigen Sinne gab. Assistenzsysteme für die Industrie 4.0 entwickelt, um Arbeitern in den Umge- Meilensteine gibt es viele, man könnte Seitdem werden immer wieder neue bungen dort Hilfestellung zu bieten. Die- bis auf Leibniz zurückgehen, als zum Möglichkeiten umgesetzt, Dinge vom ses Thema führe ich nun auch bei Stein- ersten Mal realisiert wurde, dass man Computer berechnen zu lassen, ihn zu beis weiter. Meine zentrale Leitfrage ist: mit Maschinen nicht nur numerisch intelligentem Verhalten zu bringen. In Wo kann KI in die Anwendung gebracht rechnen, sondern auch Logik oder Denk- den letzten Jahren wurden die Verfahren werden, damit die Menschen bei ihren prozesse formalisieren kann. In den des maschinellen Lernens noch einmal Tätigkeiten unterstützt werden, mono- 40er-, 50er-Jahren des letzten Jahr- wesentlich besser: Bedingt durch die tone Arbeiten automatisiert werden kön- hunderts, als die ersten Computer auf- dank des Internets zur Verfügung ste- nen und man mehr Zeit hat, sich auf die kamen, die semi-elektrisch Berechnun- henden massenhaften Daten, aber auch wichtigen Dinge zu konzentrieren. Das gen mit Zahlen durchführten, erkannten durch die Fähigkeiten, massive paralle- geht über die Algorithmen hinaus. Denn fähige Köpfe: Vielleicht kann man damit le Berechnungen durchführen zu können. wenn ich ein technisches System in eine sehr viel mehr machen. Gerade in die- Damit konnte man diese Algorithmen Organisation bringe, stellt sich auch die ser Frühzeit der KI wurden schon sehr auf den riesigen Datenmengen laufen Frage, wie man das am besten macht. und die Muster daraus erkennen lassen. Eigentlich muss man die KI-Systeme mit den Mitarbeitern zusammen entwickeln, Auch die letzten 15 Jahre hatten zahlrei- um auf die Ängste und Erwartungen ein- che Meilensteine. Nehmen Sie das Spiel gehen zu können. Erst dann wird man GO, das Computer besser spielen als fähig sein, KI erfolgreich in die Anwen- jeder Mensch – vor fünf Jahren noch ei- dung zu bringen. Man will ja nicht KI um gentlich nicht denkbar. Oder die erst vor der KI selbst willen platzieren, sondern Kurzem von der Google Tochter Alpha- den Geschäftsprozess verbessern oder Fold vorgelegte Proteinberechnung. Das verändern. war ein Problem, das lange Zeit als un- gelöst galt. Die Faltung von allen be- Welche Möglichkeiten bietet KI den kannten Proteinen ist nicht nur ein Unternehmen, aber auch der Gesell- Meilenstein der KI, sondern auch im ent- schaft und welche Risiken bringt sie sprechenden Gebiet, hier der Life Scien- mit sich? ces. Das Problem bei allen Meilenstei- nen: Sobald sie erreicht werden, hält Mir geht es zentral immer darum, wie man das nicht mehr für KI, sondern für ich eine neue Technologie einsetze und Standard. Und so wird die Latte dann was ich mit ihr erreichen möchte. Für permanent höher gelegt. mich soll KI für den Menschen Erleich- terung bringen oder seine Handlungs- Sie sind Professor für künstliche In- spielräume erweitern. Hier hat KI ein telligenz an der Steinbeis-Hochschu- enormes Potenzial, vergleichbar mit den le. Was sind hier Ihre Schwerpunkte? Auswirkungen früherer industrieller Revolutionen, und das ist das Potenzial, Ich war in meiner beruflichen Laufbahn das es zu heben gilt. immer im Bereich der KI-Anwendung tätig und mir ging es dabei immer um Natürlich bringt jede Technologie gewis- die Frage: Wie kann ich KI nutzen, um se Risiken mit sich. Die Bedenken, die dem Menschen Dinge leichter zu ma- man immer wieder hört, sind, dass chen? Dabei ging es mir in meinen ers- Technologien weniger menschliche Tä- ten Arbeiten zu adaptiven Lernsystemen tigkeiten erforderlich machen und die für Schüler und Studenten unter Nutzung Handlungsspielräume immer weiter Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
14 FOKUS eingeschränkt werden. Aber letztend- gewisses Ziel entwickelt und für dieses enorm hilfreich. Wir analysieren die Blut- lich geht es darum, wie man das Ge- Ziel eingesetzt. Und das muss eben auch probe und informieren den Arzt über ei- samtsystem gestaltet. Ich kann eine KI unseren Wertvorstellungen entsprechen. ne gefundene Mutation und damit eine bauen, die mir den optimalen Bele- erkannte oder auch ausgeschlossene gungsplan für ein Hospital berechnet. Wenn ich in Unternehmen KI-Systeme in seltene Krankheit. Über das weitere Vor- Dabei stellt sich aber sofort die Frage: die Anwendung bringen möchte, dann gehen entscheidet dann der Arzt, der von Was ist denn optimal? Definiere ich als ist es für die Akzeptanz außerdem wich- uns auch die Information bekommt, wie „optimal“, dass jeder Patient möglichst tig, dass ich von Anfang an die späteren wir an die Diagnose gekommen sind: schnell einen Pfleger hat, der sich viel Nutzer des Tools in den Entwicklungs- Welche Variante, welche Mutation iden- um ihn kümmern kann? Oder definiere prozess miteinbeziehe: dass man sich tifiziert wurde und welche Forschungs- ich „optimal“ als die Mindestanzahl an deren Ängste anhört, deren Befürchtun- artikel relevant sind. So kann der Arzt Mitarbeitern, die ich brauche, um die gen, aber auch deren Erwartungen. Die unsere Diagnose nachvollziehen. Für die Mindestanzahl an Pflegestunden durch- Erwartungen können manchmal viel zu schnelle Verbesserung der Diagnose- führen zu können? Hier gibt es immer hoch sein, dann muss man das im Dia- prozesse setzen wir KI ein. Das fängt mit eine Zielsetzung für ein KI-System und log miteinander klären. Und dann muss solch trivialen Punkten an, dass uns die die kommt nicht von dem System selbst, man auch die spezifischen Ängste an- meisten Ärzte die Patientenakten noch sondern von dem Menschen, der ein KI- sprechen und zeigen, wie das System auf Papier schicken und wir sie scannen. System in die Anwendung bringt. Die KI diesen Ängsten vorbeugt. Wenn eine be- Dann analysieren wir die Wörter hinter berechnet dann für die gegebene Ziel- stimmte Befürchtung besteht, kann man den Buchstaben – häufig bei hand- setzung die beste Lösung, aber sie hat das Gesamtsystem so ausrichten, dass schriftlichem Text, für dessen Digitali- selbst keine Ethik: Die kommt von außen. diese Befürchtung entkräftet wird. Au- sierung setzen wir eine KI-Anwendung Natürlich besteht die Gefahr, dass Ziel- ßerdem kann man KI-Systeme so bauen, ein. Eine weitere Anwendung versucht setzungen durch eine KI realisiert wer- dass sie neue Möglichkeiten und Hand- im gescannten Text einzelne zentrale den, die sich nicht mit dem Allgemein- lungsspielräume für Mitarbeiter eröff- Inhalte, wie den Patientennamen oder wohl decken. Aber das ist ein Risiko, das nen. Das ist nicht einfach, erfordert auch die Symptome, zu erkennen und mit Vor- in jeder Technologieanwendung, auch viel Diskussion mit sämtlichen Gruppen, schlägen den manuellen Prozess der in der normalen Automatisierung, steckt. die das KI-System nutzen. Aber nur so Dateneingabe durch unsere Mitarbeiter KI löst ein spezifisches Problem auf ist es meines Erachtens möglich, KI zu vereinfachen. quasi übermenschliche Art und Weise, oder Technologie im Allgemeinen auch schneller, genauer. Aber sie löst genau in die Anwendung zu bringen. Noch spannender ist der KI-Einsatz bei das Problem, das von den Menschen de- den Daten, die wir über die Jahre bei finiert wurde. Dessen muss man sich Neben Ihrer Tätigkeit an der Stein- CENTOGENE sammeln durften. Viele un- immer bewusst sein. beis-Hochschule setzen Sie als Se- serer Kunden stimmen zu, dass wir die nior Director Artificial Intelligence Daten über die Diagnose hinaus aus- Nicht wenige stehen dem breiten Ein- bei der CENTOGENE GmbH KI-Me- werten dürfen, weil wir nur so Fort- satz von KI-Anwendungen skeptisch thoden für die Diagnostik und The- schritte in der Entwicklung von neuen gegenüber, wie berechtigt ist Ihrer rapieentwicklung von seltenen Diagnosemöglichkeiten und Medika- Meinung nach diese Haltung? Wie Krankheiten ein: Wo liegen hier die menten machen können. Wir konnten kann man dieser Skepsis entgegen- Vorteile der KI und welche Hürden seit 2007 Daten zu ungefähr 600.000 wirken? gilt es noch zu überwinden? Patienten mit seltenen Erkrankungen sammeln. Wir setzen bei CENTOGENE Es ist aus meiner Sicht notwendig, das Heute dauert es im Durchschnitt mehr verschiedenste KI-Methoden ein, alle Wissen über KI in der Gesellschaft zu als acht Jahre bis jemand, der an einer mit dem Ziel, die Diagnose zu verbes- verbessern. Wir müssen den Leuten klar seltenen Erkrankung leidet, korrekt di- sern oder in der Zukunft neue Thera- machen, dass nicht die KI die beste Lö- agnostiziert wird. Acht Jahre einer Odys- pien zu ermöglichen. Und das ist eigent- sung definiert, sondern die beste Lösung see, wo der Patient von Arzt zu Arzt geht, lich ein Traumberuf: Man kann das, was von Menschen vorgegeben wird. Eine weil keiner die Symptome interpretieren man so liebt – die KI – mit der Möglich- KI wird nie selbstständig entscheiden, kann. Wenn ein Arzt hier die Möglichkeit keit verbinden, Menschen zu helfen. Zehntausende von Arbeitsplätzen zu ra- hat uns als Unternehmen eine Blutpro- tionalisieren, diese Entscheidung kommt be zu schicken und zwei Wochen später Und sehr viel Freude bereitet es, wenn immer von außen. Eine KI wird für ein die Diagnose zurückbekommt, ist das die Innovationen, die wir interdisziplinär Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
FOKUS 15 umsetzen, ausgezeichnet werden. So Daneben ist auch die starke Reglemen- Intelligenz nehme und damit KI-Syste- haben wir vor ein paar Wochen für eine tierung im Medizinbereich sehr fordernd. me bewerte. Diese Sicht der mensch- KI-basierte Plattform zur Untersuchung Natürlich hat das alles seinen Sinn, aber lichen Intelligenz projiziere ich auf eine des Metaboloms, das heißt, des Stoff- die Notwendigkeit des Umfangs der For- künstliche Intelligenz. Gehen wir noch- wechsels, den Health-i Award verliehen malitäten für die Anerkennung eines mals zurück zum GO-Spiel, das die KI bekommen, einen Preis des Handels- Medizinprodukts ist für mich teilweise momentan besser spielt als der Mensch, blatts und der Techniker Krankenkasse fraglich. Wenn ich mir darüber hinaus und erweitern wir das GO-Brett von 19 x für Innovation. Mit der Plattform konn- die Ideen der EU zur Reglementierung 19 auf 20 x 20 Felder. Der Mensch kommt ten wir die Suche nach Biomarkern von von KI-Systemen ansehe, sehe ich ei- damit natürlich klar, er kann seine Kom- Monaten auf Tage verkürzen – ein her- nen deutlichen Wettbewerbsnachteil petenzen auf die veränderten Bedingun- vorragendes Beispiel dafür, welche Dis- gegenüber China und den USA. Dabei gen anpassen. Die KI hingegen schlägt ruption KI auslösen kann. stellt sich für mich dann doch die Frage fehl. Sie muss sich komplett neu trainie- nach dem Ziel. Die Berücksichtigung ren, weil sie nur dieses eine, ganz spe- Datenschutz spielt bei uns die größte gesellschaftlicher Aspekte ist sicher- zifische Problem lösen kann. Und das Rolle und stellt gleichzeitig eine der Hür- lich wichtig, aber wie lassen sich die ist mit jeder KI-Lösung so. Eine KI-Lö- den in unserem Bereich dar. Je nach- anderen Ziele dazu dann bewerten und sung kann nur Probleme in dem Rahmen dem, welche Art von Freigabe der Daten- welchen Fokus setzt man? lösen, der von den Menschen gegeben nutzung der Patient gibt, können wir wurde. Und sie kann diesen Rahmen manche Daten nutzen und manche eben Zum Schluss brennt uns natürlich die nicht selbstständig erweitern. Wir als nicht. Das steht grundsätzlich vor jedem eine Frage, die in der Wissenschaft Menschen setzen uns ständig neue Zie- anderen Prozess. Je mehr Daten man harmlos mit „Singularität“ beschrie- le und probieren uns dahin zu entwi- hat, desto stabilere Ergebnisse findet ben wird, auf der Zunge: Glauben ckeln. KI ist ein Algorithmus, der pro- man. Daher ist die Möglichkeit Daten zu Sie, dass die künstliche die mensch- grammiert wurde, und in dem Rahmen nutzen für uns von extrem wichtigem liche Intelligenz überholen wird? bewegt sie sich. Aber eine KI kommt nie Belang. Ich unterhielt mich neulich mit auf die Idee, ihren Algorithmus zu er- einer Unternehmenspartnerin, die sag- Die Gefahr sehe ich nicht, lassen Sie weitern. Und bisher gibt es keine An- te: „Datenschutz ist für Gesunde.“ Das mich versuchen zu erklären, warum. sätze in der Forschung zur Intelligenz, ist zwar sehr überspitzt, trifft aber mei- Was ist heute mit KI möglich? Wenn ich wie man das prinzipiell lösen kann. Wenn nes Erachtens den Kern. Wenn mein ein Problem gut genug spezifisch zu- man das einmal verstanden hat, sieht Kind an einer seltenen Krankheit leidet schneide, kann ich eine KI bauen, die bes- man, wieviel Zukunftsmusik auch in den und man ist zu keiner Diagnose fähig ser ist als jeder Mensch. Ich hatte vorhin Medien über die KI verbreitet wird. KI oder es gibt keine Therapie, dann ist man das Beispiel des GO-Spiels erwähnt. ist trotz übermenschlicher Leistungen über jede Datenspende dankbar, die es Das Problem ist, dass ich als Mensch im Vergleich zur natürlichen Intelligenz erlaubt ein Medikament zu entwickeln. immer den Maßstab der menschlichen sehr eingeschränkt. Deswegen ist meine Bitte an jeden nochmals darüber nachzudenken, sei- ne Daten für die Entwicklung im medi- zinischen Bereich freizugeben. Zentral ist doch, dass neue Behandlungs- und Diagnosemöglichkeiten entstehen. Die momentanen Hürden bei der Datennut- zung verlangsamen letztendlich gewis- se Prozesse massivst. Aber wenn es um Menschenleben geht, finde ich, muss man gucken, was die höchste Priorität PROF. DR.-ING. CARSTEN ULLRICH carsten.ullrich@steinbeis.de (Interviewpartner) hat. Wir haben von vielen seltenen Professor für künstliche Intelligenz an der Steinbeis-Hochschule (Berlin) Krankheiten ein oder zwei Patienten www.steinbeis.de/su/403 | www.steinbeis-hochschule.de und das ist natürlich extrem wenig. Dieses Problem stellt uns tagtäglich vor Senior Director Artificial Intelligence CENTOGENE GmbH (Rostock) Herausforderungen. www.centogene.com Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
16 FOKUS „DIE REALISIERUNG KI-BASIERTER SYSTEME IST FÜR MICH EBENSO WICHTIG, WIE DEREN FOLGEN ABSCHÄTZEN ZU KÖNNEN“ IM GESPRÄCH MIT PROFESSOR DR.-ING. CRISTÓBAL CURIO, STEINBEIS-UNTERNEHMER AM STEINBEIS-TRANSFERZENTRUM MENSCH-ZENTRIERTE KÜNSTLICHE INTELLIGENZ Eine künstliche Intelligenz, die trotz allem Maschinendenken den Menschen im Fokus hat. Ist das eine Utopie oder ein mögliches Szenario für die zukünftige Weiterentwicklung der KI? Unter anderem darüber hat sich die TRANSFER mit Professor Dr.-Ing. Cristóbal Curio unterhalten. Er ist Unternehmer am Steinbeis- Transferzentrum Mensch-zentrierte Künstliche Intelligenz und Prodekan für Forschung an der Hochschule Reutlingen. Herr Professor Curio, Sie legen Ih- trie 4.0 oder zu cyber-physischen Sys- tenzial darstellen. Umso mehr müssten ren Fokus auf die Mensch-zentrierte temen beisteuern, genauer gesagt, zu sie ein quasi menschliches Verständnis künstliche Intelligenz, worum geht allen Bereichen, in denen der Faktor über Menschen erhalten, um nicht als es dabei genau? Mensch auch in Zukunft eine wichtige egoistische Systeme mit Vorfahrt zu gel- Rolle spielen wird. Die Herausforderung ten. Autonome Systeme ohne menschen- Meine Arbeiten sind vom Motiv „Vom liegt darin, den Menschen als einen sich ähnliches Verständnis von Menschen Menschen – für den Menschen lernen“ nicht-deterministisch und sehr unter- wären aus derzeitiger verkehrstechni- geleitet. Ich denke, dass gerade in die- schiedlich verhaltenden Faktor zu ver- scher Sicht nicht akzeptabel. sem Wechselspiel technische Innova- stehen. tionen für den Menschen entstehen und Auf technischer Seite liegt mein Fokus sich somit Industriebranchen weiterent- In aller Munde sind autonome Systeme, auf der Optimierung und Nutzbarma- wickeln lassen. Idealerweise entstehen die einen großen Nutzen versprechen, chung von Algorithmen des maschinel- dabei neue methodische Sichtweisen, mit beispielsweise autonome Fahrzeuge len Lernens, mit denen Sensortechno- denen sogar die menschliche Kognition oder Systeme mit hohem Automatisie- logien intelligenter werden. Der Mensch erforscht werden kann. Das ist ein An- rungsgrad. Autonome Systeme sind per ist hier in vielerlei Hinsicht ein Vorbild, liegen, das auf meine Zeit in der Grund- Definition zunächst nicht Mensch-zen- das über seinen gesamten „Lebenszy- lagenforschung im Bereich menschlicher triert. Betrachtet man insbesondere hö- klus“ hinweg das Zusammenspiel sei- Kognition an den Max-Planck-Instituten here Geschwindigkeitsregime und zu- ner Sinneswahrnehmungen optimiert, in Tübingen zurückgeht. Die Idee der dem noch Räume, in denen Menschen unter anderem durch Lernprinzipien. Mensch-Zentriertheit im Bereich der vorkommen – beispielsweise urbane Auch wenn noch lange nicht alle Mecha- künstlichen Intelligenz ist nicht neu und Lebensräume – erahnt man, dass die- nismen der menschlichen Wahrnehmung kann einen wichtigen Beitrag zur Indus- se Systeme ein hohes Gefährdungspo- verstanden sind, so lassen sich dennoch Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
FOKUS 17 Moderne Motion Capture- und VR-Technologien dienen zur Produktion wertvoller digitaler Menschmodelle, zum Beispiel in Simulationen von relevanten Sensordaten. © Hochschule Reutlingen spannende Anforderungen an technische ner alternden Gesellschaft für jeden re in der Sensorsimulation in Form der Sensorsysteme aus dem Wechselspiel nutzbar sind. beschriebenen Abbilder von Menschen, der Sinne ableiten, um diese intelligent deren Verhalten nach wie vor nicht in all zu gestalten. Das sollte auch soziale In- Die Realisierung KI-basierter Systeme ihren Facetten synthetisierbar ist. Aber telligenz einschließen. Und es führt zu ist für mich ebenso wichtig, wie deren auch hier entstehen gerade spannende verblüffenden neuen Funktionen: Bei- Folgen abschätzen zu können. Hier bie- Forschungsergebnisse, die sich für einen spielsweise können damit erweiterte ten neue VR-Technologien durch Inter- Transfer in verschiedenste Anwendun- Sinneswahrnehmungen aus mensch- aktionsmöglichkeiten ein realitätsna- gen eignen. licher Sicht erzeugt werden, was die hes Erleben von Zukunftstechnologien. Sicherheit von Systemen erhöht. Häu- Gleichzeitig stellen diese Simulations- In vielen der genannten Bereiche hält die fig spielt für einen Nutzer bei Anwendun- interaktionstechnologien Innovations- Forschung Grundlagen bereit. Hieraus gen die Berücksichtigung von mensch- grundlagen dar. Sie bieten die Basis, sind bereits Verfahren hervorgegangen, lichen Eigenschaften eine große Rolle. kritische Situationen, sogenannte Cor- die Anwendung in verschiedensten Bran- Das kann zum Beispiel ein Sichtunter- ner-Cases, zu produzieren und intel- chen finden. stützungssystem oder eine Aufmerksam- ligente Systeme damit abzusichern. In keitssteuerung im Auto sein. „Mensch- vielen Bereichen ist die notwendige Da- Sie sprechen vom maschinellen Ler- zentriert“ bedeutet hier, dies geschlossen tengrundlage für ein System nicht vor- nen wie auch der KI. Wie grenzen in einem gesamten Entwicklungssystem hersehbar. Ein Ausweg ist die Nutzung sich diese beiden Begriffe vonein- zu betrachten. Spannend wird es, wenn aufwendiger, möglichst naturgetreuer ander ab? Nutzer jenseits einer Norm Berücksich- Datensimulationen. Hier zeichnen sich tigung finden. Das erfordert KI-basierte immer stärkere Lösungen ab. Eine Her- Maschinelles Lernen wird als ein Teilge- Technologien, die barrierefrei und in ei- ausforderung besteht hier insbesonde- biet der künstlichen Intelligenz gesehen Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
18 FOKUS und entwickelt sich zurzeit noch sehr dynamisch. Der heutige Sprachgebrauch der künstlichen Intelligenz bezieht häu- fig die Definition des maschinellen Ler- nens mit ein. Hier kommen insbesonde- re bei begrenzt zur Verfügung stehenden Daten, auch Beobachtungen genannt, lernende Methoden zum Einsatz. Ma- schinelles Lernen erweitert häufig auch bisherige intelligente Suchstrategien, was die Lösung komplexer Optimie- rungsaufgaben erlaubt. Vor welche Herausforderungen stellt die aktuelle Entwicklung im KI-Be- Mensch-zentrierte Entwicklung von Sensorsystemen durch Eintauchen reich aus Ihrer Sicht Unternehmen, in virtuelle Welten mit zukünftigen interaktiven Systemen. insbesondere KMU? Viele Neuerungen im Bereich der KI be- tronik beim automatischen analogen aufbauen und den Nutzen von KI an ver- treffen den methodischen Bereich. Die Schaltungsentwurf. Hier zeichnet sich schiedensten Stellen erkennen: Das Methoden werden oft im Zusammen- ab, dass eine Kombination von geeigne- Spektrum reicht von Automatisierungs- hang mit speziellen Benchmarks von ten Simulationen, Expertenwissen und fragen bis hin zu Qualitätssicherungsas- forschenden KI-Wissenschaftlern ent- datengetriebenen KI-Methoden wie dem pekten. Wir erwarten, dass hier wieder- wickelt. Hier muss häufig erst das jewei- Reinforcement-Learning in Zukunft einen kehrende Lösungen nachgefragt werden, lige Abstraktionslevel erkannt werden, großen Beitrag leisten kann. die eine Integration verschiedener An- um bei diesen Neuerungen die Relevanz bieter erfordert. Gefragt werden neue für eine Anwendung zu erkennen. Die Sind erste Lösungen für ein Problem ge- KI-Ökosysteme sein, quasi KI-Zuliefer- Problemlösungsklassen lassen sich in funden und implementiert, müssen de- verbünde, die sich optimal ergänzen. Es Unternehmen meist schnell identifizie- ren Betrieb und Wartung gewährleistet ist zu hoffen, dass gerade produzieren- ren: Teilweise stellen sich Lösungsan- werden. Hier wird insbesondere bei grö- de Unternehmen im Rahmen solcher sätze für Unternehmen zunächst als ßeren Datenmodellen noch viel Erfah- KI-Ökosysteme neue Impulse bis in die komplex dar, teilweise steht das notwen- rung gesammelt. Während viele tech- KI-Grundlagenforschung geben können dige Expertenwissen nicht zur Verfügung. nologische Herausforderungen durch und hier neue KI-Forschungs-Bench- Eine empirische KI erfordert zudem im- zukünftige Dienstleister gelöst werden marks entwickelt werden, die nachhal- mer die Verfügbarkeit von relevanten können, besteht aber großer Bedarf an tig ganze Industriezweige voranbringen. Daten. Der Wert von Daten schließt häu- neuen Software- und KI-Hardware-Pro- Eine Herausforderung werden agile fig Domänenwissen zu bestimmten Er- dukten. In jedem Fall stellen Haftungs- Wettbewerber sein, die KI gekonnt ein- eignissen ein. Leider treten wichtige Er- fragen, vor allem im Bereich der Gesund- setzen, sehr früh in ihre Produkte inte- eignisse selten auf, sodass sich ein heitsindustrie, eine große regulatorische grieren und damit schneller und effizi- großer Datensatz als weit weniger wert- Herausforderung dar. enter produzieren oder komplett neue voll als zunächst angenommen heraus- Geschäftsmodelle entwickeln. stellt. Sie beschäftigen sich auch mit dem Thema KI-Ökosystem. Welches Po- Viele Branchen befinden sich im Auf- tenzial verbirgt sich gerade für pro- bruch zur Nutzung von KI. Während die duzierende Unternehmen dahinter? Automobilindustrie derzeit den Beweis der Umsetzung des allgemeinen auto- Komplexe Innovationen, insbesondere in PROF. DR.-ING. CRISTÓBAL CURIO cristobal.curio@steinbeis.de (Interviewpartner) nomen Fahrens noch erbringen muss klassischen produzierenden Unterneh- und KI hier unbestreitbar eine wesent- men, erfordern immer komplexere Ver- Steinbeis-Unternehmer Steinbeis-Transferzentrum liche Rolle spielt, verbergen sich große bünde und ineinandergreifende Beiträge. Mensch-zentrierte Künstliche Märkte zum Beispiel in Assistenzsyste- Vor allem kleinere produzierende Unter- Intelligenz (Tübingen) men anderer Art, wie in der Mikroelek- nehmen müssten mühsam KI-Wissen www.steinbeis.de/su/2387 Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
FOKUS 19 © istockphoto.com/metamorworks ALLES GUTE KOMMT VON OBEN DROHNENDATEN FÜR DIE KÜNSTLICHEN WELTEN AUTONOMER FAHRZEUGE Simulationen und dabei vor allem solche, die eine möglichst ausgeprägte Realitätsnähe wiedergeben, sind von besonderer Relevanz für das Erreichen höherer Autonomiegrade beim automatisierten Fahren. Bis eine geeignete Flottengröße diese Daten liefern kann, stellt das Gewinnen von Messdaten zur Steigerung der Simulationsgenauigkeit die größte Herausforderung dar. Neben Video- und Lidardaten aus der Fahrzeugperspektive werden auch die kompletten Fahrdaten verschiedener Verkehrssituationen benötigt. Mit der drohnenbasierten Luftbeobachtung lassen sich solche Verkehrsmessdaten erheben. Die IT-Designers Gruppe, in der auch das Steinbeis-Transferzentrum Softwaretechnik aktiv ist, hat mit dieser Methode schon Erfahrungen gesammelt. Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
20 FOKUS Horizontal gedrehte Ausschnitte einer Luftbeobachtung auf der A8 bei Wend- lingen. Die Ausschnitte zeigen die ver- folgten Fahrzeuge mit Bounding Boxes (oben), die ermittelten 3D-Fahrzeug dimensionen (Mitte) und die Fahrspuren (unten), auf welche die Fahrzeuge zugeordnet werden. Auf dem „AI Day“ 2021 zeigte Tesla einen DROHNENDATEN den, die von Messfahrzeugen dagegen beachtlichen Entwicklungsstand seines ALS ALTERNATIVE ZU nur vereinzelt durchfahren würden. Fahrstrategiemoduls. Sowohl für die TESTFAHRTEN Entwicklung seines bestehenden Fahr- „Für die Rekonstruktion des Straßenver- strategiesystems als auch für einen Inzwischen hat sich die drohnenbasierte kehrs werden die Videodaten in einer neuen, KI-basierten Planer wird eine Luftbeobachtung als sinnvolle Alterna- automatisierten Auswertungspipeline künstliche 3D-Trainingsumgebung ver- tive für die Erhebung von Verkehrsmess- verarbeitet. Unsere Arbeitsschritte um- wendet. Die Trainingsdaten hierfür daten etabliert. Kameradrohnen können fassen eine Kameraverfolgung, die De- werden aus den Flottendaten der ver- flexibel und schnell an verschiedenen tektion und Verfolgung der Fahrzeuge, kauften Fahrzeuge erhoben, aktuell laut verkehrlich interessanten Orten aufstei- eine Regression der 3D-Bounding-Bo- Tesla über 1,5 Millionen Fahrzeuge. So gen und dabei circa 500 Meter lange xes der Fahrzeuge sowie eine Fahr- können Daten für anspruchsvolle Fahr- Straßenabschnitte und Kreuzungsberei- spurerkennung und Fahrspurzuwei- situationen abgefragt und gesammelt che aufzeichnen. Voraussetzungen sind, sung“, erläutert Dr. Stefan Kaufmann werden. Dadurch steigt insbesondere dass für die Flüge entsprechend ge- (IT-Designers GmbH), der am Projekt die Erkennungsrate seltener Ereignisse, schultes Personal benötigt wird, Geneh- mitarbeitet. Für die Erkennung und die die das sichere, automatisierte Fahren migungen vorliegen müssen und die Auf- Verfolgung der Fahrzeuge wird ein neu- gefährden könnten. Diese Datenerhe- nahmedauer auf etwa eine halbe Stunde ronales Netz zur Objektdetektion und bungsmethode ist aktuell die einfachste begrenzt ist. Dennoch können bei Mess- Klassifikation nach Pkw, Van, Lkw/Bus und wird sehr wahrscheinlich auch ge- kampagnen mit mehreren Flügen leicht und Motorrad verwendet. Für das Trai- eignete Daten für seltene Verkehrser- mehrere Stunden Verkehrsdaten aufge- ning verwendet das Projektteam aktuell eignisse liefern – unter der Vorausset- zeichnet werden. 66.000 manuell annotierte oder verifi- zung, dass genügend Messfahrzeuge zierte Fahrzeugabbildungen. Ein weite- vorhanden sind. Das Team der IT-Designers Gruppe res neuronales Re-Identification (ReID)- nutzt diese Messmethode für ihre Ent- Netz unterstützt den Tracking-Prozess, Eine noch größere Rolle spielen künst- wicklungen. In einem dreißigminütigen indem es Fahrzeuge aufgrund ihrer vi- liche Welten bei der Alphabet-Tochter Drohnenflug an einer innerstädtischen suellen Eigenschaften voneinander un- Waymo, die seit rund fünf Jahren an Verkehrsader konnte es rund 1.350 terscheiden und somit gleiche Fahr- selbstfahrenden Fahrzeugen arbeitet. Fahrzeuge verfolgen. Diese legten ins- zeuge in unterschiedlichen Videobildern Waymo besitzt mit rund 1.000 Fahrzeu- gesamt 530 Kilometer Strecke in 41 wiederentdecken kann. Dieses Netz gen eine deutlich kleinere Flotte. Der Stunden Gesamtfahrzeit zurück. Das wurde mit 350.000 aus den bestehen- größte Teil der Testfahrten wird deshalb entspricht zwar bei Weitem nicht dem den Daten automatisiert extrahierten in Simulationen durchgeführt. Im Jahr Aufkommen von Flottenmessdaten, al- Fahrzeugabbildungen trainiert. Mithilfe 2020 waren dies laut Waymo etwa 30 lerdings können kritische Straßenab- von Clustering-Methoden können Fahr- Millionen Kilometer pro Tag. schnitte kontinuierlich beobachtet wer- zeugtrajektorien nach der Ähnlichkeit Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
FOKUS 21 ihrer Verläufe gruppiert werden. Dar- IT-Designers Gruppe Messdaten erfolg- aus ergeben sich Fahrspurinformatio- reich in einer Verkehrssimulation nen. Bisher liefert diese Methode bei nachstellen, für die Berechnungen ver- Luftbeobachtung eines innerstädtischen Straßenabschnitts (oben) und Nachstellung einfachen Straßenverläufen – wie bei- wendete es dabei das mikroskopische der Messung in einer SUMO-Simulation spielsweise auf Schnellstraßen – ver- Kerner-Klenov-S imulationsmodell. (unten). lässliche Ergebnisse. Für mehrspurige Mit dem Ziel einer möglichst realitäts- Kreuzungsverläufe sind aktuell noch nahen Nachbildung der Messung wer- manuelle Anpassungen nötig. den für jedes Fahrzeug individuelle Si- mulationsparameter ermittelt. Hierfür Zu den Messergebnissen gehören die wird jedes Fahrzeug einzeln im Ver- Fahrzeugdimensionen, Fahrtrichtung kehrsfluss der gemessenen Fahrzeug- sowie die Fahrzeugpositionen in Geo- trajektorien simuliert. Ein genetischer koordinaten, lokalen Koordinaten und Algorithmus optimiert in hunderten zurückgelegtem Weg auf einer Fahrspur. Durchläufen die Simulationsparame- Außerdem werden die Fahrzeugge- ter des Fahrprofils für eine möglichst schwindigkeiten und Beschleunigungs- ähnliche Wiedergabe des Geschwin- werte abgeleitet. Bei Vergleichsmessun- digkeitsverlaufs. Für die Einzelanpas- gen mit Referenzfahrzeugen konnte das sungen erreichte das Team so im Projektteam keine signifikanten Abwei- Durchschnitt eine Übereinstimmung chungen der Messdaten feststellen [1], von 89 % [2]. Diese simulierten Fahr- binden zu können. Auch komplexere, allerdings steht eine konkrete Ermitt- zeuge bewegen sich bisher nur eindi- zweidimensionale Fahrstrategien sollen lung der Messfehler noch aus. mensional entlang ihrer Fahrspuren. unterstützt werden. Dafür bieten sich KI- Sie können Fahrspurwechsel durch- basierte Fahrmodelle an, die für das Trai- AUSBLICK AUF STEIGENDE führen, allerdings fahren sie dafür nur ning allerdings deutlich mehr Messda- KOMPLEXITÄT UND einfache kontinuierliche Manöver. ten benötigen. Diese sollen als nächster ZWEIDIMENSIONALITÄT Schritt im vom Bundeswirtschaftsmi- In weiteren Schritten wollen die Experten nisterium geförderten Forschungspro- Das aktuelle System liefert somit bereits der IT-Designers Gruppe die Fahrprofile jekt LUKAS (Lokales Umfeldmodell für brauchbare Eingangsdaten für Simula- automatisiert optimieren und extrahie- das kooperative, automatisierte Fah- tions- und Trainingssysteme. In ersten ren, um sie daraufhin als Trainingssze- ren in komplexen Verkehrssituationen, Untersuchungen konnte das Team der narien in Simulationsumgebungen ein- www.projekt-lukas.de) erhoben werden. Literatur [1] S alles, Dominik; Kaufmann, Stefan; Reuss, PROF. DR. JOACHIM GOLL DR. STEFAN KAUFMANN Hans-Christian. Extending the Intelligent Driver joachim.goll@steinbeis.de (Autor) stefan.kaufmann@it-designers.de (Autor) Model in SUMO and Verifying the Drive Off Tra- jectories with Aerial Measurements. Steinbeis-Unternehmer Mitarbeiter issler, Christian; Kaufmann, Stefan. Model [2] E Steinbeis-Transferzentrum IT-Designers GmbH calibration to simulate driving recommendati- Softwaretechnik (Esslingen) (Esslingen) ons for traffic flow optimization in oversatura- ted city traffic, Procedia Computer Science 170 www.steinbeis.de/su/221 www.it-designers.de (2020): 482-489. www.stz-softwaretechnik.de Technologie.Transfer. Anwendung. TRANSFER 03|2021
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