Diskurs Wirtschaftspolitische Ideen und fi nanzpolitische Praxis in Deutschland - Ist die Schuldenbremse (der Fiskalpakt) die Ultima Ratio?

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Diskurs Wirtschaftspolitische Ideen und fi nanzpolitische Praxis in Deutschland - Ist die Schuldenbremse (der Fiskalpakt) die Ultima Ratio?
April 2013

Expertisen und Dokumentationen
zur Wirtschafts- und Sozialpolitik   Diskurs
                                     Wirtschaftspolitische Ideen
                                     und finanzpolitische Praxis
                                     in Deutschland
                                     Ist die Schuldenbremse
                                     (der Fiskalpakt) die Ultima Ratio?

                                                                          I
Diskurs Wirtschaftspolitische Ideen und fi nanzpolitische Praxis in Deutschland - Ist die Schuldenbremse (der Fiskalpakt) die Ultima Ratio?
II
Diskurs Wirtschaftspolitische Ideen und fi nanzpolitische Praxis in Deutschland - Ist die Schuldenbremse (der Fiskalpakt) die Ultima Ratio?
Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts-
und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

Wirtschaftspolitische Ideen
und finanzpolitische Praxis
in Deutschland
Ist die Schuldenbremse
(der Fiskalpakt) die Ultima Ratio?

Dieter Vesper
Diskurs Wirtschaftspolitische Ideen und fi nanzpolitische Praxis in Deutschland - Ist die Schuldenbremse (der Fiskalpakt) die Ultima Ratio?
WISO
 Diskurs                                                                                       Friedrich-Ebert-Stiftung

           Inhaltsverzeichnis

              Abbildungs- und Tabellenverzeichnis                                                                          3

              Vorbemerkung                                                                                                 4

              Zusammenfassung                                                                                              5

              1. Einleitung                                                                                                7

              2. Von der Globalsteuerung zur Angebotspolitik                                                               9
                 2.1 Keynesianismus und Globalsteuerung                                                                    9
                 2.2 Kritik am Keynesianismus – wenig stichhaltig                                                         11
                 2.3 Neoklassik-Monetarismus und Angebotspolitik                                                          12
                 2.4 Kritik an der neoklassisch-monetaristischen Sicht – berechtigt                                       13
                 2.5 Der „neue“ Konsens in der Makroökonomik – neue Erkenntnisse für die
                     Wirtschaftspolitik?                                                                                  14
                 2.6 Staatsschulden – die Zuspitzung der Kontroverse                                                      17

              3. In welchem Maße hat die Fiskalpolitik den Wirtschaftsverlauf beeinflusst?                                20
                 3.1 Nachfragepolitik vs. Angebotspolitik in den 1970er und 1980er Jahren                                 20
                 3.2 Die Jahre nach der Wiedervereinigung                                                                 22
                 3.3 Finanzpolitik in und nach der „Großen Krise“                                                         27
                 3.4 Die europäische Dimension                                                                            29

              4. Bedarf es in Deutschland (und in Europa) einer Schuldenbremse?                                           31
                 4.1 Begründung und Konzeption                                                                            31
                 4.2 Kritik am Konzept der Schuldenbremse                                                                 33

              5. Umrisse einer zukunftsfähigen Finanzpolitik                                                              35
                 5.1 Die Ausgangslage                                                                                     35
                 5.2 Ansätze für eine Revision der Finanzpolitik in Deutschland                                           35
                 5.3 Anforderungen an die Wirtschaftspolitik in der Europäischen Währungsunion                            38

              6. Resümee                                                                                                  41

              Literaturverzeichnis                                                                                        44

              Der Autor                                                                                                   46

              Diese Expertise wird von der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-
              Stiftung veröffentlicht. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind vom Autor in
              eigener Verantwortung vorgenommen worden.

              Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung | Herausgeber: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der
              Friedrich-Ebert-Stiftung | Godesberger Allee 149 | 53175 Bonn | Fax 0228 883 9202 | www.fes.de/wiso |
              Gestaltung: pellens.de | Fotos: Fotolia | Druck: bub Bonner Universitäts-Buchdruckerei |
              ISBN: 978 - 3 - 86498 -501- 0 |
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Wirtschafts- und Sozialpolitik
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Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Schaubild 1:       Nachfrageimpulse der Finanzpolitik im Konjunkturverlauf                 20

Schaubild 2:       Gewinne, Investitionen und Steuerbelastung der Kapitalgesellschaften    26

Tabelle 1:         Einnahmen und Ausgaben des Staates in % des nominalen
                   Bruttoinlandsprodukts                                                   25

Tabelle 2:         Finanzierungssalden der volkswirtschaftlichen Sektoren in Deutschland   27

Tabelle 3:         Konjunktur- und Strukturkomponente im Bundeshaushalt 2001 bis 2007      32

Tabelle 4:         Konjunkturkomponente in den Länderhaushalten 2001 bis 2007              32

                                                                                                3
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           Vorbemerkung

           In den Jahren 2008/2009 hatte es kurze Zeit den           kalpolitischer Stabilisierungsmaßnahmen basieren
           Anschein, als ob die globale Finanz- und Wirt-            und wie sie aus empirischer Sicht zu bewerten
           schaftskrise die bis dahin dominierenden wirt-            sind. Zum anderen sollte aufgezeigt werden, wel-
           schaftstheoretischen Modelle und die auf ihnen            che Maßnahmen geeignet und erforderlich sind,
           basierenden wirtschaftspolitischen Empfehlungen           um der Gefahr einer aus dem Ruder laufenden
           in ihren Grundfesten erschüttern würde. Dies              Staatsverschuldung, die den Spielraum für kurz-
           zeigte sich u. a. auch im Bereich der Fiskalpolitik,      fristige fiskalpolitische Stabilisierungsmaßnahmen
           als nahezu alle entwickelten Volkswirtschaften in         einzuschränken vermag, entgegenzuwirken.
           der Hochphase der globalen Finanz- und Wirt-                   Der Autor kommt in seiner Analyse zu dem
           schaftskrise – mit Erfolg – auf massive konjunktur-       Ergebnis, dass antizyklische Fiskalpolitik in frühe-
           politische Maßnahmen zur Stabilisierung der ge-           ren Jahren wie auch in der jüngsten Finanz- und
           samtwirtschaftlichen Entwicklung zurückgriffen.           Wirtschaftskrise in Deutschland, wenn sie richtig
           Vor allem aus Sicht der deutschen Wirtschafts-            implementiert und makroökonomisch flankiert
           politik kann dieses Vorgehen nahezu als revolutio-        wurde, durchaus erfolgreich war. Im Hinblick auf
           när angesehen werden, wurde doch insbesondere             das Ziel einer Stabilisierung und Rückführung der
           von deutschen Vertretern des wirtschaftswissen-           Staatsverschuldung hebt er hervor, dass diese kei-
           schaftlichen Mainstreams lange Zeit bestritten, dass      ne direkt durch die Politik zu steuernde ökonomi-
           mit fiskalpolitischen Maßnahmen zur Stabilisie-           sche Größe darstellt, sondern dass sie sich erst aus
           rung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung nen-          dem gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang her-
           nenswerte positive Effekte einhergehen würden.            aus ergibt. Vor allem die zunehmende Ungleich-
                Bereits ab dem Jahr 2010 scheint von die-            heit von Einkommen und Vermögen, das Auftre-
           sem fiskalpolitischen Sinneswandel zumindest in           ten massiver außenwirtschaftlicher Ungleichge-
           Deutschland kaum noch etwas übrig geblieben zu            wichte und die damit einhergehenden privaten
           sein. Mit Verweis auf die nunmehr vermeintlich            Überschuldungs- und Bankenkrisen stellen erheb-
           zu hohe Staatsverschuldung sowie auf Basis der            liche Gefahren für die Nachhaltigkeit der Staats-
           Aussagen der „alten“ wirtschaftstheoretischen             finanzen dar. Daher würde weder die deutsche
           Mainstream-Modelle wurde in Deutschland und               Schuldenbremse für sich genommen ein geeigne-
           Europa der fiskalpolitische Hebel schnell, rückbli-       tes Konzept darstellen, um die Staatsverschuldung
           ckend betrachtet wohl eher zu schnell und zu              zu reduzieren, noch ließe sich mit Hilfe des
           wenig koordiniert in Richtung Haushaltskonsoli-           Europäischen Fiskalpaktes die europäische „Staats-
           dierung umgelegt. Der Effekt dieser scharfen, kei-        schuldenkrise“ lösen. Insgesamt leistet die vorlie-
           ne Rücksicht auf die gesamtwirtschaftliche Ent-           gende Studie einen wichtigen Beitrag, um die
           wicklung nehmenden Austeritätspolitik war ein             insbesondere in Deutschland in Politik und Gesell-
           Abgleiten von immer mehr europäischen (Krisen-)           schaft immer noch existierenden Verständnisdefi-
           Staaten in eine schwere Rezession.                        zite hinsichtlich der makroökonomischen Bedeu-
                Vor diesem Hintergrund hat die Friedrich-Ebert-      tung der Fiskalpolitik und hinsichtlich der notwen-
           Stiftung einen Forschungsauftrag an Dr. Dieter            digen Voraussetzungen für eine nachhaltige Kon-
           Vesper, ehem. Wissenschaftler am Deutschen Insti-         solidierung der Staatsfinanzen zu überwinden.
           tut für Wirtschaftsforschung (DIW), vergeben. Ziel
           war es, zum einen herauszuarbeiten, auf welchen                                            Markus Schreyer
           theoretischen Annahmen Aussagen hinsichtlich                      Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik
           der Effektivität bzw. Ineffektivität kurzfristiger fis-                           Friedrich-Ebert-Stiftung

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Wirtschafts- und Sozialpolitik
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                                                                                                            Diskurs

Zusammenfassung

Die wirtschaftlichen Turbulenzen der letzten Jah-     re, also die Zeit nach dem wirtschaftspolitischen
re haben nicht nur die Frage aufkommen lassen,        Paradigmenwechsel, waren durch äußerst be-
ob sich die Wirtschaftspolitik in der Krise befin-    scheidenes Wirtschaftswachstum geprägt, ebenso
det. Auch die Wirtschaftswissenschaften selbst        die Zeit Mitte der 1990er Jahre und vor allem nach
sind in die Kritik geraten. Tatsächlich vermitteln    2000. In den Jahren nach 2000 war die Wirtschafts-
die Märkte, insbesondere die Finanzmärkte, nicht      politik ausschließlich darauf ausgerichtet, ent-
das Bild, das die neoklassische Mainstream-Öko-       sprechend der neoklassischen Doktrin die Lohn-
nomie immer wieder propagiert, nämlich effi-          kosten und Abgabenbelastung der deutschen
ziente Märkte, deren Funktionsmechanismen             Wirtschaft zu senken sowie die Arbeits- und
keine Störungen zulassen würden. Wenn es zu           Finanzmärkte zu deregulieren. Im Ergebnis blieb
Störungen komme, dann seien diese vorüber-            die Lohnentwicklung weit hinter dem Produk-
gehender Natur oder exogen, vor allem durch           tivitätsfortschritt und der Zielinflationsrate der
staatliche Interventionen verursacht. Doch die        Zentralbank zurück. Doch waren mit dieser Stra-
„Große Krise“ hat – wieder einmal – vor Augen         tegie mehrere gesamtwirtschaftlich ungünstige
geführt, dass das Verhalten der Marktakteure          Konsequenzen verbunden: Die Binnennachfrage
suboptimale Ergebnisse hervorbringt und alles         stagnierte, die oberen Einkommensbezieher
andere als rational ist. Auch hat sie gezeigt, dass   mit geringerer marginaler Konsumquote wurden
ohne staatliche Eingriffe der Einbruch auf den        sowohl durch die primäre Einkommensvertei-
Märkten weit länger gedauert und zu noch grö-         lung als auch durch die staatliche Umverteilung
ßeren sozialen Verwerfungen geführt hätte.            begünstigt, so dass die Gewinneinkommen ra-
     Umso mehr muss verwundern, dass die Poli-        sant stiegen, doch blieb die Investitionstätigkeit
tik in Deutschland nach 2009 weiterhin an alten       matt. Die deutschen Exporteure waren zwar dank
Denkmustern festhält, die sich an Empfehlungen        relativ geringer Lohnstückkostensteigerungen
der neo- oder neuklassischen Theorie orientiert.      international überaus erfolgreich, aber es ver-
Sie basiert im Wesentlichen auf zwei Elementen,       schärften sich die Absatzprobleme anderer Volks-
der sog. Lucas-Kritik und dem Konzept der „na-        wirtschaften.
türlichen Arbeitslosenquote“. Rational handeln-            Diese ungleichgewichtigen Entwicklungen
de Marktakteure würden demnach ihre Reaktio-          entluden sich ab 2008 in der „Großen Krise“. In
nen an jede Politikmaßnahme anpassen, so dass         der öffentlichen Wahrnehmung werden aller-
wirtschaftspolitische Maßnahmen letztlich wir-        dings nicht diese Ungleichgewichte als zentrale
kungslos blieben. Auch steige mit jeder Wirt-         Krisenursache genannt. Vielmehr wird das Folge-
schaftskrise bei inflexiblen (Arbeits-)Märkten das    problem, die Entwicklung der Staatsschulden, als
Niveau der Arbeitslosigkeit, und eine Rückkehr        zentrale Krisenursache thematisiert – ganz im
zum Vorkrisenniveau sei (ohne flexible Arbeits-       Sinne des neoklassischen Dogmas. Es fehlt die Be-
märkte) mit erheblichen Kosten in Form von In-        reitschaft anzuerkennen, dass zwischen gesamt-
flation und Staatsverschuldung verbunden. Die         wirtschaftlicher Entwicklung und Staatsver-
hohe Staatsverschuldung wiederum verdränge            schuldung eine sehr enge Beziehung besteht.
private Investitionen und schmälere das Wirt-         Stattdessen glaubt die Politik, mit dem Instru-
schaftswachstum.                                      ment einer Schuldenbremse die europäische
     Doch waren die wirtschaftspolitischen Erfol-     „Staatsschuldenkrise“ lösen zu können. Dabei
ge dieser Strategie überschaubar. Die 1980er Jah-     wird verkannt, dass nicht das Instrument der

                                                                                                           5
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           Schuldenbremse Voraussetzung für geringere            Entscheidungsfindung erheblich unterschätzt.
           Staatsschulden ist, sondern dass es die wirtschaft-   Notwendig sind vielmehr wachstumsfördernde
           lichen Rahmenbedingungen sind, die entschei-          Maßnahmen. Hier ist insbesondere Deutschland,
           dend für den Konsolidierungserfolg sind. Abgese-      das riesige Leistungsbilanzüberschüsse produziert
           hen davon weist das Konzept der Schuldenbrem-         und inzwischen aufgrund einer ebenfalls sehr
           se schwerwiegende methodische Probleme auf. Es        restriktiven Finanzpolitik einen ausgeglichenen
           steht und fällt damit, ob zwischen konjunktu-         Staatshaushalt aufweist, gefordert. Dringend er-
           rellem und strukturellem Defizit unterschieden        forderlich sind mehr Bildungsausgaben und Aus-
           werden kann. Doch ist dies kaum möglich.              gaben zum Ausbau bzw. zur Modernisierung der
                Massive Leistungsbilanzungleichgewichte zer-     Netzinfrastruktur. Zur Finanzierung sollten auch
           stören auf Dauer eine Währungsunion, denn Auf-        steuerpolitische Maßnahmen ergriffen werden.
           und Abwertungen der nationalen Währungen              In den letzten Jahrzehnten sind enorme Vermö-
           sind nicht mehr möglich. Eine engere Abstim-          gensbestände konzentriert bei wenigen Einkom-
           mung von Lohn- und Fiskalpolitik der Mitglieds-       mensgruppen aufgebaut worden. Eine stärkere
           staaten der Euro-Zone ist daher erforderlich, soll    Besteuerung dieser Vermögen würde nicht nur
           die Währungsunion funktionieren. Aus der Wirt-        dem Staat dringend benötigte Mehreinnahmen
           schaftskrise wird sich Europa nicht mit Hilfe um-     verschaffen, sondern auch dazu beitragen, dass
           fangreicher Sparprogramme lösen können. Diese         der Wohlstand etwas gerechter verteilt würde.
           Sparprogramme ziehen massive gesamtwirt-              Eine höhere Besteuerung der Vermögen hätte zu-
           schaftliche Schäden in Form von Einkommens-           dem den Vorteil, dass gesamtwirtschaftlich keine
           und Nachfrageausfällen nach sich. Offensichtlich      negativen Effekte zu erwarten wären.
           wurden die fiskalischen Multiplikatoren bei der

      6
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                            WISO
                                                                                                             Diskurs

1. Einleitung

In Deutschland wird die europäische Finanz- und       oft zu spät und zu heftig. Marktsysteme besitzen
Wirtschaftskrise vor allem als Staatsschuldenkrise    demzufolge keine hinreichenden Mechanismen,
thematisiert. Insbesondere die südeuropäischen        Ungleichgewichte aus eigener Kraft rasch zu über-
Länder hätten, so die weit verbreitete Meinung,       winden. Deshalb besteht Bedarf an staatlichen
über ihre Verhältnisse gelebt und müssten nun         Interventionen, dieses Marktversagen zu korrigie-
den Gürtel enger schnallen: Lohnsenkungen,            ren, sei es, um gesamtwirtschaftliche Krisen zu
Arbeitsmarktreformen, Rückführung überborden-         bekämpfen, oder sei es, um soziale Ungleichge-
der Sozialleistungen sowie eine massive Ver-          wichte zu verringern.
ringerung der Staatsverschuldung werden als                In der hier vorgelegten Expertise geht es dar-
Lösungsweg propagiert. Mit dem „Europäischen          um, den Zusammenhang zwischen gesamtwirt-
Fiskalpakt“ wurde eine Schuldenbremse nach            schaftlicher Entwicklung, staatlichen Interven-
deutschem Vorbild implementiert. Über den Kon-        tionen und Staatsverschuldung zu analysieren
junkturzyklus hinweg dürfen demnach (nahezu)          und vor dem Hintergrund der neueren Entwick-
keine neuen Schulden aufgenommen werden.              lungstendenzen in der Makroökonomik zu dis-
Die Frage ist, ob dieser Ansatz zur Lösung der        kutieren. In einem ersten Schritt soll aufgezeigt
schweren Probleme, mit denen Europa kon-              werden, auf Basis welcher Theorieansätze und
frontiert ist, taugt. Eine andere Meinung sieht die   Annahmen die insbesondere in Deutschland häu-
Ursachen dieser Probleme tiefer liegen: An erster     fig gehörten und der keynesianistischen Sicht-
Stelle werden die gewaltigen außenwirtschaft-         weise entgegenstehenden Aussagen abgeleitet
lichen Ungleichgewichte innerhalb der Europä-         werden, antizyklische Fiskalpolitik sei nicht wirk-
ischen Währungsunion genannt; auch die wach-          sam und Staatsverschuldung vermöge keine ge-
sende Schieflage in der Einkommensverteilung in       samtwirtschaftlichen Probleme zu lösen. Fiskal-
Deutschland und anderswo wird als Ursache             politik sei vor allem deshalb wirkungslos, weil die
identifiziert.                                        Marktakteure wirtschaftspolitische Maßnahmen
     Hinter beiden Sichtweisen stehen unter-          und deren Wirkungen in ihren Planungen anti-
schiedliche theoretische Grundpositionen: auf         zipieren. Auch stehe der Verschuldungshunger
der einen Seite die neoklassische oder – in ihrer     des Staates mit den Kreditwünschen des privaten
politischen Ausprägung – neoliberale Position,        Sektors in Konkurrenz und verdränge daher
die auf dem Vertrauen in die Selbststeuerungs-        diesen vom Markt. Langfristig besitze zudem die
kräfte des Marktes fußt und auftretende Ungleich-     Frage der „Generationengerechtigkeit“ einen ho-
gewichte entweder als bloß vorübergehend oder         hen Stellenwert. In einem zweiten Schritt soll
als exogene Störung, beispielsweise hervorgeru-       dann geprüft werden, in welchem Maße die
fen durch zu hohe Steuern oder Sozialleistungen,      wirtschaftspolitischen Implikationen beider An-
interpretiert; auf der anderen Seite die Auffas-      sätze – des Keynesianismus und der Neoklassik
sung, dass die Märkte höchst störanfällig sind,       bzw. dem Monetarismus – in der deutschen Poli-
weil Investitionsentscheidungen unter sehr un-        tik ihren Niederschlag gefunden und die wirt-
sicheren Erwartungen und bei unvollkommenen           schaftliche Entwicklung beeinflusst haben.
Informationen getroffen werden müssen. Die                 Vor diesem Hintergrund wird dann die Frage
Marktteilnehmer handeln längst nicht immer ra-        aufgeworfen, ob die „Schuldenbremse“ ein sinn-
tional, folgen einem Herdentrieb und reagieren        volles Instrument zur Bekämpfung der Staats-

                                                                                                            7
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 Diskurs                                                                                      Friedrich-Ebert-Stiftung

           verschuldung sein kann. Läuft die Politik nicht      rungsregel“, wonach die öffentlichen, wachs-
           Gefahr, einem Konzept zu huldigen, das auf ei-       tumswirksamen Investitionen über Kredite finan-
           nem gesamtwirtschaftlichen „Schönwetterszena-        ziert werden können, eine erhebliche und nach-
           rio“ beruht? Wenn die gesamtwirtschaftlichen         haltige Selbstbindung der Politik dar, die gesamt-
           Rahmenbedingungen günstig sind, bedarf es kei-       wirtschaftlich problematisch erscheint. Wenn auf
           nes expliziten Hilfsinstrumentes, um die Staats-     nationaler Ebene die finanzpolitischen Hand-
           verschuldung zu begrenzen. Sind sie es nicht, ge-    lungsmöglichkeiten eingeschränkt werden, ist zu
           rät die Politik so oder so in die Zwickmühle, und    fragen, ob der europäischen Ebene eine stärkere
           zwar um so mehr, je weniger symmetrisch die          Steuerungskompetenz eingeräumt werden sollte.
           Konjunkturschwankungen sind und je weniger           Die Unterstützer dieser These argumentieren,
           sich die Fiskalpolitik mit der Lohn- und Geldpoli-   dass dann den Bedingungen der Währungsunion
           tik abstimmt. Wie kann unter dem neuen insti-        und eines gemeinsamen Binnenmarktes besser
           tutionellen Regime eine wirksame antizyklische       Rechnung getragen werden könnte. Neben die
           Fiskalpolitik betrieben werden? In jedem Fall        europaweite Geldpolitik träte eine Finanzpolitik,
           stellt die Abkehr von der „goldenen Finanzie-        in deren Fokus ebenfalls Europa stünde.

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Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                                                             WISO
                                                                                                                                              Diskurs

2. Von der Globalsteuerung zur Angebotspolitik

2.1 Keynesianismus und Globalsteuerung                                 halb störanfällig, weil Investitionsentscheidun-
                                                                       gen unter Unsicherheit (unsichere Erwartungen,
Wirtschaftspolitische Ausrichtung und wirt-                            unvollkommene Informationen) getroffen wer-
schaftspolitische Erfolge bzw. Misserfolge stehen                      den müssen und im Konjunkturverlauf stark
in einer Wechselbeziehung. Als erstmals nach der                       schwanken.1 Die Nichtexistenz eines walrasiani-
Währungsreform sich die wirtschaftliche Ent-                           schen Auktionators2 birgt latent die Gefahr eines
wicklung in den Jahren 1966/67 abkühlte und                            Gleichgewichts bei Unterbeschäftigung, ein
eine Rezession befürchtet wurde, berief man sich                       Gleichgewicht bei Vollbeschäftigung ist daher
in Deutschland auf die Tradition von Keynes und                        eher zufällig. Ein restriktiver Impuls wird sich
befürwortete eine aktive Rolle des Staates bei der                     kaum in sinkenden, markträumenden Preisen
Überwindung negativer Nachfrageschocks. Auch                           „auflösen“; viel wahrscheinlicher ist es, dass er in
in den Jahren zuvor hatte sich die Wirtschafts-                        einer kumulativen Abwärtsspirale verstärkt wird:
politik nicht abstinent verhalten, sondern aktiv                       Da die Anbieter bei sinkenden Preisen Einkom-
in das Wirtschaftsgeschehen eingegriffen. Zwar                         mensverluste hinnehmen müssen, werden sie
setzte seinerzeit die Politik auf den sich selbst                      ihrerseits mit einer geringeren Nachfrage reagie-
regulierenden Marktmechanismus als grundle-                            ren. Geldlöhne und Preise reagieren also relativ
gende ordnungspolitische Idee. Doch räumte das                         träge auf Nachfrageänderungen. Zwar werden in
Konzept der „sozialen Marktwirtschaft“ dem Staat                       einer Rezession die Zinsen zu sinken beginnen,
durchaus eine bedeutsame Rolle ein. So zielte die                      da die Geldnachfrage bei konstantem Geldange-
Politik des sozialen Ausgleichs auf den Ausbau                         bot kleiner wird. Ob dadurch aber die Investi-
des sozialen Sicherungssystems, und hohe Steuer-                       tionstätigkeit stimuliert wird, ist fraglich, denn
sätze sollten eine Korrektur der marktlichen Ver-                      die sinkende Nachfrage erfordert geringere Pro-
teilungsergebnisse herbeiführen. Für eine aktive                       duktionskapazitäten.
Konjunktursteuerung indes bestand vor der Krise                             Dem Geldlohn wird in der Keynesschen
1966/67 angesichts des starken Wirtschafts-                            Theorie als Instrument zur Bekämpfung von Kri-
wachstums keine Veranlassung.                                          sen eine relativ geringe Bedeutung beigemessen,
     Dreh- und Angelpunkt der Keynesschen                              weil es vor allem auf die Erzeugung stabiler Er-
Theorie ist die effektive Nachfrage. Das Arbeitsan-                    wartungshaltungen ankomme. Deshalb sollten
gebot schafft sich nicht automatisch seine eigene                      Löhne und Preise nicht sofort auf jedes Ungleich-
Nachfrage, wie es die Klassik (Saysches Theorem)                       gewicht reagieren. Fehlende Flexibilitäten sind
postuliert hatte. Kommt es zu einer gesamtwirt-                        nicht bloß Schönheitsfehler eines Gleichgewichts-
schaftlichen Störung, findet die Wirtschaft nicht                      systems, Ausdruck von Gewerkschaftsmacht oder
von selbst oder viel zu langsam zurück ins (Voll-                      monopolistischer Marktstrukturen. Sie erleichtern
beschäftigungs-)Gleichgewicht. Märkte sind des-                        vielmehr zukunftsorientiertes Handeln in einem

1   Für Keynes liegt die Ursache für Instabilitäten nicht in der Höhe der Löhne, sondern in den unsicheren Erwartungen der Investoren
    begründet.
2   Die klassische Theorie vermag nicht überzeugend zu erklären, wie durch das Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage sich ein
    Marktgleichgewicht spontan herausbildet. Deshalb bedient sie sich einer Metapher, eines fiktiven Auktionators, der einen Preis ausruft
    und ermittelt, welche Mengen die Marktteilnehmer zu diesem Preis bereit sind anzubieten bzw. nachzufragen.

                                                                                                                                             9
WISO
 Diskurs                                                                                                                  Friedrich-Ebert-Stiftung

           Marktsystem. Typischerweise vereinbaren die Ta-                        dieser Einkommenserhöhung gespart, so dass zu-
           rifparteien aus Gründen der mikroökonomischen                          nächst ein geringerer Teil des Impulses nachfrage-
           Effizienz Lohnabschlüsse, die über einen gewis-                        und einkommenswirksam wird.
           sen Zeitraum Bestand haben.                                                 Verstärkt wird die Multiplikatorwirkung
                 Mit dem 1967 verabschiedeten „Stabilitäts-                       durch den Akzelerator, nämlich wenn nachfrage-
           und Wachstumsgesetz“ fand in Deutschland                               bedingte Einkommensänderungen zusätzliche
           keynesianische Wirtschaftspolitik ihre normative                       Investitionen induzieren bzw. im umgekehrten
           Verankerung. Das Instrumentarium beschränkt                            Fall der Rotstift bei den Investitionen angesetzt
           sich nicht auf die Krisenbekämpfung (antizyk-                          wird. Geschwächt wird die Wirkung der Verstär-
           lische Variation der Staatsausgaben, befristete                        ker durch Sickerverluste in einer offenen Volks-
           Steuersatzänderungen, Abschreibungsvergünsti-                          wirtschaft; je höher der Offenheitsgrad, desto
           gungen); ebenso sind Maßnahmen zur Bekämp-                             geringer sind die Multiplikatorwirkungen.3 Auch
           fung eines Nachfragebooms vorgesehen. Zudem                            das Wechselkursregime spielt eine große Rolle bei
           wurde erstmals der Versuch unternommen, die                            der Beurteilung der Wirksamkeit fiskalpolitischer
           einzelnen Bereiche der Wirtschaftspolitik im                           Maßnahmen. Ist die fiskalische Expansion mit
           Rahmen der „Konzertierten Aktion“ zu koordi-                           einem Anstieg der Zinsen verbunden, so wird dies
           nieren. Besondere Bedeutung wurde der Einkom-                          tendenziell zu einer Aufwertung und somit zu
           menspolitik geschenkt. Dadurch sollten Kosten                          einer Dämpfung der Exporte und Begünstigung
           und Preise stabilisiert und Konflikte mit der (un-                     der Importe führen. Die Frage ist, wie stark ein
           abhängigen) Geldpolitik vermieden werden. Die                          solcher Effekt, zumal in der Währungsunion,
           Konzertierte Aktion sollte zugleich als Plattform                      wirklich wiegt. Schließlich sind die insbesondere
           für den makroökonomischen Dialog und die                               im Steuer- und Sozialsystem eingebauten sog.
           Formulierung von Lohnleitlinien dienen; ver-                           automatischen Stabilisatoren zu berücksichtigen,
           bindliche Beschlüsse waren aber nicht vorgese-                         die im Verlauf des Multiplikatorprozesses in Kraft
           hen. Monetären Impulsen wurden im Gegensatz                            treten. Mit der Erhöhung der Einkommen und
           zu fiskalischen eine eher indirekte und langsamere                     Umsätze steigen die Steuern und, wie bereits er-
           Wirkung auf die wirtschaftliche Entwicklung zu-                        wähnt, die Einfuhren (Importe), teilweise sogar
           gesprochen, weil die Investitionsnachfrage pri-                        progressiv. Das Finanzierungsdefizit des Staates
           mär von der erwarteten Kapazitätsauslastung und                        beginnt zu sinken und wird, sofern der Auf-
           den weiteren Wachstumsaussichten abhängt.                              schwung kräftig genug ist, von einem Finanzie-
                 Eine wichtige Rolle im keynesianischen Sta-                      rungsüberschuss abgelöst. Auch der bremsende
           bilisierungskonzept spielt der Fiskalmultiplikator.                    Effekt der marginalen Sparquote ist in Rechnung
           Er gibt an, um wie viel sich das Einkommen än-                         zu stellen.
           dert, wenn die Staatsausgaben und/oder die                                  Je stärker der Multiplikator ist, desto wirksa-
           Staatseinnahmen verändert werden. Der Multi-                           mer sind stabilisierungspolitische Maßnahmen.
           plikator von Staatsausgaben, sofern sie keine                          Auch für die Frage der Staatsverschuldung ist die
           Transferausgaben sind, ist höher als der von                           Höhe des Multiplikators von Bedeutung. Ein Bei-
           Staatseinnahmen, weil die Ausgaben unmittelbar                         spiel soll dies verdeutlichen: Ein kreditfinanzier-
           und in voller Höhe nachfragewirksam werden                             ter Nachfrageimpuls von einer Milliarden Euro
           und die Einkommen sich entsprechend erhöhen.                           bewirkt bei einem Multiplikator von 1,5 eine
           Werden dagegen die Steuern gesenkt oder die                            effektive Erhöhung der Gesamtnachfrage um
           Transfereinkommen erhöht, so wird in Abhän-                            1,5 Milliarden Euro. Bei einer Steuer- und Bei-
           gigkeit von der marginalen Sparneigung ein Teil                        tragsquote von 40 Prozent fließen 600 Millionen

           3   Auch das Wechselkursregime spielt eine Rolle. Bei festen Wechselkursen wird die Wirkung höher sein als bei flexiblen, weil eine expan-
               sive Politik höhere Zinsen und damit Kapitalimporte nach sich zieht, während bei flexiblen Wechselkursen die heimische Währung
               aufgewertet wird und in der Folge Exportverluste eintreten.

    10
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                            WISO
                                                                                                             Diskurs

Euro an Steuern und Sozialbeiträgen zurück, d. h.      Dosierung und der Befristung zu lösen. Zudem
der Schuldenstand erhöht sich per Saldo um 400         sind Koordinationsprobleme zwischen der Fis-
Millionen Euro. Für eine vollständige Selbstfinan-     kal-, der Geld- und der Lohnpolitik zu überwin-
zierung müsste der Multiplikator 2,5 betragen,         den (Priewe 1996). Auch Schätzunsicherheiten
eine Größenordnung, die in der Realität wohl           bezüglich der Höhe des Multiplikators werden als
kaum vorzufinden ist. In verschiedenen empiri-         Ursache für die begrenzte Prognosefähigkeit fis-
schen Untersuchungen werden für die Fiskalmul-         kalpolitischer Stabilisierungsmaßnahmen ange-
tiplikatoren sehr unterschiedliche Werte genannt.      führt. All diese Probleme diskretionärer Steuerung
Für die Staatsausgaben liegen sie im Durchschnitt      sind nicht zu leugnen, dürfen aber nicht ablen-
bei einem Wert von über 1, für die Steuereinnah-       ken von der zentralen Bedeutung der automati-
men unter 1. Die Berechnungen unterscheiden            schen Stabilisatoren, wenngleich deren Wirksam-
sich nicht nur in Abhängigkeit von den gewähl-         keit in den zurückliegenden Jahren im Zuge von
ten Modelltypen, der Methodik oder der Art des         Reformen im Steuer- und Sozialsystem zuneh-
Impulses, sondern auch dadurch, wie die Geld-          mend beschnitten wurde. Vor allem muss sicher-
politik sich verhält. Bei akkommodierender oder        gestellt werden, dass diese Stabilisatoren in Kri-
gar betont expansiver Geldpolitik sind die Multi-      senphasen uneingeschränkt, also ohne gleichzei-
plikatoren signifikant höher, ebenso bei einem         tige kompensierende (Spar-)Maßnahmen wirken
Fiskalimpuls, der auf öffentliche Investitionen        können. Ungeachtet dessen lassen sich die bei
setzt. Insgesamt streuen die Ergebnisse stark und      diskretionären fiskalpolitischen Maßnahmen üb-
lassen eine Vielzahl sich überlagernder Einfluss-      licherweise auftretenden time-lags durch eine
faktoren vermuten (Gechert/Will 2012).                 vorausschauende Politik verringern. Darüber hin-
                                                       aus lassen sich die Multiplikatorwirkungen auch
                                                       bei offenen Märkten durch eine engere Koordi-
2.2 Kritik am Keynesianismus – wenig                   nierung der Fiskal-, Geld- und Lohnpolitiken auf
    stichhaltig                                        nationaler wie auch auf internationaler (z. B. in
                                                       Europa) Ebene stärken, wie die Überwindung der
Die rasche Überwindung der wirtschaftlichen            Konjunkturkrise in den Jahren 2008/09 ein-
Schwächeperiode 1966/67 hat den Mythos ge-             drucksvoll gezeigt hat.
nährt, dass dieser Erfolg vor allem auf den Einsatz         Die Tatsache, dass sich Arbeitslosigkeit und
diskretionärer fiskalpolitischer Maßnahmen zu-         Inflation im Konjunkturverlauf häufig gegen-
rückzuführen gewesen sei. Diese Einschätzung           läufig entwickeln, führt zu der Gretchenfrage, wie
trifft nur bedingt zu. Vor allem als Folge der auto-   stabil dieser (negative) Zusammenhang ist und
matischen Stabilisatoren war die Finanzpolitik         ob die „Phillipskurve“, die diesen Zusammen-
expansiv ausgerichtet. Zwar wurden 1967 zwei           hang darstellt, zumindest kurzfristig als „Speise-
Konjunkturprogramme verabschiedet, doch wur-           karte“ für wirtschaftspolitische Empfehlungen
den deren Wirkungen durch Kürzungen in den             dienen kann. Mit anderen Worten: Bis zu welchem
Kernhaushalten zu einem großen Teil kompen-            Punkt kann eine expansive Fiskalpolitik vor-
siert; zudem wurden die Maßnahmen verzögert            wiegend Mengeneffekte (in Form eines Multi-
wirksam. Diese Konstellation wurde immer wie-          plikator-Akzeleratorprozesses) auf den Güter- und
der als Beleg für die Steuerungsprobleme angese-       Arbeitsmärkten bewirken, und von wo an wird
hen, die diskretionärer Politik anhaften und sie       ein inflationärer Prozess infolge steigender Geld-
fragwürdig machen, weil politisches Fehlverhal-        löhne und zunehmenden Nachfragedrucks auf
ten selbst immer wieder Instabilitäten hervorru-       den Gütermärkten in Gang gesetzt? Kritiker
fen würde (Stichwort: Politikversagen). In der Tat     keynesianischer Stabilisierungspolitik verweisen
fangen die Probleme mit der Beurteilung und            auf die langfristige Sicht und vertreten das
Prognose der wirtschaftlichen Entwicklung an           Konzept der „natürlichen Arbeitslosenquote.“
und enden bei den Wirkungsverzögerungen der            Deren Ausmaß setzt sich demnach im Wesent-
Maßnahmen; dazwischen ist das Problem der              lichen aus friktioneller und struktureller (oder

                                                                                                            11
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 Diskurs                                                                                          Friedrich-Ebert-Stiftung

           auch klassischer) Arbeitslosigkeit zusammen und        sind. Solange aber der Schock nicht zu stark ist,
           ist mit Nachfragepolitik nicht zu bekämpfen. Die       liefern die geschätzten Modellergebnisse durch-
           Frage ist jedoch, ob und wie exakt eine Trennung       aus vertrauenswürdige Approximationen dessen,
           von struktureller und konjunktureller Kom-             was infolge einer Politikänderung geschieht
           ponente der Arbeitslosigkeit möglich ist. Gelingt      (Hartwig 2004).
           es nicht, nach einer Krise die Wirtschaft rasch wie-        Schließlich stellt sich die Frage, ob Wirt-
           der auf einen Beschäftigung schaffenden Wachs-         schaftssubjekte wirklich „lernende Ökonometri-
           tumspfad zurückzuführen, wird aus konjunk-             ker“ sind und das jeweils zugrunde liegende Mo-
           tureller definitionsgemäß sehr bald strukturelle       dell bei ihren subjektiven Realitätsdeutungen
           Arbeitslosigkeit. Unbestritten ist daher, dass in      kennen bzw. für richtig halten (Annahme ratio-
           einer Wirtschaftskrise die Wirtschaftspolitik zügig    naler Erwartungen), wovon die Lukas-Kritik aus-
           und entschlossen handeln muss, damit sich Ar-          geht. Wenn die Akteure aus vergangenen Fehlern
           beitslosigkeit nicht verfestigt (Stichwort: Hyster-    lernen, so heißt dies noch lange nicht, dass sie
           ese). Ob bei dem Versuch, „keynesianische“ Ar-         über ein umfassendes Verständnis gesamtwirt-
           beitslosigkeit abzubauen, Inflationsgefahren dro-      schaftlicher Zusammenhänge verfügen, das ih-
           hen, ist dann zudem wenig wahrscheinlich, wenn         nen eine fundierte makroökonomische Prognose
           die Produktionskapazitäten nicht ausgelastet und       ermöglicht. Insofern erscheinen die Annahmen
           die Kapitalrenditen hinreichend hoch sind. Die         über die kognitiven Fähigkeiten der Wirtschafts-
           Arbeitslosigkeit wird die Gewerkschaften diszi-        subjekte äußerst fragwürdig (Spahn 2010: 23). Be-
           plinieren, so dass von der Kostenseite her kein        sonders realitätsfern scheint die Vorstellung, dass
           Inflationsdruck zu erwarten ist.                       die Marktakteure all den jüngeren Moden makro-
                Eine zentrale Rolle für die Tatsache, dass der    ökonomischer Modelle gefolgt sein sollen. Ins-
           Wirtschaftspolitik für die Steuerung der wirt-         gesamt kann man also festhalten, dass die von
           schaftlichen Prozesse zunehmend eine geringere         dieser Seite gegen den Keynesianismus vorge-
           Relevanz beigemessen wurde, spielte die sog.           brachte Kritik wenig stichhaltig ist.
           Lucas-Kritik (Lucas 1976). Lange Zeit beruhten
           wirtschaftspolitische Eingriffe auf Erkenntnissen
           über die Reaktionsmuster der Marktakteure in der       2.3 Neoklassik-Monetarismus und
           Vergangenheit. Für Lucas ist jedoch ein Politik-           Angebotspolitik
           wechsel verbunden mit einer Parameteränderung,
           die wiederum das Lernverhalten der privaten Ak-        Die Renaissance neoklassischen Denkens in Ge-
           teure beeinflusst. Wenn allein die traditionellen      stalt des Monetarismus und der Angebotspolitik
           Reaktionsmuster bei der Einschätzung der Wirk-         fiel in Deutschland in eine Zeit, als die wirtschaft-
           samkeit von Politikmaßnahmen zugrunde gelegt           liche Entwicklung durch hohe Inflationsraten ge-
           werden, indem die geschätzten Modellparameter          kennzeichnet war. Seit Mitte der 1970er Jahre
           in den Simulationen konstant gehalten werden,          folgte die Bundesbank explizit der geldmengen-
           dann können gemäß der Lucas-Kritik die Aus-            theoretischen Konzeption, die nicht nur auf dem
           wirkungen geänderter Wirtschaftspolitik nicht          Paradigma der inhärenten Stabilität des Markt-
           zuverlässig vorausgesagt werden. Rational han-         systems, sondern auch auf der Hypothese von der
           delnde Marktakteure werden ihre Reaktionen an          Dominanz monetärer Impulse auf die wirtschaft-
           jede Politikmaßnahme anpassen, so dass nach            liche Entwicklung beruhte. Die erste schwere
           jedem Eingriff neue Parameter gelten. Für die          Nachkriegsrezession 1974/75 wurde von der Bun-
           Wirtschaftspolitik bedeute dies, dass wirtschafts-     desbank wie auch von dem seinerzeit einflussrei-
           politische Eingriffe weitgehend wirkungslos blei-      chen Beratergremium „Sachverständigenrat zur
           ben. Gegen diese Fundamentalkritik kann jedoch         Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Ent-
           eingewendet werden, dass die Argumente sicher          wicklung (SVR)“ mit zu hohen Löhnen erklärt.
           im Falle einer Regimetransformation wie beispiels-     Die Existenz von Arbeitslosigkeit ist, folgt man
           weise die deutsche Wiedervereinigung relevant          der Argumentation dieser Gremien, immer ein

    12
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                                                             WISO
                                                                                                                                              Diskurs

Zeichen dafür, dass der kostenneutrale Lohnsatz                        finanziellen Restriktionen aufgezeigt werden. Je-
überschritten ist. Im neoklassischen Denken gibt                       de Überschreitung dieser Grenzlinie würde quasi-
der Lohnmechanismus die Garantie, dass das Sys-                        automatisch sanktioniert. Hohen Staatsdefiziten
tem immer zum Vollbeschäftigungsgleichgewicht                          wurde eine Absage erteilt, da sie mehr wachs-
neigt. Herrscht Arbeitslosigkeit, so muss über                         tumshemmend als -fördernd wirken würden.
Lohnverzicht der Reallohn gesenkt und somit die                             In ihrem Kern besteht die neoklassische Mo-
Voraussetzung für eine wieder höhere Arbeits-                          dellwelt aus einem System von homogenen Wett-
kräftenachfrage geschaffen werden. Der durch                           bewerbsmärkten mit unverzögert flexiblen Prei-
die Lohnsenkungen induzierte deflatorische Pro-                        sen, die Markträumung garantieren. Konjunktu-
zess stabilisiert sich an jenem Punkt, an dem bei                      relle Schwankungen existieren allenfalls als Folge
gegebener Geldmenge und Umlaufgeschwindig-                             kurzfristiger Informationsdefizite. Konjunktur-
keit die reale Kaufkraft aufgrund des Preisverfalls                    politische Interventionen sind daher überflüssig.
wieder steigt. Über Ausmaß und Intensität dieses                       Wirtschaftspolitik ist allein dazu da, mögliche
Anpassungsprozesses entscheidet nicht zuletzt                          strukturelle Verwerfungen (oftmals Folge politi-
die Geldpolitik: Bei potenzialorientierter Geld-                       schen Handelns) zu beseitigen. Die angebotspoli-
mengenpolitik werden im Falle geringer Investi-                        tischen Vorstellungen basieren letztlich auf der
tionen und Kreditnachfrage Zinssenkungen in-                           Wirkungskette: Senkung der Kosten (Lohnkosten,
duziert und wieder vermehrte Investitionen an-                         Steuern), höhere Gewinne, vermehrtes Angebot
geregt. Von der Ausweitung des Angebots wird                           und vermehrte Nachfrage (Saysches Theorem in
auch die Nachfrage gespeist: Das Angebot schafft                       Verbindung mit dem sog. Pigou-Effekt5). Wenn
sich seine Nachfrage (Saysches Theorem).                               der Steuerpolitik eine prominente Rolle in der
     Im Geldmengenkonzept pflanzt sich also der                        Angebotspolitik zugewiesen wird, so steht dahin-
monetäre Impuls in Form einer Änderung der                             ter die Vorstellung, dass Steuersenkungen per Sal-
Geldmenge über zahlreiche Anpassungsreaktio-                           do nicht zu weniger, sondern – über höhere In-
nen so lange fort, bis über die Veränderung der                        vestitionen und Beschäftigung – zu mehr Steuer-
relativen Preise der verschiedenen Vermögens-                          einnahmen führen (Stichwort: „Lafferkurve“).6
objekte Investitions- und Konsumentscheidun-
gen beeinflusst werden. Von zentraler Bedeutung
ist die permanente Einkommenshypothese, nach                           2.4 Kritik an der neoklassisch-
der Konsumentscheidungen von den von den                                   monetaristischen Sicht – berechtigt
privaten Haushalten auf Dauer erwarteten Ein-
kommen geprägt werden. Deshalb üben kurzfris-                          Der wichtigste Kritikpunkt an der neoklassisch-
tige, also konjunkturpolitisch motivierte Maß-                         monetaristischen Sichtweise ist die unterstellte
nahmen hier keinen positiven Einfluss aus.                             inhärente Stabilität des privaten Sektors. Die wirt-
Grundlage der neuen Geldpolitik war die jährli-                        schaftspolitischen Empfehlungen neoklassisch
che Bekanntgabe des Geldmengenziels, wodurch                           (angebotspolitisch) argumentierender Ökono-
die Notenbank implizit Aussagen über das von                           men fußen auf einer Gleichgewichtskonstellation
ihr für erwünscht angesehene Wirtschaftswachs-                         bei Vollbeschäftigung: Der Lohnmechanismus
tum und die für unvermeidbar gehaltene Infla-                          garantiert die Abwesenheit unfreiwilliger (keyne-
tionsrate verkündete.4 Damit sollten dem geplan-                       sianischer) Arbeitslosigkeit und die Gütermärkte
ten Ausgabeverhalten von Staat und Privaten die                        werden stets geräumt. Von den Kritikern wird

4   Orientiert sich eine Politik allein am (trendmäßigen) Wachstum der Produktionskapazität des Sachkapitals, so ist das Potenzial Aus-
    gangspunkt der geldpolitischen Zielformulierung und nicht Zielobjekt der Geldversorgung.
5   Der Pigou-Effekt beschreibt den positiven, durch niedrigere Inflationsraten induzierten Realwerteffekt, der nicht-lohnabhängigen (Ver-
    mögens-)Einkommen zugute kommt, die weniger eng an Preisniveauänderungen gekoppelt sind.
6   In den USA herrschte während der Reagan-Administration die Einschätzung vor, dass deshalb die Steuersenkungen problemlos über
    Kredite finanziert werden können.

                                                                                                                                             13
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 Diskurs                                                                                                              Friedrich-Ebert-Stiftung

           diese Sicht als zu einfach gestrickt und nicht den                  Unternehmenssteuerreform massive Anreize be-
           Realitäten entsprechend gebrandmarkt. Tatsäch-                      scherte, doch die Investitionen der Unternehmen
           lich entscheidet sich erst im Prozess der Entste-                   trotz enormer Gewinnsteigerungen erheblich
           hung, Verteilung und Verwendung der Einkom-                         schrumpften.8 Eine ähnliche Einschätzung gilt
           men, welcher Einfluss die Lohnerhöhungen auf                        für die Arbeitslosigkeit, die in dieser Zeit trotz
           Preise, Output und Beschäftigung haben und wie                      sehr zurückhaltender Lohnpolitik hoch geblieben
           die Löhne selbst von diesen Größen, aber auch                       ist. Auch die vielfältigen Ansätze zur Revitalisie-
           von der Geldpolitik beeinflusst werden. Geld-                       rung der Marktstrukturen (Deregulierung der Ar-
           löhne haben immer einen Doppelcharakter: Als                        beitsmärkte, Privatisierung, steuerliche Investi-
           wesentlicher Einkommensbestandteil prägen sie                       tionsanreize) konnten per Saldo weder Arbeits-
           die Konsumnachfrage, als Kostenelement die                          losigkeit noch Staatsverschuldung reduzieren.
           Angebotsseite.                                                      Aufrechte Angebotspolitiker lassen sich von die-
                Die Vorgabe von Geldmengenzielen impli-                        sen Einwänden aber nicht verunsichern. Wich-
           ziert Aussagen über das von der Zentralbank für                     tiger ist für sie das Argument, dass durch Steuer-
           möglich gehaltene Wirtschaftswachstum (ein-                         senkungen und durch den Verlust an Staats-
           schließlich der für „unvermeidbar“ gehaltenen                       einnahmen der Druck zu Ausgabenkürzungen
           Inflationsrate). Damit besteht aber die Gefahr,                     erhöht und dadurch der Einfluss des Staates auf
           dass konjunkturbedingte Geldmengenänderun-                          den Wirtschaftsprozess geschmälert wird. Den
           gen unterdrückt werden und damit auch ein Auf-                      letztendlichen Beweis, dass eine geringere Steuer-
           schwung im Keim erstickt wird. Welche Preis-                        und Staatsquote sich positiv auf die Wirtschafts-
           steigerung ist im dynamischen Prozess vermeid-                      entwicklung einer Volkswirtschaft auswirken,
           bar bzw. unvermeidbar? Es kann sich durchaus                        blieben sie jedoch bis heute schuldig.
           erweisen, dass ein Mehr an Geld nach Ablauf aller
           Anpassungsprozesse nicht „zu viel“ ist, und ein
           Weniger an Geld kann „zu wenig“ sein im Hin-                        2.5 Der „neue“ Konsens in der Makro-
           blick auf eine reale Entwicklung, die es verhindert                     ökonomik – neue Erkenntnisse für
           hat. Vor allem ist es eine Frage der Zinsen, die                        die Wirtschaftspolitik?
           bestimmen, zu welchen Anpassungsprozessen es
           kommt (Flassbeck 1982: 94).                                         Die Weiterentwicklungen in der makroökonomi-
                Auch die steuerpolitischen Vorstellungen                       schen Theorie vollzogen sich im Rahmen der sog.
           fordern Kritik heraus. So ist es unrealistisch zu                   Neuen Klassischen Makroökonomik und des
           glauben, dass Steueranreize eine so starke Wir-                     sog. Neu-Keynesianismus. Die Grundannahmen
           kung ausüben, wie dies mit der Lafferkurve sug-                     beider Ansätze liegen nicht sehr weit auseinan-
           geriert wird.7 Für Investitionsentscheidungen der                   der. In der Literatur wird die Frage, ob das neu-
           Unternehmen spielen vor allem Absatzerwartun-                       keynesianische Modell als „neuer Konsens“ in
           gen eine Rolle, steuerpolitische Entscheidungen                     der Makroökonomie taugt, diskutiert (Romer
           sind von zweitrangiger Bedeutung. Für diese Ein-                    2000; Taylor 2000; Hein et al. 2003). Lassen sich
           schätzung sprechen auch die Erfahrungen: In den                     grundlegend neue Erkenntnisse für die wirtschafts-
           1980er Jahren war die Investitionstätigkeit ge-                     politischen Handlungsanweisungen aus diesen
           ring, obwohl die Politik weitgehend angebots-                       Ansätzen ableiten?
           politischen Vorstellungen folgte. Noch krasser                           Die Neue Klassische Makroökonomik9 be-
           war das Bild in den Jahren nach 2000, als die                       harrt auf der These völliger Preisflexibilität und

           7   Bei einem Einkommen von 1.000 und einem Steueraufkommen von 200 beträgt der Steuersatz 20 Prozent. Sinkt z. B. der Steuersatz auf
               15 Prozent, muss das Einkommen auf knapp 1.340 steigen, um das gleiche Steueraufkommen zu generieren. Das Verhältnis von Anreiz
               und Wirkung steht in keinem glaubhaften Zusammenhang.
           8   Vgl. Kapitel 3.2.
           9   Vgl. hierzu die verschiedenen Überblicksartikel (Heise 1999), Heine/Herr (2003), Felderer/Homburg (2003), Spahn (2010).

    14
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                                                            WISO
                                                                                                                                             Diskurs

permanenter Markträumung. Auf den (perfekten)                          lichen monetaristischen Argumentation – auch
Kapitalmärkten gibt es keine Kreditmarktrestrik-                       kurzfristig mit keinen Realeffekten verbunden:
tionen, d. h. die Marktteilnehmer können ihre                          Die Wirtschaftssubjekte antizipieren die Politik
Investitions- und Konsumausgaben jederzeit mit                         und wissen um ihre Wirkungen, nehmen sie also
Krediten finanzieren (erste Basishypothese).                           in ihre Planungen auf. Jede Änderung der Geld-
Grundsätzlich herrscht in diesem System Vollbe-                        menge führt sofort zu einem gleichgewichtigen
schäftigung. Diese These wird freilich nicht ab-                       Preisniveau – Geldpolitik bleibt also wirkungslos
geleitet, sondern ist bloße Annahme. Zwar wird                         (keine realen Effekte).
konzediert, dass selbst im Gleichgewicht ein ge-                            Dies gilt auch für die Finanzpolitik: Nur eine
wisses Maß an Unterbeschäftigung bestehen                              unsystematische, nicht antizipierbare Politik
kann, welches aus Informationsmängeln, Mobili-                         führt zu vorübergehenden Abweichungen des
tätshemmnissen oder Anpassungskosten resul-                            Outputs vom Normalniveau, ruft aber langfristig
tiert und sich kurzfristig nicht beseitigen lässt.                     keine Wohlfahrtseffekte hervor. Deshalb besteht
Diese „natürliche Arbeitslosigkeit“ ist jedoch frei-                   kein Anlass für staatliche Interventionen, zumal
williger Natur und kein Ergebnis von Marktver-                         die Tatsache, dass der Konsum vom permanenten
sagen (zweite Basishypothese). Dritte These sind                       Einkommen bestimmt wird und mögliche Steuer-
rationale Erwartungen. Die Akteure gründen ihre                        geschenke oder zusätzliche Staatsausgaben ge-
Erwartungen nicht nur auf Vergangenheitswer-                           mäß der ricardianischen Äquivalenz die Steuern
ten (adaptive Erwartungen), sondern es wird zu-                        von morgen sind, „rational“ handelnde Wirt-
dem unterstellt, dass die Individuen das für die                       schaftssubjekte nicht beeinflussen können. Über
Realität relevante ökonomische Modell sowie die                        allem steht die Annahme, dass die Marktakteure
Abläufe und Wirkungen ökonomischer Entschei-                           keine Unsicherheiten kennen, sondern allein Ri-
dungen der anderen Akteure (einschließlich der                         siken abwägen, was die Abschätzung zukünftiger
wirtschaftspolitischen Instanzen) kennen und                           Ereignisse erlaubt (Schettkat 2012). Auch die Neu-
diese bei ihren eigenen Entscheidungen berück-                         Klassiker können konjunkturelle Schwankungen
sichtigen. Die Wirtschaftssubjekte nutzen alle                         nicht leugnen. Sie werden nicht wie in der Neo-
verfügbaren Informationen effizient, d. h. sie er-                     klassik mit exogenen Schocks erklärt, vielmehr
kennen systematische (antizipierbare) Politik und                      wird auf die „Theorie des Real Business Cycle“ zu-
können sie von unsystematischer (nicht-anti-                           rückgegriffen – Konjunkturzyklen entstehen aus
zipierbarer) Politik unterscheiden. Der Begriff                        realen Schocks, vor allem durch technologische
„rational“ ist hier im Sinne von Modellkonsistenz                      Änderungen, aber auch durch psychologische
zu interpretieren. Die vierte Basishypothese be-                       Faktoren wie die Veränderung von Konsum- oder
zieht sich auf den Konsum, der vom permanen-                           Zeitpräferenzen.
ten und nicht vom laufenden Einkommen be-                                   Lohn- und Preisrigiditäten existieren in der
stimmt wird. Die fünfte These beruht auf der                           Welt der Neu-Klassik nicht. Für den Neu-Keyne-
Quantitätstheorie des Geldes: Infolge rationaler                       sianismus steht die Frage der Lohn- und Preis-
Erwartungen ist eine systematisch betriebene                           rigiditäten hingegen im Mittelpunkt des Interes-
Geldmengenpolitik – anders als in der ursprüng-                        ses.10 Der Neu-Keynesianismus akzeptiert grund-

10   Mit anderen Weiterentwicklungen der Keynesschen Theorie, dem Postkeynesianismus und der Neuen Keynesianischen Makroökono-
     mie, hat dieser Ansatz wenig gemein. Während im Postkeynesianismus vor allem gesellschaftliche Konflikte, Unsicherheit, ökonomi-
     sche Macht eine zentrale Rolle spielen (Postkeynesianer interpretieren Keynes „fundamentalistischer“, indem wesentliche Struktur-
     merkmale der kapitalistischen Wirtschaft analysiert werden. Arbeitslosigkeit ist nicht bloß das Resultat von „Marktfehlern“, sondern
     ein potenzielles Marktergebnis. „Hydraulische“ Prozesspolitik, also der mechanistische antizyklische Einsatz der Geld- und Finanz-
     politik – basierend auf einer schlichten IS/LM-Analyse – ist für sie nicht mehr als Kurieren am Symptom.), untersuchen die Ungleich-
     gewichts- oder Rationierungsansätze der Neuen Keynesianischen Makroökonomie Funktionsweise und Steuerungsmechanismen inter-
     dependenter Märkte (Gerfin 1985). Marktungleichgewichte resultieren in diesen Ansätzen aus mehr oder weniger trägen Preisreaktio-
     nen, wobei die wechselseitige Interdependenz der Märkte und der Handel zu „falschen“ (nicht-markträumenden) Preisen herausge-
     arbeitet wird. Diese Trägheiten verhindern eine permanente Markträumung und bewirken Mengenbeschränkungen, die wiederum
     Planrevisionen und damit multiplikativ wirkende Spillovers zwischen den einzelnen Märkten auslösen. Gleichgewichte sind bloßer
     Zufall, falsche Preise die Regel.

                                                                                                                                            15
WISO
 Diskurs                                                                                                                   Friedrich-Ebert-Stiftung

           sätzlich das walrasianische Gleichgewichtsmo-                           fizierung des Ansatzes der natürlichen Arbeits-
           dell, ebenso das Konzept der rationalen Erwar-                          losenquote dar.
           tungen. Angebot und Nachfrage werden aus den                                 Die wirtschaftspolitischen Konsequenzen
           individuellen Optimierungskalkülen eines „re-                           beider Modellwelten liegen auf der Hand. Im neu-
           präsentativen“ Wirtschaftssubjektes abgeleitet                          klassischen Modell sind die Märkte selbst bei rea-
           („Fundierung der Makroökonomie auf mikroöko-                            len Schocks stets im Gleichgewicht. Sowohl Prei-
           nomischen Entscheidungskalkülen“).11 Wie im                             se als auch Mengen spiegeln jederzeit die Opti-
           neu-klassischen Modell orientieren sich die Ak-                         mierungskalküle der Marktteilnehmer wider, sie
           teure am permanenten Einkommen. Das perma-                              befinden sich in dem von ihnen präferierten Zu-
           nente Einkommen fungiert allerdings zugleich                            stand. Die wirtschaftspolitische Botschaft ist
           als marktfähiges Vermögen, so dass die Konsu-                           Abstinenz. Geld- und finanzpolitische Eingriffe
           menten in der Lage sind, Phasen geringerer                              sind überflüssig, weil der Preismechanismus stets
           Markteinkommen über Kredite überbrücken zu                              dafür sorgt, dass keine unfreiwillige Arbeitslosig-
           können.                                                                 keit herrscht. Sie sind auch wirkungslos, da die
                 Der Unterschied zur Neuklassik besteht darin,                     Akteure ihre Erwartungen „rational“ bilden. Die-
           dass mikroökonomisch fundierte Preis- und Lohn-                         se Botschaft unterscheidet sich also nur wenig
           rigiditäten eine Markträumung verhindern kön-                           von der neo-klassischen Sichtweise.
           nen. Solche Rigiditäten können vielfältige Ursa-                             Die neu-keynesianischen Modelle, die mit-
           chen haben. So werden                                                   unter als „neuer“ Konsens in der Makroökonomik
           – Preisrigiditäten mit „menue costs“ (z. B. Orga-                       gelten, sind bezüglich der Wirksamkeit geld- und
              nisationskosten bei Preisänderungen),                                finanzpolitischer Eingriffe weniger pessimistisch:
           – Nominallohnrigiditäten mit Strategien zur                             Behindern Marktrigiditäten eine Gleichgewichts-
              Vermeidung von Verhandlungs- und Informa-                            lösung, so können geld- und finanzpolitische
              tionskosten (z. B. durch längerfristige Lohn-                        Maßnahmen den Anpassungsprozess beschleu-
              kontrakte),                                                          nigen. Makropolitik ist gefragt, wenn der Markt
           – Zinsrigiditäten mit unvollständigen Informa-                          aufgrund mikroökonomisch rationaler Gründe
              tionen und risikoaversen Finanzintermediären,                        versagt (Heine/Herr 2003: 52). Das langfristige
           – Rigiditäten auf dem Arbeitsmarkt mit der Mög-                         Gleichgewicht wird von der sog. inflationsstabi-
              lichkeit von „mismatch“ (Arbeitslose erfüllen                        len Arbeitslosenquote NAIRU, für die strukturelle
              nicht die Qualifikationsanforderungen für eine                       Faktoren ausschlaggebend sind, bestimmt. Unter-
              Beschäftigung)                                                       halb der NAIRU vermag der (expansive) Einsatz
           in Verbindung gebracht.                                                 des geld- und finanzpolitischen Instrumentari-
                 Ein neu-keynesianisches Konzept ist die                           ums Output und Beschäftigung nicht erhöhen,
           NAIRU („non accelerating inflation rate of unem-                        allein die Preise werden in diesem Fall steigen.
           ployment“12): Infolge der Rigiditäten fehlerhafter                      Die NAIRU kann nur mit strukturpolitischen
           Marktstrukturen wird eine vollständige Markt-                           Maßnahmen (z.B. Deregulierung des Arbeits-
           räumung verhindert, weil die Preise bereits wie-                        marktes) gesenkt werden. Kurzfristige, also kon-
           der steigen, bevor das Gleichgewicht erreicht ist.                      junkturelle Marktstörungen können dagegen mit
           Für den Arbeitsmarkt bedeutet dies einen pfad-                          geld- und finanzpolitischen Mitteln bekämpft
           abhängigen Anstieg jener Arbeitslosenquote, die                         werden. Doch kann eine expansive Geld- und
           akzelerierende Inflationsraten verhindert. Im                           Finanzpolitik auch auf längere Frist hilfreich sein,
           Prinzip stellt das Konzept der NAIRU eine Modi-                         nämlich beispielsweise dann, wenn höhere Ar-

           11   Die Neu-Keynesianer nahmen mit diesem Ansatz die neoklassische Kritik der fehlenden Mikrofundierung auf, nämlich alle Handlun-
                gen der Akteure explizit auf Nutzen- bzw. Gewinnmaximierung zurückzuführen.
           12   Die inflationsstabile Arbeitslosenquote beschreibt die Quote, bei der die Verteilungsansprüche von Unternehmern und Arbeitnehmern
                keine Veränderungen der Inflationsrate auslösen. Wird diese Quote unterschritten, führt dies zu höheren Löhnen und zu mehr Infla-
                tion. Bei flexiblen Arbeitsmärkten wird eine niedrigere NAIRU vermutet als im Falle stark regulierter Arbeitsmärkte; dann kann es auch
                bei einer hohen Arbeitslosenquote zu Inflation kommen.

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