Diversität in der Berufsschule - Prävention von Lehrabbruch durch inklusive Strategien

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Diversität in der Berufsschule - Prävention von Lehrabbruch durch inklusive Strategien
WORKING                      PAPER 5
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien

Diversität in der Berufsschule
Prävention von Lehrabbruch
durch inklusive Strategien

                                                                            © Demokratiezentrum Wien 2022   1
Diversität in der Berufsschule - Prävention von Lehrabbruch durch inklusive Strategien
Working Paper des Demokratiezentrum Wien
Herausgegeben von Prof. Dr. Dirk Lange
Heft 5

© Demokratiezentrum Wien 2022
Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Dirk Lange
Tel: +43 (0) 512 37 37
Fax: +43 (0) 512 37 37-20
E-Mail: office@demokratiezentrum.org
www.demokratiezentrum.org

Satz & Layout: Katrin Pfleger Grafikdesign

Diese Broschüre steht unter Creative Commons Lizenz
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Namensnennung – Nicht-kommerziell – Weitergabe unter gleichen
Bedingungen 3.0 Unported License. To view a copy of this license,
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Inhalt

         Einleitung                                                                   4

         Lara Möller: Bedarfsanalyse zum Thema „Vorzeitiger Lehrabbruch von
         Berufsschüler*innen mit Migrations – bzw. Rom*njageschichte:
         ausgewählte Problemstellungen und Lösungsansätze in Österreich“              7

         Klaus Linde-Leimer: Roma Empowerment. Ausbildung in
         Training, Beratung und Selbst Organisiertem Lernen                          14

         Leonie Brixa/Karlheinz Boss: Arbeitserfahrung und
         Erfahrungsarbeit mit Lehrlingen                                             30

         Kurzbiografien der Autor*innen                                              39

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Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien

Einleitung

Lara Möller / Dirk Lange

          Diversität in der Berufsschule
          Prävention von Lehrabbruch durch inklusive Strategien

          Dieses Working Paper befasst sich mit dem Thema des vorzeitigen Ausbildungsabbruches und
          darauf bezogenen inklusiven Strategien für Auszubildende mit Migrationsgeschichte sowie Ro-
          ma und Romnija. Der Psychologe und Migrationsforscher Haci-Halil Uslucan stellt grundsätzlich
          fest: Die „Erfahrung der Ausgrenzung bzw. der Diskriminierung im pädagogischen Bereich kann
          dazu führen, dass Bildungskarrieren gebremst bzw. gehemmt werden“ (Uslucan 2017: 135). Im Bil-
          dungsbereich kann hier eine Chancenungleichheit für unterschiedliche Gruppen konstatiert wer-
          den (vgl. Gomolla/Radtke 2007). Daraus ergeben sich unterschiedliche Herausforderungen, die im
          Laufe dieses Working Papers erörtert werden. Grundsätzlich ist das österreichische Schulsystem
          auf einer strukturellen Ebene seit Jahrzehnten segregativ gestaltet (vgl. Feyerer 2019). Spezifisch
          auf die vorliegende Zielgruppe bezogen, erfolgt eine problemorientierte diskriminierungskritische
          Auseinandersetzung häufig nur unzureichend; so beschreibt Albert Scherr, dass „dem Tradierungs-
          prozess antiziganistischer Vorurteile bislang nicht durch eine schulische Bildung begegnet“ wird
          (Scherr 2017: 314). Entsprechend müssen sich Bildungsprozesse auch als Möglichkeitsräume für ei-
          nen kritischen Paradigmenwechsel verstehen.

          Einen wichtigen theoretischen Rahmen für diese             weisen von Exkludierten sollen, als Beitrag für
          Auseinandersetzung bildet der Ansatz ­Inclusive            eine inklusive Gesellschaft, untersucht werden
          Citizenship Education, verstanden als Bildung              (vgl. Kleinschmidt et al. 2019: 410). Entsprechend
          für inklusive Bürger*innenschaft (Kleinschmidt/            wird neben sozial konstruierten Statuszuschrei-
          Lange 2016: 13). Politische Bildung befasst sich           bungen und Exklusionspraktiken nach mögli-
          häufig mit dem dominierenden, durch die Ab-                chen genutzten Handlungsperspektiven von
          stammung festgeschriebenen Verständnis von                 Exkludierten als Potential zivilgesellschaftlicher
          Nation (vgl. Lange 2010: 172). Citizenship wird            Partizipation und politischer Interessenartikula-
          dagegen mit einer grundsätzlichen Konflikthaf-             tion gefragt (vgl. Kleinschmidt/Lange 2016: 15f.).
          tigkeit zusammengedacht und kritisch reflek-               Exklusion wird hier mit Blick auf die Gruppe der
          tiert, indem Citizenship als Statuszuschreibung            Berufsschüler*innen mit Migrationsgeschich-
          problematisiert wird. Gleichzeitig wird Citizen-           te sowie Roma und Romnija als Ausschluss in-
          ship als „act“ im Sinne von Bürger*innenschaft             nerhalb der Gesellschaft diskutiert, der von der
          als Praxis formuliert (vgl. Kleinschmidt et al.            „Mehrheitsgesellschaft“ im Alltag praktiziert
          2019: 406; Kleinschmidt/Lange 2016: 15). Ziel-             wird (vgl. u.a. Kleinschmidt 2017). Dadurch wird
          setzung dieses Working Papers ist daher auch,              mit dem Ansatz der Inclusive Citizenship Educa-
          Impulse für die Wissenschaft und die politische            tion kein vertikal-hierarchisierendes Verständ-
          Bildungsarbeit in der Praxis zu geben. Auch die            nis von Citizenship in Form einer (Nicht-)Zuge-
          subjektiven Vorstellungen und Partizipations-              hörigkeit angewendet, sondern mit Bezug auf

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den Soziologen John Gaventa ein horizontales                zum Tragen kommen. Der Fokus wird in diesem
Verständnis betont, das sich auf das Verhältnis             Zusammenhang auf den „defizitären gesell-
der Bürger*innen untereinander bezieht (vgl.                schaftlichen Umgang“ (Kleinschmidt/Lange
Kleinschmidt/Lange 2016: 17f.; Gaventa 2005: 12).           2016: 14) seitens der sogenannten Mehrheitsge-
                                                            sellschaft gegenüber Marginalisierten gelegt.
Relevant ist auch der zugrunde liegende Inklu-
sionsbegriff. Dieser wird in unterschiedlichen              Die konkrete problemorientierte Auseinander­
Bereichen und Disziplinen benutzt, hier geht                setzung wird in diesem Working Paper anhand
es um seine Verwendung innerhalb der Migra-                 ausgewählter Einblicke in das 2018 abgeschlos-
tionsforschung als Abgrenzung vom Integrati-                sene, im Programm Erasmus+ geförderte Pro-
onsbegriff. Die Didaktik der Politischen Bildung            jekt PREDIS (Prevention of Early Dropout of VET
selbst befasst sich erst seit einigen Jahren mit            through Inclusive Strategies for „Migrants“ and
Inklusion (vgl. Besand/Jugel 2015: 45). Der Fokus           „Roma“) veranschaulicht. Das Projekt ­wurde
wurde dabei zunächst insbesondere auf soziale               vom Institut für Didaktik der ­Demokratie an
Ungleichheitsverhältnisse hinsichtlich Migrati-             der Leibniz Universität ­Hannover ­koordiniert
on und Flucht gelegt (vgl. u.a. Dönges et al. 2015:         und gemeinsam mit mehreren euro­päischen
9ff.). Inklusion lässt sich im Kontext Politischer          Partner*innen aus den Bereichen Wissenschaft
Bildung als ein Prozess kontextualisieren, der              und Bildungspraxis in Österreich, ­Rumänien,
individuelle Bedürfnisse nach Zugang, Teilhabe              Slowenien und Italien umgesetzt. In Öster­
und Selbstbestimmung für alle Personen mit                  reich wurde PREDIS vom Arbeitsbereich
­jeweils unterschiedlichen Lebenssituationen                ­Didak­tik der Politischen Bildung am Institut
 berücksichtigt und fördert (vgl. Besand/Jugel               für Lehrer*innenbildung der Universität Wien
 2015: 45).                                                  durchgeführt, in Rumänien von der Liceul
                                                             ­Tehnologic Economic „Elina Matei Basarab“
Die Pädagogin Saphira Shure stellt zunächst                   und der Inspectoratul Scolar Judetean Buzau, in
fest, dass sich der Begriff der Inklusion aufgrund            ­Slowenien vom Znanstvenoraziskovalni ­Center
der vielen Debatten immer mehr zu einem Un-                    Slovenske/Akademije Znanosti In Umetnosti und
wort entwickelt (vgl. Shure 2017: 644). Inklusion              in Italien von der Università degli Studi di Trento.
wird zwar häufig in Bildungszusammenhängen
verwendet, dabei jedoch nicht immer näher be-               Zielsetzung des Projektes war es, der hohen vor-
stimmt. In einem kritischen Verständnis kann er             zeitigen Abbruchquote von Berufsschüler*innen
Malte Kleinschmidt und Dirk Lange folgend mit               mit Migrationsgeschichte sowie Roma und
einem Paradigmenwechsel zusammengedacht                     Romnija mittels didaktischer Strategien zu be-
werden, indem beispielsweise nicht die Geflüch-             gegnen. Diese Zielgruppe ist dabei in Österreich
teten als Problem gelesen werden, sondern viel-             dreifach benachteiligt. Zunächst begegnet sie
mehr der defizitäre gesellschaftliche Umgang                höheren Hürden beim Zugang in die Berufsaus-
mit ihnen kritisiert wird (Vgl. Kleinschmidt/Lan-           bildung. Dort ist sie häufiger vom Ausbildungs-
ge 2016: 14). Der Integrationsbegriff wird hier als         abbruch betroffen; schließlich gehen damit
„einseitiger Forderungskatalog an sogenannte                danach Benachteiligungen am Arbeitsmarkt
Menschen mit Migrationshintergrund“ kriti-                  einher, die sich auf die soziale und sozio-ökono-
siert (Kleinschmidt 2017).                                  mische Bürger*innenrolle auswirken.

Im vorliegenden Zugang wird Inklusion vom                   Im Laufe des Projektes wurde in den ­beteiligten
Verständnis der Integration abgegrenzt, das ei-             Ländern eine Bedarfsanalyse durchgeführt,
ne Mehrheitsgruppe in Trennung von scheinbar                um Gründe für die höheren Abbruchquoten
„nicht-integrierten“ Gruppen konstruiert. In-               herauszuarbeiten. Der Beitrag von Lara Möl-
clusive Citizenship Education bezieht existente             ler in diesem Working Paper veranschaulicht
hegemoniale Machtstrukturen, Herrschaftspro-                die Auseinandersetzung mit der österreichi-
zesse und Diskurse innerhalb der gesellschaft-              schen Situation. Die Projektbausteine befassen
lich-politischen Wirklichkeit mit ein, die bei die-         sich thematisch mit pädagogischem Hinter-
ser Konstruktion von (Nicht-)Zugehörigkeiten                grundwissen, der Einbeziehung von Roma und

                                                                                   © Demokratiezentrum Wien 2022      5
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien

    ­ omnija, mit interkulturellen und Konfliktma-
    R                                                              mögliche Exklusionsmechanismen und Benach-
    nagementkompetenzen, dem Empowerment                           teiligungen in Alltag und Ausbildung.
    von Auszubildenden, Methoden der Arbeitsm-
    arktintegration und der Unterstützung beim                     Diese Erläuterungen sollen das ­zugrunde lie­
    Übergang zwischen Ausbildungsphasen. Dazu                      gende Projektverständnis und die ­Arbeit der
    wurde ein Werkzeugkasten erstellt, der Metho-                  involvierten Multiplikator*innen veranschau­
    den zu insgesamt sechs thematischen Modulen                    li­chen. Die in diesem Working Paper versam-
    umfasst. Außerdem wurde ein Blended Learn­                     melten Beiträge thematisieren einerseits Kon-
    ing-Kurs für Lehrkräfte und Ausbilder*innen                    texte, Ursachen und mögliche Lösungsansätze
    erstellt. Schließlich versammelt ein Handbuch                  von vor­zeitigem Ausbildungsabbruch, anderer-
    die Ergebnisse in insgesamt sechs Sprachen.                    seits gehen sie auf die Erfahrungen und Vorver-
    Begleitend wurden im Laufe des Projektes so-                   ständnisse von Auszubildenden, ­involvierten
    genannte Multiplikator*innen-Treffen durch-                    Lehrkräften und Expert*innen ein. Weiters
    geführt. An diesen nahmen auch die weiteren                    ­geben sie Einblick in die Arbeitserfahrung von
    Autor*innen dieses Working Papers teil. Die                     Lehrlingscoaches und, mit konkreter Orien-
    jeweiligen Arbeitszusammenhänge der be-                         tierung an den Betroffenen, Perspektiven des
    teiligten Autor*innen orientieren sich an den                   Empower­ments von ­Roma und Romnija mit
    Bedürfnissen und Potentialen der hier ange-                     Hilfe des ­didaktischen Konzeptes des Selbst
    sprochenen Zielgruppe und problematisieren                      ­Organisierten ­Lernens.

    Quellen
    Besand, Anja/Jugel, David (2015): Inklusion und politische     nissen. Impulse für einen herrschaftskritischen, dynami-
    Bildung – gemeinsam denken. In: Dönges, Christoph/Hil-         schen und hegemonietheoretisch fundierten Begriff von
    pert, Wolfram/Zurstrassen, Bettina (Hg.): Didaktik der         Inklusion. In: Zeitschrift für Inklusion. www.inklusion-
    inklusiven politischen Bildung. Bonn: Bundeszentrale für       online.net/index.php/inklusion-online/article/view/443.
    politische Bildung, S. 45–59.                                  Kleinschmidt, Malte/Kenner, Steve/Lange, Dirk (2019):
    Dönges, Christoph/Hilpert, Wolfram/Zurstrassen, Bettina        Inclusive Citizenship als Ausgangspunkt für emanzipati-
    (Hg.) (2015): Didaktik der inklusiven politischen Bildung.     ve und inklusive politische Bildung in der Migrationsge-
    Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.                   sellschaft. In: Natarajan, Radhika (Hg.): Sprache, Flucht,
    Feyerer, Ewald (2019): Kann Inklusion unter den ­Strukturen    ­Migration: Kritische, historische und pädagogische Annä-
    des segregativen Schulsystems in Österreich gelingen? In:       herungen. Wiesbaden: Springer VS, S. 405–413.
    Donlic, Jasmin/Jaksche-Hoffmann, Elisabeth/Peterlini,          Lange, Dirk (2010): Migrationspolitische Bildung. Das
    Hans Karl (Hg.): Ist inklusive Schule möglich? ­Nationale      Bürgerbewusstsein in der Einwanderungsgesellschaft. In:
    und internationale Perspektiven. Bielefeld: transcript         Lange, Dirk/Polat, Ayca (Hg.): Migration und Alltag. Un-
    ­Verlag.                                                       sere Wirklichkeit ist anders. Schwalbch/Ts.: Wochenschau
    Gaventa, John (2005): Foreword. In: Kabeer, Naila: Inclu-      Verlag, S. 163–175.
    sive Citizenship. Meanings and Expressions. London–New         Lange, Dirk/Kleinschmidt, Malte (2017): Inclusive Citizen-
    York: Zed Books, S. 12–14.                                     ship Education. In: Diendorfer, Gertraud/Sandner, Günther/
    Gomolla, Mechtild/Radtke, Frank-Olaf (2007): Institutio­       Turek, Elisabeth (Hg.): Populismus – Gleichheit – Differenz.
    nelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Diffe-       Herausforderungen für die Politische Bildung. Schwalbch/
    renz in der Schule. Wiesbaden: Springer VS.                    Ts.: Wochenschau Verlag, S. 63–82.
    Kenner, Steve/Lange, Dirk (2018): Einführung: Citizenship      Scherr, Albert (2017): Anti-Roma-Rassismus. In: Fereidooni,
    Education. In: Dies. (Hg.): Citizenship Education. Konzepte,   Karim/El, Meral (Hg.): Rassismuskritik und Widerstands-
    Anregungen und Ideen zur Demokratiebildung. Frankfurt          formen. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 307–318.
    a. M.: Wochenschau Verlag, S. 9–20.                            Shure, Saphira (2017): Was fokussieren (schul-)pädagogi-
    Kleinschmidt, Malte/Lange, Dirk (2016): Demokratie, Iden-      sche „Inklusionsperspektiven“ (eher nicht)? Ein rassismus-
    tität und Bürgerschaft jenseits des Nationalstaats. Inclu-     kritischer Kommentar. In: Fereidoon/El, Rassismuskritik
    sive Citizenship Education als neuer Ansatz der Politischen    und Widerstandsformen, S. 643–656.
    Bildung. In: Forum Politische Bildung (Hg): Informationen      Uslucan, Haci-Halil (2017): Diskriminierungserfahrungen
    zur Politischen Bildung 40/2016, S. 13–19.                     türkischstämmiger Zuwander_innen. In: Fereidoon/El,
    Kleinschmidt, Malte (2017): Inclusive Citizenship als For-     Rassismuskritik und Widerstandsformen, S. 129–141.
    schungsperspektive: Vom Denken in Spannungsverhält-

6   © Demokratiezentrum Wien 2022
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien

Bedarfsanalyse zum Thema „Vorzeitiger
Lehrabbruch von Berufsschüler*innen mit
Migrations – bzw. Rom*njageschichte:
ausgewählte Problemstellungen und
Lösungsansätze in Österreich“
Lara Möller

 Der österreichische Kontext                               Insgesamt sind in Österreich also insbesondere
­vorzeitigen Schulabbruchs                                 Auszubildende mit Migrationsgeschichte von
                                                           einem frühzeitigen Abbruch betroffen, ihr Risiko
In Österreich wird für die Bestimmung der ­Early           ist dabei viermal so hoch wie bei Angehörigen
School Leaving (ESL)-Quote die gleiche Defi-               der „Mehrheitsgesellschaft“ (Stop Dropout o. J.).
nition verwendet wie jene der europäischen                 Grundsätzlich besteht somit Handlungsbedarf
­Statistikbehörde Eurostat: Das Verständnis von            in Bezug auf die Ermöglichung des Zugangs
 ESL in Österreich umfasst somit den Anteil                von Jugendlichen mit Migrationsgeschichte in
 ­jener 18- bis 24-Jährigen, welche keinen höhe-           die berufliche Ausbildung. Dies inkludiert ­unter
  ren ­Bildungsabschluss vorweisen können (Pessl           anderem den Ausbau und die Aufwertung von
  2013: 3). Seit 2009 liegt die österreichische ­Quote     (schulischer) Berufsorientierung und Bera-
  unter der EU-Benchmark von 9,5%. Im Jahr 2016            tungs- und Fortbildungsangebote für die aus-
  lag der Anteil jener, die sich vier Wochen vor der       bildenden Betriebe (Dornmayer et al. 2016: 205).
  Untersuchung in keiner Ausbildung befanden,
  sogar nur bei 6,9% (vgl. ebd.; Eurostat). Diese          Die Ursachen des Problems
  ­relativ niedrige Quote könnte ein Mitgrund da-
   für sein, weshalb die Thematik noch nicht sehr          Jugendliche mit Migrationsgeschichte scheiden
   lange Gegenstand der Bildungspolitik in Öster­          trotz der vergleichsweise niedrigen Abbruch-
   reich ist und die Gesamtproblematik häufig              quoten in Österreich somit generell vermehrt
   ­unterschätzt wird (vgl. Pessl 2013: 4, 12).            frühzeitig aus der weiterführenden Ausbil-
                                                           dung aus. Hinzu kommt, dass die Betroffenen
Spezielle Bevölkerungsgruppen haben ein höhe­              innerhalb der Lehrlingsausbildung deutlich
res Risiko des Abbruchs, wodurch die Gefahr                unterrepräsentiert sind (Dornmayr et al. 2016:
­einer verstärkten Segregation besteht (Linde/             6). Auch Menschen mit nicht-österreichischer
 Linde-Leimer 2014: 21). In der Bundeshauptstadt           Staatsbürger*innenschaft sind vermehrt von
 Wien ist der ESL-Anteil grundsätzlich höher als           ESL betroffen, mit steigender Fortbildungs­dauer
 in den übrigen Bundesländern (Dornmayr et                 nimmt ihr Anteil noch stärker ab. Somit sind
 al. 2016: 176). Insbesondere in Wien herrscht             nicht-österreichische Staatsbürger*innen ver-
 ein Ungleichgewicht zwischen den verfügba-                mehrt von Drop-Out betroffen. Einerseits treffen
 ren Lehrstellen und der Nachfrage seitens der             sie zunächst auf höhere Hürden, einen Zugang
 Lehrstellensuchenden. Von diesem Missver-                 zu einer Lehre zu erhalten. Danach sind sie mit
 hältnis sind besonders junge Menschen mit                 deutlich höheren ­Abbruchquoten ­konfrontiert.
 Migrations­geschichte betroffen (Sturm/Ziegler            In diesem Kontext kann man inner­halb des
 2017: 20f.).                                              ­Zugangs zum dualen Ausbildungs­system von

                                                                                © Demokratiezentrum Wien 2022   7
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien

    Selektivität und somit von Dis­kriminierung der            lungsanweisungen formuliert. Dazu ­zählen
    J­ugendlichen mit ­Migrationsgeschichte und/               Reformen des Erstausbildungssystems, Berufs-
    oder nicht-österreichischer Staats­bür­ger*in­nen­­        orientierung, ein Drop-out-Meldesystem und
    schaft ausgehen (vgl. Steiner 2015: 14f., 25f.).           Case-Management, ­niederschwellige Reintegra-
    Auch im nachfolgenden Beschäftigungssystem                 tionsmaßnahmen sowie die strate­gie­geleitete
    sind die Betroffenen weniger stark integriert              Koordination und Kooperation der Akteur*innen
    und werden somit beim Eintritt in die Erwerbs-             untereinander (Linde/Linde-­Leimer 2014: 22).
    tätigkeit erneut diskriminiert (ebd.: 40). Im ­Falle       Spezielle Maßnahmen des ­Bundesministeriums
    von ESL-Betroffenheit erhöhen sich in ­diesem              für Bildung für die Prävention des vorzeitigen
    Sinne die Arbeitsmarktrisiken – so ist das ­Risiko         (Aus-)Bildungsabbruch beziehen sich auf Be-
    der Arbeitslosigkeit fast doppelt so hoch wie bei          reiche wie die Individualisierung des Lernens
    Personen mit einem Abschluss (Steiner 2012). Es            und auch Lehrens, Sprachenförderung, Quali-
    zeigt sich, dass es dem Bildungssystem nicht aus-          tätsinitiativen wie SQA (Schulqualität Allge-
    reichend gelingt, die Nachteile auszugleichen, die         meinbildung) und QUIBB (Qualitätsinitiative
    mit der Migrationsgeschichte ­zusammenhängen.              BerufsBildung), Maßnahmen innerhalb der In-
    Umso mehr müssen Lehrende ­diese Benachteili-              formation und ­Beratung für Bildung und Beruf,
    gung mit gezielter Unterstützung kompensieren              standortspezifische ­Förderkonzepte sowie die
    (Linde/Linde-Leimer, 2014, S. 15).                         Stärkung von Schulleiterprofilen und speziel-
                                                               le Beratung von abbruchgefährdeten Personen
    Die Ursachen für ESL sind sowohl auf einer                 (Linde/Linde-­Leimer 2014: 24f.).
    ­strukturellen als auch auf einer individuellen
     Ebene auszumachen. Auf struktureller Ebene                2012 wurde erstmals die „nationale Strategie
     wirkt sich das sozial selektive Bildungssystem            zur Verhinderung von (Aus-)Bildungsabbruch“
     aus (Pessl 2013: 5). Im europaweiten Vergleich            seitens des damaligen Bundesministeriums
     weist das österreichische Bildungssystem insge-           für Unterricht, Kunst und Kultur in Zusammen-
     samt eine starke Selektion am Bildungsweg auf,            arbeit mit dem Bundesministerium für Wirt-
     was besonders für bildungsferne Jugend­liche              schaft, Familie und Jugend und den Sozialpart-
     eine große Herausforderung darstellt (Linde/­             nern entwickelt. Der Fokus lag innerhalb der
     Linde-Leimer 2014: 17). Generell ­existiert ein deut-     Bereiche Prävention, Intervention und Kompen-
     licher Zusammenhang zwischen ­Early School                sation (BMB 2016: 7).
     Leaving und soziodemografischen Elemen­ten:
     Ausschlaggebend für den Erfolg in Ausbildung              Im Jahr 2013 wurde das sogenannte „Jugend­
     und Beruf sind Faktoren wie ­soziale und eth­             coaching“ bundesweit in Österreich eingeführt.
     nische Herkunft sowie das Bildungsniveau der              Dabei handelt es sich um eine der ­wichtigsten
     Eltern (Nairz-Wirth/Meschnig 2010: 385).                  nationalen Maßnahmen für die Präven­t ion
                                                               von ESL. Getragen vom Sozialministerium in
    Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich             Kooperation mit dem ­Unterrichtsministerium
    auf das duale System in Österreich: die Ausbil-            umfasst die Strategie Beratungs- und Betreu-
    dung im Rahmen einer Berufsschule sowie das                ungsangebote für abbruchgefährdete Jugend-
    Erlernen des Lehrberufs in einem Lehrbetrieb.              liche zugunsten einer nachhaltigen Integra­
    Der Fokus liegt dabei auf den Berufsschulen.               tion. Die Erfolgsquote des Coachings in Bezug
                                                               auf ­Jugendliche, die die Maßnahme mit ­einem
    Good Practices und vielver­                                ­konkreten Ziel vor Augen absolviert haben,
    sprechen­de Maßnahmen gegen ESL                             ­b eträgt 85%; positiv ist auch, dass hierbei
                                                                 ­keine sozial selektiven Effekte auffielen (Pessl
    Im Folgenden werden einige ausgewählte Maß-                   2013: 10f.). Das Jugendcoaching wirkt an der
    nahmen vorgestellt, die ESL in Österreich vor-                Schule, sobald sich Probleme bei Betroffenen
    beugen sollen.                                                ­abzeichnen; somit wird noch vor einem mögli-
                                                                   chen A
                                                                        ­ bbruch interveniert.
    Bereits 2007 wurden im Rahmen der „öster-
    reichischen Dopoutstrategie“ konkrete Hand-

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Das „Lehrlings- und Betriebscoaching“ wurde                out-Quote zeigt sich, dass auch diese Angebote
vom Wirtschaftsministerium in Zusammen­                    ­Reformen brauchen, um den Betroffenen jene
arbeit mit dem Sozialministerium initiiert und              spezifische Unterstützung zu gewährleisten,
wird seit 2012 umgesetzt, um Auszubildende                  die sie für einen Ausbildungsabschluss benö­
dabei zu unterstützen, ihre Lehre positiv zu ab-            tigen (vgl. Steiner/Pessl/Karaszek 2015: 9f.).
solvieren. Des Weiteren existiert seit dem Jahr
2013 die Möglichkeit für Betriebe im Bereich der           Da Personen, die keine weiterführende Schule
Berufsausbildung von Erwachsenen, im ­Rahmen               absolviert haben, ein deutlich erhöhtes Arbeits-
der „Lehrlingsausbildung für Erwachsene“ staat-            losigkeitsrisiko haben, wurde 2017 zunächst die
liche Fördermittel zu erhalten (Pessl 2013: 12).           „AusBildung bis 18“ eingeführt, um Jugendli-
                                                           chen beim Abschluss einer weiterführenden
Das Angebot des Lehrlingscoachings ist in allen            Ausbildung zu helfen. In einem nächsten Schritt
Bundesländern verankert, Berufsschüler*innen               wurde die Maßnahme im Rahmen der „Ausbil-
wie auch Lehrbetriebe können sich bei Bedarf               dungsgarantie bis 25“ ergänzt, wodurch neue
Unterstützung holen. In Wien ist beispielsweise            Ausbildungsplätze sowie zusätzliche Nachqua-
der Kultur- und Sportverein der Wiener Berufs-             lifizierungsangebote für Personen zwischen 19
schulen (KUS) einer der Träger des Lehrlings-              und 24 Jahren geschaffen werden (vgl. Bundes-
coachings in Österreich. Auszubildende werden              ministerium für Arbeit o.J.).
dadurch auf allen Ebenen in ihrem Ausbildungs-
und Berufsschulalltag unterstützt. Das „KUS-               Zusammenfassend muss festgestellt werden,
Netzwerk-Complete“ richtet sich an Personen,               dass in Österreich die kompensatorischen Maß-
die die Lehre bzw. Berufsschule bereits abge-              nahmen gegenüber präventiven ­Instrumenten
brochen haben, das „KUS-Netzwerk-Lehrlings­                deutlich überwiegen (Pessl 2013: 12). Viele der
coaching“ unterstützt Berufsschüler*innen mit              bereits bestehenden Maßnahmen zur Be-
einem aufrechten Lehrvertrag auf ihrem Weg                 kämpfung von ESL setzen also erst nach dem
bis zum Lehrabschluss.                                     Ausbildungsabbruch an. Aufgrund von gesell-
                                                           schaftlichen, sozialen und sozioökonomischen
Weitere Möglichkeiten innerhalb des dualen                 Unterschieden und erschwerten Zugängen zur
Systems zur Unterstützung benachteiligter                  Ausbildung erscheint die Gesamtproblematik
Auszubildender beziehen sich darauf, ihnen                 komplex, und entsprechend komplex ­müssen
­eine Lehrstelle zur Verfügung zu stellen, wenn            auch die Maßnahmen gegen ESL gestaltet sein.
 sie ­zuvor am freien Lehrstellenmarkt keine er-           Grundsätzlich müssen sie immer auf die spe-
 halten haben. Im Rahmen der integrativen                  zifischen Bedingungen und Bedürfnisse der
 Lehrausbildung (IBA) gibt es die Möglichkeit              ­Betroffenen abzielen. Notwendig ist also ein
 einer längeren Lehrzeit oder einer Teilqualifika-          ­Bewusstsein für die spezielle soziale Situation
 tion. Mit der überbetrieblichen Lehrausbildung              der jungen Arbeitnehmer*innen.
 (ÜBA) ­werden Ausbildungsplätze für jene zur
 Verfügung gestellt, die zuvor noch keine Stelle           Viele Ursachen entstehen bereits vor der ­Lehre
 in einem Betrieb finden konnten (vgl. Steiner             und der Lehrstellensuche in der Schulzeit – so
 2015: 5).                                                 kommt es bereits dort zu Selektionserfah­
                                                           rungen, negativen Rollenzuschreibungen und
Beide Maßnahmen stellen viele Plätze zur                   ­Stereotypen sowie Erfahrungen des Scheiterns.
­Verfügung, wodurch die Jugendarbeitslosigkeit              In diesem Sinne sind rassistische Diskriminie-
 reduziert wird. Allerdings steigt im Kontext der           rungserfahrungen in der Schule, bei der Suche
 überbetrieblichen Lehrausbildung die Abbruch-              nach einer Lehrstelle sowie am Arbeitsmarkt
 quote auf 37,4% im Vergleich zu 12,5% innerhalb            nicht zu unterschätzen. Das österreichische
 einer regulären betrieblichen Lehrausbildung;              Bildungssystem ist nicht auf Mehrsprachigkeit
 bei der integrativen Lehrausbildung beträgt                zugeschnitten, die Nostrifizierung von auslän-
 die Abbruchquote 26,3%. Diese Zahlen nennen                dischen Qualifikationen erfolgt nur bedingt.
 die allgemeine Abbruchrate, unabhängig von                 Diesem Umstand sollte entgegengewirkt
 der Migrationsgeschichte. An der hohen Drop-               ­werden, es bedarf der verstärkten ­Anerkennung

                                                                                © Demokratiezentrum Wien 2022   9
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien

     beruflicher und praktischer ­Erfahrungen und               zung für den Zugang zur Berufsschule. Zugleich
     mehrsprachlicher Qualifikationen. Schüle­                  schätzte er die Konfrontation mit rassistischer
     r*in­n en mit nicht-deutscher Mutterspra­c he              Diskriminierung sowohl am Arbeitsmarkt als
     erhalten häufig schlechtere Abschlüsse, ins-               auch in der Schule als einen wichtigen Fak-
     besondere männliche Schüler besuchen oft                   tor ein. Die Mehrheit der befragten Lehrkräfte
     eine Sonderschule, was sich auf den weiteren               gab an, dass aus ihrer Sicht Schüler*innen mit
     Bildungsweg auswirkt. In diesem Sinne sind                 Migrationsgeschichte ihre Ausbildung nicht
     ­einerseits weitgreifende und flächendeckende              öfter abrechen als Schüler*innen ohne Migra­
      Maßnahmen wichtig, es benötigt aber in jedem              tionsgeschichte. Dies sei viel eher abhängig von
      Fall zusätzlich auch niederschwellige Unter-              der sozialen Schicht. Einer der Befragten gab
      stützungsangebote, die direkt bei den Betrof-             hingegen an, dass auf Basis seiner Erfahrung
      fenen noch vor einem möglichen Abbruch an-                die Abbruchquoten in der Berufsausbildung bei
      setzen und sie bei möglichen Schwächen und                Schüler*innen mit Migrationsgeschichte höher
      der Vorbereitung auf die Lehrabschlussprüfung             sind.
      konkret unterstützen. Bildungs- und Berufsbe­
      ratung muss sich also direkt an den Stärken der           2) Erklärung des Problems, Hintergründe
      Schüler*innen orientieren. Ihnen muss Wert-               (wie lassen sich die höheren Drop-out-Raten
      schätzung entgegengebracht werden, role                   ­erklären?)
      models sollten gestärkt werden, sodass auch                Der Abbruch hängt somit für die Befragten
      Personen mit Migrationsgeschichte als ­positive            weniger direkt mit der Herkunft (der Eltern),
      und motivierende Vorbilder in die Berufsaus­               sondern vielmehr mit der sozialen Lage, dem
      bildung miteinbezogen werden.                              Bildungshintergrund (der Eltern) und der man-
                                                                 gelnden familiären Unterstützung zusammen.
     Interviews                                                  Hierbei ist nach Aussage eines Befragten zu
                                                                 ­beachten, dass die gesellschaftliche Realität
     Die Universität Wien führte neun Interviews in               komplex ist und die schulische Bildung in die-
     drei österreichischen Bundesländern durch.                   sem Kontext nur eingeschränkte Möglichkeiten
     Fünf Interviews wurden mit Lehrkräften an Be-                hat, um soziale Gerechtigkeit und Chancen-
     rufsschulen durchgeführt (drei Frauen: ­eine                 gleichheit herzustellen.
     zwischen 41–50 Jahren und zwei zwischen                      Weitere Aussagen bezogen sich darauf, dass der
     51–60 Jahren, zwei Männer: einer unter 40 Jah-               gewählte Ausbildungszweig sich als teilweise
     ren und einer zwischen 41–50 Jahren).                        unpassend herausstellt, die Arbeits­plätze un­
     Drei Interviews wurden mit Auszubildenden an                 attraktiv sind oder die Anforderungen in Betrieb
     Berufsschulen durchgeführt (Migrant*innen                    oder Schule nicht erfüllt werden können, weil
     oder Rom*nja, eine Frau, zwei Männer zwischen                oft die entsprechende Unterstützung fehlt. Die
     18–24 Jahren).                                               meisten der Befragten gaben an, dass mangeln-
     Ein Expertinnen-Interview (eine weibliche                    de Sprachkenntnisse insbesondere bezüglich
     ­Expertin auf den Gebieten Soziologie, Bildungs-             der Fachsprache sowie spezifische kultu­relle
      forschung, Forschung zu ESL und ­Jugendlichen               Barrieren und andere Verhaltensweisen und
      am Übergang von Schule zu Beruf) wurde                      „Mentalitäten“ weitere Einflussfaktoren sind.
      durchgeführt.                                               Dadurch fühlen sich Betroffene mitunter nicht
                                                                  zugehörig. Eine der Befragten gab an, dass die
     BERUFSSCHULLEHRER*INNEN                                      Wichtigkeit der Ausbildung häufig nicht ­erkannt
     1) Problembewusstsein und Problembe-                         wird und gleichzeitig die Nostrifizierung von im
     schreibung (Drop-out-Raten von Menschen                      Ausland erworbenen Qualifikationen und Ab-
     mit Migrationsgeschichte und Rom*nja sind                    schlüssen in Österreich in einem zu geringen
     ­überdurchschnittlich hoch)                                  Maße stattfindet; das führt zur Konfrontation
      Ein befragter Lehrer gab an, dass die größte                mit Unterqualifizierung. Eine weitere Befragte
      spezifische Herausforderung das Finden einer                gab an, dass Betroffene mit 15 schon „schulge-
      Lehrstelle sein könnte. Die Lehrstelle und damit            schädigt“ in die Berufsschulen kommen, denn
      verbunden ein Lehrvertrag ist die Vorausset-                aufgrund ihrer Sprache wird ihnen schneller

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Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien

sonderpädagogischer Förderbedarf zugeschrie-               vermittelt wird, dass sie stolz auf sie sind und
ben. Zudem würden Jugendliche teilweise reak-              dass sie immer unterstützt wurde. Die beiden
tionärer werden. Die Mädchen heiraten teilwei-             weiteren Befragten gaben an, dass sie mit der
se schon sehr früh und entscheiden nicht mehr              Erwartung konfrontiert waren, das Gymnasium
eigenständig.                                              zu besuchen oder zu studieren. Alle Befragten
                                                           gaben an, dass sie sich weiterbilden, aufstei-
3) Wie muss auf das Problem reagiert werden?               gen wollen: entweder im selben oder in einem
Aus der Perspektive der Lehrkräfte wäre ein all-           anderen Lehrbetrieb. In diesem Kontext sahen
gemeines Bewusstsein für die soziale Situation             sie sich zum Teil zukünftig in leitenden Positio-
der Berufsschüler*innen (letztlich unabhängig              nen innerhalb eines Unternehmens oder in der
von der Herkunft) in der Schulleitung hilfreich.           Selbstständigkeit als Leiter*innen ihres eigenen
Das bedeutet auch, dass insbesondere in der                Betriebes.
Berufsschule der pädagogische Auftrag vor Ef-
fizienzdenken im Hinblick auf den Arbeitsmarkt             2) Problembewusstsein und Problembeschrei-
gestellt wird. Mehr Schulzeit innerhalb der Be-            bung
rufsschulen wäre eine Überlegung.                          Eine befragte Auszubildende gab an, dass viele
Weitere Vorschläge bezogen sich auf die Stär-              ihrer Freund*innen die Schule abbrechen und
kung von Mentor*innen aus der peer group bzw.              dass diese häufig Migrationsgeschichte haben.
role models, die Berufsschüler*innen mit Migra-            Einer der Befragten erzählte von persönlichen
tionsgeschichte in verschiedensten Bereichen               Diskriminierungserfahrungen in seiner alten
unterstützen, beraten und begleiten – Bezugs-              Lehrstelle aufgrund seiner Herkunft, er war dort
personen sind notwendig. Die Vorbildwirkung                sehr isoliert. Auch weitere Auszubildende mit
von Lehrkräften sollte zudem gefördert werden.             Migrationsgeschichte haben dort gekündigt, die
Des Weiteren wurden zweisprachige Arbeits-                 Diskriminierung ging unter anderem auch vom
unterlagen, Sprachunterricht für Lehrpersonen,             Werkstattleiter selbst aus. Der Befragte wollte
um Grundkenntnisse in den von Schüler*innen                die Matura machen und wurde vom Werkstatt-
mit Migrationsgeschichte meistgesprochenen                 leiter damals nicht unterstützt.
Muttersprachen zu erwerben, und vertiefende
Kenntnisse über die Herkunftskulturen vorge-               3) Erklärung des Problems, Hintergründe (wie
schlagen. Grundsätzlich wurde ein verstärktes              ­lassen sich die höheren Drop-out-Raten erklä-
Miteinbeziehen der Eltern in den Ausbildungs-               ren?)
prozess und Deutschkurse für die Schüler*innen              Gründe für den vorzeitigen Abbruch sind für ei-
gefordert. Außerdem waren für einige Befragte               ne Befragte die Familie und das Umfeld der Be-
neben der Sprachförderung auch Wertekurse                   troffenen sowie eine ungerechte Behandlung
und Ethikunterricht von jungem Alter an wich-               in den Lehrbetrieben, unter anderem aufgrund
tig, wie auch, dass die Wichtigkeit der Berufs-             der Migrationsgeschichte und der Sprache. Die
ausbildung verstärkt anerkannt wird.                        Anonymität innerhalb der Lehrbetriebe ist für
                                                            einen der Befragten eine zugrundeliegende Ur-
BERUFSSCHÜLER*INNEN                                         sache: Die Stimmung verändert sich oftmals ne-
1) Das Thema Ausbildung                                     gativ, sobald die Lehre beginnt. Man wird durch
Die Auszubildenden stuften es als sehr positiv              die Migrationsgeschichte nicht so leicht Teil der­
ein, dass sie die Chance haben, eine Berufsaus-             Gemeinschaft.
bildung zu absolvieren, da diese nicht allen of-            Es fehlen also oft die Bezugspersonen innerhalb
fensteht. Ein Befragter fand es gut, dass es die            der Lehrbetriebe. Obwohl einer der Befragten in
duale Schul- und Berufsausbildung (Berufs-                  Österreich geboren wurde, musste er anfangs
schule und Lehrbetrieb) gibt, dass es so vie-               nach der Schule jeden Tag noch für eine Stunde
le Schulen und Lehrberufe gibt und dass viele               ein Förderprogramm besuchen. Dadurch fühl-
staatliche Förderungen existieren, die der All-             te er sich diskriminiert, durch diese Erfahrung
gemeinheit dienen. Eine befragte Auszubil-                  spürte er erstmals, dass er ein „Ausländer“ in
dende gab an, dass ihre Angehörigen sehr mit                Österreich ist. Der befragte Auszubildende mit
ihrer Ausbildung einverstanden sind, dass ihr               Rom*nja-Hintergrund gab an, dass die Mädchen

                                                                                © Demokratiezentrum Wien 2022    11
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien

     oft jung heiraten und dadurch Lehre und Schule             aus eine höhere ESL-Quote von nicht-österrei-
     früher abbrechen; die Eltern gehen oft nicht auf           chischen Staatsbürger*innen von über zwölf
     die Wünsche der Kinder ein. So machen die Kin-             Prozent. Berufsschüler*innen mit Migrations-
     der dann eher eine Ausbildung, die ihnen vorge-            geschichte sind zudem insgesamt deutlich un-
     schlagen wird, und nicht jene, die sie am liebs-           terrepräsentiert, denn nur zwölf Prozent der
     ten machen möchten.                                        Berufsschüler*innen haben eine Migrations-
                                                                geschichte. Der Zugang ist dabei als selektiv
     4) Wie muss auf das Problem reagiert werden?               einzuschätzen. Des Weiteren ist die Wartezeit,
     Lehrlingsausbildner*innen sollten sich nach                bis Betroffene mit Migrationsgeschichte bezie-
     Meinung eines der Befragten mehr mit                       hungsweise mit nicht-deutscher Alltagssprache
     Berufsschüler*innen und besonders den Be-                  eine Lehrstelle erhalten, deutlich länger als bei
     dürfnissen von Berufsschüler*innen mit Mi-                 Personen ohne Migrationsgeschichte.
     grationsgeschichte beschäftigen und darauf
     achten, dass innerhalb des Betriebes ein guter             2) Erklärung des Problems, Hintergründe (wie
     Umgang herrscht. Probleme in den Berufsschu-               lassen sich die höheren Drop-out-Raten erklä-
     len treten seiner Einschätzung nach eher bei               ren?)
     weiblichen Auszubildenden auf. Eine befragte               Die zugrundeliegenden Faktoren sind vielfältig:
     Auszubildende schätzt es als relevant ein, dass            Es gibt Ursachen, die sich in Bezug auf Jugend-
     Betroffene sich Hilfe holen, zum Beispiel in Form          liche mit und ohne Migrationsgeschichte nicht
     einer Therapie oder durch Unterstützung des                unterscheiden, bei denen stattdessen soziale
     Jugendamts. Der Auszubildende mit Rom*nja-                 Reproduktion und der spezifische sozioökono-
     Hintergrund gab an, dass Eltern mehr Rücksicht             mische Hintergrund ursächlich sind. Diejenigen,
     auf ihre Kinder nehmen und auf sie und ihre                die schlechter mit ökonomischem oder kulturel-
     Wünsche eingehen sollten, ihnen keine Aus-                 lem Kapital ausgestattet sind, haben es dadurch
     bildung einreden sollten, die sie nicht machen             schwerer. Zudem wird die Ergebnisverantwor-
     wollen. Er betonte, dass Kinder nicht zwangsver-           tung der Betroffenen häufig deren Eltern über-
     heiratet werden sollten. Einige junge Menschen             tragen. Somit wird vom Bildungswesen vor-
     würden seiner Einschätzung nach teilweise                  ausgesetzt, dass Eltern die Schüler*innen aktiv
     nicht den Sinn in einer Ausbildung sehen; dass             unterstützen.
     man beispielsweise bestimmte Lehren und Be-                Viele Ursachen entstehen bereits vor der Leh-
     rufsausbildungen nicht wertschätzt, kann auch              re, in der Schulzeit, und somit vor der Lehrstel-
     mit dem Einfluss der Eltern zusammenhängen.                lensuche: Das österreichische Bildungssystem
                                                                ist nicht auf Mehrsprachigkeit zugeschnitten,
     EXPERTIN                                                   Schüler*innen mit nicht-deutscher Mutterspra-
     1) Problembewusstsein und Problembeschrei-                 che schneiden allgemein schlechter ab, es gibt
     bung                                                       Kompetenzunterschiede am Ende der Pflicht-
     Auf Basis der Lehrlingsstatistik zeigt sich, dass          schule. Dies führt somit zu einer schlechteren
     Berufsschüler*innen mit nicht-österreichischer             Ausgangsposition in der Konkurrenz um eine
     Staatsbürger*innenschaft doppelt so oft wie                Lehrstelle.
     der Durchschnitt abbrechen. Dies ist kein Spe-             Bezüglich der Selektionserfahrungen, der ne-
     zifikum der Berufsausbildung. Insgesamt ist                gativen Rollenzuschreibungen bzw. Stereoty-
     der Anteil der Schulabbrecher*innen unter den-             pe sowie der Erfahrungen des Scheiterns muss
     jenigen mit Migrationsgeschichte höher. Die                deshalb bereits die Zeit vor der Lehre betrachtet
     ESL-Quote wird im internationalen Vergleich                werden. Viele (zumeist männliche) Jugendliche
     herangezogen, sie basiert auf Befragungen und              mit Migrationsgeschichte sind in der Sonder-
     Eigenangaben und ist nicht sehr verlässlich.               schule überrepräsentiert. Die weitere Bildungs-
     Speziell in Österreich ist das bildungsbezoge-             karriere gestaltet sich dadurch entsprechend
     ne Erwerbskarrierenmonitoring der Statistik                schwierig. Diese Tendenz zeigt die Selektivität
     Austria zuverlässiger. Darin werden die Ver-               und institutionelle Diskriminierung im Rahmen
     waltungsdaten von Schulen, Lehrlingsstellen                des Bildungssystems. Ein spezifischer Faktor ist
     und Projekten gesammelt, es ergibt sich dar-               auch Anerkennung von im Ausland erworbenen

12   © Demokratiezentrum Wien 2022
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien

Abschlüssen, die sich in Österreich zu schwie-                Erfahrungen und Kompetenzen sollten somit
rig gestaltet. Diese Erfahrung beeinflusst Men-               als Chance erkannt und Möglichkeiten angebo-
schen in ihrem Bildungsweg und innerhalb ih-                  ten werden, Teile der Ausbildung nachzuholen.
rer persönlichen Entwicklung negativ. Es fehlen               Role models sollten insgesamt im Bildungssys-
außerdem spezifische role models: Lehrer*innen                tem und auch speziell in den Ausbildungsbe-
mit Migrationsgeschichte sind unterrepräsen-                  trieben gestärkt werden. So könnten Personen
tiert (u.a. in der Ausbildung zu Kindergarten-                mit Migrationsgeschichte bei der Auswahl der
Pädagog*innen oder an Pädagogischen Hoch-                     Berufsschüler*innen einbezogen und Betriebe,
schulen) und fehlen entsprechend auch als                     die von Personen mit Migrationsgeschichte ge-
Vorbilder im Beruf.                                           leitet werden, darin unterstützt werden, sich
                                                              mehr in der Lehrlingsausbildung zu engagieren.
3) Wie muss auf das Problem reagiert werden?                  Des Weiteren ist Bildungs- und Berufsberatung
Vor dem Eintritt in die Lehre sollte die Benach-              an den Schulen notwendig, die sich an den Stär-
teiligung im Bildungssystem an sich überwun-                  ken der Schüler*innen orientiert und durchgän-
den werden. Sinnvoll ist ein verstärkter Fokus                gig und als eigenes Unterrichtsfach verläuft. In
auf mehrsprachigen Unterricht. Mehrsprachig-                  diesem Rahmen sollten auch Themen wie Dis-
keit sollte nicht als Problem, sondern als eine               kriminierung in der Arbeitswelt angesprochen
wertvolle Ressource anerkannt werden. Zudem                   und reflektiert werden.
sollte die Ergebnisverantwortung weniger als                  Die Unterstützung während der Lehrlingsaus-
bisher auf die Eltern übertragen werden, son-                 bildung ist zudem im Sinne der Stärkung be-
dern bei den Schulen liegen und den sozioöko-                 stimmter Grundkompetenzen an den Berufs-
nomischen Hintergrund der Schüler*innen ent-                  schulen notwendig. Außerdem sollte überlegt
sprechend berücksichtigen.                                    werden, wie man Berufsschüler*innen aktiv un-
Es benötigt eine verstärkte Anerkennung von                   terstützen, mögliche Schwächen ausgleichen
ausländischen Abschlüssen, hier ist jedoch                    und dadurch konkret ansetzen kann. Zudem
mittlerweile eine Tendenz zur Verbesserung er-                muss die Unterstützung bei der Vorbereitung
kennbar. Im Ausland erworbene Kompetenzen                     auf die Lehrabschlussprüfung verstärkt werden,
können als Potential für die Berufsausbildung                 da fünfzehn Prozent der Betroffenen nicht an-
wirken, berufliche beziehungsweise praktische                 treten oder keinen positiven Abschluss erhalten.

Quellen
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und Lehrlingsausbildung in Österreich 2014–2015. For-         schulabbruch.html (08.03.2022).
schungsbericht von ibw und öibf im ­Auftrag des BMWFW.        Pessl, Gabriele (2013): Frühzeitiger Schulabbruch in der
Wien: ibw, öibf.                                              Berufs­bildung in Österreich. Wien: ReferNet Austria.
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eu/nui/show.do ?dataset= edat_lfse_ 16 & lang = en            von Stay on Track – F­ inal Conference, Wien, 31.05.2012.
(08.03.2022).
                                                              Steiner, Mario (2015): Integrationschancen durch die Leh-
Bundesministerium für Arbeit (o. J.).: Arbeitsmarktförde-     re? Benachteiligte Jugendliche am Lehrstellenmarkt. Stu-
rungen. ­Jugendliche und junge Erwachsene. www.bma.           die im Auftrag des AMS Wien (Projekt „Perspektiven für
gv.at/Themen/­Arbeitsmarkt/Arbeitsmarktfoerderungen/          unentdeckte Talente“ unter der ­Leitung von Doris Landau-
Jugendliche-und-junge-Erwachsene.html (08.03.2022).           er). Wien: Institut für Höhere Studien.
Linde, Susanne/Linde-Leimer, Klaus (2014): „… damit nie-      Steiner, Mario/Pessl, Gabriele/Karaszek, Johannes (2015):
mand rausfällt!“ Grundlagen, Methoden und Werkzeu-            Ausbildung bis 18. Grundlagenanalysen zum Bedarf und
ge für Schulen zur ­Verhinderung von frühzeitigem (Aus-)      Angebot für die ­Zielgruppe. Wien: Verlag des ÖGB GmbH.
Bildungsabbruch. Wien: ­Bundesministerium für Bildung.        Stop Dropout (o. J.). www.stop-dropout.eu
Nairz-Wirth, Erna/Meschnig, Alexander (2010): Early           Sturm, René/Ziegler, Petra (2017): Menschen mit Migrati-
School Leaving: theoretische und empirische Annäherun-        onshintergrund und Berufsbildung. In: Migration, Integ-
gen. In: SWS-Rundschau, Jg. 50, 2010/4, S. 382–398.           ration: worüber reden wir hier? Initiativen und Projekte
Bundesministerium für Bildung (2016): Nationale ­Strate­gie   für Geflüchtete. Oead news, Nr. 103, Juni 2017, S. 20f.

                                                                                      © Demokratiezentrum Wien 2022       13
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien

Roma Empowerment. Ausbildung in Training,
Beratung und Selbst Organisiertem Lernen

Klaus Linde-Leimer

          Roma/Romnija und Sinti/Sintizze gehören zu                 Studien zur Situation von Roma
          den am stärksten bildungsbenachteiligten                   und Sinti
          Gruppen in Österreich. Zudem hat diese Bevöl-
          kerungsgruppe mit starken gesundheitlichen                  Zwei Studien beschäftigten sich in den letzten
          Problemen zu kämpfen, die eine aktive Teil­                 Jahren mit Roma und Sinti in Österreich. Die
          nahme an Bildungsangeboten und den Eintritt                 ROMBAS-Studie1 wurde im Rahmen des vom
          und Verbleib in die Erwerbsarbeit erschweren                Europäischen Sozialfonds (ESF) geförderten
          beziehungsweise sogar verunmöglichen. ­Lange                Projekts ROMBAS (ROMa-Bildungs- und -Aus-
          Zeit wurde die Bildungssituation der Roma und               bildung-Studie) durchgeführt. Die Initiative
          Sinti weder von der Politik noch von der For-               Minderheiten in Kooperation mit dem ­Romano
          schung beachtet.                                            Centro, der Österreichischen Gesellschaft für­
                                                                     politische Bildung (ÖGPB), dem Verein Roma
          Der EU-Rahmen für nationale Strategien zur                 ­Service und den Wiener Volkshochschulen ver-
          ­Integration der Roma bis 2020 widmet sich                  folgten mit diesem Projekt das Ziel, die gegen-
           ­dieser Problemlage und möchte Maßnahmen                   wärtige Bildungssituation von Roma und Sinti
            setzen, die dieser Volksgruppe den Zugang zu              in Österreich näher zu erforschen.
            einer qualitativ hochwertigen Bildung ermög­
            lichen sollen: „In den Schlussfolgerungen des            Die Tatsachen, dass es sich um äußerst hetero­
            Rates der Europäischen Union vom 19. Mai                gene Volksgruppen handelt, dass es kaum
            2011 werden die Mitgliedstaaten ­aufgefordert,
            Zugang zu guter Bildung, einschließlich früh­
            kindlicher Bildung und Betreuung, sowie zu                  UMFRAGE: HÖCHSTER SCHULABSCHLUSS
            ­P rimar-, Sekundar- und Hochschulbildung
             ­sicher­zustellen, etwaige schulische Segrega­tion
              zu beseitigen, Schulabbrüche zu bekämpfen
              und einen erfolgreichen Übergang von der
              Schule ins Erwerbsleben zu gewährleisten“                                            45 %
              (Euro­päische Kommission 2011: 11).
                                                                                  40 %

          Im Folgenden werden nun auszugsweise ­einige
          Ergebnisse von zwei in Österreich durchge­
          führten Studien dargestellt, die diese ­Umstände
          ­belegen.                                                                         15 %

                                                                            Pflichtschule
                                                                            kein Pflichtschulabschluss
                                                                            anderer Abschluss

     14   © Demokratiezentrum Wien 2022
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien

s­ tatistische Daten über die ethnische Herkunft           weise gar nicht finden. Vertreter*innen der
 gibt und dass Angehörige dieser ­Volksgruppen             ­Roma-Community benennen folgende Barri-
 oft nicht leicht erreicht werden können, er-               eren, die einem tatsächlichen Zugang zu Ver­
 schweren empirische Untersuchungen. Im                     sicherungsleistungen des Gesundheitssystems
 Fall der ROMBAS-Studie entschied man sich                  im Wege stehen: geringe Gesundheitskompe-
 für ­einen partizipativen Forschungsansatz, bei            tenz, mangelnde Sprachkenntnisse, Misstrauen
 dem Roma/Romnija und Sinti/Sintizze selbst zu              gegenüber dem Gesundheitssystem und medi-
 Forscher*innen wurden. Im Zeitraum März 2013               zinischen Fachkräften sowie erlebte Diskrimi-
 bis September 2014 wurden die Bildungserfah-               nierung.
 rungen und -abschlüsse von 109 Angehörigen
 unterschiedlicher Gruppen autochthoner und                An der Studie teilnehmende Roma-Vertre­­
 allochthoner (nicht seit Generationen „boden-             ter*in­­nen nennen diese Gesundheitsprobleme:
 ständiger“) Roma in Österreich erhoben.                   ­Lungenprobleme; Übergewicht; Depressionen;
                                                            Zahn­probleme.
Den ROMBAS-Daten zufolge haben unter au-
tochthonen Roma und Sinti der Altersgruppe                 Die Studie weist außerdem aus, dass die Mehr-
26–50 Jahre 45 Prozent als höchsten Abschluss              heit der Patient*innen (60%) an mindestens
eine Pflichtschule absolviert und 15 Prozent gar           einer chronischen Krankheit leidet, und dass
keinen Schulabschluss.                                     chronische Erkrankungen als häufigste Einzel­
                                                           diagnosen gestellt werden.
Drei von 15 (20%) der befragten 18- bis 24-jähri-
gen autochthonen Roma und Sinti (zwei weib-                Roma-Vertreter*innen nennen folgende Gründe
liche und eine männliche interviewte Person)               für diesen generell recht schlechten Gesund-
haben keinen weiterführenden Bildungsab-                   heitszustand ihrer Bevölkerungsgruppe:
schluss (ISCED [International Standard Classi­
fication of Education] 3a/b oder höher, also
                                                             ARMUT
­Sekundarstufe II bzw. Lehre und ­Berufsschule)
 und nehmen auch nicht an einer Aus- oder Wei-               UNGESUNDER LEBENSSTIL
 terbildung teil. Dasselbe gilt für zwei von elf
                                                                schlechte Ernährung, wenig Bewegung,
 Roma (18%) mit Migrationshintergrund dieser
                                                                Rauchen, Suchtverhalten in Zusammen-
 Altersgruppe. Sie zählen somit zu den „Frühen
                                                                hang mit Spiel, Alkohol und Drogen
 Schulabgänger*innen“, deren Anteil in der ös-
 terreichischen Schulpopulation im Jahr 2013 bei             GESUNDHEITSSCHÄDLICHE ARBEITS-
 7,3% lag. Es kann somit vermutet werden, dass               UND LEBENSBEDINGUNGEN
 der Anteil von Frühen Schulabgänger*innen in                   Arbeiten im Straßenbau, Wohnen nahe
 beiden Gruppen höher als in der Gesamtbe­                      von Mülldeponien, schlechte Wohnver-
 völkerung ist.                                                 hältnisse wie Schimmel, Feuchtigkeit,
                                                                Enge
Mit der Studie „Roma & Gesundheit – Gesund­
heit, Gesundheitswissen und Zugang zur Ge­                   FEHLENDE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN
sundheitsversorgung“2 des Center for Health                     berufliche Situation
and Migration wird ein weiterer Aspekt der
­Situation von Roma/Romnija beleuchtet. Das
 österreichische Gesundheitssystem beruht                  Als positive Schutzfaktoren werden der ­starke
 auf dem Prinzip der Pflichtversicherung. Im               Familienzusammenhalt und die Hilfsbereit-
 Jahr 2013 hatten 99,9% der österreichischen               schaft innerhalb der Community genannt.
 ­B evölkerung Anspruch auf Leistungen aus
  der Kranken­versicherung. Trotz dieser äußerst
  ­hohen Ab­deckung gibt es auch in Österreich
   ­Randgruppen, die, obwohl sie versichert sind,
    den Zugang zu Leistungen kaum beziehungs-

                                                                                © Demokratiezentrum Wien 2022   15
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien

                                                                           Mögliche Ursachen frühen
UMFRAGE: GEMEINSCHAFTSINTERNE GRÜNDE FÜR                                  ­Schulabbruchs
­B ILDUNGSBENACHTEILIGUNG
                                                                          In den Interviews der ROMBAS-Studie wurden
                           geringer                                       Vertreter*innen der Roma- und Sinti-Commu-
                         ­ tellenwert
                         S                                                nity gefragt, ob sie Angehörige ihrer Volksgrup-
                     ­schulischer ­Bildung                                pe im Bildungsbereich allgemein als benach-
                       und ­traditionelle                                 teiligt ansehen und, falls dies zutrifft, worin
                         Sichtweisen                                      diese Benachteiligung besteht. Dabei konnten
                                                                          grundsätzlich zwei große Tendenzen, Bildungs-
                                                      Formen              benachteiligung von innen und von außen, fest-
                                                    der Selbst­           gestellt werden.
 Mangelnde                                         ausgrenzung
 ­Förderung               Bildungs­                 und Distan­           BENACHTEILIGUNG VON INNEN
    durch                  benach­                    zierung             Die Interviews in der ROMBAS-Studie verdeut­
  die Eltern              teiligung                   von der             lichen, dass viele der Befragten die bisherige
                                                    Mehrheits­            Bildungsbenachteiligung von Roma und Sin-
                                                   gesellschaft           ti in ihren Gemeinschaften selbst verorten. In-
                                                                          terviewte Vertreter*innen der Roma und Sinti
                                                                          ­führten an, dass Eltern die schulische Laufbahn
                                                                           ihrer Kinder oft zu wenig unterstützen und för-
                                                                           dern würden, dass die schulische Ausbildung
                                                                           an sich oft keinen hohen Stellenwert inner-
UMFRAGE: EXTERNE GRÜNDE FÜR                                                halb der Familien besitzen würde. Ein traditio-
­B ILDUNGSBENACHTEILIGUNG                                                  nell geprägtes Weltbild führe außerdem dazu,
                                                                           dass viele Roma und Sinti sehr früh heiraten
                                                                           und ­Familien gründen, was als hinderlich für
                      Arbeitsmarkt
                                                                           ­weitere Bildungswege junger Menschen an-
                                                                            gesehen wurde. Einige Betroffene würden sich
                                                                            auch selbst von der Mehrheitsgesellschaft ab-
                                                   Benach­tei­li­           wenden und sich dadurch selbst daran hindern,
                                                   gung durch­              ihre schulische und berufliche Laufbahn aktiv
                        Bildungs­                   ­finanzielle            zu gestalten.
 Schulen                 benach­                   und örtliche
                        teiligung                    Gegeben­             BENACHTEILIGUNG VON AUSSEN
                                                       heiten
                                                                          In den ROMBAS-Interviews gaben Vertreter*in­
                                                                          nen der Roma- und Sinti-Community an, dass
                                                                          es zwar nach wie vor Vorurteile gegenüber ­ihrer
                                                                          Volksgruppe geben würde, die auch in rassisti-
                                                                          schen Äußerungen bzw. Handlungen ihren Aus-
                                                                          druck finden und dass ihre Volkgruppe nach wie
                                                                          vor mit Diskriminierung in der Gesellschaft, in
                                                                          der Schule und am Arbeitsmarkt zu kämpfen
                                                                          hätte, stellten gleichzeitig aber fest, dass diese
                                                                          Formen der Benachteiligungen in den letzten
                                                                          Jahren abgenommen hätten.

                                                                          Die Studie „Roma & Gesundheit“ legt nahe,
                                                                          dass ökonomische Armut in Österreich keine
                                                                          wesentliche Zugangsbarriere ist. Trotzdem sind
                                                                          Vertreter*innen der Roma und Sinti mit folgen-

        16     © Demokratiezentrum Wien 2022
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