Diskurs Wirtschaftspolitische Ideen und fi nanzpolitische Praxis in Deutschland - Ist die Schuldenbremse (der Fiskalpakt) die Ultima Ratio?
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April 2013 Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik Diskurs Wirtschaftspolitische Ideen und finanzpolitische Praxis in Deutschland Ist die Schuldenbremse (der Fiskalpakt) die Ultima Ratio? I
Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Wirtschaftspolitische Ideen und finanzpolitische Praxis in Deutschland Ist die Schuldenbremse (der Fiskalpakt) die Ultima Ratio? Dieter Vesper
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Inhaltsverzeichnis Abbildungs- und Tabellenverzeichnis 3 Vorbemerkung 4 Zusammenfassung 5 1. Einleitung 7 2. Von der Globalsteuerung zur Angebotspolitik 9 2.1 Keynesianismus und Globalsteuerung 9 2.2 Kritik am Keynesianismus – wenig stichhaltig 11 2.3 Neoklassik-Monetarismus und Angebotspolitik 12 2.4 Kritik an der neoklassisch-monetaristischen Sicht – berechtigt 13 2.5 Der „neue“ Konsens in der Makroökonomik – neue Erkenntnisse für die Wirtschaftspolitik? 14 2.6 Staatsschulden – die Zuspitzung der Kontroverse 17 3. In welchem Maße hat die Fiskalpolitik den Wirtschaftsverlauf beeinflusst? 20 3.1 Nachfragepolitik vs. Angebotspolitik in den 1970er und 1980er Jahren 20 3.2 Die Jahre nach der Wiedervereinigung 22 3.3 Finanzpolitik in und nach der „Großen Krise“ 27 3.4 Die europäische Dimension 29 4. Bedarf es in Deutschland (und in Europa) einer Schuldenbremse? 31 4.1 Begründung und Konzeption 31 4.2 Kritik am Konzept der Schuldenbremse 33 5. Umrisse einer zukunftsfähigen Finanzpolitik 35 5.1 Die Ausgangslage 35 5.2 Ansätze für eine Revision der Finanzpolitik in Deutschland 35 5.3 Anforderungen an die Wirtschaftspolitik in der Europäischen Währungsunion 38 6. Resümee 41 Literaturverzeichnis 44 Der Autor 46 Diese Expertise wird von der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert- Stiftung veröffentlicht. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind vom Autor in eigener Verantwortung vorgenommen worden. Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung | Herausgeber: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung | Godesberger Allee 149 | 53175 Bonn | Fax 0228 883 9202 | www.fes.de/wiso | Gestaltung: pellens.de | Fotos: Fotolia | Druck: bub Bonner Universitäts-Buchdruckerei | ISBN: 978 - 3 - 86498 -501- 0 |
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Schaubild 1: Nachfrageimpulse der Finanzpolitik im Konjunkturverlauf 20 Schaubild 2: Gewinne, Investitionen und Steuerbelastung der Kapitalgesellschaften 26 Tabelle 1: Einnahmen und Ausgaben des Staates in % des nominalen Bruttoinlandsprodukts 25 Tabelle 2: Finanzierungssalden der volkswirtschaftlichen Sektoren in Deutschland 27 Tabelle 3: Konjunktur- und Strukturkomponente im Bundeshaushalt 2001 bis 2007 32 Tabelle 4: Konjunkturkomponente in den Länderhaushalten 2001 bis 2007 32 3
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Vorbemerkung In den Jahren 2008/2009 hatte es kurze Zeit den kalpolitischer Stabilisierungsmaßnahmen basieren Anschein, als ob die globale Finanz- und Wirt- und wie sie aus empirischer Sicht zu bewerten schaftskrise die bis dahin dominierenden wirt- sind. Zum anderen sollte aufgezeigt werden, wel- schaftstheoretischen Modelle und die auf ihnen che Maßnahmen geeignet und erforderlich sind, basierenden wirtschaftspolitischen Empfehlungen um der Gefahr einer aus dem Ruder laufenden in ihren Grundfesten erschüttern würde. Dies Staatsverschuldung, die den Spielraum für kurz- zeigte sich u. a. auch im Bereich der Fiskalpolitik, fristige fiskalpolitische Stabilisierungsmaßnahmen als nahezu alle entwickelten Volkswirtschaften in einzuschränken vermag, entgegenzuwirken. der Hochphase der globalen Finanz- und Wirt- Der Autor kommt in seiner Analyse zu dem schaftskrise – mit Erfolg – auf massive konjunktur- Ergebnis, dass antizyklische Fiskalpolitik in frühe- politische Maßnahmen zur Stabilisierung der ge- ren Jahren wie auch in der jüngsten Finanz- und samtwirtschaftlichen Entwicklung zurückgriffen. Wirtschaftskrise in Deutschland, wenn sie richtig Vor allem aus Sicht der deutschen Wirtschafts- implementiert und makroökonomisch flankiert politik kann dieses Vorgehen nahezu als revolutio- wurde, durchaus erfolgreich war. Im Hinblick auf när angesehen werden, wurde doch insbesondere das Ziel einer Stabilisierung und Rückführung der von deutschen Vertretern des wirtschaftswissen- Staatsverschuldung hebt er hervor, dass diese kei- schaftlichen Mainstreams lange Zeit bestritten, dass ne direkt durch die Politik zu steuernde ökonomi- mit fiskalpolitischen Maßnahmen zur Stabilisie- sche Größe darstellt, sondern dass sie sich erst aus rung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung nen- dem gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang her- nenswerte positive Effekte einhergehen würden. aus ergibt. Vor allem die zunehmende Ungleich- Bereits ab dem Jahr 2010 scheint von die- heit von Einkommen und Vermögen, das Auftre- sem fiskalpolitischen Sinneswandel zumindest in ten massiver außenwirtschaftlicher Ungleichge- Deutschland kaum noch etwas übrig geblieben zu wichte und die damit einhergehenden privaten sein. Mit Verweis auf die nunmehr vermeintlich Überschuldungs- und Bankenkrisen stellen erheb- zu hohe Staatsverschuldung sowie auf Basis der liche Gefahren für die Nachhaltigkeit der Staats- Aussagen der „alten“ wirtschaftstheoretischen finanzen dar. Daher würde weder die deutsche Mainstream-Modelle wurde in Deutschland und Schuldenbremse für sich genommen ein geeigne- Europa der fiskalpolitische Hebel schnell, rückbli- tes Konzept darstellen, um die Staatsverschuldung ckend betrachtet wohl eher zu schnell und zu zu reduzieren, noch ließe sich mit Hilfe des wenig koordiniert in Richtung Haushaltskonsoli- Europäischen Fiskalpaktes die europäische „Staats- dierung umgelegt. Der Effekt dieser scharfen, kei- schuldenkrise“ lösen. Insgesamt leistet die vorlie- ne Rücksicht auf die gesamtwirtschaftliche Ent- gende Studie einen wichtigen Beitrag, um die wicklung nehmenden Austeritätspolitik war ein insbesondere in Deutschland in Politik und Gesell- Abgleiten von immer mehr europäischen (Krisen-) schaft immer noch existierenden Verständnisdefi- Staaten in eine schwere Rezession. zite hinsichtlich der makroökonomischen Bedeu- Vor diesem Hintergrund hat die Friedrich-Ebert- tung der Fiskalpolitik und hinsichtlich der notwen- Stiftung einen Forschungsauftrag an Dr. Dieter digen Voraussetzungen für eine nachhaltige Kon- Vesper, ehem. Wissenschaftler am Deutschen Insti- solidierung der Staatsfinanzen zu überwinden. tut für Wirtschaftsforschung (DIW), vergeben. Ziel war es, zum einen herauszuarbeiten, auf welchen Markus Schreyer theoretischen Annahmen Aussagen hinsichtlich Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Effektivität bzw. Ineffektivität kurzfristiger fis- Friedrich-Ebert-Stiftung 4
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Zusammenfassung Die wirtschaftlichen Turbulenzen der letzten Jah- re, also die Zeit nach dem wirtschaftspolitischen re haben nicht nur die Frage aufkommen lassen, Paradigmenwechsel, waren durch äußerst be- ob sich die Wirtschaftspolitik in der Krise befin- scheidenes Wirtschaftswachstum geprägt, ebenso det. Auch die Wirtschaftswissenschaften selbst die Zeit Mitte der 1990er Jahre und vor allem nach sind in die Kritik geraten. Tatsächlich vermitteln 2000. In den Jahren nach 2000 war die Wirtschafts- die Märkte, insbesondere die Finanzmärkte, nicht politik ausschließlich darauf ausgerichtet, ent- das Bild, das die neoklassische Mainstream-Öko- sprechend der neoklassischen Doktrin die Lohn- nomie immer wieder propagiert, nämlich effi- kosten und Abgabenbelastung der deutschen ziente Märkte, deren Funktionsmechanismen Wirtschaft zu senken sowie die Arbeits- und keine Störungen zulassen würden. Wenn es zu Finanzmärkte zu deregulieren. Im Ergebnis blieb Störungen komme, dann seien diese vorüber- die Lohnentwicklung weit hinter dem Produk- gehender Natur oder exogen, vor allem durch tivitätsfortschritt und der Zielinflationsrate der staatliche Interventionen verursacht. Doch die Zentralbank zurück. Doch waren mit dieser Stra- „Große Krise“ hat – wieder einmal – vor Augen tegie mehrere gesamtwirtschaftlich ungünstige geführt, dass das Verhalten der Marktakteure Konsequenzen verbunden: Die Binnennachfrage suboptimale Ergebnisse hervorbringt und alles stagnierte, die oberen Einkommensbezieher andere als rational ist. Auch hat sie gezeigt, dass mit geringerer marginaler Konsumquote wurden ohne staatliche Eingriffe der Einbruch auf den sowohl durch die primäre Einkommensvertei- Märkten weit länger gedauert und zu noch grö- lung als auch durch die staatliche Umverteilung ßeren sozialen Verwerfungen geführt hätte. begünstigt, so dass die Gewinneinkommen ra- Umso mehr muss verwundern, dass die Poli- sant stiegen, doch blieb die Investitionstätigkeit tik in Deutschland nach 2009 weiterhin an alten matt. Die deutschen Exporteure waren zwar dank Denkmustern festhält, die sich an Empfehlungen relativ geringer Lohnstückkostensteigerungen der neo- oder neuklassischen Theorie orientiert. international überaus erfolgreich, aber es ver- Sie basiert im Wesentlichen auf zwei Elementen, schärften sich die Absatzprobleme anderer Volks- der sog. Lucas-Kritik und dem Konzept der „na- wirtschaften. türlichen Arbeitslosenquote“. Rational handeln- Diese ungleichgewichtigen Entwicklungen de Marktakteure würden demnach ihre Reaktio- entluden sich ab 2008 in der „Großen Krise“. In nen an jede Politikmaßnahme anpassen, so dass der öffentlichen Wahrnehmung werden aller- wirtschaftspolitische Maßnahmen letztlich wir- dings nicht diese Ungleichgewichte als zentrale kungslos blieben. Auch steige mit jeder Wirt- Krisenursache genannt. Vielmehr wird das Folge- schaftskrise bei inflexiblen (Arbeits-)Märkten das problem, die Entwicklung der Staatsschulden, als Niveau der Arbeitslosigkeit, und eine Rückkehr zentrale Krisenursache thematisiert – ganz im zum Vorkrisenniveau sei (ohne flexible Arbeits- Sinne des neoklassischen Dogmas. Es fehlt die Be- märkte) mit erheblichen Kosten in Form von In- reitschaft anzuerkennen, dass zwischen gesamt- flation und Staatsverschuldung verbunden. Die wirtschaftlicher Entwicklung und Staatsver- hohe Staatsverschuldung wiederum verdränge schuldung eine sehr enge Beziehung besteht. private Investitionen und schmälere das Wirt- Stattdessen glaubt die Politik, mit dem Instru- schaftswachstum. ment einer Schuldenbremse die europäische Doch waren die wirtschaftspolitischen Erfol- „Staatsschuldenkrise“ lösen zu können. Dabei ge dieser Strategie überschaubar. Die 1980er Jah- wird verkannt, dass nicht das Instrument der 5
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Schuldenbremse Voraussetzung für geringere Entscheidungsfindung erheblich unterschätzt. Staatsschulden ist, sondern dass es die wirtschaft- Notwendig sind vielmehr wachstumsfördernde lichen Rahmenbedingungen sind, die entschei- Maßnahmen. Hier ist insbesondere Deutschland, dend für den Konsolidierungserfolg sind. Abgese- das riesige Leistungsbilanzüberschüsse produziert hen davon weist das Konzept der Schuldenbrem- und inzwischen aufgrund einer ebenfalls sehr se schwerwiegende methodische Probleme auf. Es restriktiven Finanzpolitik einen ausgeglichenen steht und fällt damit, ob zwischen konjunktu- Staatshaushalt aufweist, gefordert. Dringend er- rellem und strukturellem Defizit unterschieden forderlich sind mehr Bildungsausgaben und Aus- werden kann. Doch ist dies kaum möglich. gaben zum Ausbau bzw. zur Modernisierung der Massive Leistungsbilanzungleichgewichte zer- Netzinfrastruktur. Zur Finanzierung sollten auch stören auf Dauer eine Währungsunion, denn Auf- steuerpolitische Maßnahmen ergriffen werden. und Abwertungen der nationalen Währungen In den letzten Jahrzehnten sind enorme Vermö- sind nicht mehr möglich. Eine engere Abstim- gensbestände konzentriert bei wenigen Einkom- mung von Lohn- und Fiskalpolitik der Mitglieds- mensgruppen aufgebaut worden. Eine stärkere staaten der Euro-Zone ist daher erforderlich, soll Besteuerung dieser Vermögen würde nicht nur die Währungsunion funktionieren. Aus der Wirt- dem Staat dringend benötigte Mehreinnahmen schaftskrise wird sich Europa nicht mit Hilfe um- verschaffen, sondern auch dazu beitragen, dass fangreicher Sparprogramme lösen können. Diese der Wohlstand etwas gerechter verteilt würde. Sparprogramme ziehen massive gesamtwirt- Eine höhere Besteuerung der Vermögen hätte zu- schaftliche Schäden in Form von Einkommens- dem den Vorteil, dass gesamtwirtschaftlich keine und Nachfrageausfällen nach sich. Offensichtlich negativen Effekte zu erwarten wären. wurden die fiskalischen Multiplikatoren bei der 6
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs 1. Einleitung In Deutschland wird die europäische Finanz- und oft zu spät und zu heftig. Marktsysteme besitzen Wirtschaftskrise vor allem als Staatsschuldenkrise demzufolge keine hinreichenden Mechanismen, thematisiert. Insbesondere die südeuropäischen Ungleichgewichte aus eigener Kraft rasch zu über- Länder hätten, so die weit verbreitete Meinung, winden. Deshalb besteht Bedarf an staatlichen über ihre Verhältnisse gelebt und müssten nun Interventionen, dieses Marktversagen zu korrigie- den Gürtel enger schnallen: Lohnsenkungen, ren, sei es, um gesamtwirtschaftliche Krisen zu Arbeitsmarktreformen, Rückführung überborden- bekämpfen, oder sei es, um soziale Ungleichge- der Sozialleistungen sowie eine massive Ver- wichte zu verringern. ringerung der Staatsverschuldung werden als In der hier vorgelegten Expertise geht es dar- Lösungsweg propagiert. Mit dem „Europäischen um, den Zusammenhang zwischen gesamtwirt- Fiskalpakt“ wurde eine Schuldenbremse nach schaftlicher Entwicklung, staatlichen Interven- deutschem Vorbild implementiert. Über den Kon- tionen und Staatsverschuldung zu analysieren junkturzyklus hinweg dürfen demnach (nahezu) und vor dem Hintergrund der neueren Entwick- keine neuen Schulden aufgenommen werden. lungstendenzen in der Makroökonomik zu dis- Die Frage ist, ob dieser Ansatz zur Lösung der kutieren. In einem ersten Schritt soll aufgezeigt schweren Probleme, mit denen Europa kon- werden, auf Basis welcher Theorieansätze und frontiert ist, taugt. Eine andere Meinung sieht die Annahmen die insbesondere in Deutschland häu- Ursachen dieser Probleme tiefer liegen: An erster fig gehörten und der keynesianistischen Sicht- Stelle werden die gewaltigen außenwirtschaft- weise entgegenstehenden Aussagen abgeleitet lichen Ungleichgewichte innerhalb der Europä- werden, antizyklische Fiskalpolitik sei nicht wirk- ischen Währungsunion genannt; auch die wach- sam und Staatsverschuldung vermöge keine ge- sende Schieflage in der Einkommensverteilung in samtwirtschaftlichen Probleme zu lösen. Fiskal- Deutschland und anderswo wird als Ursache politik sei vor allem deshalb wirkungslos, weil die identifiziert. Marktakteure wirtschaftspolitische Maßnahmen Hinter beiden Sichtweisen stehen unter- und deren Wirkungen in ihren Planungen anti- schiedliche theoretische Grundpositionen: auf zipieren. Auch stehe der Verschuldungshunger der einen Seite die neoklassische oder – in ihrer des Staates mit den Kreditwünschen des privaten politischen Ausprägung – neoliberale Position, Sektors in Konkurrenz und verdränge daher die auf dem Vertrauen in die Selbststeuerungs- diesen vom Markt. Langfristig besitze zudem die kräfte des Marktes fußt und auftretende Ungleich- Frage der „Generationengerechtigkeit“ einen ho- gewichte entweder als bloß vorübergehend oder hen Stellenwert. In einem zweiten Schritt soll als exogene Störung, beispielsweise hervorgeru- dann geprüft werden, in welchem Maße die fen durch zu hohe Steuern oder Sozialleistungen, wirtschaftspolitischen Implikationen beider An- interpretiert; auf der anderen Seite die Auffas- sätze – des Keynesianismus und der Neoklassik sung, dass die Märkte höchst störanfällig sind, bzw. dem Monetarismus – in der deutschen Poli- weil Investitionsentscheidungen unter sehr un- tik ihren Niederschlag gefunden und die wirt- sicheren Erwartungen und bei unvollkommenen schaftliche Entwicklung beeinflusst haben. Informationen getroffen werden müssen. Die Vor diesem Hintergrund wird dann die Frage Marktteilnehmer handeln längst nicht immer ra- aufgeworfen, ob die „Schuldenbremse“ ein sinn- tional, folgen einem Herdentrieb und reagieren volles Instrument zur Bekämpfung der Staats- 7
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung verschuldung sein kann. Läuft die Politik nicht rungsregel“, wonach die öffentlichen, wachs- Gefahr, einem Konzept zu huldigen, das auf ei- tumswirksamen Investitionen über Kredite finan- nem gesamtwirtschaftlichen „Schönwetterszena- ziert werden können, eine erhebliche und nach- rio“ beruht? Wenn die gesamtwirtschaftlichen haltige Selbstbindung der Politik dar, die gesamt- Rahmenbedingungen günstig sind, bedarf es kei- wirtschaftlich problematisch erscheint. Wenn auf nes expliziten Hilfsinstrumentes, um die Staats- nationaler Ebene die finanzpolitischen Hand- verschuldung zu begrenzen. Sind sie es nicht, ge- lungsmöglichkeiten eingeschränkt werden, ist zu rät die Politik so oder so in die Zwickmühle, und fragen, ob der europäischen Ebene eine stärkere zwar um so mehr, je weniger symmetrisch die Steuerungskompetenz eingeräumt werden sollte. Konjunkturschwankungen sind und je weniger Die Unterstützer dieser These argumentieren, sich die Fiskalpolitik mit der Lohn- und Geldpoli- dass dann den Bedingungen der Währungsunion tik abstimmt. Wie kann unter dem neuen insti- und eines gemeinsamen Binnenmarktes besser tutionellen Regime eine wirksame antizyklische Rechnung getragen werden könnte. Neben die Fiskalpolitik betrieben werden? In jedem Fall europaweite Geldpolitik träte eine Finanzpolitik, stellt die Abkehr von der „goldenen Finanzie- in deren Fokus ebenfalls Europa stünde. 8
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs 2. Von der Globalsteuerung zur Angebotspolitik 2.1 Keynesianismus und Globalsteuerung halb störanfällig, weil Investitionsentscheidun- gen unter Unsicherheit (unsichere Erwartungen, Wirtschaftspolitische Ausrichtung und wirt- unvollkommene Informationen) getroffen wer- schaftspolitische Erfolge bzw. Misserfolge stehen den müssen und im Konjunkturverlauf stark in einer Wechselbeziehung. Als erstmals nach der schwanken.1 Die Nichtexistenz eines walrasiani- Währungsreform sich die wirtschaftliche Ent- schen Auktionators2 birgt latent die Gefahr eines wicklung in den Jahren 1966/67 abkühlte und Gleichgewichts bei Unterbeschäftigung, ein eine Rezession befürchtet wurde, berief man sich Gleichgewicht bei Vollbeschäftigung ist daher in Deutschland auf die Tradition von Keynes und eher zufällig. Ein restriktiver Impuls wird sich befürwortete eine aktive Rolle des Staates bei der kaum in sinkenden, markträumenden Preisen Überwindung negativer Nachfrageschocks. Auch „auflösen“; viel wahrscheinlicher ist es, dass er in in den Jahren zuvor hatte sich die Wirtschafts- einer kumulativen Abwärtsspirale verstärkt wird: politik nicht abstinent verhalten, sondern aktiv Da die Anbieter bei sinkenden Preisen Einkom- in das Wirtschaftsgeschehen eingegriffen. Zwar mensverluste hinnehmen müssen, werden sie setzte seinerzeit die Politik auf den sich selbst ihrerseits mit einer geringeren Nachfrage reagie- regulierenden Marktmechanismus als grundle- ren. Geldlöhne und Preise reagieren also relativ gende ordnungspolitische Idee. Doch räumte das träge auf Nachfrageänderungen. Zwar werden in Konzept der „sozialen Marktwirtschaft“ dem Staat einer Rezession die Zinsen zu sinken beginnen, durchaus eine bedeutsame Rolle ein. So zielte die da die Geldnachfrage bei konstantem Geldange- Politik des sozialen Ausgleichs auf den Ausbau bot kleiner wird. Ob dadurch aber die Investi- des sozialen Sicherungssystems, und hohe Steuer- tionstätigkeit stimuliert wird, ist fraglich, denn sätze sollten eine Korrektur der marktlichen Ver- die sinkende Nachfrage erfordert geringere Pro- teilungsergebnisse herbeiführen. Für eine aktive duktionskapazitäten. Konjunktursteuerung indes bestand vor der Krise Dem Geldlohn wird in der Keynesschen 1966/67 angesichts des starken Wirtschafts- Theorie als Instrument zur Bekämpfung von Kri- wachstums keine Veranlassung. sen eine relativ geringe Bedeutung beigemessen, Dreh- und Angelpunkt der Keynesschen weil es vor allem auf die Erzeugung stabiler Er- Theorie ist die effektive Nachfrage. Das Arbeitsan- wartungshaltungen ankomme. Deshalb sollten gebot schafft sich nicht automatisch seine eigene Löhne und Preise nicht sofort auf jedes Ungleich- Nachfrage, wie es die Klassik (Saysches Theorem) gewicht reagieren. Fehlende Flexibilitäten sind postuliert hatte. Kommt es zu einer gesamtwirt- nicht bloß Schönheitsfehler eines Gleichgewichts- schaftlichen Störung, findet die Wirtschaft nicht systems, Ausdruck von Gewerkschaftsmacht oder von selbst oder viel zu langsam zurück ins (Voll- monopolistischer Marktstrukturen. Sie erleichtern beschäftigungs-)Gleichgewicht. Märkte sind des- vielmehr zukunftsorientiertes Handeln in einem 1 Für Keynes liegt die Ursache für Instabilitäten nicht in der Höhe der Löhne, sondern in den unsicheren Erwartungen der Investoren begründet. 2 Die klassische Theorie vermag nicht überzeugend zu erklären, wie durch das Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage sich ein Marktgleichgewicht spontan herausbildet. Deshalb bedient sie sich einer Metapher, eines fiktiven Auktionators, der einen Preis ausruft und ermittelt, welche Mengen die Marktteilnehmer zu diesem Preis bereit sind anzubieten bzw. nachzufragen. 9
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Marktsystem. Typischerweise vereinbaren die Ta- dieser Einkommenserhöhung gespart, so dass zu- rifparteien aus Gründen der mikroökonomischen nächst ein geringerer Teil des Impulses nachfrage- Effizienz Lohnabschlüsse, die über einen gewis- und einkommenswirksam wird. sen Zeitraum Bestand haben. Verstärkt wird die Multiplikatorwirkung Mit dem 1967 verabschiedeten „Stabilitäts- durch den Akzelerator, nämlich wenn nachfrage- und Wachstumsgesetz“ fand in Deutschland bedingte Einkommensänderungen zusätzliche keynesianische Wirtschaftspolitik ihre normative Investitionen induzieren bzw. im umgekehrten Verankerung. Das Instrumentarium beschränkt Fall der Rotstift bei den Investitionen angesetzt sich nicht auf die Krisenbekämpfung (antizyk- wird. Geschwächt wird die Wirkung der Verstär- lische Variation der Staatsausgaben, befristete ker durch Sickerverluste in einer offenen Volks- Steuersatzänderungen, Abschreibungsvergünsti- wirtschaft; je höher der Offenheitsgrad, desto gungen); ebenso sind Maßnahmen zur Bekämp- geringer sind die Multiplikatorwirkungen.3 Auch fung eines Nachfragebooms vorgesehen. Zudem das Wechselkursregime spielt eine große Rolle bei wurde erstmals der Versuch unternommen, die der Beurteilung der Wirksamkeit fiskalpolitischer einzelnen Bereiche der Wirtschaftspolitik im Maßnahmen. Ist die fiskalische Expansion mit Rahmen der „Konzertierten Aktion“ zu koordi- einem Anstieg der Zinsen verbunden, so wird dies nieren. Besondere Bedeutung wurde der Einkom- tendenziell zu einer Aufwertung und somit zu menspolitik geschenkt. Dadurch sollten Kosten einer Dämpfung der Exporte und Begünstigung und Preise stabilisiert und Konflikte mit der (un- der Importe führen. Die Frage ist, wie stark ein abhängigen) Geldpolitik vermieden werden. Die solcher Effekt, zumal in der Währungsunion, Konzertierte Aktion sollte zugleich als Plattform wirklich wiegt. Schließlich sind die insbesondere für den makroökonomischen Dialog und die im Steuer- und Sozialsystem eingebauten sog. Formulierung von Lohnleitlinien dienen; ver- automatischen Stabilisatoren zu berücksichtigen, bindliche Beschlüsse waren aber nicht vorgese- die im Verlauf des Multiplikatorprozesses in Kraft hen. Monetären Impulsen wurden im Gegensatz treten. Mit der Erhöhung der Einkommen und zu fiskalischen eine eher indirekte und langsamere Umsätze steigen die Steuern und, wie bereits er- Wirkung auf die wirtschaftliche Entwicklung zu- wähnt, die Einfuhren (Importe), teilweise sogar gesprochen, weil die Investitionsnachfrage pri- progressiv. Das Finanzierungsdefizit des Staates mär von der erwarteten Kapazitätsauslastung und beginnt zu sinken und wird, sofern der Auf- den weiteren Wachstumsaussichten abhängt. schwung kräftig genug ist, von einem Finanzie- Eine wichtige Rolle im keynesianischen Sta- rungsüberschuss abgelöst. Auch der bremsende bilisierungskonzept spielt der Fiskalmultiplikator. Effekt der marginalen Sparquote ist in Rechnung Er gibt an, um wie viel sich das Einkommen än- zu stellen. dert, wenn die Staatsausgaben und/oder die Je stärker der Multiplikator ist, desto wirksa- Staatseinnahmen verändert werden. Der Multi- mer sind stabilisierungspolitische Maßnahmen. plikator von Staatsausgaben, sofern sie keine Auch für die Frage der Staatsverschuldung ist die Transferausgaben sind, ist höher als der von Höhe des Multiplikators von Bedeutung. Ein Bei- Staatseinnahmen, weil die Ausgaben unmittelbar spiel soll dies verdeutlichen: Ein kreditfinanzier- und in voller Höhe nachfragewirksam werden ter Nachfrageimpuls von einer Milliarden Euro und die Einkommen sich entsprechend erhöhen. bewirkt bei einem Multiplikator von 1,5 eine Werden dagegen die Steuern gesenkt oder die effektive Erhöhung der Gesamtnachfrage um Transfereinkommen erhöht, so wird in Abhän- 1,5 Milliarden Euro. Bei einer Steuer- und Bei- gigkeit von der marginalen Sparneigung ein Teil tragsquote von 40 Prozent fließen 600 Millionen 3 Auch das Wechselkursregime spielt eine Rolle. Bei festen Wechselkursen wird die Wirkung höher sein als bei flexiblen, weil eine expan- sive Politik höhere Zinsen und damit Kapitalimporte nach sich zieht, während bei flexiblen Wechselkursen die heimische Währung aufgewertet wird und in der Folge Exportverluste eintreten. 10
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Euro an Steuern und Sozialbeiträgen zurück, d. h. Dosierung und der Befristung zu lösen. Zudem der Schuldenstand erhöht sich per Saldo um 400 sind Koordinationsprobleme zwischen der Fis- Millionen Euro. Für eine vollständige Selbstfinan- kal-, der Geld- und der Lohnpolitik zu überwin- zierung müsste der Multiplikator 2,5 betragen, den (Priewe 1996). Auch Schätzunsicherheiten eine Größenordnung, die in der Realität wohl bezüglich der Höhe des Multiplikators werden als kaum vorzufinden ist. In verschiedenen empiri- Ursache für die begrenzte Prognosefähigkeit fis- schen Untersuchungen werden für die Fiskalmul- kalpolitischer Stabilisierungsmaßnahmen ange- tiplikatoren sehr unterschiedliche Werte genannt. führt. All diese Probleme diskretionärer Steuerung Für die Staatsausgaben liegen sie im Durchschnitt sind nicht zu leugnen, dürfen aber nicht ablen- bei einem Wert von über 1, für die Steuereinnah- ken von der zentralen Bedeutung der automati- men unter 1. Die Berechnungen unterscheiden schen Stabilisatoren, wenngleich deren Wirksam- sich nicht nur in Abhängigkeit von den gewähl- keit in den zurückliegenden Jahren im Zuge von ten Modelltypen, der Methodik oder der Art des Reformen im Steuer- und Sozialsystem zuneh- Impulses, sondern auch dadurch, wie die Geld- mend beschnitten wurde. Vor allem muss sicher- politik sich verhält. Bei akkommodierender oder gestellt werden, dass diese Stabilisatoren in Kri- gar betont expansiver Geldpolitik sind die Multi- senphasen uneingeschränkt, also ohne gleichzei- plikatoren signifikant höher, ebenso bei einem tige kompensierende (Spar-)Maßnahmen wirken Fiskalimpuls, der auf öffentliche Investitionen können. Ungeachtet dessen lassen sich die bei setzt. Insgesamt streuen die Ergebnisse stark und diskretionären fiskalpolitischen Maßnahmen üb- lassen eine Vielzahl sich überlagernder Einfluss- licherweise auftretenden time-lags durch eine faktoren vermuten (Gechert/Will 2012). vorausschauende Politik verringern. Darüber hin- aus lassen sich die Multiplikatorwirkungen auch bei offenen Märkten durch eine engere Koordi- 2.2 Kritik am Keynesianismus – wenig nierung der Fiskal-, Geld- und Lohnpolitiken auf stichhaltig nationaler wie auch auf internationaler (z. B. in Europa) Ebene stärken, wie die Überwindung der Die rasche Überwindung der wirtschaftlichen Konjunkturkrise in den Jahren 2008/09 ein- Schwächeperiode 1966/67 hat den Mythos ge- drucksvoll gezeigt hat. nährt, dass dieser Erfolg vor allem auf den Einsatz Die Tatsache, dass sich Arbeitslosigkeit und diskretionärer fiskalpolitischer Maßnahmen zu- Inflation im Konjunkturverlauf häufig gegen- rückzuführen gewesen sei. Diese Einschätzung läufig entwickeln, führt zu der Gretchenfrage, wie trifft nur bedingt zu. Vor allem als Folge der auto- stabil dieser (negative) Zusammenhang ist und matischen Stabilisatoren war die Finanzpolitik ob die „Phillipskurve“, die diesen Zusammen- expansiv ausgerichtet. Zwar wurden 1967 zwei hang darstellt, zumindest kurzfristig als „Speise- Konjunkturprogramme verabschiedet, doch wur- karte“ für wirtschaftspolitische Empfehlungen den deren Wirkungen durch Kürzungen in den dienen kann. Mit anderen Worten: Bis zu welchem Kernhaushalten zu einem großen Teil kompen- Punkt kann eine expansive Fiskalpolitik vor- siert; zudem wurden die Maßnahmen verzögert wiegend Mengeneffekte (in Form eines Multi- wirksam. Diese Konstellation wurde immer wie- plikator-Akzeleratorprozesses) auf den Güter- und der als Beleg für die Steuerungsprobleme angese- Arbeitsmärkten bewirken, und von wo an wird hen, die diskretionärer Politik anhaften und sie ein inflationärer Prozess infolge steigender Geld- fragwürdig machen, weil politisches Fehlverhal- löhne und zunehmenden Nachfragedrucks auf ten selbst immer wieder Instabilitäten hervorru- den Gütermärkten in Gang gesetzt? Kritiker fen würde (Stichwort: Politikversagen). In der Tat keynesianischer Stabilisierungspolitik verweisen fangen die Probleme mit der Beurteilung und auf die langfristige Sicht und vertreten das Prognose der wirtschaftlichen Entwicklung an Konzept der „natürlichen Arbeitslosenquote.“ und enden bei den Wirkungsverzögerungen der Deren Ausmaß setzt sich demnach im Wesent- Maßnahmen; dazwischen ist das Problem der lichen aus friktioneller und struktureller (oder 11
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung auch klassischer) Arbeitslosigkeit zusammen und sind. Solange aber der Schock nicht zu stark ist, ist mit Nachfragepolitik nicht zu bekämpfen. Die liefern die geschätzten Modellergebnisse durch- Frage ist jedoch, ob und wie exakt eine Trennung aus vertrauenswürdige Approximationen dessen, von struktureller und konjunktureller Kom- was infolge einer Politikänderung geschieht ponente der Arbeitslosigkeit möglich ist. Gelingt (Hartwig 2004). es nicht, nach einer Krise die Wirtschaft rasch wie- Schließlich stellt sich die Frage, ob Wirt- der auf einen Beschäftigung schaffenden Wachs- schaftssubjekte wirklich „lernende Ökonometri- tumspfad zurückzuführen, wird aus konjunk- ker“ sind und das jeweils zugrunde liegende Mo- tureller definitionsgemäß sehr bald strukturelle dell bei ihren subjektiven Realitätsdeutungen Arbeitslosigkeit. Unbestritten ist daher, dass in kennen bzw. für richtig halten (Annahme ratio- einer Wirtschaftskrise die Wirtschaftspolitik zügig naler Erwartungen), wovon die Lukas-Kritik aus- und entschlossen handeln muss, damit sich Ar- geht. Wenn die Akteure aus vergangenen Fehlern beitslosigkeit nicht verfestigt (Stichwort: Hyster- lernen, so heißt dies noch lange nicht, dass sie ese). Ob bei dem Versuch, „keynesianische“ Ar- über ein umfassendes Verständnis gesamtwirt- beitslosigkeit abzubauen, Inflationsgefahren dro- schaftlicher Zusammenhänge verfügen, das ih- hen, ist dann zudem wenig wahrscheinlich, wenn nen eine fundierte makroökonomische Prognose die Produktionskapazitäten nicht ausgelastet und ermöglicht. Insofern erscheinen die Annahmen die Kapitalrenditen hinreichend hoch sind. Die über die kognitiven Fähigkeiten der Wirtschafts- Arbeitslosigkeit wird die Gewerkschaften diszi- subjekte äußerst fragwürdig (Spahn 2010: 23). Be- plinieren, so dass von der Kostenseite her kein sonders realitätsfern scheint die Vorstellung, dass Inflationsdruck zu erwarten ist. die Marktakteure all den jüngeren Moden makro- Eine zentrale Rolle für die Tatsache, dass der ökonomischer Modelle gefolgt sein sollen. Ins- Wirtschaftspolitik für die Steuerung der wirt- gesamt kann man also festhalten, dass die von schaftlichen Prozesse zunehmend eine geringere dieser Seite gegen den Keynesianismus vorge- Relevanz beigemessen wurde, spielte die sog. brachte Kritik wenig stichhaltig ist. Lucas-Kritik (Lucas 1976). Lange Zeit beruhten wirtschaftspolitische Eingriffe auf Erkenntnissen über die Reaktionsmuster der Marktakteure in der 2.3 Neoklassik-Monetarismus und Vergangenheit. Für Lucas ist jedoch ein Politik- Angebotspolitik wechsel verbunden mit einer Parameteränderung, die wiederum das Lernverhalten der privaten Ak- Die Renaissance neoklassischen Denkens in Ge- teure beeinflusst. Wenn allein die traditionellen stalt des Monetarismus und der Angebotspolitik Reaktionsmuster bei der Einschätzung der Wirk- fiel in Deutschland in eine Zeit, als die wirtschaft- samkeit von Politikmaßnahmen zugrunde gelegt liche Entwicklung durch hohe Inflationsraten ge- werden, indem die geschätzten Modellparameter kennzeichnet war. Seit Mitte der 1970er Jahre in den Simulationen konstant gehalten werden, folgte die Bundesbank explizit der geldmengen- dann können gemäß der Lucas-Kritik die Aus- theoretischen Konzeption, die nicht nur auf dem wirkungen geänderter Wirtschaftspolitik nicht Paradigma der inhärenten Stabilität des Markt- zuverlässig vorausgesagt werden. Rational han- systems, sondern auch auf der Hypothese von der delnde Marktakteure werden ihre Reaktionen an Dominanz monetärer Impulse auf die wirtschaft- jede Politikmaßnahme anpassen, so dass nach liche Entwicklung beruhte. Die erste schwere jedem Eingriff neue Parameter gelten. Für die Nachkriegsrezession 1974/75 wurde von der Bun- Wirtschaftspolitik bedeute dies, dass wirtschafts- desbank wie auch von dem seinerzeit einflussrei- politische Eingriffe weitgehend wirkungslos blei- chen Beratergremium „Sachverständigenrat zur ben. Gegen diese Fundamentalkritik kann jedoch Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Ent- eingewendet werden, dass die Argumente sicher wicklung (SVR)“ mit zu hohen Löhnen erklärt. im Falle einer Regimetransformation wie beispiels- Die Existenz von Arbeitslosigkeit ist, folgt man weise die deutsche Wiedervereinigung relevant der Argumentation dieser Gremien, immer ein 12
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Zeichen dafür, dass der kostenneutrale Lohnsatz finanziellen Restriktionen aufgezeigt werden. Je- überschritten ist. Im neoklassischen Denken gibt de Überschreitung dieser Grenzlinie würde quasi- der Lohnmechanismus die Garantie, dass das Sys- automatisch sanktioniert. Hohen Staatsdefiziten tem immer zum Vollbeschäftigungsgleichgewicht wurde eine Absage erteilt, da sie mehr wachs- neigt. Herrscht Arbeitslosigkeit, so muss über tumshemmend als -fördernd wirken würden. Lohnverzicht der Reallohn gesenkt und somit die In ihrem Kern besteht die neoklassische Mo- Voraussetzung für eine wieder höhere Arbeits- dellwelt aus einem System von homogenen Wett- kräftenachfrage geschaffen werden. Der durch bewerbsmärkten mit unverzögert flexiblen Prei- die Lohnsenkungen induzierte deflatorische Pro- sen, die Markträumung garantieren. Konjunktu- zess stabilisiert sich an jenem Punkt, an dem bei relle Schwankungen existieren allenfalls als Folge gegebener Geldmenge und Umlaufgeschwindig- kurzfristiger Informationsdefizite. Konjunktur- keit die reale Kaufkraft aufgrund des Preisverfalls politische Interventionen sind daher überflüssig. wieder steigt. Über Ausmaß und Intensität dieses Wirtschaftspolitik ist allein dazu da, mögliche Anpassungsprozesses entscheidet nicht zuletzt strukturelle Verwerfungen (oftmals Folge politi- die Geldpolitik: Bei potenzialorientierter Geld- schen Handelns) zu beseitigen. Die angebotspoli- mengenpolitik werden im Falle geringer Investi- tischen Vorstellungen basieren letztlich auf der tionen und Kreditnachfrage Zinssenkungen in- Wirkungskette: Senkung der Kosten (Lohnkosten, duziert und wieder vermehrte Investitionen an- Steuern), höhere Gewinne, vermehrtes Angebot geregt. Von der Ausweitung des Angebots wird und vermehrte Nachfrage (Saysches Theorem in auch die Nachfrage gespeist: Das Angebot schafft Verbindung mit dem sog. Pigou-Effekt5). Wenn sich seine Nachfrage (Saysches Theorem). der Steuerpolitik eine prominente Rolle in der Im Geldmengenkonzept pflanzt sich also der Angebotspolitik zugewiesen wird, so steht dahin- monetäre Impuls in Form einer Änderung der ter die Vorstellung, dass Steuersenkungen per Sal- Geldmenge über zahlreiche Anpassungsreaktio- do nicht zu weniger, sondern – über höhere In- nen so lange fort, bis über die Veränderung der vestitionen und Beschäftigung – zu mehr Steuer- relativen Preise der verschiedenen Vermögens- einnahmen führen (Stichwort: „Lafferkurve“).6 objekte Investitions- und Konsumentscheidun- gen beeinflusst werden. Von zentraler Bedeutung ist die permanente Einkommenshypothese, nach 2.4 Kritik an der neoklassisch- der Konsumentscheidungen von den von den monetaristischen Sicht – berechtigt privaten Haushalten auf Dauer erwarteten Ein- kommen geprägt werden. Deshalb üben kurzfris- Der wichtigste Kritikpunkt an der neoklassisch- tige, also konjunkturpolitisch motivierte Maß- monetaristischen Sichtweise ist die unterstellte nahmen hier keinen positiven Einfluss aus. inhärente Stabilität des privaten Sektors. Die wirt- Grundlage der neuen Geldpolitik war die jährli- schaftspolitischen Empfehlungen neoklassisch che Bekanntgabe des Geldmengenziels, wodurch (angebotspolitisch) argumentierender Ökono- die Notenbank implizit Aussagen über das von men fußen auf einer Gleichgewichtskonstellation ihr für erwünscht angesehene Wirtschaftswachs- bei Vollbeschäftigung: Der Lohnmechanismus tum und die für unvermeidbar gehaltene Infla- garantiert die Abwesenheit unfreiwilliger (keyne- tionsrate verkündete.4 Damit sollten dem geplan- sianischer) Arbeitslosigkeit und die Gütermärkte ten Ausgabeverhalten von Staat und Privaten die werden stets geräumt. Von den Kritikern wird 4 Orientiert sich eine Politik allein am (trendmäßigen) Wachstum der Produktionskapazität des Sachkapitals, so ist das Potenzial Aus- gangspunkt der geldpolitischen Zielformulierung und nicht Zielobjekt der Geldversorgung. 5 Der Pigou-Effekt beschreibt den positiven, durch niedrigere Inflationsraten induzierten Realwerteffekt, der nicht-lohnabhängigen (Ver- mögens-)Einkommen zugute kommt, die weniger eng an Preisniveauänderungen gekoppelt sind. 6 In den USA herrschte während der Reagan-Administration die Einschätzung vor, dass deshalb die Steuersenkungen problemlos über Kredite finanziert werden können. 13
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung diese Sicht als zu einfach gestrickt und nicht den Unternehmenssteuerreform massive Anreize be- Realitäten entsprechend gebrandmarkt. Tatsäch- scherte, doch die Investitionen der Unternehmen lich entscheidet sich erst im Prozess der Entste- trotz enormer Gewinnsteigerungen erheblich hung, Verteilung und Verwendung der Einkom- schrumpften.8 Eine ähnliche Einschätzung gilt men, welcher Einfluss die Lohnerhöhungen auf für die Arbeitslosigkeit, die in dieser Zeit trotz Preise, Output und Beschäftigung haben und wie sehr zurückhaltender Lohnpolitik hoch geblieben die Löhne selbst von diesen Größen, aber auch ist. Auch die vielfältigen Ansätze zur Revitalisie- von der Geldpolitik beeinflusst werden. Geld- rung der Marktstrukturen (Deregulierung der Ar- löhne haben immer einen Doppelcharakter: Als beitsmärkte, Privatisierung, steuerliche Investi- wesentlicher Einkommensbestandteil prägen sie tionsanreize) konnten per Saldo weder Arbeits- die Konsumnachfrage, als Kostenelement die losigkeit noch Staatsverschuldung reduzieren. Angebotsseite. Aufrechte Angebotspolitiker lassen sich von die- Die Vorgabe von Geldmengenzielen impli- sen Einwänden aber nicht verunsichern. Wich- ziert Aussagen über das von der Zentralbank für tiger ist für sie das Argument, dass durch Steuer- möglich gehaltene Wirtschaftswachstum (ein- senkungen und durch den Verlust an Staats- schließlich der für „unvermeidbar“ gehaltenen einnahmen der Druck zu Ausgabenkürzungen Inflationsrate). Damit besteht aber die Gefahr, erhöht und dadurch der Einfluss des Staates auf dass konjunkturbedingte Geldmengenänderun- den Wirtschaftsprozess geschmälert wird. Den gen unterdrückt werden und damit auch ein Auf- letztendlichen Beweis, dass eine geringere Steuer- schwung im Keim erstickt wird. Welche Preis- und Staatsquote sich positiv auf die Wirtschafts- steigerung ist im dynamischen Prozess vermeid- entwicklung einer Volkswirtschaft auswirken, bar bzw. unvermeidbar? Es kann sich durchaus blieben sie jedoch bis heute schuldig. erweisen, dass ein Mehr an Geld nach Ablauf aller Anpassungsprozesse nicht „zu viel“ ist, und ein Weniger an Geld kann „zu wenig“ sein im Hin- 2.5 Der „neue“ Konsens in der Makro- blick auf eine reale Entwicklung, die es verhindert ökonomik – neue Erkenntnisse für hat. Vor allem ist es eine Frage der Zinsen, die die Wirtschaftspolitik? bestimmen, zu welchen Anpassungsprozessen es kommt (Flassbeck 1982: 94). Die Weiterentwicklungen in der makroökonomi- Auch die steuerpolitischen Vorstellungen schen Theorie vollzogen sich im Rahmen der sog. fordern Kritik heraus. So ist es unrealistisch zu Neuen Klassischen Makroökonomik und des glauben, dass Steueranreize eine so starke Wir- sog. Neu-Keynesianismus. Die Grundannahmen kung ausüben, wie dies mit der Lafferkurve sug- beider Ansätze liegen nicht sehr weit auseinan- geriert wird.7 Für Investitionsentscheidungen der der. In der Literatur wird die Frage, ob das neu- Unternehmen spielen vor allem Absatzerwartun- keynesianische Modell als „neuer Konsens“ in gen eine Rolle, steuerpolitische Entscheidungen der Makroökonomie taugt, diskutiert (Romer sind von zweitrangiger Bedeutung. Für diese Ein- 2000; Taylor 2000; Hein et al. 2003). Lassen sich schätzung sprechen auch die Erfahrungen: In den grundlegend neue Erkenntnisse für die wirtschafts- 1980er Jahren war die Investitionstätigkeit ge- politischen Handlungsanweisungen aus diesen ring, obwohl die Politik weitgehend angebots- Ansätzen ableiten? politischen Vorstellungen folgte. Noch krasser Die Neue Klassische Makroökonomik9 be- war das Bild in den Jahren nach 2000, als die harrt auf der These völliger Preisflexibilität und 7 Bei einem Einkommen von 1.000 und einem Steueraufkommen von 200 beträgt der Steuersatz 20 Prozent. Sinkt z. B. der Steuersatz auf 15 Prozent, muss das Einkommen auf knapp 1.340 steigen, um das gleiche Steueraufkommen zu generieren. Das Verhältnis von Anreiz und Wirkung steht in keinem glaubhaften Zusammenhang. 8 Vgl. Kapitel 3.2. 9 Vgl. hierzu die verschiedenen Überblicksartikel (Heise 1999), Heine/Herr (2003), Felderer/Homburg (2003), Spahn (2010). 14
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs permanenter Markträumung. Auf den (perfekten) lichen monetaristischen Argumentation – auch Kapitalmärkten gibt es keine Kreditmarktrestrik- kurzfristig mit keinen Realeffekten verbunden: tionen, d. h. die Marktteilnehmer können ihre Die Wirtschaftssubjekte antizipieren die Politik Investitions- und Konsumausgaben jederzeit mit und wissen um ihre Wirkungen, nehmen sie also Krediten finanzieren (erste Basishypothese). in ihre Planungen auf. Jede Änderung der Geld- Grundsätzlich herrscht in diesem System Vollbe- menge führt sofort zu einem gleichgewichtigen schäftigung. Diese These wird freilich nicht ab- Preisniveau – Geldpolitik bleibt also wirkungslos geleitet, sondern ist bloße Annahme. Zwar wird (keine realen Effekte). konzediert, dass selbst im Gleichgewicht ein ge- Dies gilt auch für die Finanzpolitik: Nur eine wisses Maß an Unterbeschäftigung bestehen unsystematische, nicht antizipierbare Politik kann, welches aus Informationsmängeln, Mobili- führt zu vorübergehenden Abweichungen des tätshemmnissen oder Anpassungskosten resul- Outputs vom Normalniveau, ruft aber langfristig tiert und sich kurzfristig nicht beseitigen lässt. keine Wohlfahrtseffekte hervor. Deshalb besteht Diese „natürliche Arbeitslosigkeit“ ist jedoch frei- kein Anlass für staatliche Interventionen, zumal williger Natur und kein Ergebnis von Marktver- die Tatsache, dass der Konsum vom permanenten sagen (zweite Basishypothese). Dritte These sind Einkommen bestimmt wird und mögliche Steuer- rationale Erwartungen. Die Akteure gründen ihre geschenke oder zusätzliche Staatsausgaben ge- Erwartungen nicht nur auf Vergangenheitswer- mäß der ricardianischen Äquivalenz die Steuern ten (adaptive Erwartungen), sondern es wird zu- von morgen sind, „rational“ handelnde Wirt- dem unterstellt, dass die Individuen das für die schaftssubjekte nicht beeinflussen können. Über Realität relevante ökonomische Modell sowie die allem steht die Annahme, dass die Marktakteure Abläufe und Wirkungen ökonomischer Entschei- keine Unsicherheiten kennen, sondern allein Ri- dungen der anderen Akteure (einschließlich der siken abwägen, was die Abschätzung zukünftiger wirtschaftspolitischen Instanzen) kennen und Ereignisse erlaubt (Schettkat 2012). Auch die Neu- diese bei ihren eigenen Entscheidungen berück- Klassiker können konjunkturelle Schwankungen sichtigen. Die Wirtschaftssubjekte nutzen alle nicht leugnen. Sie werden nicht wie in der Neo- verfügbaren Informationen effizient, d. h. sie er- klassik mit exogenen Schocks erklärt, vielmehr kennen systematische (antizipierbare) Politik und wird auf die „Theorie des Real Business Cycle“ zu- können sie von unsystematischer (nicht-anti- rückgegriffen – Konjunkturzyklen entstehen aus zipierbarer) Politik unterscheiden. Der Begriff realen Schocks, vor allem durch technologische „rational“ ist hier im Sinne von Modellkonsistenz Änderungen, aber auch durch psychologische zu interpretieren. Die vierte Basishypothese be- Faktoren wie die Veränderung von Konsum- oder zieht sich auf den Konsum, der vom permanen- Zeitpräferenzen. ten und nicht vom laufenden Einkommen be- Lohn- und Preisrigiditäten existieren in der stimmt wird. Die fünfte These beruht auf der Welt der Neu-Klassik nicht. Für den Neu-Keyne- Quantitätstheorie des Geldes: Infolge rationaler sianismus steht die Frage der Lohn- und Preis- Erwartungen ist eine systematisch betriebene rigiditäten hingegen im Mittelpunkt des Interes- Geldmengenpolitik – anders als in der ursprüng- ses.10 Der Neu-Keynesianismus akzeptiert grund- 10 Mit anderen Weiterentwicklungen der Keynesschen Theorie, dem Postkeynesianismus und der Neuen Keynesianischen Makroökono- mie, hat dieser Ansatz wenig gemein. Während im Postkeynesianismus vor allem gesellschaftliche Konflikte, Unsicherheit, ökonomi- sche Macht eine zentrale Rolle spielen (Postkeynesianer interpretieren Keynes „fundamentalistischer“, indem wesentliche Struktur- merkmale der kapitalistischen Wirtschaft analysiert werden. Arbeitslosigkeit ist nicht bloß das Resultat von „Marktfehlern“, sondern ein potenzielles Marktergebnis. „Hydraulische“ Prozesspolitik, also der mechanistische antizyklische Einsatz der Geld- und Finanz- politik – basierend auf einer schlichten IS/LM-Analyse – ist für sie nicht mehr als Kurieren am Symptom.), untersuchen die Ungleich- gewichts- oder Rationierungsansätze der Neuen Keynesianischen Makroökonomie Funktionsweise und Steuerungsmechanismen inter- dependenter Märkte (Gerfin 1985). Marktungleichgewichte resultieren in diesen Ansätzen aus mehr oder weniger trägen Preisreaktio- nen, wobei die wechselseitige Interdependenz der Märkte und der Handel zu „falschen“ (nicht-markträumenden) Preisen herausge- arbeitet wird. Diese Trägheiten verhindern eine permanente Markträumung und bewirken Mengenbeschränkungen, die wiederum Planrevisionen und damit multiplikativ wirkende Spillovers zwischen den einzelnen Märkten auslösen. Gleichgewichte sind bloßer Zufall, falsche Preise die Regel. 15
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung sätzlich das walrasianische Gleichgewichtsmo- fizierung des Ansatzes der natürlichen Arbeits- dell, ebenso das Konzept der rationalen Erwar- losenquote dar. tungen. Angebot und Nachfrage werden aus den Die wirtschaftspolitischen Konsequenzen individuellen Optimierungskalkülen eines „re- beider Modellwelten liegen auf der Hand. Im neu- präsentativen“ Wirtschaftssubjektes abgeleitet klassischen Modell sind die Märkte selbst bei rea- („Fundierung der Makroökonomie auf mikroöko- len Schocks stets im Gleichgewicht. Sowohl Prei- nomischen Entscheidungskalkülen“).11 Wie im se als auch Mengen spiegeln jederzeit die Opti- neu-klassischen Modell orientieren sich die Ak- mierungskalküle der Marktteilnehmer wider, sie teure am permanenten Einkommen. Das perma- befinden sich in dem von ihnen präferierten Zu- nente Einkommen fungiert allerdings zugleich stand. Die wirtschaftspolitische Botschaft ist als marktfähiges Vermögen, so dass die Konsu- Abstinenz. Geld- und finanzpolitische Eingriffe menten in der Lage sind, Phasen geringerer sind überflüssig, weil der Preismechanismus stets Markteinkommen über Kredite überbrücken zu dafür sorgt, dass keine unfreiwillige Arbeitslosig- können. keit herrscht. Sie sind auch wirkungslos, da die Der Unterschied zur Neuklassik besteht darin, Akteure ihre Erwartungen „rational“ bilden. Die- dass mikroökonomisch fundierte Preis- und Lohn- se Botschaft unterscheidet sich also nur wenig rigiditäten eine Markträumung verhindern kön- von der neo-klassischen Sichtweise. nen. Solche Rigiditäten können vielfältige Ursa- Die neu-keynesianischen Modelle, die mit- chen haben. So werden unter als „neuer“ Konsens in der Makroökonomik – Preisrigiditäten mit „menue costs“ (z. B. Orga- gelten, sind bezüglich der Wirksamkeit geld- und nisationskosten bei Preisänderungen), finanzpolitischer Eingriffe weniger pessimistisch: – Nominallohnrigiditäten mit Strategien zur Behindern Marktrigiditäten eine Gleichgewichts- Vermeidung von Verhandlungs- und Informa- lösung, so können geld- und finanzpolitische tionskosten (z. B. durch längerfristige Lohn- Maßnahmen den Anpassungsprozess beschleu- kontrakte), nigen. Makropolitik ist gefragt, wenn der Markt – Zinsrigiditäten mit unvollständigen Informa- aufgrund mikroökonomisch rationaler Gründe tionen und risikoaversen Finanzintermediären, versagt (Heine/Herr 2003: 52). Das langfristige – Rigiditäten auf dem Arbeitsmarkt mit der Mög- Gleichgewicht wird von der sog. inflationsstabi- lichkeit von „mismatch“ (Arbeitslose erfüllen len Arbeitslosenquote NAIRU, für die strukturelle nicht die Qualifikationsanforderungen für eine Faktoren ausschlaggebend sind, bestimmt. Unter- Beschäftigung) halb der NAIRU vermag der (expansive) Einsatz in Verbindung gebracht. des geld- und finanzpolitischen Instrumentari- Ein neu-keynesianisches Konzept ist die ums Output und Beschäftigung nicht erhöhen, NAIRU („non accelerating inflation rate of unem- allein die Preise werden in diesem Fall steigen. ployment“12): Infolge der Rigiditäten fehlerhafter Die NAIRU kann nur mit strukturpolitischen Marktstrukturen wird eine vollständige Markt- Maßnahmen (z.B. Deregulierung des Arbeits- räumung verhindert, weil die Preise bereits wie- marktes) gesenkt werden. Kurzfristige, also kon- der steigen, bevor das Gleichgewicht erreicht ist. junkturelle Marktstörungen können dagegen mit Für den Arbeitsmarkt bedeutet dies einen pfad- geld- und finanzpolitischen Mitteln bekämpft abhängigen Anstieg jener Arbeitslosenquote, die werden. Doch kann eine expansive Geld- und akzelerierende Inflationsraten verhindert. Im Finanzpolitik auch auf längere Frist hilfreich sein, Prinzip stellt das Konzept der NAIRU eine Modi- nämlich beispielsweise dann, wenn höhere Ar- 11 Die Neu-Keynesianer nahmen mit diesem Ansatz die neoklassische Kritik der fehlenden Mikrofundierung auf, nämlich alle Handlun- gen der Akteure explizit auf Nutzen- bzw. Gewinnmaximierung zurückzuführen. 12 Die inflationsstabile Arbeitslosenquote beschreibt die Quote, bei der die Verteilungsansprüche von Unternehmern und Arbeitnehmern keine Veränderungen der Inflationsrate auslösen. Wird diese Quote unterschritten, führt dies zu höheren Löhnen und zu mehr Infla- tion. Bei flexiblen Arbeitsmärkten wird eine niedrigere NAIRU vermutet als im Falle stark regulierter Arbeitsmärkte; dann kann es auch bei einer hohen Arbeitslosenquote zu Inflation kommen. 16
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