Diversität in der Berufsschule - Prävention von Lehrabbruch durch inklusive Strategien
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WORKING PAPER 5 Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien Diversität in der Berufsschule Prävention von Lehrabbruch durch inklusive Strategien © Demokratiezentrum Wien 2022 1
Working Paper des Demokratiezentrum Wien Herausgegeben von Prof. Dr. Dirk Lange Heft 5 © Demokratiezentrum Wien 2022 Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Dirk Lange Tel: +43 (0) 512 37 37 Fax: +43 (0) 512 37 37-20 E-Mail: office@demokratiezentrum.org www.demokratiezentrum.org Satz & Layout: Katrin Pfleger Grafikdesign Diese Broschüre steht unter Creative Commons Lizenz This work is licensed under the Creative Commons Namensnennung – Nicht-kommerziell – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported License. To view a copy of this license, visit http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/
Inhalt Einleitung 4 Lara Möller: Bedarfsanalyse zum Thema „Vorzeitiger Lehrabbruch von Berufsschüler*innen mit Migrations – bzw. Rom*njageschichte: ausgewählte Problemstellungen und Lösungsansätze in Österreich“ 7 Klaus Linde-Leimer: Roma Empowerment. Ausbildung in Training, Beratung und Selbst Organisiertem Lernen 14 Leonie Brixa/Karlheinz Boss: Arbeitserfahrung und Erfahrungsarbeit mit Lehrlingen 30 Kurzbiografien der Autor*innen 39 © Demokratiezentrum Wien 2022 3
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien Einleitung Lara Möller / Dirk Lange Diversität in der Berufsschule Prävention von Lehrabbruch durch inklusive Strategien Dieses Working Paper befasst sich mit dem Thema des vorzeitigen Ausbildungsabbruches und darauf bezogenen inklusiven Strategien für Auszubildende mit Migrationsgeschichte sowie Ro- ma und Romnija. Der Psychologe und Migrationsforscher Haci-Halil Uslucan stellt grundsätzlich fest: Die „Erfahrung der Ausgrenzung bzw. der Diskriminierung im pädagogischen Bereich kann dazu führen, dass Bildungskarrieren gebremst bzw. gehemmt werden“ (Uslucan 2017: 135). Im Bil- dungsbereich kann hier eine Chancenungleichheit für unterschiedliche Gruppen konstatiert wer- den (vgl. Gomolla/Radtke 2007). Daraus ergeben sich unterschiedliche Herausforderungen, die im Laufe dieses Working Papers erörtert werden. Grundsätzlich ist das österreichische Schulsystem auf einer strukturellen Ebene seit Jahrzehnten segregativ gestaltet (vgl. Feyerer 2019). Spezifisch auf die vorliegende Zielgruppe bezogen, erfolgt eine problemorientierte diskriminierungskritische Auseinandersetzung häufig nur unzureichend; so beschreibt Albert Scherr, dass „dem Tradierungs- prozess antiziganistischer Vorurteile bislang nicht durch eine schulische Bildung begegnet“ wird (Scherr 2017: 314). Entsprechend müssen sich Bildungsprozesse auch als Möglichkeitsräume für ei- nen kritischen Paradigmenwechsel verstehen. Einen wichtigen theoretischen Rahmen für diese weisen von Exkludierten sollen, als Beitrag für Auseinandersetzung bildet der Ansatz Inclusive eine inklusive Gesellschaft, untersucht werden Citizenship Education, verstanden als Bildung (vgl. Kleinschmidt et al. 2019: 410). Entsprechend für inklusive Bürger*innenschaft (Kleinschmidt/ wird neben sozial konstruierten Statuszuschrei- Lange 2016: 13). Politische Bildung befasst sich bungen und Exklusionspraktiken nach mögli- häufig mit dem dominierenden, durch die Ab- chen genutzten Handlungsperspektiven von stammung festgeschriebenen Verständnis von Exkludierten als Potential zivilgesellschaftlicher Nation (vgl. Lange 2010: 172). Citizenship wird Partizipation und politischer Interessenartikula- dagegen mit einer grundsätzlichen Konflikthaf- tion gefragt (vgl. Kleinschmidt/Lange 2016: 15f.). tigkeit zusammengedacht und kritisch reflek- Exklusion wird hier mit Blick auf die Gruppe der tiert, indem Citizenship als Statuszuschreibung Berufsschüler*innen mit Migrationsgeschich- problematisiert wird. Gleichzeitig wird Citizen- te sowie Roma und Romnija als Ausschluss in- ship als „act“ im Sinne von Bürger*innenschaft nerhalb der Gesellschaft diskutiert, der von der als Praxis formuliert (vgl. Kleinschmidt et al. „Mehrheitsgesellschaft“ im Alltag praktiziert 2019: 406; Kleinschmidt/Lange 2016: 15). Ziel- wird (vgl. u.a. Kleinschmidt 2017). Dadurch wird setzung dieses Working Papers ist daher auch, mit dem Ansatz der Inclusive Citizenship Educa- Impulse für die Wissenschaft und die politische tion kein vertikal-hierarchisierendes Verständ- Bildungsarbeit in der Praxis zu geben. Auch die nis von Citizenship in Form einer (Nicht-)Zuge- subjektiven Vorstellungen und Partizipations- hörigkeit angewendet, sondern mit Bezug auf 4 © Demokratiezentrum Wien 2022
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien den Soziologen John Gaventa ein horizontales zum Tragen kommen. Der Fokus wird in diesem Verständnis betont, das sich auf das Verhältnis Zusammenhang auf den „defizitären gesell- der Bürger*innen untereinander bezieht (vgl. schaftlichen Umgang“ (Kleinschmidt/Lange Kleinschmidt/Lange 2016: 17f.; Gaventa 2005: 12). 2016: 14) seitens der sogenannten Mehrheitsge- sellschaft gegenüber Marginalisierten gelegt. Relevant ist auch der zugrunde liegende Inklu- sionsbegriff. Dieser wird in unterschiedlichen Die konkrete problemorientierte Auseinander Bereichen und Disziplinen benutzt, hier geht setzung wird in diesem Working Paper anhand es um seine Verwendung innerhalb der Migra- ausgewählter Einblicke in das 2018 abgeschlos- tionsforschung als Abgrenzung vom Integrati- sene, im Programm Erasmus+ geförderte Pro- onsbegriff. Die Didaktik der Politischen Bildung jekt PREDIS (Prevention of Early Dropout of VET selbst befasst sich erst seit einigen Jahren mit through Inclusive Strategies for „Migrants“ and Inklusion (vgl. Besand/Jugel 2015: 45). Der Fokus „Roma“) veranschaulicht. Das Projekt wurde wurde dabei zunächst insbesondere auf soziale vom Institut für Didaktik der Demokratie an Ungleichheitsverhältnisse hinsichtlich Migrati- der Leibniz Universität Hannover koordiniert on und Flucht gelegt (vgl. u.a. Dönges et al. 2015: und gemeinsam mit mehreren europäischen 9ff.). Inklusion lässt sich im Kontext Politischer Partner*innen aus den Bereichen Wissenschaft Bildung als ein Prozess kontextualisieren, der und Bildungspraxis in Österreich, Rumänien, individuelle Bedürfnisse nach Zugang, Teilhabe Slowenien und Italien umgesetzt. In Öster und Selbstbestimmung für alle Personen mit reich wurde PREDIS vom Arbeitsbereich jeweils unterschiedlichen Lebenssituationen Didaktik der Politischen Bildung am Institut berücksichtigt und fördert (vgl. Besand/Jugel für Lehrer*innenbildung der Universität Wien 2015: 45). durchgeführt, in Rumänien von der Liceul Tehnologic Economic „Elina Matei Basarab“ Die Pädagogin Saphira Shure stellt zunächst und der Inspectoratul Scolar Judetean Buzau, in fest, dass sich der Begriff der Inklusion aufgrund Slowenien vom Znanstvenoraziskovalni Center der vielen Debatten immer mehr zu einem Un- Slovenske/Akademije Znanosti In Umetnosti und wort entwickelt (vgl. Shure 2017: 644). Inklusion in Italien von der Università degli Studi di Trento. wird zwar häufig in Bildungszusammenhängen verwendet, dabei jedoch nicht immer näher be- Zielsetzung des Projektes war es, der hohen vor- stimmt. In einem kritischen Verständnis kann er zeitigen Abbruchquote von Berufsschüler*innen Malte Kleinschmidt und Dirk Lange folgend mit mit Migrationsgeschichte sowie Roma und einem Paradigmenwechsel zusammengedacht Romnija mittels didaktischer Strategien zu be- werden, indem beispielsweise nicht die Geflüch- gegnen. Diese Zielgruppe ist dabei in Österreich teten als Problem gelesen werden, sondern viel- dreifach benachteiligt. Zunächst begegnet sie mehr der defizitäre gesellschaftliche Umgang höheren Hürden beim Zugang in die Berufsaus- mit ihnen kritisiert wird (Vgl. Kleinschmidt/Lan- bildung. Dort ist sie häufiger vom Ausbildungs- ge 2016: 14). Der Integrationsbegriff wird hier als abbruch betroffen; schließlich gehen damit „einseitiger Forderungskatalog an sogenannte danach Benachteiligungen am Arbeitsmarkt Menschen mit Migrationshintergrund“ kriti- einher, die sich auf die soziale und sozio-ökono- siert (Kleinschmidt 2017). mische Bürger*innenrolle auswirken. Im vorliegenden Zugang wird Inklusion vom Im Laufe des Projektes wurde in den beteiligten Verständnis der Integration abgegrenzt, das ei- Ländern eine Bedarfsanalyse durchgeführt, ne Mehrheitsgruppe in Trennung von scheinbar um Gründe für die höheren Abbruchquoten „nicht-integrierten“ Gruppen konstruiert. In- herauszuarbeiten. Der Beitrag von Lara Möl- clusive Citizenship Education bezieht existente ler in diesem Working Paper veranschaulicht hegemoniale Machtstrukturen, Herrschaftspro- die Auseinandersetzung mit der österreichi- zesse und Diskurse innerhalb der gesellschaft- schen Situation. Die Projektbausteine befassen lich-politischen Wirklichkeit mit ein, die bei die- sich thematisch mit pädagogischem Hinter- ser Konstruktion von (Nicht-)Zugehörigkeiten grundwissen, der Einbeziehung von Roma und © Demokratiezentrum Wien 2022 5
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien omnija, mit interkulturellen und Konfliktma- R mögliche Exklusionsmechanismen und Benach- nagementkompetenzen, dem Empowerment teiligungen in Alltag und Ausbildung. von Auszubildenden, Methoden der Arbeitsm- arktintegration und der Unterstützung beim Diese Erläuterungen sollen das zugrunde lie Übergang zwischen Ausbildungsphasen. Dazu gende Projektverständnis und die Arbeit der wurde ein Werkzeugkasten erstellt, der Metho- involvierten Multiplikator*innen veranschau den zu insgesamt sechs thematischen Modulen lichen. Die in diesem Working Paper versam- umfasst. Außerdem wurde ein Blended Learn melten Beiträge thematisieren einerseits Kon- ing-Kurs für Lehrkräfte und Ausbilder*innen texte, Ursachen und mögliche Lösungsansätze erstellt. Schließlich versammelt ein Handbuch von vorzeitigem Ausbildungsabbruch, anderer- die Ergebnisse in insgesamt sechs Sprachen. seits gehen sie auf die Erfahrungen und Vorver- Begleitend wurden im Laufe des Projektes so- ständnisse von Auszubildenden, involvierten genannte Multiplikator*innen-Treffen durch- Lehrkräften und Expert*innen ein. Weiters geführt. An diesen nahmen auch die weiteren geben sie Einblick in die Arbeitserfahrung von Autor*innen dieses Working Papers teil. Die Lehrlingscoaches und, mit konkreter Orien- jeweiligen Arbeitszusammenhänge der be- tierung an den Betroffenen, Perspektiven des teiligten Autor*innen orientieren sich an den Empowerments von Roma und Romnija mit Bedürfnissen und Potentialen der hier ange- Hilfe des didaktischen Konzeptes des Selbst sprochenen Zielgruppe und problematisieren Organisierten Lernens. Quellen Besand, Anja/Jugel, David (2015): Inklusion und politische nissen. Impulse für einen herrschaftskritischen, dynami- Bildung – gemeinsam denken. In: Dönges, Christoph/Hil- schen und hegemonietheoretisch fundierten Begriff von pert, Wolfram/Zurstrassen, Bettina (Hg.): Didaktik der Inklusion. In: Zeitschrift für Inklusion. www.inklusion- inklusiven politischen Bildung. Bonn: Bundeszentrale für online.net/index.php/inklusion-online/article/view/443. politische Bildung, S. 45–59. Kleinschmidt, Malte/Kenner, Steve/Lange, Dirk (2019): Dönges, Christoph/Hilpert, Wolfram/Zurstrassen, Bettina Inclusive Citizenship als Ausgangspunkt für emanzipati- (Hg.) (2015): Didaktik der inklusiven politischen Bildung. ve und inklusive politische Bildung in der Migrationsge- Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. sellschaft. In: Natarajan, Radhika (Hg.): Sprache, Flucht, Feyerer, Ewald (2019): Kann Inklusion unter den Strukturen Migration: Kritische, historische und pädagogische Annä- des segregativen Schulsystems in Österreich gelingen? In: herungen. Wiesbaden: Springer VS, S. 405–413. Donlic, Jasmin/Jaksche-Hoffmann, Elisabeth/Peterlini, Lange, Dirk (2010): Migrationspolitische Bildung. Das Hans Karl (Hg.): Ist inklusive Schule möglich? Nationale Bürgerbewusstsein in der Einwanderungsgesellschaft. In: und internationale Perspektiven. Bielefeld: transcript Lange, Dirk/Polat, Ayca (Hg.): Migration und Alltag. Un- Verlag. sere Wirklichkeit ist anders. Schwalbch/Ts.: Wochenschau Gaventa, John (2005): Foreword. In: Kabeer, Naila: Inclu- Verlag, S. 163–175. sive Citizenship. Meanings and Expressions. London–New Lange, Dirk/Kleinschmidt, Malte (2017): Inclusive Citizen- York: Zed Books, S. 12–14. ship Education. In: Diendorfer, Gertraud/Sandner, Günther/ Gomolla, Mechtild/Radtke, Frank-Olaf (2007): Institutio Turek, Elisabeth (Hg.): Populismus – Gleichheit – Differenz. nelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Diffe- Herausforderungen für die Politische Bildung. Schwalbch/ renz in der Schule. Wiesbaden: Springer VS. Ts.: Wochenschau Verlag, S. 63–82. Kenner, Steve/Lange, Dirk (2018): Einführung: Citizenship Scherr, Albert (2017): Anti-Roma-Rassismus. In: Fereidooni, Education. In: Dies. (Hg.): Citizenship Education. Konzepte, Karim/El, Meral (Hg.): Rassismuskritik und Widerstands- Anregungen und Ideen zur Demokratiebildung. Frankfurt formen. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 307–318. a. M.: Wochenschau Verlag, S. 9–20. Shure, Saphira (2017): Was fokussieren (schul-)pädagogi- Kleinschmidt, Malte/Lange, Dirk (2016): Demokratie, Iden- sche „Inklusionsperspektiven“ (eher nicht)? Ein rassismus- tität und Bürgerschaft jenseits des Nationalstaats. Inclu- kritischer Kommentar. In: Fereidoon/El, Rassismuskritik sive Citizenship Education als neuer Ansatz der Politischen und Widerstandsformen, S. 643–656. Bildung. In: Forum Politische Bildung (Hg): Informationen Uslucan, Haci-Halil (2017): Diskriminierungserfahrungen zur Politischen Bildung 40/2016, S. 13–19. türkischstämmiger Zuwander_innen. In: Fereidoon/El, Kleinschmidt, Malte (2017): Inclusive Citizenship als For- Rassismuskritik und Widerstandsformen, S. 129–141. schungsperspektive: Vom Denken in Spannungsverhält- 6 © Demokratiezentrum Wien 2022
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien Bedarfsanalyse zum Thema „Vorzeitiger Lehrabbruch von Berufsschüler*innen mit Migrations – bzw. Rom*njageschichte: ausgewählte Problemstellungen und Lösungsansätze in Österreich“ Lara Möller Der österreichische Kontext Insgesamt sind in Österreich also insbesondere vorzeitigen Schulabbruchs Auszubildende mit Migrationsgeschichte von einem frühzeitigen Abbruch betroffen, ihr Risiko In Österreich wird für die Bestimmung der Early ist dabei viermal so hoch wie bei Angehörigen School Leaving (ESL)-Quote die gleiche Defi- der „Mehrheitsgesellschaft“ (Stop Dropout o. J.). nition verwendet wie jene der europäischen Grundsätzlich besteht somit Handlungsbedarf Statistikbehörde Eurostat: Das Verständnis von in Bezug auf die Ermöglichung des Zugangs ESL in Österreich umfasst somit den Anteil von Jugendlichen mit Migrationsgeschichte in jener 18- bis 24-Jährigen, welche keinen höhe- die berufliche Ausbildung. Dies inkludiert unter ren Bildungsabschluss vorweisen können (Pessl anderem den Ausbau und die Aufwertung von 2013: 3). Seit 2009 liegt die österreichische Quote (schulischer) Berufsorientierung und Bera- unter der EU-Benchmark von 9,5%. Im Jahr 2016 tungs- und Fortbildungsangebote für die aus- lag der Anteil jener, die sich vier Wochen vor der bildenden Betriebe (Dornmayer et al. 2016: 205). Untersuchung in keiner Ausbildung befanden, sogar nur bei 6,9% (vgl. ebd.; Eurostat). Diese Die Ursachen des Problems relativ niedrige Quote könnte ein Mitgrund da- für sein, weshalb die Thematik noch nicht sehr Jugendliche mit Migrationsgeschichte scheiden lange Gegenstand der Bildungspolitik in Öster trotz der vergleichsweise niedrigen Abbruch- reich ist und die Gesamtproblematik häufig quoten in Österreich somit generell vermehrt unterschätzt wird (vgl. Pessl 2013: 4, 12). frühzeitig aus der weiterführenden Ausbil- dung aus. Hinzu kommt, dass die Betroffenen Spezielle Bevölkerungsgruppen haben ein höhe innerhalb der Lehrlingsausbildung deutlich res Risiko des Abbruchs, wodurch die Gefahr unterrepräsentiert sind (Dornmayr et al. 2016: einer verstärkten Segregation besteht (Linde/ 6). Auch Menschen mit nicht-österreichischer Linde-Leimer 2014: 21). In der Bundeshauptstadt Staatsbürger*innenschaft sind vermehrt von Wien ist der ESL-Anteil grundsätzlich höher als ESL betroffen, mit steigender Fortbildungsdauer in den übrigen Bundesländern (Dornmayr et nimmt ihr Anteil noch stärker ab. Somit sind al. 2016: 176). Insbesondere in Wien herrscht nicht-österreichische Staatsbürger*innen ver- ein Ungleichgewicht zwischen den verfügba- mehrt von Drop-Out betroffen. Einerseits treffen ren Lehrstellen und der Nachfrage seitens der sie zunächst auf höhere Hürden, einen Zugang Lehrstellensuchenden. Von diesem Missver- zu einer Lehre zu erhalten. Danach sind sie mit hältnis sind besonders junge Menschen mit deutlich höheren Abbruchquoten konfrontiert. Migrationsgeschichte betroffen (Sturm/Ziegler In diesem Kontext kann man innerhalb des 2017: 20f.). Zugangs zum dualen Ausbildungssystem von © Demokratiezentrum Wien 2022 7
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien Selektivität und somit von Diskriminierung der lungsanweisungen formuliert. Dazu zählen Jugendlichen mit Migrationsgeschichte und/ Reformen des Erstausbildungssystems, Berufs- oder nicht-österreichischer Staatsbürger*innen orientierung, ein Drop-out-Meldesystem und schaft ausgehen (vgl. Steiner 2015: 14f., 25f.). Case-Management, niederschwellige Reintegra- Auch im nachfolgenden Beschäftigungssystem tionsmaßnahmen sowie die strategiegeleitete sind die Betroffenen weniger stark integriert Koordination und Kooperation der Akteur*innen und werden somit beim Eintritt in die Erwerbs- untereinander (Linde/Linde-Leimer 2014: 22). tätigkeit erneut diskriminiert (ebd.: 40). Im Falle Spezielle Maßnahmen des Bundesministeriums von ESL-Betroffenheit erhöhen sich in diesem für Bildung für die Prävention des vorzeitigen Sinne die Arbeitsmarktrisiken – so ist das Risiko (Aus-)Bildungsabbruch beziehen sich auf Be- der Arbeitslosigkeit fast doppelt so hoch wie bei reiche wie die Individualisierung des Lernens Personen mit einem Abschluss (Steiner 2012). Es und auch Lehrens, Sprachenförderung, Quali- zeigt sich, dass es dem Bildungssystem nicht aus- tätsinitiativen wie SQA (Schulqualität Allge- reichend gelingt, die Nachteile auszugleichen, die meinbildung) und QUIBB (Qualitätsinitiative mit der Migrationsgeschichte zusammenhängen. BerufsBildung), Maßnahmen innerhalb der In- Umso mehr müssen Lehrende diese Benachteili- formation und Beratung für Bildung und Beruf, gung mit gezielter Unterstützung kompensieren standortspezifische Förderkonzepte sowie die (Linde/Linde-Leimer, 2014, S. 15). Stärkung von Schulleiterprofilen und speziel- le Beratung von abbruchgefährdeten Personen Die Ursachen für ESL sind sowohl auf einer (Linde/Linde-Leimer 2014: 24f.). strukturellen als auch auf einer individuellen Ebene auszumachen. Auf struktureller Ebene 2012 wurde erstmals die „nationale Strategie wirkt sich das sozial selektive Bildungssystem zur Verhinderung von (Aus-)Bildungsabbruch“ aus (Pessl 2013: 5). Im europaweiten Vergleich seitens des damaligen Bundesministeriums weist das österreichische Bildungssystem insge- für Unterricht, Kunst und Kultur in Zusammen- samt eine starke Selektion am Bildungsweg auf, arbeit mit dem Bundesministerium für Wirt- was besonders für bildungsferne Jugendliche schaft, Familie und Jugend und den Sozialpart- eine große Herausforderung darstellt (Linde/ nern entwickelt. Der Fokus lag innerhalb der Linde-Leimer 2014: 17). Generell existiert ein deut- Bereiche Prävention, Intervention und Kompen- licher Zusammenhang zwischen Early School sation (BMB 2016: 7). Leaving und soziodemografischen Elementen: Ausschlaggebend für den Erfolg in Ausbildung Im Jahr 2013 wurde das sogenannte „Jugend und Beruf sind Faktoren wie soziale und eth coaching“ bundesweit in Österreich eingeführt. nische Herkunft sowie das Bildungsniveau der Dabei handelt es sich um eine der wichtigsten Eltern (Nairz-Wirth/Meschnig 2010: 385). nationalen Maßnahmen für die Prävent ion von ESL. Getragen vom Sozialministerium in Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich Kooperation mit dem Unterrichtsministerium auf das duale System in Österreich: die Ausbil- umfasst die Strategie Beratungs- und Betreu- dung im Rahmen einer Berufsschule sowie das ungsangebote für abbruchgefährdete Jugend- Erlernen des Lehrberufs in einem Lehrbetrieb. liche zugunsten einer nachhaltigen Integra Der Fokus liegt dabei auf den Berufsschulen. tion. Die Erfolgsquote des Coachings in Bezug auf Jugendliche, die die Maßnahme mit einem Good Practices und vielver konkreten Ziel vor Augen absolviert haben, sprechende Maßnahmen gegen ESL b eträgt 85%; positiv ist auch, dass hierbei keine sozial selektiven Effekte auffielen (Pessl Im Folgenden werden einige ausgewählte Maß- 2013: 10f.). Das Jugendcoaching wirkt an der nahmen vorgestellt, die ESL in Österreich vor- Schule, sobald sich Probleme bei Betroffenen beugen sollen. abzeichnen; somit wird noch vor einem mögli- chen A bbruch interveniert. Bereits 2007 wurden im Rahmen der „öster- reichischen Dopoutstrategie“ konkrete Hand- 8 © Demokratiezentrum Wien 2022
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien Das „Lehrlings- und Betriebscoaching“ wurde out-Quote zeigt sich, dass auch diese Angebote vom Wirtschaftsministerium in Zusammen Reformen brauchen, um den Betroffenen jene arbeit mit dem Sozialministerium initiiert und spezifische Unterstützung zu gewährleisten, wird seit 2012 umgesetzt, um Auszubildende die sie für einen Ausbildungsabschluss benö dabei zu unterstützen, ihre Lehre positiv zu ab- tigen (vgl. Steiner/Pessl/Karaszek 2015: 9f.). solvieren. Des Weiteren existiert seit dem Jahr 2013 die Möglichkeit für Betriebe im Bereich der Da Personen, die keine weiterführende Schule Berufsausbildung von Erwachsenen, im Rahmen absolviert haben, ein deutlich erhöhtes Arbeits- der „Lehrlingsausbildung für Erwachsene“ staat- losigkeitsrisiko haben, wurde 2017 zunächst die liche Fördermittel zu erhalten (Pessl 2013: 12). „AusBildung bis 18“ eingeführt, um Jugendli- chen beim Abschluss einer weiterführenden Das Angebot des Lehrlingscoachings ist in allen Ausbildung zu helfen. In einem nächsten Schritt Bundesländern verankert, Berufsschüler*innen wurde die Maßnahme im Rahmen der „Ausbil- wie auch Lehrbetriebe können sich bei Bedarf dungsgarantie bis 25“ ergänzt, wodurch neue Unterstützung holen. In Wien ist beispielsweise Ausbildungsplätze sowie zusätzliche Nachqua- der Kultur- und Sportverein der Wiener Berufs- lifizierungsangebote für Personen zwischen 19 schulen (KUS) einer der Träger des Lehrlings- und 24 Jahren geschaffen werden (vgl. Bundes- coachings in Österreich. Auszubildende werden ministerium für Arbeit o.J.). dadurch auf allen Ebenen in ihrem Ausbildungs- und Berufsschulalltag unterstützt. Das „KUS- Zusammenfassend muss festgestellt werden, Netzwerk-Complete“ richtet sich an Personen, dass in Österreich die kompensatorischen Maß- die die Lehre bzw. Berufsschule bereits abge- nahmen gegenüber präventiven Instrumenten brochen haben, das „KUS-Netzwerk-Lehrlings deutlich überwiegen (Pessl 2013: 12). Viele der coaching“ unterstützt Berufsschüler*innen mit bereits bestehenden Maßnahmen zur Be- einem aufrechten Lehrvertrag auf ihrem Weg kämpfung von ESL setzen also erst nach dem bis zum Lehrabschluss. Ausbildungsabbruch an. Aufgrund von gesell- schaftlichen, sozialen und sozioökonomischen Weitere Möglichkeiten innerhalb des dualen Unterschieden und erschwerten Zugängen zur Systems zur Unterstützung benachteiligter Ausbildung erscheint die Gesamtproblematik Auszubildender beziehen sich darauf, ihnen komplex, und entsprechend komplex müssen eine Lehrstelle zur Verfügung zu stellen, wenn auch die Maßnahmen gegen ESL gestaltet sein. sie zuvor am freien Lehrstellenmarkt keine er- Grundsätzlich müssen sie immer auf die spe- halten haben. Im Rahmen der integrativen zifischen Bedingungen und Bedürfnisse der Lehrausbildung (IBA) gibt es die Möglichkeit Betroffenen abzielen. Notwendig ist also ein einer längeren Lehrzeit oder einer Teilqualifika- Bewusstsein für die spezielle soziale Situation tion. Mit der überbetrieblichen Lehrausbildung der jungen Arbeitnehmer*innen. (ÜBA) werden Ausbildungsplätze für jene zur Verfügung gestellt, die zuvor noch keine Stelle Viele Ursachen entstehen bereits vor der Lehre in einem Betrieb finden konnten (vgl. Steiner und der Lehrstellensuche in der Schulzeit – so 2015: 5). kommt es bereits dort zu Selektionserfah rungen, negativen Rollenzuschreibungen und Beide Maßnahmen stellen viele Plätze zur Stereotypen sowie Erfahrungen des Scheiterns. Verfügung, wodurch die Jugendarbeitslosigkeit In diesem Sinne sind rassistische Diskriminie- reduziert wird. Allerdings steigt im Kontext der rungserfahrungen in der Schule, bei der Suche überbetrieblichen Lehrausbildung die Abbruch- nach einer Lehrstelle sowie am Arbeitsmarkt quote auf 37,4% im Vergleich zu 12,5% innerhalb nicht zu unterschätzen. Das österreichische einer regulären betrieblichen Lehrausbildung; Bildungssystem ist nicht auf Mehrsprachigkeit bei der integrativen Lehrausbildung beträgt zugeschnitten, die Nostrifizierung von auslän- die Abbruchquote 26,3%. Diese Zahlen nennen dischen Qualifikationen erfolgt nur bedingt. die allgemeine Abbruchrate, unabhängig von Diesem Umstand sollte entgegengewirkt der Migrationsgeschichte. An der hohen Drop- werden, es bedarf der verstärkten Anerkennung © Demokratiezentrum Wien 2022 9
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien beruflicher und praktischer Erfahrungen und zung für den Zugang zur Berufsschule. Zugleich mehrsprachlicher Qualifikationen. Schüle schätzte er die Konfrontation mit rassistischer r*inn en mit nicht-deutscher Muttersprac he Diskriminierung sowohl am Arbeitsmarkt als erhalten häufig schlechtere Abschlüsse, ins- auch in der Schule als einen wichtigen Fak- besondere männliche Schüler besuchen oft tor ein. Die Mehrheit der befragten Lehrkräfte eine Sonderschule, was sich auf den weiteren gab an, dass aus ihrer Sicht Schüler*innen mit Bildungsweg auswirkt. In diesem Sinne sind Migrationsgeschichte ihre Ausbildung nicht einerseits weitgreifende und flächendeckende öfter abrechen als Schüler*innen ohne Migra Maßnahmen wichtig, es benötigt aber in jedem tionsgeschichte. Dies sei viel eher abhängig von Fall zusätzlich auch niederschwellige Unter- der sozialen Schicht. Einer der Befragten gab stützungsangebote, die direkt bei den Betrof- hingegen an, dass auf Basis seiner Erfahrung fenen noch vor einem möglichen Abbruch an- die Abbruchquoten in der Berufsausbildung bei setzen und sie bei möglichen Schwächen und Schüler*innen mit Migrationsgeschichte höher der Vorbereitung auf die Lehrabschlussprüfung sind. konkret unterstützen. Bildungs- und Berufsbe ratung muss sich also direkt an den Stärken der 2) Erklärung des Problems, Hintergründe Schüler*innen orientieren. Ihnen muss Wert- (wie lassen sich die höheren Drop-out-Raten schätzung entgegengebracht werden, role erklären?) models sollten gestärkt werden, sodass auch Der Abbruch hängt somit für die Befragten Personen mit Migrationsgeschichte als positive weniger direkt mit der Herkunft (der Eltern), und motivierende Vorbilder in die Berufsaus sondern vielmehr mit der sozialen Lage, dem bildung miteinbezogen werden. Bildungshintergrund (der Eltern) und der man- gelnden familiären Unterstützung zusammen. Interviews Hierbei ist nach Aussage eines Befragten zu beachten, dass die gesellschaftliche Realität Die Universität Wien führte neun Interviews in komplex ist und die schulische Bildung in die- drei österreichischen Bundesländern durch. sem Kontext nur eingeschränkte Möglichkeiten Fünf Interviews wurden mit Lehrkräften an Be- hat, um soziale Gerechtigkeit und Chancen- rufsschulen durchgeführt (drei Frauen: eine gleichheit herzustellen. zwischen 41–50 Jahren und zwei zwischen Weitere Aussagen bezogen sich darauf, dass der 51–60 Jahren, zwei Männer: einer unter 40 Jah- gewählte Ausbildungszweig sich als teilweise ren und einer zwischen 41–50 Jahren). unpassend herausstellt, die Arbeitsplätze un Drei Interviews wurden mit Auszubildenden an attraktiv sind oder die Anforderungen in Betrieb Berufsschulen durchgeführt (Migrant*innen oder Schule nicht erfüllt werden können, weil oder Rom*nja, eine Frau, zwei Männer zwischen oft die entsprechende Unterstützung fehlt. Die 18–24 Jahren). meisten der Befragten gaben an, dass mangeln- Ein Expertinnen-Interview (eine weibliche de Sprachkenntnisse insbesondere bezüglich Expertin auf den Gebieten Soziologie, Bildungs- der Fachsprache sowie spezifische kulturelle forschung, Forschung zu ESL und Jugendlichen Barrieren und andere Verhaltensweisen und am Übergang von Schule zu Beruf) wurde „Mentalitäten“ weitere Einflussfaktoren sind. durchgeführt. Dadurch fühlen sich Betroffene mitunter nicht zugehörig. Eine der Befragten gab an, dass die BERUFSSCHULLEHRER*INNEN Wichtigkeit der Ausbildung häufig nicht erkannt 1) Problembewusstsein und Problembe- wird und gleichzeitig die Nostrifizierung von im schreibung (Drop-out-Raten von Menschen Ausland erworbenen Qualifikationen und Ab- mit Migrationsgeschichte und Rom*nja sind schlüssen in Österreich in einem zu geringen überdurchschnittlich hoch) Maße stattfindet; das führt zur Konfrontation Ein befragter Lehrer gab an, dass die größte mit Unterqualifizierung. Eine weitere Befragte spezifische Herausforderung das Finden einer gab an, dass Betroffene mit 15 schon „schulge- Lehrstelle sein könnte. Die Lehrstelle und damit schädigt“ in die Berufsschulen kommen, denn verbunden ein Lehrvertrag ist die Vorausset- aufgrund ihrer Sprache wird ihnen schneller 10 © Demokratiezentrum Wien 2022
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien sonderpädagogischer Förderbedarf zugeschrie- vermittelt wird, dass sie stolz auf sie sind und ben. Zudem würden Jugendliche teilweise reak- dass sie immer unterstützt wurde. Die beiden tionärer werden. Die Mädchen heiraten teilwei- weiteren Befragten gaben an, dass sie mit der se schon sehr früh und entscheiden nicht mehr Erwartung konfrontiert waren, das Gymnasium eigenständig. zu besuchen oder zu studieren. Alle Befragten gaben an, dass sie sich weiterbilden, aufstei- 3) Wie muss auf das Problem reagiert werden? gen wollen: entweder im selben oder in einem Aus der Perspektive der Lehrkräfte wäre ein all- anderen Lehrbetrieb. In diesem Kontext sahen gemeines Bewusstsein für die soziale Situation sie sich zum Teil zukünftig in leitenden Positio- der Berufsschüler*innen (letztlich unabhängig nen innerhalb eines Unternehmens oder in der von der Herkunft) in der Schulleitung hilfreich. Selbstständigkeit als Leiter*innen ihres eigenen Das bedeutet auch, dass insbesondere in der Betriebes. Berufsschule der pädagogische Auftrag vor Ef- fizienzdenken im Hinblick auf den Arbeitsmarkt 2) Problembewusstsein und Problembeschrei- gestellt wird. Mehr Schulzeit innerhalb der Be- bung rufsschulen wäre eine Überlegung. Eine befragte Auszubildende gab an, dass viele Weitere Vorschläge bezogen sich auf die Stär- ihrer Freund*innen die Schule abbrechen und kung von Mentor*innen aus der peer group bzw. dass diese häufig Migrationsgeschichte haben. role models, die Berufsschüler*innen mit Migra- Einer der Befragten erzählte von persönlichen tionsgeschichte in verschiedensten Bereichen Diskriminierungserfahrungen in seiner alten unterstützen, beraten und begleiten – Bezugs- Lehrstelle aufgrund seiner Herkunft, er war dort personen sind notwendig. Die Vorbildwirkung sehr isoliert. Auch weitere Auszubildende mit von Lehrkräften sollte zudem gefördert werden. Migrationsgeschichte haben dort gekündigt, die Des Weiteren wurden zweisprachige Arbeits- Diskriminierung ging unter anderem auch vom unterlagen, Sprachunterricht für Lehrpersonen, Werkstattleiter selbst aus. Der Befragte wollte um Grundkenntnisse in den von Schüler*innen die Matura machen und wurde vom Werkstatt- mit Migrationsgeschichte meistgesprochenen leiter damals nicht unterstützt. Muttersprachen zu erwerben, und vertiefende Kenntnisse über die Herkunftskulturen vorge- 3) Erklärung des Problems, Hintergründe (wie schlagen. Grundsätzlich wurde ein verstärktes lassen sich die höheren Drop-out-Raten erklä- Miteinbeziehen der Eltern in den Ausbildungs- ren?) prozess und Deutschkurse für die Schüler*innen Gründe für den vorzeitigen Abbruch sind für ei- gefordert. Außerdem waren für einige Befragte ne Befragte die Familie und das Umfeld der Be- neben der Sprachförderung auch Wertekurse troffenen sowie eine ungerechte Behandlung und Ethikunterricht von jungem Alter an wich- in den Lehrbetrieben, unter anderem aufgrund tig, wie auch, dass die Wichtigkeit der Berufs- der Migrationsgeschichte und der Sprache. Die ausbildung verstärkt anerkannt wird. Anonymität innerhalb der Lehrbetriebe ist für einen der Befragten eine zugrundeliegende Ur- BERUFSSCHÜLER*INNEN sache: Die Stimmung verändert sich oftmals ne- 1) Das Thema Ausbildung gativ, sobald die Lehre beginnt. Man wird durch Die Auszubildenden stuften es als sehr positiv die Migrationsgeschichte nicht so leicht Teil der ein, dass sie die Chance haben, eine Berufsaus- Gemeinschaft. bildung zu absolvieren, da diese nicht allen of- Es fehlen also oft die Bezugspersonen innerhalb fensteht. Ein Befragter fand es gut, dass es die der Lehrbetriebe. Obwohl einer der Befragten in duale Schul- und Berufsausbildung (Berufs- Österreich geboren wurde, musste er anfangs schule und Lehrbetrieb) gibt, dass es so vie- nach der Schule jeden Tag noch für eine Stunde le Schulen und Lehrberufe gibt und dass viele ein Förderprogramm besuchen. Dadurch fühl- staatliche Förderungen existieren, die der All- te er sich diskriminiert, durch diese Erfahrung gemeinheit dienen. Eine befragte Auszubil- spürte er erstmals, dass er ein „Ausländer“ in dende gab an, dass ihre Angehörigen sehr mit Österreich ist. Der befragte Auszubildende mit ihrer Ausbildung einverstanden sind, dass ihr Rom*nja-Hintergrund gab an, dass die Mädchen © Demokratiezentrum Wien 2022 11
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien oft jung heiraten und dadurch Lehre und Schule aus eine höhere ESL-Quote von nicht-österrei- früher abbrechen; die Eltern gehen oft nicht auf chischen Staatsbürger*innen von über zwölf die Wünsche der Kinder ein. So machen die Kin- Prozent. Berufsschüler*innen mit Migrations- der dann eher eine Ausbildung, die ihnen vorge- geschichte sind zudem insgesamt deutlich un- schlagen wird, und nicht jene, die sie am liebs- terrepräsentiert, denn nur zwölf Prozent der ten machen möchten. Berufsschüler*innen haben eine Migrations- geschichte. Der Zugang ist dabei als selektiv 4) Wie muss auf das Problem reagiert werden? einzuschätzen. Des Weiteren ist die Wartezeit, Lehrlingsausbildner*innen sollten sich nach bis Betroffene mit Migrationsgeschichte bezie- Meinung eines der Befragten mehr mit hungsweise mit nicht-deutscher Alltagssprache Berufsschüler*innen und besonders den Be- eine Lehrstelle erhalten, deutlich länger als bei dürfnissen von Berufsschüler*innen mit Mi- Personen ohne Migrationsgeschichte. grationsgeschichte beschäftigen und darauf achten, dass innerhalb des Betriebes ein guter 2) Erklärung des Problems, Hintergründe (wie Umgang herrscht. Probleme in den Berufsschu- lassen sich die höheren Drop-out-Raten erklä- len treten seiner Einschätzung nach eher bei ren?) weiblichen Auszubildenden auf. Eine befragte Die zugrundeliegenden Faktoren sind vielfältig: Auszubildende schätzt es als relevant ein, dass Es gibt Ursachen, die sich in Bezug auf Jugend- Betroffene sich Hilfe holen, zum Beispiel in Form liche mit und ohne Migrationsgeschichte nicht einer Therapie oder durch Unterstützung des unterscheiden, bei denen stattdessen soziale Jugendamts. Der Auszubildende mit Rom*nja- Reproduktion und der spezifische sozioökono- Hintergrund gab an, dass Eltern mehr Rücksicht mische Hintergrund ursächlich sind. Diejenigen, auf ihre Kinder nehmen und auf sie und ihre die schlechter mit ökonomischem oder kulturel- Wünsche eingehen sollten, ihnen keine Aus- lem Kapital ausgestattet sind, haben es dadurch bildung einreden sollten, die sie nicht machen schwerer. Zudem wird die Ergebnisverantwor- wollen. Er betonte, dass Kinder nicht zwangsver- tung der Betroffenen häufig deren Eltern über- heiratet werden sollten. Einige junge Menschen tragen. Somit wird vom Bildungswesen vor- würden seiner Einschätzung nach teilweise ausgesetzt, dass Eltern die Schüler*innen aktiv nicht den Sinn in einer Ausbildung sehen; dass unterstützen. man beispielsweise bestimmte Lehren und Be- Viele Ursachen entstehen bereits vor der Leh- rufsausbildungen nicht wertschätzt, kann auch re, in der Schulzeit, und somit vor der Lehrstel- mit dem Einfluss der Eltern zusammenhängen. lensuche: Das österreichische Bildungssystem ist nicht auf Mehrsprachigkeit zugeschnitten, EXPERTIN Schüler*innen mit nicht-deutscher Mutterspra- 1) Problembewusstsein und Problembeschrei- che schneiden allgemein schlechter ab, es gibt bung Kompetenzunterschiede am Ende der Pflicht- Auf Basis der Lehrlingsstatistik zeigt sich, dass schule. Dies führt somit zu einer schlechteren Berufsschüler*innen mit nicht-österreichischer Ausgangsposition in der Konkurrenz um eine Staatsbürger*innenschaft doppelt so oft wie Lehrstelle. der Durchschnitt abbrechen. Dies ist kein Spe- Bezüglich der Selektionserfahrungen, der ne- zifikum der Berufsausbildung. Insgesamt ist gativen Rollenzuschreibungen bzw. Stereoty- der Anteil der Schulabbrecher*innen unter den- pe sowie der Erfahrungen des Scheiterns muss jenigen mit Migrationsgeschichte höher. Die deshalb bereits die Zeit vor der Lehre betrachtet ESL-Quote wird im internationalen Vergleich werden. Viele (zumeist männliche) Jugendliche herangezogen, sie basiert auf Befragungen und mit Migrationsgeschichte sind in der Sonder- Eigenangaben und ist nicht sehr verlässlich. schule überrepräsentiert. Die weitere Bildungs- Speziell in Österreich ist das bildungsbezoge- karriere gestaltet sich dadurch entsprechend ne Erwerbskarrierenmonitoring der Statistik schwierig. Diese Tendenz zeigt die Selektivität Austria zuverlässiger. Darin werden die Ver- und institutionelle Diskriminierung im Rahmen waltungsdaten von Schulen, Lehrlingsstellen des Bildungssystems. Ein spezifischer Faktor ist und Projekten gesammelt, es ergibt sich dar- auch Anerkennung von im Ausland erworbenen 12 © Demokratiezentrum Wien 2022
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien Abschlüssen, die sich in Österreich zu schwie- Erfahrungen und Kompetenzen sollten somit rig gestaltet. Diese Erfahrung beeinflusst Men- als Chance erkannt und Möglichkeiten angebo- schen in ihrem Bildungsweg und innerhalb ih- ten werden, Teile der Ausbildung nachzuholen. rer persönlichen Entwicklung negativ. Es fehlen Role models sollten insgesamt im Bildungssys- außerdem spezifische role models: Lehrer*innen tem und auch speziell in den Ausbildungsbe- mit Migrationsgeschichte sind unterrepräsen- trieben gestärkt werden. So könnten Personen tiert (u.a. in der Ausbildung zu Kindergarten- mit Migrationsgeschichte bei der Auswahl der Pädagog*innen oder an Pädagogischen Hoch- Berufsschüler*innen einbezogen und Betriebe, schulen) und fehlen entsprechend auch als die von Personen mit Migrationsgeschichte ge- Vorbilder im Beruf. leitet werden, darin unterstützt werden, sich mehr in der Lehrlingsausbildung zu engagieren. 3) Wie muss auf das Problem reagiert werden? Des Weiteren ist Bildungs- und Berufsberatung Vor dem Eintritt in die Lehre sollte die Benach- an den Schulen notwendig, die sich an den Stär- teiligung im Bildungssystem an sich überwun- ken der Schüler*innen orientiert und durchgän- den werden. Sinnvoll ist ein verstärkter Fokus gig und als eigenes Unterrichtsfach verläuft. In auf mehrsprachigen Unterricht. Mehrsprachig- diesem Rahmen sollten auch Themen wie Dis- keit sollte nicht als Problem, sondern als eine kriminierung in der Arbeitswelt angesprochen wertvolle Ressource anerkannt werden. Zudem und reflektiert werden. sollte die Ergebnisverantwortung weniger als Die Unterstützung während der Lehrlingsaus- bisher auf die Eltern übertragen werden, son- bildung ist zudem im Sinne der Stärkung be- dern bei den Schulen liegen und den sozioöko- stimmter Grundkompetenzen an den Berufs- nomischen Hintergrund der Schüler*innen ent- schulen notwendig. Außerdem sollte überlegt sprechend berücksichtigen. werden, wie man Berufsschüler*innen aktiv un- Es benötigt eine verstärkte Anerkennung von terstützen, mögliche Schwächen ausgleichen ausländischen Abschlüssen, hier ist jedoch und dadurch konkret ansetzen kann. Zudem mittlerweile eine Tendenz zur Verbesserung er- muss die Unterstützung bei der Vorbereitung kennbar. Im Ausland erworbene Kompetenzen auf die Lehrabschlussprüfung verstärkt werden, können als Potential für die Berufsausbildung da fünfzehn Prozent der Betroffenen nicht an- wirken, berufliche beziehungsweise praktische treten oder keinen positiven Abschluss erhalten. Quellen Dornmayr, Helmut/Litschel, Veronika/Löffler, Roland zur Verhinderung frühzeitigen (Aus-)Bildungsabbruchs. (2016): Bericht zur Situation der Jugendbeschäftigung Wien: BMB. www.bmbwf.gv.at/Themen/schule/bef/ und Lehrlingsausbildung in Österreich 2014–2015. For- schulabbruch.html (08.03.2022). schungsbericht von ibw und öibf im Auftrag des BMWFW. Pessl, Gabriele (2013): Frühzeitiger Schulabbruch in der Wien: ibw, öibf. Berufsbildung in Österreich. Wien: ReferNet Austria. Eurostat: Early leavers from education and training by sex Steiner, Mario (2012): Early School Leaving & Drop-out. A and NUTS 2 regions. https://appsso.eurostat.ec.europa. Challenge for Education and Society. Vortrag im Rahmen eu/nui/show.do ?dataset= edat_lfse_ 16 & lang = en von Stay on Track – F inal Conference, Wien, 31.05.2012. (08.03.2022). Steiner, Mario (2015): Integrationschancen durch die Leh- Bundesministerium für Arbeit (o. J.).: Arbeitsmarktförde- re? Benachteiligte Jugendliche am Lehrstellenmarkt. Stu- rungen. Jugendliche und junge Erwachsene. www.bma. die im Auftrag des AMS Wien (Projekt „Perspektiven für gv.at/Themen/Arbeitsmarkt/Arbeitsmarktfoerderungen/ unentdeckte Talente“ unter der Leitung von Doris Landau- Jugendliche-und-junge-Erwachsene.html (08.03.2022). er). Wien: Institut für Höhere Studien. Linde, Susanne/Linde-Leimer, Klaus (2014): „… damit nie- Steiner, Mario/Pessl, Gabriele/Karaszek, Johannes (2015): mand rausfällt!“ Grundlagen, Methoden und Werkzeu- Ausbildung bis 18. Grundlagenanalysen zum Bedarf und ge für Schulen zur Verhinderung von frühzeitigem (Aus-) Angebot für die Zielgruppe. Wien: Verlag des ÖGB GmbH. Bildungsabbruch. Wien: Bundesministerium für Bildung. Stop Dropout (o. J.). www.stop-dropout.eu Nairz-Wirth, Erna/Meschnig, Alexander (2010): Early Sturm, René/Ziegler, Petra (2017): Menschen mit Migrati- School Leaving: theoretische und empirische Annäherun- onshintergrund und Berufsbildung. In: Migration, Integ- gen. In: SWS-Rundschau, Jg. 50, 2010/4, S. 382–398. ration: worüber reden wir hier? Initiativen und Projekte Bundesministerium für Bildung (2016): Nationale Strategie für Geflüchtete. Oead news, Nr. 103, Juni 2017, S. 20f. © Demokratiezentrum Wien 2022 13
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien Roma Empowerment. Ausbildung in Training, Beratung und Selbst Organisiertem Lernen Klaus Linde-Leimer Roma/Romnija und Sinti/Sintizze gehören zu Studien zur Situation von Roma den am stärksten bildungsbenachteiligten und Sinti Gruppen in Österreich. Zudem hat diese Bevöl- kerungsgruppe mit starken gesundheitlichen Zwei Studien beschäftigten sich in den letzten Problemen zu kämpfen, die eine aktive Teil Jahren mit Roma und Sinti in Österreich. Die nahme an Bildungsangeboten und den Eintritt ROMBAS-Studie1 wurde im Rahmen des vom und Verbleib in die Erwerbsarbeit erschweren Europäischen Sozialfonds (ESF) geförderten beziehungsweise sogar verunmöglichen. Lange Projekts ROMBAS (ROMa-Bildungs- und -Aus- Zeit wurde die Bildungssituation der Roma und bildung-Studie) durchgeführt. Die Initiative Sinti weder von der Politik noch von der For- Minderheiten in Kooperation mit dem Romano schung beachtet. Centro, der Österreichischen Gesellschaft für politische Bildung (ÖGPB), dem Verein Roma Der EU-Rahmen für nationale Strategien zur Service und den Wiener Volkshochschulen ver- Integration der Roma bis 2020 widmet sich folgten mit diesem Projekt das Ziel, die gegen- dieser Problemlage und möchte Maßnahmen wärtige Bildungssituation von Roma und Sinti setzen, die dieser Volksgruppe den Zugang zu in Österreich näher zu erforschen. einer qualitativ hochwertigen Bildung ermög lichen sollen: „In den Schlussfolgerungen des Die Tatsachen, dass es sich um äußerst hetero Rates der Europäischen Union vom 19. Mai gene Volksgruppen handelt, dass es kaum 2011 werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, Zugang zu guter Bildung, einschließlich früh kindlicher Bildung und Betreuung, sowie zu UMFRAGE: HÖCHSTER SCHULABSCHLUSS P rimar-, Sekundar- und Hochschulbildung sicherzustellen, etwaige schulische Segregation zu beseitigen, Schulabbrüche zu bekämpfen und einen erfolgreichen Übergang von der Schule ins Erwerbsleben zu gewährleisten“ 45 % (Europäische Kommission 2011: 11). 40 % Im Folgenden werden nun auszugsweise einige Ergebnisse von zwei in Österreich durchge führten Studien dargestellt, die diese Umstände belegen. 15 % Pflichtschule kein Pflichtschulabschluss anderer Abschluss 14 © Demokratiezentrum Wien 2022
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien s tatistische Daten über die ethnische Herkunft weise gar nicht finden. Vertreter*innen der gibt und dass Angehörige dieser Volksgruppen Roma-Community benennen folgende Barri- oft nicht leicht erreicht werden können, er- eren, die einem tatsächlichen Zugang zu Ver schweren empirische Untersuchungen. Im sicherungsleistungen des Gesundheitssystems Fall der ROMBAS-Studie entschied man sich im Wege stehen: geringe Gesundheitskompe- für einen partizipativen Forschungsansatz, bei tenz, mangelnde Sprachkenntnisse, Misstrauen dem Roma/Romnija und Sinti/Sintizze selbst zu gegenüber dem Gesundheitssystem und medi- Forscher*innen wurden. Im Zeitraum März 2013 zinischen Fachkräften sowie erlebte Diskrimi- bis September 2014 wurden die Bildungserfah- nierung. rungen und -abschlüsse von 109 Angehörigen unterschiedlicher Gruppen autochthoner und An der Studie teilnehmende Roma-Vertre allochthoner (nicht seit Generationen „boden- ter*innen nennen diese Gesundheitsprobleme: ständiger“) Roma in Österreich erhoben. Lungenprobleme; Übergewicht; Depressionen; Zahnprobleme. Den ROMBAS-Daten zufolge haben unter au- tochthonen Roma und Sinti der Altersgruppe Die Studie weist außerdem aus, dass die Mehr- 26–50 Jahre 45 Prozent als höchsten Abschluss heit der Patient*innen (60%) an mindestens eine Pflichtschule absolviert und 15 Prozent gar einer chronischen Krankheit leidet, und dass keinen Schulabschluss. chronische Erkrankungen als häufigste Einzel diagnosen gestellt werden. Drei von 15 (20%) der befragten 18- bis 24-jähri- gen autochthonen Roma und Sinti (zwei weib- Roma-Vertreter*innen nennen folgende Gründe liche und eine männliche interviewte Person) für diesen generell recht schlechten Gesund- haben keinen weiterführenden Bildungsab- heitszustand ihrer Bevölkerungsgruppe: schluss (ISCED [International Standard Classi fication of Education] 3a/b oder höher, also ARMUT Sekundarstufe II bzw. Lehre und Berufsschule) und nehmen auch nicht an einer Aus- oder Wei- UNGESUNDER LEBENSSTIL terbildung teil. Dasselbe gilt für zwei von elf schlechte Ernährung, wenig Bewegung, Roma (18%) mit Migrationshintergrund dieser Rauchen, Suchtverhalten in Zusammen- Altersgruppe. Sie zählen somit zu den „Frühen hang mit Spiel, Alkohol und Drogen Schulabgänger*innen“, deren Anteil in der ös- terreichischen Schulpopulation im Jahr 2013 bei GESUNDHEITSSCHÄDLICHE ARBEITS- 7,3% lag. Es kann somit vermutet werden, dass UND LEBENSBEDINGUNGEN der Anteil von Frühen Schulabgänger*innen in Arbeiten im Straßenbau, Wohnen nahe beiden Gruppen höher als in der Gesamtbe von Mülldeponien, schlechte Wohnver- völkerung ist. hältnisse wie Schimmel, Feuchtigkeit, Enge Mit der Studie „Roma & Gesundheit – Gesund heit, Gesundheitswissen und Zugang zur Ge FEHLENDE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN sundheitsversorgung“2 des Center for Health berufliche Situation and Migration wird ein weiterer Aspekt der Situation von Roma/Romnija beleuchtet. Das österreichische Gesundheitssystem beruht Als positive Schutzfaktoren werden der starke auf dem Prinzip der Pflichtversicherung. Im Familienzusammenhalt und die Hilfsbereit- Jahr 2013 hatten 99,9% der österreichischen schaft innerhalb der Community genannt. B evölkerung Anspruch auf Leistungen aus der Krankenversicherung. Trotz dieser äußerst hohen Abdeckung gibt es auch in Österreich Randgruppen, die, obwohl sie versichert sind, den Zugang zu Leistungen kaum beziehungs- © Demokratiezentrum Wien 2022 15
Working Paper 5 | Diversität in der Berufsschule | Demokratiezentrum Wien Mögliche Ursachen frühen UMFRAGE: GEMEINSCHAFTSINTERNE GRÜNDE FÜR Schulabbruchs B ILDUNGSBENACHTEILIGUNG In den Interviews der ROMBAS-Studie wurden geringer Vertreter*innen der Roma- und Sinti-Commu- tellenwert S nity gefragt, ob sie Angehörige ihrer Volksgrup- schulischer Bildung pe im Bildungsbereich allgemein als benach- und traditionelle teiligt ansehen und, falls dies zutrifft, worin Sichtweisen diese Benachteiligung besteht. Dabei konnten grundsätzlich zwei große Tendenzen, Bildungs- Formen benachteiligung von innen und von außen, fest- der Selbst gestellt werden. Mangelnde ausgrenzung Förderung Bildungs und Distan BENACHTEILIGUNG VON INNEN durch benach zierung Die Interviews in der ROMBAS-Studie verdeut die Eltern teiligung von der lichen, dass viele der Befragten die bisherige Mehrheits Bildungsbenachteiligung von Roma und Sin- gesellschaft ti in ihren Gemeinschaften selbst verorten. In- terviewte Vertreter*innen der Roma und Sinti führten an, dass Eltern die schulische Laufbahn ihrer Kinder oft zu wenig unterstützen und för- dern würden, dass die schulische Ausbildung an sich oft keinen hohen Stellenwert inner- UMFRAGE: EXTERNE GRÜNDE FÜR halb der Familien besitzen würde. Ein traditio- B ILDUNGSBENACHTEILIGUNG nell geprägtes Weltbild führe außerdem dazu, dass viele Roma und Sinti sehr früh heiraten und Familien gründen, was als hinderlich für Arbeitsmarkt weitere Bildungswege junger Menschen an- gesehen wurde. Einige Betroffene würden sich auch selbst von der Mehrheitsgesellschaft ab- Benachteili wenden und sich dadurch selbst daran hindern, gung durch ihre schulische und berufliche Laufbahn aktiv Bildungs finanzielle zu gestalten. Schulen benach und örtliche teiligung Gegeben BENACHTEILIGUNG VON AUSSEN heiten In den ROMBAS-Interviews gaben Vertreter*in nen der Roma- und Sinti-Community an, dass es zwar nach wie vor Vorurteile gegenüber ihrer Volksgruppe geben würde, die auch in rassisti- schen Äußerungen bzw. Handlungen ihren Aus- druck finden und dass ihre Volkgruppe nach wie vor mit Diskriminierung in der Gesellschaft, in der Schule und am Arbeitsmarkt zu kämpfen hätte, stellten gleichzeitig aber fest, dass diese Formen der Benachteiligungen in den letzten Jahren abgenommen hätten. Die Studie „Roma & Gesundheit“ legt nahe, dass ökonomische Armut in Österreich keine wesentliche Zugangsbarriere ist. Trotzdem sind Vertreter*innen der Roma und Sinti mit folgen- 16 © Demokratiezentrum Wien 2022
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