Dossier: Judentum und andere Religionen - Gemeinsames und Trennendes Zirkusduft: Unterwegs mit Anatoli Akerman

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Dossier: Judentum und andere Religionen - Gemeinsames und Trennendes Zirkusduft: Unterwegs mit Anatoli Akerman
Jüdisches Magazin für Politik und Kultur
NR. 90 · (4/2022) Kislew 5783 · € 7 · www.nunu.at

Dossier: Judentum
und andere Religionen
Gemeinsames und Trennendes

Zirkusduft:
Unterwegs mit Anatoli Akerman
Dossier: Judentum und andere Religionen - Gemeinsames und Trennendes Zirkusduft: Unterwegs mit Anatoli Akerman
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                                                                       *

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Dossier: Judentum und andere Religionen - Gemeinsames und Trennendes Zirkusduft: Unterwegs mit Anatoli Akerman
Editorial

                    VON DANIELLE SPERA                                             VON ANDREA SCHURIAN
                    HERAUSGEBERIN                                                  CHEFREDAKTEURIN

Gemeinsam für den Frieden                                     Respektvolle Dialoge

   „Mit fester Überzeugung sagen wir: Schluss mit dem            Europa steht im Vorhof zur Kriegshölle. Vor unserer
Krieg! Beenden wir alle Konflikte. Krieg führt nur zu Tod     Haustür werden Menschen aus ihren Wohnungen und
und Zerstörung, er ist ein Abenteuer ohne Rückkehr, bei       Häusern gebombt, sterben ukrainische und russische Ehe-
dem wir alle verlieren. Die Waffen mögen schweigen und        männer, Väter, Söhne auf dem Schlachtfeld. Der Kriegs-
sofort ein universaler Waffenstillstand erklärt werden.       wahnsinn ist freilich nicht auf die Ukraine beschränkt, im
Bevor es zu spät ist, mögen bald Verhandlungen begonnen       Jahr 2021 gab es weltweit 28 Kriege und kriegerische Aus-
werden, die zu gerechten Lösungen für einen stabilen und      einandersetzungen, abertausende Menschen haben ihr Le-
dauerhaften Frieden führen!“                                  ben lassen müssen, viele auch im Namen der Religion(en).
   So lautete der Appell vor wenigen Wochen beim              Die Geschichte – auch die der Konfessionen – ist voller
internationalen Treffen der Weltreligionen in Rom an          Feindbilder, Hass und Gewalt. Doch was bedeutet Glauben?
die verantwortlichen Politiker. Von diesem Treffen geht       Und gibt es tatsächlich nur eine göttliche Wahrheit, wie die
das Signal aus, dass Religionen miteinander in Kontakt        unterschiedlichen Religionen ihre Anhänger so gern glau-
stehen und gemeinsam für den Frieden einstehen. Es            ben machen? Oder führen die vielen konfessionellen Weg-
sind Begegnungen auf Augenhöhe und in gegenseitigem           gabelungen letztendlich alle in den Himmel?
Respekt. Der Dialog dient dazu, das Miteinander zu leben,        Solange Menschen miteinander sprechen, bekriegen sie
zu stärken und zu fördern, erklärt Oberrabbiner Jaron         einander nicht. Deshalb gibt es in Wahrheit keine sinnvolle
Engelmayer, der als österreichisch-jüdischer Vertreter in     Alternative zu offenen, respektvollen Dialogen, in denen
Rom eine Rede hielt. In Anerkennung der Unterschiede          das Verbindende zur Sprache kommt, aber eben auch das
zwischen den Religionen, aber auch in Anerkennung der         Fremde, Verstörende. Aus diesem Grund beschäftigen wir
Komplexität, der wir oft gegenüberstehen.                     uns diesmal schwerpunktmäßig mit dem Verhältnis des
   „Das Gebet sieht man nicht, ebenso wie die am meisten      Judentums zu den anderen (abrahamitischen) Religionen.
benötigten Dinge des Lebens wie Luft, Freundschaft            Eine friedliche Koexistenz bedeutet nämlich nicht Eini-
oder Liebe. Und doch ist es die größte Ressource der          gung auf den kleinsten Nenner, sondern Öffnung und Ver-
Veränderung, die jede Generation seit Jahrtausenden           ständnis füreinander: statt Bekämpfung Vertiefung, statt
zur Verfügung hat“, sagte Engelmayer in Rom und sprach        Bekehrung Respekt. Wie (gut!) das geht, stellt u.a. Mark E.
davon, dass aber auch der Mensch sich zu helfen wissen        Napadenski mit dem Wiener Café Abraham und Bert Reb-
müsse.                                                        handl mit dem Berliner House of One vor.
   Dazu passend erzählte er folgenden Witz: Moische wollte       Der katholische Theologe und Psychotherapeut Arnold
unbedingt in der Lotterie gewinnen, also betete er täglich    Mettnitzer schreibt in seinem sehr persönlichen Essay über
mit großer Andacht, dass Gott ihn doch bitte einmal gewin-    die Geschwisterrivalität zwischen Judentum und Christen-
nen lasse. Doch der große Gewinn blieb aus. Da wandte sich    tum; der liberale Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi
Moische tief enttäuscht zu Gott und sprach: „Warum kannst     erklärt das schwierige Verhältnis der Muslime zu den Ju-
du mich nicht wenigstens einmal die Lotterie gewinnen         den; und Dominik Kamalzadeh erzählt über seine im Exil
lassen?“ Darauf ertönte eine himmlische Stimme: „Moische,     lebende Familie, die als Bahá’í vor dem Ayatollah-Regime
kauf dir doch endlich einmal ein Los!“                        flüchten musste. Und auch in Israels Politik ist Religion ein
   Das bevorstehende Chanukka-Fest erinnert uns daran,        bestimmender Faktor. Martin Engelberg analysiert die Tei-
dass vor 2000 Jahren die kleine Gruppe um Juda Makkabäus      lung Israels in ein jüdisches und ein israelisches Lager.
das große syrisch-griechische Heer geschlagen hat. Hier          Eine Glaubensfrage ist längst auch das Lueger-Denkmal:
ging es um die Freiheit, die eigene Religion auszuüben. Der   Kontextualisieren? Wegräumen? Belassen? Kontroversielle
Tempel in Jerusalem wurde wieder eingeweiht und die           Gedanken dazu von Thomas Trenkler, Walter König und
kleine Menge Öl, die gefunden wurde, brannte acht Tage.       Fritz Rubin-Bittmann.
Daran denken wir, wenn wir das Lichterfest Chanukka              Ich wünsche Ihnen erhellende Lesezeit – und ganz
feiern. Auch wenige Menschen können etwas bewegen,            im Sinne unseres Dossiers Chanukka sameach, frohe
wenn sie sich engagieren. Chanukka Sameach, ein               Weihnachten, fröhliche Weihnukka oder einfach nur
fröhliches Fest!                                              erholsame Tage zwischen den Jahren.

                                                                                                     4 | 2022     3
Dossier: Judentum und andere Religionen - Gemeinsames und Trennendes Zirkusduft: Unterwegs mit Anatoli Akerman
Inhalt

         Aktuell                                  Dossier: Judentum                        Die Religion als Kunst
                                                  und andere Religionen                    Judentum, Christentum und Islam
         „Jüdisches Leben gehört zur Mitte                                                 ähneln sich besonders in einem
         unserer Gesellschaft“                    Eins, zwei, drei                         Punkt: Sie weisen alle logische Wider-
         Karoline Edtstadler, Bundesmini-         In Berlin entsteht für den einen Gott    sprüche auf, die auf ihre Entstehung
         sterin für EU und Verfassung, im         in dreierlei religiöser Gestalt das      zurückgehen.
         Gespräch über jüdisch-christliches       House of One.                            Von Eric Frey
         Kulturerbe und zeitgenössisches jüdi-    Von Bert Rebhandl                        Seite 35
         sches Kulturschaffen.                    Seite 20
         Von Michael J. Reinprecht                                                         Die Juden im Koran
         Seite 6                                  „Wir wären eine amputierte Religion“     Der Koran zeichnet ein ambivalentes
                                                  In den letzten Jahrzehnten hat sich      Bild von den Juden. Das Verhältnis
         Vermutlich sind Juden auch               das schwierige Verhältnis ziwschen       des Propheten zu den Juden wandelte
         am Klimawandel schuld                    Christentum und Judentum geändert.       sich mit seiner eigenen Rolle.
         Als postkolonialer Diskurs maskierter    Ein Gespräch mit Dompfarrer Toni         Von Abdel-Hakim Ourghi
         Antisemitismus ist radikal schick.       Faber.                                   Seite 37
         Den Beweis dafür liefert immer           Von Danielle Spera
         wieder die Wiener Akademie der           Seite 22                                 Das nicht verschwindende Phänomen
         bildenden Künste mit ihrer                                                        Es reicht nicht, den Antisemitismus
         Einladungs-politik.                      Türöffner und Vernetzer                  nur zu beklagen oder zu verurteilen.
         Kommentar von Andrea Schurian            Der Koordinierungsausschuss für          Von Theodor Much
         Seite 9                                  christlich-jüdische Zusammenarbeit       Seite 39
                                                  arbeitet für die Verständigung der Re-
         Was bestimmt kein Denkmal ist            ligionen. Ein Gespräch mit Präsident     Fluchtsignale
         Die Installation „Lueger Temporär“       Martin Jäggle und Vizepräsident Willi    Der Bahá’í-Glaube entstand im späten
         reagiert auf die Debatte über das        Weisz.                                   19. Jahrhundert im Iran. Doch seit
         Lueger-Denkmal. Drei Positionen zur      Von Katharina Stourzh                    der Machtübernahme der Ayatollahs
         endgültigen Entscheidung über eine       Seite 24                                 gehören die Bahá’í zu einer verfolgten
         vorläufige Kontextualisierung von                                                 Minderheit. Splitter einer iranischen
         Thomas Trenkler, Walter König und        Das Jüdische in mir                      Familiengeschichte.
         Fritz Rubin-Bittmann                     Wer sich Judentum und Christentum        Von Dominik Kamalzadeh
         Seite 10                                 als Geschwisterpaar vorstellt, muss      Seite 41
                                                  auch an Rivalität und Streit denken.
         Im Westen viel Neues                     Von Arnold Mettnitzer                    „Die Bahá’í sind in Israel
         In den westlichen Bundesländern          Seite 26                                 willkommen“
         entwickelt sich ein neues jüdisches                                               Die Bahá’í-Religion hat eine be-
         Selbstbewusstsein. Ein Lokalaugen-       Wissen ist Freundschaft                  sondere Beziehung zu Israel. Ein
         schein.                                  „Feiertagsgruss.at“ ist ein gemeinsa-    Gespräch mit Anja Spengler, Medi-
         Von René Wachtel                         mer Festtagskalender der drei abra-      envertreterin der österreichischen
         Seite 14                                 hamitischen Religionen. Muslime,         Bahá’í-Gemeinde.
                                                  Christen und Juden geben darin Ein-      Von Theresa Absolon
         Voller Stolz in Blauweiß                 blicke in Riten und Geschichten.         Seite 43
         Während manche gespannt zur Fuß-         Von Mark E. Napadenski
         ball-Weltmeisterschaft nach Katar        Seite 28                                 Eine Geschichte und tausend Quellen
         blicken, interessieren sich die wahren                                            Der Orientalist Daniel Gerlach hat
         Fans für den legendären jüdischen        Maßstab für das Zusammenleben            eine persönliche Entdeckungsreise
         Verein Maccabi Wien.                     Die Zehn Gebote als Grundprinzipien      durch den Nahen Osten unternom-
         Von René Wachtel                         ethischen Handelns nehmen im Ju-         men. Eine spannende Suche nach
         Seite 16                                 dentum wie im Christentum einen          dem gemeinsamen Erbe der Religio-
                                                  zentralen Stellenwert ein.               nen und Kulturen.
                                                  Von Danielle Spera                       Von Michael Pekler
         Israel                                   Seite 32                                 Seite 44

         Die neue Realität:                       Jesus und Judas                          Auf dem Weg ins Jenseits
         Das jüdische und das israelische Lager   Amos Oz trat nicht nur für ein gewalt-   Begräbnisrituale spielen in allen Re-
         Kommentar von Martin Engelberg           freies Zusammenleben von Israelis        ligionen eine bedeutende Rolle. Über
         Seite 17                                 und Palästinensern ein, sondern          Unterschiede und Gemeinsamkeiten
                                                  zeigte sich auch von Jesus fasziniert.   im Christentum, Judentum und Islam.
                                                  Wer war Jesus aus jüdischer Sicht?       Von Savanka Schwarz
                                                  Seite 33                                 Seite 46

                    4   4 | 2022
Dossier: Judentum und andere Religionen - Gemeinsames und Trennendes Zirkusduft: Unterwegs mit Anatoli Akerman
Inhalt

                   Unterwegs mit                             Der schönsten Frau der Welt            Neuerscheinungen zum Selberlesen
                                                             gebührt ein Platz in Wien              oder Verschenken
                   Anatoli Akerman                           Bis vor kurzem erinnerte in Wien       Eine kluge Frau, ein spannendes
                   Anatoli Akerman zählt zu den sensi-       nicht viel an die Hollywood-Diva und   Land, ein großartiger Schauspieler,
                   belsten Clowns der Welt. Der Israeli      Erfinderin Hedy Lamarr. Nun entsteht   ein kritischer Geist : vier Buchemp-
                   mit ukrainischen Wurzeln ist seit         in der Mariahilfer Straße ein neues    fehlungen
                   vielen Jahren mit dem Circus-Theater      Projekt, das Lamarrs Namen tragen      Von Gregor Auenhammer, Andrea
                   Roncalli unterwegs.                       wird.                                  Schurian und Danielle Spera
                   Von Andrea Schurian, René                 Von Danielle Spera                     Seite 57
                   Wachtel (Text) und Ouriel                 Seite 53
                   Morgensztern (Fotos)
                   Seite 48                                  „Es ist immer am einfachsten,          Das vorletzte Wort
                                                             Minderheiten anzufeinden“
                                                             In seinem jüngsten Film „Schächten“    Make l’ve n’t war
                   Kultur                                    erzählt Thomas Roth die Geschichte     Ist Gottes Wille bloß eine Ausrede
                                                             eines Mannes, der den NS-Peiniger      der Gläubigen, um ihr Ding zu ma-
                   Hoffnung in der Ausweglosigkeit           seiner Eltern zur Rechenschaft zie-    chen? Ronni Sinai und Nathan
                   Ein Theaterstück als Verpflichtung        hen will.                              5RCUKȲ, Ketzer und Agnostiker, über
                   jenen gegenüber, die ihre Geschichte      Von Gabriele Flossmann                 das Gemeinsame von Religionen,
                   nicht mehr erzählen können: In „Ich       Seite 54                               King Charles und Rock ’n’ Roll.
                   hab (k)ein Heimatland“ verarbeitet                                               Seite 59
                   Marika Lichter ihre Familienge-           Erwachte Schönheit
                   schichte.                                 Das Südbahnhotel am Semmering
                   Von Danielle Spera                        wird mit hochkarätigen Kulturevents    Rabbinische Weisheiten
                   Seite 52                                  wieder zum Leben erweckt.
                                                             Von Michael J. Reinprecht              Fundamentalismus
                                                             Seite 56                               Von Paul Chaim Eisenberg
                                                                                                    Seite 60

                                                                                                               Erscheinungsweise: 4 x jährlich
                                                                                                               Nächste Ausgabe: April 2023.
                                                                                                               Auflage: 4.700
© STEINDY/CC-3.0

                                                                                                               TITELBILD:
                                                                                                               © Ouriel Morgensztern

                                                                                                               Kontakt
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                                                                                                               Außerhalb der EU:        Euro 32,–
                   Auf dem Friedhof in Mattersburg erinnern symbolische Grabsteine vor der
                                                                                                               Abo-Service, Vertrieb & Anzeigen
                   Pfarrkirche an die jüdische Gemeinde. Ein Dossier zum Thema „Judentum                       Theresa Absolon
                   und andere Religionen“ finden Sie ab S. 20.                                                 theresa.absolon@nunu.at

                                                                                                                        4 | 2022          5
Dossier: Judentum und andere Religionen - Gemeinsames und Trennendes Zirkusduft: Unterwegs mit Anatoli Akerman
Aktuell

                      „Jüdisches Leben gehört zur
                      Mitte unserer Gesellschaft“
    © BKA/SCHRÖTTER

                      „In welcher Gesellschaft leben wir, in welche Richtung gehen wir?“ Karoline Edtstadler sieht herausfordernden die Jahre der
                      Pandemie als Alarmzeichen.

                      Karoline Edtstadler, Bun-                      Der Kampf gegen Antisemitismus dieses Erbes sind mir persönlich ein
                                                                  sei kein Sprint, sondern ein Marathon, Anliegen, auch in meiner Arbeit als
                      desministerin für EU und                    meinte Karoline Edtstadler vor we- österreichische Bundesministerin.
                      Verfassung, im Gespräch                     nigen Wochen während ihres Israel- Das christlich-jüdische Erbe begrün-
                      über jüdisch-christliches                   Besuches. Im Rahmen dieser Reise det unsere Kultur und die Art und
                                                                  traf sie auch mit Israels Staatspräsi- Weise, wie wir zusammenleben – in
                      Kulturerbe, antisemitische                  dent Isaac Herzog, zusammen.              Österreich und in Europa. Eine gesetz-
                      Corona-Proteste und zeit-                                                             liche Verankerung ist die Basis für ein
                      genössisches jüdisches                      NU: Im Jahr 2003 scheiterte die EVP- prosperierendes christlich-jüdisches
                                                                  Fraktion im EU-Parlament mit dem Leben in Österreich. Zugleich ist es
                      Kulturschaffen.                             Antrag auf Aufnahme der christlich- wichtig, dass es nicht nur auf dem Pa-
                      VON MICHAEL J. REINPRECHT                   jüdischen Wurzeln in die Präambel des pier steht, sondern jeder und jede Ein-
                                                                  Verfassungstextes. Im Vertrag von Lis- zelne von uns das auch lebt.
                                                                  sabon ist heute vom „kulturellen, religi-
                                                                  ösen und humanistischen Erbe Europas“ Von islamischer Seite gibt es dazu Kritik,
                                                                  die Rede. Aber ist nicht das christlich- gerade im Lichte harmonischen Mitein-
                                                                  jüdische Erbe Europas eine Tatsache?      anders der drei monotheistischen Reli-
                                                                     Edtstadler: Das christlich-jüdische gionen. Wie ist die Beziehung zum Islam,
                                                                  Erbe Europas ist definitiv eine Tat- wird ein Dialog geführt?
                                                                  sache. Die Bewahrung und die Pflege          Der Islam ist seit 1912 in Österreich

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Dossier: Judentum und andere Religionen - Gemeinsames und Trennendes Zirkusduft: Unterwegs mit Anatoli Akerman
Aktuell

 eine anerkannte Religion. Das ist na- gestiegen ist. Während früher Vorfälle     zuschärfen. Das einer Disziplinarkom-
 türlich eine Grundvoraussetzung, oft nur achselzuckend zur Kenntnis              mission zu überlassen, reicht eben
 um einen guten Dialog und ein gutes genommen wurden, wenn beispiels-             nicht. Es muss rechtlich klargestellt
 Miteinander zu haben. Ich bin eine weise Personen, die eine Kippa trugen,        sein, dass jemand, der wegen Wieder-
 Verfechterin von Inklusion, des Hin- beschimpft oder gar geschlagen wur-         betätigung rechtskräftig verurteilt ist,
 einnehmens, der Verhinderung des den, neigt man heute viel eher dazu,            nichts im Staatsdienst verloren hat,
 Ausgrenzens und des Gegeneinander- das tatsächlich anzuzeigen – polizei-         sei es im Bundesheer, im Schuldienst,
 Ausspielens. Europa ist und war über lich, strafgerichtlich oder zumindest       in einem Ministerium oder wo auch
 die Jahrhunderte christlich-jüdisch an die Meldestelle der IKG.                  immer. Punkt. Diesen gesetzlichen
 geprägt, doch auch der Islam spielt                                              Zustand werden wir herstellen.
 eine zunehmende Rolle und leistet Wie schätzen Sie diese Statistik ein?
 seinen Beitrag zu unserer Kultur. In er-     Damit haben wir einen besseren      Wie können Vorfälle wie dieser verhin-
 ster Linie geht es darum, negative Vor- Überblick über die Anzahl und die        dert werden?
 urteile abzubauen. In Österreich be- Art der Vorfälle. Seien es physische           Dieser Fall hat auf dramatische
 kennen sich etwa 600.000 bis 700.000 Attacken, Vorfälle im Internet, sei es      Weise gezeigt, dass es tatsächlich Per-
 Menschen zum Islam. Und der Fokus, Stalking, Mobbing bis hin zu Wieder-          sonen in unserer Gesellschaft gibt, die
 den ich in meiner täglichen Arbeit auf betätigungsfällen. Es ist ein dramati-    solche Uniformen basteln, sich hin-
 den Kampf gegen den Antisemitis- scher Befund. Das möchte ich in aller           stellen, den Hitlergruß zeigen und sich
 mus und auf die Förderung jüdischer Deutlichkeit sagen. Man muss alles           damit rühmen. Daher finde ich es ab-
 Kultur und jüdischen Lebens in Öster- tun, um die Zahlen zu senken. Ich bin      solut richtig, dass die Verteidigungs-
 reich lege, bedeutet nicht, dass ich die aber auch davon überzeugt, dass sich    ministerin zusätzlich eine Kommis-
 andere Seite nicht auch sehe.             Erfolg nicht allein an der Statistik   sion eingerichtet hat. Wir nehmen den
                                           messen lässt.                          Fall in der Bundesregierung sehr ernst
 Sowohl eine vom Nationalrat in Auftrag                                           und werden in Zukunft harte Konse-
 gegebene Studie als auch die von der Sie sprechen hier besonders die Ver-        quenzen gesetzlich verankern. Wer
 Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) schwörungstheorien an?                       weiß, dass seinem Verhalten keine
 regelmäßig veröffentlichten Zahlen kon-      Selbstverständlich. Diese sind      schwerwiegenden Konsequenzen fol-
 statieren zunehmenden Antisemitismus. furchtbar, wie beispielsweise absur-       gen, sieht wenig Grund, es nicht zu tun.
 Gleichzeitig ist die Bundesregierung seit deste Geschichten und Cartoons dar-
 einigen Jahren im Kampf gegen den An- über, wo und wie sich das Coronavirus      Die besondere Verantwortung Öster-
 tisemitismus besonders engagiert.         besser und schneller vermehrt. Das     reichs gegenüber der jüdischen Bevölke-
     Die Zunahme der antisemitischen hat mich stark an meine Besuche in           rung spiegelt sich auch in der Förderung
 Vorfälle in Österreich, aber auch in Yad Vashem erinnert, wo ja dokumen-         des jüdischen Lebens und seiner kultu-
 Europa ist besorgniserregend. Man tiert wird, wie sich nationalsozialisti-       rellen Entfaltung wider. Was geschieht
 muss festhalten, dass die Pandemie in sche Propaganda hinter vermeintlich        konkret, um jüdische Kultur sichtbarer
 den letzten beiden Jahren leider we- harmlosem Humor und in Karikaturen          zu machen?
 sentlich dazu beigetragen hat – und versteckte und so den Weg in die Ge-            Wir haben zunächst einmal das
 zwar sowohl in der realen als auch vor sellschaftsfähigkeit gefunden hat. Und    österreichisch-jüdische Kulturförder-
 allem in der digitalen Welt. Ich erin- ähnlich ist es losgegangen in der Pan-    gesetz beschlossen, mit einer Förde-
 nere mich gut an die ersten Corona- demie. Das war für mich ein Alarmzei-        rung von vier Millionen Euro pro Jahr
 Demonstrationen, wo Antisemitismus chen: In welcher Gesellschaft leben           für die Israelitische Religionsgesell-
 und Holocaustverharmlosung offen wir, in welche Richtung gehen wir und           schaft (IRG). Das war ein Meilenstein.
 auf der Straße vor sich hergetragen was können wir dieser Entwicklung            Konkret geht es darum, diese Mittel für
 wurden: Mit Schildern „Impfen macht möglichst effektiv entgegensetzen.           die Förderung des Austausches mit
 frei“, dem Tragen des Davidsternes als                                           anderen Religionsgemeinschaften, für
„Judenstern“ oder der Vergleich des Wie passt in dieses Bild der Fall jenes       die Förderung kultureller Einrichtun-
 Covid-Impfstoffes mit Zyklon B. Es österreichischen Unteroffiziers in selbst     gen und Veranstaltungen und für die
 ist erschreckend, dass so etwas heute gebastelter SS-Uniform, der mit dem        Verständigung in der Gesellschaft zu
 noch passiert, dagegen müssen wir Hitlergruß seine Kameraden schockierte,        verwenden. Es geht natürlich auch um
 ankämpfen. Ich möchte aber trotzdem aber mit einem milden Urteil davonkam        die Sicherheit, aber der Hauptteil der
 sagen, dass Zahlen nicht alles abbil- und nicht einmal vom Dienst suspen-        Förderungen betrifft das jüdische Kul-
 den können. Die Entwicklungen allein diert wurde?                                turerbe. Ich bin fünf Jahre in der Spit-
 an Zahlen festzumachen, halte ich für        Das ist untragbar und muss mit      zenpolitik, man kann in so einer Posi-
 zu wenig.                                 einer Nulltoleranzpolitik verfolgt     tion schon vieles bewegen, indem man
                                           werden. Ich bin hier sowohl mit der    Dinge anspricht und sichtbar macht.
 Warum?                                    Justizministerin als auch mit der
    Weil ich – und ich bin jetzt schon Verteidigungsministerin einig, dass        Zum Beispiel?
 viele Jahre in diesem Bereich tätig – diese Nulltoleranzpolitik auch gelebt        Besonders stolz bin ich auf die
 sehe, dass die Sensibilität gegenüber werden muss. Dieser Fall hat aufzeigt,     Konzertreihe Klangwelten (kuratiert
 antisemitischen Vorfällen ebenfalls dass es notwendig ist, im Gesetz nach-       von NU-Herausgeberin Danielle Spera,

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Dossier: Judentum und andere Religionen - Gemeinsames und Trennendes Zirkusduft: Unterwegs mit Anatoli Akerman
Aktuell

      Anm.) im Bundeskanzleramt, wo wir schaft (IRG) legt dem BKA jedes Jahr und zur Bewahrung des jüdischen Erbes,
      jüdische Kunst und Kultur vor den einen Bericht über die Verwendung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur
      Vorhang holen und mit einer ganz der Gelder vor. Außerdem stehen wir ausgetauscht?
      gezielten Einladungspolitik, nämlich mit der IRG regelmäßig in Kontakt             Es war mir eine besondere Ehre,
      einer Mischung aus Journalisten und und evaluieren die Mittelvergabe. im September 2022 Israels Staatsprä-
      Journalistinnen, Vertretern von NGOs Was wir dabei sehen, ist, dass in den sidenten Isaac Herzog zu treffen. Er
      und anderen Multiplikatoren sowie ei- Jahren 2020 und 2021 vor allem der sieht unseren Einsatz im Kampf ge-
      ner Übertragung im ORF zeigen, dass Schutz von jüdischen Einrichtungen gen Antisemitismus mit großer Zu-
      jüdisches Leben selbstverständlich in große Priorität hatte – der Anschlag in stimmung und bekundete sein Inter-
      der Mitte unserer Gesellschaft dazu- der Wiener Innenstadt und die Covid- esse, Österreich besuchen zu wollen.
      gehört. Ich glaube, man kann nur so Pandemie haben dies notwendig ge- Die vielen hochrangigen Besuche in
      darauf aufmerksam machen. Das ist macht. Die Verteilung der Mittel war den letzten Monaten sind Zeugnis der
      etwas, das nie abgeschlossen ist, son- dadurch bestimmt und obliegt aus- guten bilateralen Beziehung zwischen
      dern wo es immer wieder von neuem schließlich der IRG.                          Israel und Österreich. Mich freut es be-
      die Kreativität braucht.                                                        sonders, dass unsere Arbeit im Kampf
                                              Sie haben vorhin Ihre mehrmaligen Be- gegen Antisemitismus und für ein pro-
      Wie werden die Mittel aus dem öster- suche in Yad Vashem erwähnt. Haben sperierendes jüdisches Leben so viel
      reichisch-jüdischen Kulturfördergesetz Sie in Israel auch Mitglieder der israe- Anklang in Israel findet. Österreich
      verteilt? Und können Sie die Förderun- lischen Regierung getroffen und sich ist mit seiner Nationalen Strategie im
      gen in einem ersten Schritt evaluieren? über die österreichischen Bemühungen Kampf gegen Antisemitismus Vorrei-
         Die Israelitische Religionsgesell- im Kampf gegen den Antisemitismus ter in Europa.

            SKRUPELLOS?
            Clemens (48) vertritt als Anwalt kostenlos Geflüchtete.

            Schau genau hin, bevor du ein Urteil fällst.
            #WirSitzenAlleImSelbenZug                                               HEUTE. FÜR MORGEN. FÜR UNS.

             8     4 | 2022
Dossier: Judentum und andere Religionen - Gemeinsames und Trennendes Zirkusduft: Unterwegs mit Anatoli Akerman
Aktuell

                     Vermutlich sind Juden auch
                     am Klimawandel schuld
KOMMENTAR VON ANDREA SCHURIAN                ausstellung Loving Others im Wiener Inspirationsquelle für diese 2020 in
                                             Künstlerhaus vertreten, von der Ham- Buchform gegossene Handlungsan-

M
           an gendert. Schreibt Aste-        burger Kunstuniversität wurden zwei leitung zu gewaltbereitem Widerstand
           riske. Spricht glottal plosive    von ihnen als Gastlektoren engagiert. dienen dem bekennenden Hamas-
           Pausen. Mobbt Lehrende           „In der westlichen Welt ist der Anti- Aficionado, der Israel als „zionistische
so lange als transphob, bis sie, wie         semitismus rechts, ewiggestrig und Entität“ ablehnt und jüdische Israelis
die britische Philosophieprofessorin         modrig konnotiert, der Antizionismus konsequent als „Siedler“ bezeichnet,
Kathleen Stock, den Job hinschmei-           hingegen gilt als links, verantwor- palästinensische Sabotageakte. Alter
ßen. Lädt Referenten wie die Biologin        tungsbewusst, zeitbezogen“, schreibt Schwede! Echt jetzt?
Marie-Luise Vollbrecht aus, die an der       die Politologin Barbara Serloth auf der    Zu den schärfsten Kritikern von
Berliner Humboldt-Universität unter          Online-Plattform Mena-Watch, einem Andreas Malm, der 2010 der trotzkisti-
dem Titel „Geschlecht ist nicht gleich       in Wien ansässigen Nahost-Thinktank. schen „Sozialistischen Partei“ seines
(Ge)schlecht. Sex, Gender und warum          Und siehe da, die Wiener Akademie Landes beitrat, zählt übrigens just die
es in der Biologie nur zwei Geschlech-       der bildenden Künste tritt mit ihrer trotzkistische Alliance for Workers’
ter gibt“ eigentlich eh nur biologisches     Einladungspolitik regelmäßig den Liberty: Malm verfolge eine autoritäre
Faktenwissen weitergeben wollte.             Wahrheitsbeweis für diese Diagnose Klimapolitik und kaschiere mit mar-
Schreit die Feministin Alice Schwar-         an: Anfang Oktober durfte Ruangrupa xistischer Phraseologie eine durch
zer als antimuslimische Rassistin nie-       zum Thema Post-Documenta: Wo ste- und durch antidemokratische, arbei-
der, so geschehen an der Universität         hen wir? laut über mangelnde Reife terfeindliche Position: „Aber sein ab-
für angewandte Kunst in Wien. Nur bei        Europas für ihr kuratorisches Konzept scheulichster Fehler ist der Vorschlag,
Antisemitismus gibt es in der Kunst-         nachdenken. Zu ihrem „Aktionstag palästinensischen ‚Widerstand‘ vom
und Wissenschaftsszene offenbar              Secessionsgarten“ wenige Wochen Typ Hamas in die Klimapolitik zu im-
wenig Berührungsängste, wobei zeit-          später lud die Akademie unter ande- portieren.“

                                                                                    J
genössische Judenfeindlichkeit gern          rem auch den schwedischen Human-              ohan F. Hartle, seit 2019 Rektor
in der Maskerade des postkolonialen          ökologen und Umweltaktivisten An-             der Akademie, sah das freilich
Diskurses daherkommt. Mit BDS zu             dreas Malm ein (und nach Protesten            diametral anders. Solche Dis-
sympathisieren, ist radikal schick.          dankenswerterweise wieder aus), um kurse seien „absolut notwendiger Be-
BDS (Boykott, Desinvestitionen und          „Überlegungen zu nachhaltigem Agie- standteil einer dringend notwendigen
Sanktionen) ist das Gemeinschaftsre-         ren, zivilem Ungehorsam und alter- Debatte zur Klimakrise, deren Fol-
gelwerk von 171 palästinensischen Or-        nativen Formen der Aneignung von geschäden nur wenige so drastisch
ganisationen, zahlreiche NGOs unter-         öffentlichen Räumen“ anzustellen. beschreiben wie Malm“, schreibt er
stützen die Absichtserklärung, Israel        Friedliche Proteste findet Malm öde, in einem Standard-Gastkommentar:
wirtschaftlich, kulturell und politisch      er präferiert zur Klimarettung gezielte „Wer sich wissenschaftliche und poli-
zu vernichten.                               Sachbeschädigungen nach Terrori- tische Debatten wünscht, in denen es
   Zuletzt hat sich die Kasseler Welt-       stenart.                                 keine Ambivalenz und keine Fehler

                                            W
kunstausstellung Documenta 15 mit                      ie man sich das vorstellen gibt, wünscht sich in Wahrheit keine
einer ganzen Reihe judenfeindlicher                    darf, wird gerade in Museen Debatten… Wir haben in den Univer-
Werke von Kunstkollektiven aus dem                     weltweit gezeigt: Aktivisten sitäten die Möglichkeit, kritisch hin-
globalen Süden den wenig schmei-             und Aktivistinnen schütten Paradeis- zuschauen, zu kommentieren und zu
chelhaften Beinamen „Antisemita“ (©          soße oder Erdäpfelpüree auf Meister- rahmen. In dieser Situation rahmen
Der Spiegel) redlich verdient. Nun wer-      werke. Bringt zwar keine Sympathie- wir bewusst und stellen zur Diskus-
den die dafür verantwortlichen Ver-          punkte für die Klimabewegung, aber sion – vor allem das, was gesagt wird.“
treter des insgesamt fünfzigköpfigen         macht nichts. Und, ja, wäre sicher         Ja dann! Könnte ja nächstes Mal eh
indonesischen Kuratorenkollektivs            bombig geworden, wenn Malm Passa- auch ein rechtsradikaler Holocaust-
Ruangrupa geradezu begeistert in der         gen aus seinem Buch vorgelesen und leugner kunstakademisch gerahmt
westlichen Kunstwelt weitergereicht,         darüber informiert hätte, Wie man werden. Er muss halt nur scharf genug
weil: ach so radikal! Unter anderem ist      eine Pipeline in die Luft jagt. Kämpfen vor Erderwärmung und Klimakollaps
Ruangrupa in der aktuellen Gruppen-          lernen in einer Welt in Flammen. Als warnen.

                                                                                                     4 | 2022    9
Dossier: Judentum und andere Religionen - Gemeinsames und Trennendes Zirkusduft: Unterwegs mit Anatoli Akerman
Aktuell
    © NICOLE SIX UND PAUL PETRITSCH, 2022

                                            „Das temporäre Kunstwerk ist ein auffälliges, weithin sichtbares Zeichen, das sowohl einen tatsächlichen als auch einen
                                            gedanklichen Raum öffnet, in dem differenzierendes Nachdenken über den politischen Populismus der Vergangenheit und
                                            Gegenwart möglich ist“, meint Wiens Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler.

                                            Was bestimmt
                                            kein Denkmal ist
                                            Bis zur Realisierung eines permanenten Denkmals wird die temporäre Installation
                                            „Lueger Temporär“ auf die Debatte über das Lueger-Denkmal reagieren. Drei
                                            Positionen zur endgültigen Entscheidung über eine vorläufige Kontextualisierung.

                                            Bunter Abenteuerspielplatz                 sierung sollte erst im Oktober 2022         Prozesse wurden Nicole Six und Paul
                                                                                       veröffentlicht werden. Manche aber          Petritsch mit einer Installation beauf-
                                            VON THOMAS TRENKLER
                                                                                       brachte der verherrlichende Umgang          tragt. Und wenn die Stadtregierung
                                                                                       mit dem populären wie populistischen        etwas will, dann klappt das auch ganz
                                               Die Kulturstadträtin Veronica Kaup-     Bürgermeister, der sich erfolgreich des     problemlos mit den Genehmigungen.
                                            Hasler (SPÖ) scheint die Sache in die      strukturellen Antisemitismus bedient        Welche Hürden hatten Eduard Freud-
                                            Länge ziehen zu wollen: Nach Jahren        hatte, zum Murren: Es wurde ein kate-       mann und seine Mitstreiterinnen einst
                                            des Nachdenkens kündigte sie im            gorischer Denkmalsturz gefordert. In        zu überwinden, als sie auf dem Schil-
                                            April 2021 an, eine Lösung für das um-     dieser eher misslichen Situation – die      lerplatz das Denkmal für den NS-Dich-
                                            strittene Karl-Lueger-Denkmal zu er-       Stadträtin hält nicht viel von „cancel      ter Josef Weinheber kontextualisieren
                                            arbeiten. Im Rathaus wurde zu einem        culture“ – entschloss sich die Stadt,       und die einzementierte Gesinnung der
                                            runden Tisch eingeladen, ansonsten         das Karl-Lueger-Denkmal zunächst            Stadt entlarven wollten! Damals sorgte
                                            passierte nichts: Die Ausschreibung        temporär zu kontextualisieren. Ohne         sich der Magistrat, dass man in die
                                            für eine permanente Kontextuali-           Ausschreibung, ohne demokratische           Vertiefung rund um den absurd gro-

                                                   10     4 | 2022
Aktuell

                 ßen Betonsockel fallen könnte. Aber          „in keiner Weise und ganz bestimmt                   dings nicht, sich nur um den überle-
                 jetzt? Gibt es zu Ehren von Lueger ei-       nicht [...] auf die Problematik der an-              bensgroßen Bronze-Koloss des „schö-
                 nen fröhlich-bunten Abenteuerspiel-          tisemitischen Geschichte Wiens und                   nen Karl“ mit dem gepflegten Bart
                 platz, den man nur all zu leicht be-         Luegers“, hieß es dazu in einer Aus-                 zu kümmern. SPÖ-Kulturstadträtin
                 klettern kann. Da wird es wieder eine        sendung. „Vielmehr wird der Platz                    Veronica Kaup-Hasler trägt aufgrund
                 (Mahn-)Wache brauchen! (Dies schrieb         erneut mit den ,Errungenschaften‘                    der rabiat antisemitischen Wiener
                 der Autor am 12. Oktober; bis zum Re-        Luegers versehen und damit die Eh-                   Geschichte eine besondere Verant-
                 daktionsschluss von NU ist allerdings        rung seines politischen Wirkens nicht                wortung auch für den Platz, der immer
                 nichts Auffälliges passiert, Anm.)           beendet, sondern mit bunten Farben                   noch – seit 78 Jahren! – nach Karl Lue-
                    Die Laubsäge-Arbeit im Riesen-            geschmückt und der Antisemitismus                    ger benannt ist, einem fanatischen Ju-
                 format, 39 Meter lang, präsentiert im        damit verdeckt.“                                     denhasser, Warner vor der „Verjudung
                 Originalmaßstab „alle auffindbaren              Und auch die Wiener Grünen orten                  der Wiener Universitäten“, der Juden
                 Lueger-assoziierten Ehren- und Denk-         „eine weitere Überhöhung der Figur                   als „Raubtiere in Menschengestalt“
                 mäler von Wien“ anhand ihrer Umris-          Lueger“: Man hätte jetzt, im Jahr vor                und „Gottesmördervolk“ bezeichnete.
                 slinien, darunter Reliefs, die Lueger-       der finalen Neugestaltung des Lueger-                    Inkonsequenterweise wurde vor 18
                 Kirche und andere Bauwerke. Auf dem          Platzes, die Chance, eine öffentliche                Jahren nur der Universitätsring um-
                 Karl-Lueger-Platz soll nun zu erken-         Debatte zur Lueger-Statue zu führen.                 benannt, an anderen Orten ging der
                 nen sein, wie sich Lueger auf unter-         Stattdessen stehe hier „ein riesiges                 üppige Lueger-Huldigungskult halb-
                 schiedlichen Ebenen „in das Gedächt-         Objekt, das quasi die Recherche-                     herzig-österreichisch und geschichts-
                 nis der Stadt eingeschrieben“ habe.          Ergebnisse“ von Nicole Six und Paul                  vergessen weiter, wie die kürzlich er-
                    Dieses bis zu elf Meter hohe „dis-        Petritsch visualisiere. Lueger werde                 richtete Installation Lueger Temporär
                 kursive Schaulager“ ist damit aber           mit der neuen Installation nochmals                  ein Jahr lang aufzeigen soll. Sie do-
                 eine völlige Themenverfehlung, die           größer gemacht.                                      kumentiert, wie der hetzende „Radau-
                 keine Kritik an den Einstellungen des                                                             Antisemit“ und „Vulgär-Populist“ im-
                 Bürgermeisters übt, sondern Luegers          Der Beitrag erschien am 12. Oktober 2022 im Kurier   mer noch der fesche „heimliche Kai-
                 Ruhm noch mehrt: Die Arme stolz auf          und wurde für NU erweitert.                          ser“ ist, der früher sogar „Herrgott von
                 die Brust gelegt, blickt die kupfergrüne                                                          Wien“ genannt wurde. Obwohl ihn die
                 Statue mit großem Wohlgefallen auf                                                                Vergangenheitsforschung zum weit-
                 all die anderen Ehrenbezeugungen –                                                                aus einflussreicheren Wiener Wegbe-
                 und auch auf die Umrisslinien einer          Endlich umbenennen!                                  reiter des NS-Vernichtungs-Antisemi-
                 anderen Lueger-Statue.                                                                            tismus erklärt als beispielsweise Ritter
                                                              VON WALTER KÖNIG
                    Bei der „Einweihung“ – eben am 12.                                                             von Schönerer. So tiefgreifend und
                 Oktober – forderten Vertreterinnen                                                                nachhaltig war die Effektivität der NS-
                 und Vertreter der Jüdischen Hoch-               Nach fast hundert Jahren wird das                 Ideologie, dass sie bis heute nachwirkt
                 schülerschaft mit Plakaten: „Antise-         einzige Denkmal, das je ein Wiener                   und – sollte nicht immer wieder echte
                 mitismus thematisieren – nicht bunt          Bürgermeister bekam, künstlerisch                    Vergangenheitsbewältigung stattfin-
                 dekorieren.“ Die Installation verweise       umgestaltet werden. Es genügt aller-                 den – noch weiter nachwirken wird.
                                                                                                                   „Groß-Wien darf nicht Groß-Jerusalem
                                                                                                                   werden!“ – Sätze wie diese, mit denen
© PID / VOTAVA

                                                                                                                   Lueger aufwiegelte, sind auch heute
                                                                                                                   Parolen.
                                                                                                                       Radikale Worte gebären radikale
                                                                                                                   Taten, zumal derzeit ein aggressiver
                                                                                                                   Sprachgebrauch zunimmt.
                                                                                                                       Elf Seiten widmete Adolf Hitler in
                                                                                                                   Mein Kampf seinem Vorbild Lueger.
                                                                                                                   Später kopierte er dessen gezielt ein-
                                                                                                                   gesetztes Erfolgskonzept für eine anti-
                                                                                                                   jüdische Massenbewegung. „Er ist der
                                                                                                                   gewaltigste deutsche Bürgermeister
                                                                                                                   aller Zeiten,“ schrieb Hitler begeistert
                                                                                                                   über diesen „begnadeten Massenpo-
                                                                                                                   litiker und hinreißenden Rhetoriker“
                                                                                                                   und lobte dessen „unnachahmliches
                                                                                                                   Gefühl für Massen-Stimmungen und
                                                                                                                   -Bedürfnisse“. Hitler nahm 1910 auch
                                                                                                                   an der Prunk-Beerdigung seines Idols,
                 „Ich bin gegen die Entfernung von Geschichte aus dem öffentlichen Raum“, meint                    das sein Weltbild prägte und radikali-
                 Bezirksvorsteher Markus Figl. „Mit der temporären künstlerischen Installation wird                sierte, am Zentralfriedhof teil. Bei aller
                 eine differenzierte Betrachtung der Persönlichkeit von Dr. Karl Lueger ermöglicht.“               seinerzeitigen Popularität Luegers ist

                                                                                                                                     4 | 2022     11
Aktuell

      „Lueger wurde vom sozialistischen Bürgermeister Karl Seitz
      sowie zahlreichen jüdischen, der Sozialdemokratie nahestehen-
      den Publizisten als bedeutender Modernisierer Wiens geschätzt.“

      ein unkritisches Gedenken mit einer        Intervention allein läuft Gefahr, die     zumindest umzuschreiben. Politischer
      modernen Großstadt nicht mehr in           Menschen abzustumpfen. Schämen            Ikonoklasmus ist seit jeher auf Zerstö-
      Einklang zu bringen. Es reicht.            müsste sich die Politik für feige und     rung aus. Eine Beseitigung oder Ver-
         Ein konkreter nachhaltiger Akt          halbe Lösungen.                           änderung des Lueger-Denkmals wäre
      wäre die Löschung der Bezeichnung             Ich rege daher an, den Platz nach      Kultur-Vandalismus.
      „Lueger-Platz“.                            einer Widerstandkämpferin zu be-             Lueger, aus ärmlichen Verhältnis-
         Es geht dabei nicht um die Aus-         nennen und damit symbolisch einen         sen stammend, galt im dritten Bezirk,
      löschung eines Christlich-Sozialen         Ort zu schaffen, der zum Nachdenken       wo er seit 1876 seine Kanzlei hatte, als
      durch linken Gesinnungsterror, wie         auffordert: Rosa Jochmann. In Kaiser-     „Anwalt der kleinen Leute“. Hier war
      oft parteipolitisch polemisiert wird. Es   ebersdorf hat sie eine Tafel am Stadt-    der jüdische Arzt Dr. Ignaz Mandel als
      geht um die Suche nach Sinnstiftung        rand. Sie gehört ins Herz der Stadt,      „Armenmediziner“ ungemein beliebt.
      und Umfunktionierung dieses Platzes        um Debatten über Diskriminierung,         Mandel war auch Bezirkspolitiker und
      in einen Ort des Diskurses und der Ge-     Rassismus, Antisemitismus und zeit-       Luegers großes Vorbild. Zwischen den
      schichtsaufarbeitung. Bis jetzt war er     gemäße Formen von moderner Erin-          beiden bestand eine enge persönliche
      leider auch Treffpunkt für Rechtsex-       nerungskultur im Stadtbild anzuregen.     und politische Verbindung. Jahre spä-
      tremisten.                                                                           ter, als Lueger bereits Parteiführer der
         Umbenennungen würden die Ge-                                                      Christlich-Sozialen war, wurde ihm
      schichte tilgen, wenn Unliebsame zu-                                                 seine Beziehung zu jüdischen Freun-
      gunsten von „Gutmenschen“ aus der                                                    den vorgeworfen. Seine Antwort ist be-
      Öffentlichkeit entfernt würden, sagen      Zivilcourage gefordert                    kannt: „Wer ein Jud ist, das bestimme
      die Gegner, obwohl das Denk- und                                                     ich.“ Den präexistenten Antisemitis-
                                                 VON FRITZ RUBIN-BITTMANN
      Mahnmal sowieso bleibt und keines-                                                   mus der Menschen nutzte er zur Errei-
      wegs „entehrt“, sondern „kontextuali-                                                chung seiner politischen Ziele.
      siert“ wird. Der ewige Lueger-Disput          Stefan Zweig hat in seiner Welt von       In seiner Zeit als Bürgermeister von
      müsse damit beendet sein, sagt die         Gestern Karl Lueger eines der schön-      1897 bis 1910 machte er Wien zu einer
      Stadträtin und möchte auch den Na-         sten Denkmäler gesetzt – in voller        der großen Metropolen Europas, reali-
      men des Platzes beibehalten. Warum?        Kenntnis seiner politischen Ambiva-       sierte zahlreiche kommunale Großpro-
      In Zeiten, in denen Verschwörungs-         lenzen und Ambiguitäten: „Er konnte       jekte, verwirklichte die zweite Wiener
      mythen, Rassismus und autokratische        populär sprechen, war vehement und        Hochquellenwasserleitung, kommu-
      Strukturen wieder im Aufwind sind, ist     witzig, aber selbst in den heftigsten     nalisierte Gas- und Elektrizitätsver-
      es wichtig, sich mit der ältesten Ver-     Reden überschritt er nie den Anstand…     sorgung und die Straßenbahnen. Er
      schwörungstheorie zu beschäftigen:         und sein offizieller Antisemitismus       war im sozialen Bereich engagiert und
      dem Antisemitismus.                        hat ihn nie gehindert, seinen frühe-      lies das Versorgungsheim Lainz und
         Wir machen uns schuldig, wenn in        ren jüdischen Freunden wohlgesinnt        die Psychiatrie Steinhof bauen.
      unserer Stadt Menschen namentlich          und gefällig zu bleiben. Als seine Be-       Als Bürgermeister erwies er den
      geehrt werden, die gegen Juden oder        wegung schließlich den Wiener Ge-         Wiener Juden Respekt und Wertschät-
      andere gesellschaftliche Gruppen het-      meinderat eroberte und er – nach Ver-     zung. Unter seiner Regentschaft gab es
      zen. Dagegen heißt es Widerstand lei-      weigerung der Sanktionierung durch        keine Diskriminierung jüdischer Bür-
      sten. Widerstandskämpferinnen und          Kaiser Franz Joseph, der die antise-      ger. Lueger wurde vom damaligen so-
      -kämpfer sind natürlich ein unbeque-       mitischen Tendenzen verabscheute          zialistischen Bürgermeister Karl Seitz
      mes Ärgernis. Sie zeigen Handlungs-        – zum Bürgermeister ernannt wurde,        sowie zahlreichen jüdischen, der So-
      alternativen auf. Das darf es offenbar     blieb seine Stadtverwaltung tadellos      zialdemokratie nahestehenden Publi-
      nicht geben. Wenn alle ausnahmslos         gerecht und sogar vorbildlich demo-       zisten als bedeutender Bürgermeister
      schuldig sind, ist es keiner. Wir konn-    kratisch; die Juden, die vor diesem       und Modernisierer Wiens geschätzt.
      ten ja nicht anders.                       Triumph der antisemitischen Partei        Er war ein typischer Repräsentant des
         Schuld kann von den Opfern verzie-      gezittert hatten, lebten ebenso gleich-   Munizipialsozialismus: „Dem kleinen
      hen werden. Viel wichtiger ist Scham,      berechtigt und angesehen weiter.          Mann muss geholfen werden.“
      aus der                                    Noch war nicht das Hassgift und der          Mit dem Auftreten der Alldeutschen
         konkrete Verantwortung folgt.           Wille zur gegenseitigen restlosen Ver-    unter der Führung des Abgeordneten
      Für Denkmal- und Platzveränderung          nichtung in den Blutkreislauf der Zeit    Georg Ritter von Schönerer wurde
      braucht es politischen Mut, histori-       gedrungen.“ Es wundert mich, dass die     der Rassenantisemitismus zum Par-
      sches Bewusstsein und Fingerspit-          Anhänger der Cancel Culture nicht         teiprogramm erhoben. „Gegen Juda,
      zengefühl. Eine halbherzige Statuen-       fordern, diese Passage zu löschen oder    Habsburg und Rom bauen wir den

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Aktuell

                                    deutschen Dom“ war eine Parole von          linken Auge ist man blind, mit dem        stallation kosten, die an Hrdlickas
                                    Schönerer, eine andere richtete sich        rechten Auge schaut man durch eine        berühmtes Pferd erinnert. Fraglos ist
                                    gegen assimilierte und konvertierte         Lupe. Also soll das Lueger-Denkmal        sie besser als die kalligrafische Be-
                                    Juden: „Was der Jude glaubt, ist einer-     als Symbol des Antisemitismus be-         sprayung des Denkmalsockels mit
                                    lei, in der Rasse liegt die Schweinerei.“   seitigt werden, nicht aber die Renner-    dem Begriff „Schande“.
                                    1891 zogen bereits dreizehn dekla-          Büste am Ring. Dabei war Karl Renner         Es ist leicht, sich 77 Jahre nach
                                    rierte Antisemiten als Abgeordnete          im Gegensatz zu Lueger nicht aus op-      Ende des Zweiten Weltkriegs als Wi-
                                    ins Parlament ein. Im österreichischen      portunistischen Gründen Antisemit.        derstandskämpfer gegen den Natio-
                                    Reichsrat und später im Parlament der       Auch nach der Schoa hielt er im Parla-    nalsozialismus zu positionieren, für
                                    Ersten Republik gab es wiederholt wü-       ment antisemitische Reden, war ohne       tote Juden Gedenkfeiern zu organi-
                                    ste Judendebatten, in denen sich Karl       Mitleid für sechs Millionen ermordete     sieren und dabei den gegenwärtigen
                                    Renner als ausgewiesener Judenfeind         Juden und forderte überlebende jüdi-      muslimischen Antisemitismus zu ba-
                                    hervortat. In rabiater und flegelhafter     sche Sozialdemokraten auf, im Exil zu     gatellisieren. Dieser ist ein Tabuthema.
                                    Weise beschimpfte er die Juden, so-         bleiben, da man sie in Österreich nicht   Aber es wäre wichtig, diesen neuen
                                    dass eine jüdische Zeitung monierte:        brauchen könne.                           Antisemitismus mit jenen Energien zu
                                    „Anscheinend können Antisemitis-                In diesem Sinne halte ich den Vor-    bekämpfen, die gegen Lueger aufge-
                                    mus und Sozialismus Hand in Hand            schlag des Historikers und überzeug-      bracht und verschwendet werden. Die
                                    miteinander gehen.“                         ten Sozialdemokraten Oliver Rathkolb,     muslimischen Judenhasser kennen
                                        Renner war ein Opportunist par          den Renner-Ring in Parlaments-Ring        weder den Namen Lueger, noch wis-
                                    excellence. 1917 ätzte Friedrich Adler,     umzubenennen, für eine ausgezeich-        sen sie, wer dieser war. Blind für das
                                    Karl Renner sei der Lueger der Sozial-      nete Idee.                                zu sein, was sich gegenwärtig abspielt,
                                    demokratie. Er verherrlichte die Politik        Die Stadt Wien hat vor kurzem         erinnert an die 1930er Jahre, als man
                                    der Nationalsozialisten, verehrte Hit-      entschieden, das Lueger-Denkmal zu        die politischen und gesellschaftlichen
                                    ler und betrieb Anschlusspropaganda         belassen und künstlerisch zu kontex-      Gefahren ebenfalls nicht rechtzeitig
                                    für Hitlerdeutschland. Er diente sich       tualisieren. 2023 soll dieses Konzept     erkannte.
                                    dem Nationalsozialismus wiederholt          realisiert werden. In der Zwischenzeit       Gegen den toten Lueger anzukämp-
                                    an und denunzierte Menschen. Doch           wird eine Holzkonstruktion von bis zu     fen, erfordert keinen Mut. Gegen die
                                    Renners und Luegers Antisemitismus          elf Meter Höhe und 39 Meter Länge vor     Judenfeinde der Gegenwart zu kämp-
                                    wird von Vertretern der Cancel Culture      der Lueger-Statue aufgestellt. Etwa       fen, erfordert hingegen Verantwor-
                                    mit zweierlei Maß gemessen: Auf dem         100.000 Euro soll diese temporäre In-     tungsbewusstsein und Zivilcourage.
© IRIS RANZINGER _ KÖR GMBH, 2022

                                    Alle auffindbaren Lueger-assoziierten Ehren- und Denkmäler an einem Ort.

                                                                                                                                           4 | 2022     13
Aktuell

                                                                                                                                © IKG TIROL UND VORARLBERG
      Gedenkstätte am Waldfriedhof in Seefeld, von Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg 2016 eingeweiht.

      Im Westen viel Neues
                                               vor dem Krieg Sitz der IKG war, befand      die fünfhundert Juden in der Tiroler
      Die Geschichte der Jüdin-
                                               sich auch der Betsaal, der in den No-       Landeshauptstadt. Es gab eine Syn-
      nen und Juden in Tirol                   vemberpogromen 1938 verwüstet               agoge; doch das jüdische Gemeinde-
      und Vorarlberg war wie in                wurde. Das Haus selbst wurde wäh-           leben endete mit dem Anschluss an
                                               rend des Krieges durch einen Bom-           Hitler-Deutschland jäh. Während der
      Österreich üblich: geduldet,
                                               bentreffer komplett zerstört und erst       Pogromnacht vom 9. auf den 10. No-
      verachtet, vertrieben und                in den 1990er Jahren wieder aufgebaut.      vember 1938 wurden die Räumlich-
      wieder angesiedelt. Doch                 Jetzt befinden sich dort die Synagoge,      keiten in der Sillgasse verwüstet und
                                               ein Veranstaltungsraum und die Büro-        Innsbrucker Juden ermordet.
      in den westlichen Bundes-
                                               räumlichkeiten der Gemeinde.                   Nach 1945 kehrten einige Juden
      ländern entwickelt sich ein                 Die Geschichte der Juden in Tirol        wieder zurück, und 1952 wurde die
      neues jüdisches Selbst-                  und Vorarlberg ist wie in Österreich        Kultusgemeinde Innsbruck für Tirol
                                               üblich: geduldet, verachtet, vertrieben     und Vorarlberg neuerlich gegründet.
      bewusstsein. Ein Lokal-
                                               und wieder angesiedelt. Die ersten          Es entwickelte sich ein neues Selbst-
      augenschein.                             Juden kamen im 13. Jahrhundert mit          bewusstsein, vor allem ab den späten
                                               den Görzer Grafen in die Grafschaft         1980er Jahren unter der IKG-Langzeit-
      VON RENÉ WACHTEL
                                               Tirol. Um 1617 entstand eine jüdische       präsidentin und nunmehrigen Ehren-
                                               Gemeinde in Hohenems in Vorarlberg,         präsidentin Esther Fritsch. Gemein-
         In einem unscheinbaren Haus in die bald zum jüdischen Zentrum der                 sam mit Bischof Reinhold Stecher
      der Sillgasse mitten in Innsbrucks Region wurde. Doch im 19. Jahrhun-                gründete sie 1989 das Tiroler Komitee
      Zentrum empfangen mich Günter dert wurde Innsbruck immer wich-                       für christlich-jüdische Zusammen-
      Lieder, seit 2016 Präsident der Israeli- tiger, und viele Juden zogen hierher.       arbeit. Stecher veranlasste 1994 per
      tischen Kultusgemeinde für Tirol und Auch der Rabbiner Josef Link übersie-           Dekret das Verbot des „Anderl-Kultes“,
      Vorarlberg, und Stefan Gritsch, Sekre- delte 1914 von Hohenems nach Inns-            der seine Grundlage in einer seit dem
      tär der IKG. In dem Gebäude, das schon bruck. Zu dieser Zeit lebten schon an         Mittelalter kursierenden Ritualmord-

             14     4 | 2022
Aktuell
© IKG TIROL UND VORARLBERG/FLORIAN LECHNER

                                             Mehrzwecksaal und Bibliothek im neuen     Sind stets um alle Gemeindemitglieder bemüht: Präsident Günter Lieder und seine
                                             Gemeindezentrum der IKG.                  beiden Vizepräsidenten Emil Chamson (li.) und Yitzhak Feuerstein (re.)

                                             legende um das „Anderl von Rinn“ sonders stolz ist Präsident Lieder auf               schieden. Sie verweigerte ihn mit dem
                                             hatte. Im März 1993 schließlich konnte die Chanukka-Ausstellung im Ferdi-             Hinweis, ihr Großvater habe ihr bei-
                                             die Synagoge in der Sillgasse einge- nandeum sowie das kleine, aber feine             gebracht, keinem Juden die Hand zu
                                             weiht werden.                             Jüdische Filmfestival in Innsbruck          geben.“
                                                                                       im November. Es sei schön, wie die             Doch je informierter eine Gesell-
                                             Menora im Zentrum                         Gemeindemitglieder die Veranstal-           schaft ist, umso weniger Antisemi-
                                                Innsbruck zählt auch zu den weni- tungen annehmen; und zu den hohen                tismus gibt es. Um auch nichtjüdi-
                                             gen mitteleuropäischen Städten, in de- Feiertagen ist die Synagoge immer              schen Menschen jüdisches Leben
                                             nen an einem zentralen Platz eine Me- gut besucht. In den letzten Jahren vor          nahezubringen, werden deshalb viele
                                             nora steht, um an die Schrecken der der Pandemie haben die Besuche vom                Führungen sowie in Innsbruck und
                                             Schoa und an die Toten der Novem- österreichischen Oberrabbiner Paul                  Umgebung auch Vorträge an Schulen
                                             berpogrome zu erinnern. „Die IKG Tirol Chaim Eisenberg zu Rosch Haschana              veranstaltet. Doch wie viele andere
                                             und Vorarlberg ist die flächenmäßig und Jom Kippur große Freude bereitet.             Gemeinden kämpft auch die IKG in
                                             größte Kultusgemeinde in Österreich“, Zu Pessach wird immer in einem Hotel            Innsbruck mit zu wenig Zuwanderung
                                             erläutert Präsident Lieder, „sie umfasst gemeinsam der Sederabend veranstal-         – und zu den vielen Israelis, die in der
                                             das Gebiet von Osttirol bis zum Boden- tet, an dem bis zu hundert Gäste teil-         Region leben, ist der Kontakt gering.
                                             see.“ Die rund hundert Mitglieder sind nehmen: „Das ist eine richtige große          Auch Übertritte sind faktisch unmög-
                                             über das gesamte Gebiet verstreut, „sie Familie“, erzählt Lieder. „Da kommen          lich. Als Beispiel führt Präsident Lieder
                                             leben in Lienz, Reutte, Wattens bis die Gemeindemitglieder aus der ge-                eine Familie an, die aus beruflichen
                                             nach Hohenems, Bregenz, Feldkirch, samten Region.“ Andererseits geht                  Gründen in den Bregenzer Wald über-
                                             Dornbirn.“ Der Vorstand spiegelt dies man auch aus Innsbruck hinaus in die            siedelt ist und um Übertritt angesucht
                                             wider, einige Mitglieder sind aus Ti- Gemeinde. So fand das Kerzenzünden              hat. „Bei einem Termin mit dem da-
                                             rol, einige aus Vorarlberg, das mache zu Hanukka im vergangenen Jahr in               maligen Oberrabbiner aus Wien, Arie
                                             ein klassisches Gemeindeleben wie in Hohenems statt; auch Purimumzüge                 Folger, wurde der Familie in dreißig
                                             Graz oder Wien unmöglich. Dennoch hat es schon in Hohenems gegeben.                   Sekunden die Unmöglichkeit eines
                                             bemühe man sich, stets für die Ge- Mit der IKG in Wien sei man in freund-             Übertritts erklärt. Weil jüdisches Le-
                                             meindemitglieder da zu sein. Das Ver- schaftlichem Kontakt; besonders gut             ben im Bregenzerwald nicht möglich
                                             hältnis zu den öffentlichen Stellen be- verstehe man sich mit Gemeinderab-            sei, sollte sie nach Wien übersiedeln.
                                             zeichnet der Präsident als ausgezeich- biner Schlomo Hofmeister, der einmal           Hier wurde der Wunsch, ein jüdisches
                                             net, „wir werden mit unseren Sorgen pro Monat nach Innsbruck kommt und                Leben zu führen, wegen räumlicher
                                             nicht alleine gelassen.“ Das zeigt sich Schiurim veranstaltet.                       Argumente ignoriert.“ Allerdings erhält
                                             beispielsweise auch beim jüdischen                                                    die Gemeinde seit Inkrafttreten des
                                             Teil des Westfriedhofs in Innsbruck. Wenig Zuwanderung                                neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes
                                             Hier wird der Platz knapp, weshalb           Antisemitismus sei kaum wahr-            speziell aus Großbritannien vermehrt
                                             man sich mit der Stadt darauf geeinigt nehmbar, beantwortet IKG-Sekretär             Anfragen von Schoa-Überlebenden
                                             hat, dass es auch am Pradlerfriedhof Stefan Gritsch meine diesbezügliche              oder deren Nachkommen. Die IKG in
                                             mitten in Innsbruck einen jüdischen Frage. Eine Begebenheit nennt Prä-                Innsbruck kann schnell behilflich sein,
                                             Teil geben wird.                          sident Lieder dann aber doch: „Nach         denn sie hat die Matrikeldaten aus der
                                                                                       einer Veranstaltung, in der ich über jü-    Zeit vor dem Krieg. Vielleicht, so hofft
                                             Große Familie                             disches Leben erzählte, kam ein junge       Günter Lieder, entschließen sich die
                                                In der Öffentlichkeit ist die jüdische Frau zu mir und fragte mich sehr ge-        neuen Staatsbürger, Mitglied der IKG
                                             Gemeinde durch viele Veranstaltun- nau über jüdische Riten. Sie war sehr              für Tirol und Vorarlberg zu werden
                                             gen, durch Kooperationen mit Museen interessiert. Am Ende wollte ich mich             und in den schönen Westen des Lan-
                                             und anderen Institutionen präsent. Be- mit einem Handschlag bei ihr verab-            des zu ziehen.

                                                                                                                                                     4 | 2022    15
Aktuell

                             Voller Stolz in Blauweiß
    © AS-FOTO ALBERT STERN

                                                                                                               Mit Wünschen für die Zukunft:
                                                                                                               Maccabi Wien sieht sich als Nachfolger
                                                                                                               der legendären Hakoah.

                             Während manche von uns                    Motor – des Vereins, forciert die in- stätte zu bekommen. Es gibt zwar
                                                                       tensive Nachwuchsarbeit: Insgesamt Absichtserklärungen der Stadt Wien
                             gespannt die Fußball-                     spielen, betreut von einem engagier- für die Adaption eines Platzes beim
                             Weltmeisterschaft in Katar                ten Trainerteam, mehr als hundert Happel-Stadion als Restitution für
                             verfolgt haben, die dieser                Kinder und Jugendliche in insgesamt den ehemaligen Hakoah-Platz, jedoch
                                                                       zehn Nachwuchsmannschaften von wurde noch keine positive Entschei-
                             Tage endet, interessieren                 U8 bis U18. Bedauerlicherweise hat der dung getroffen.
                             sich die wahren Fans für                  Verein allerdings keinen eigenen Trai-
                             den legendären jüdischen                  ningsplatz, weshalb man zwischen Neue Marketing-Ideen
                                                                       dem Sportplatz des SC Elite in Florids-    Weil neben Enthusiasmus auch fi-
                             Verein Maccabi Wien.                      dorf und den Trainingsplätzen hinter nanzielle Mittel nötig sind und sich die
                             VON RENÉ WACHTEL                          dem Ernst-Happel-Stadion im Prater Suche nach Sponsoren erfahrungsge-
                                                                       pendeln muss.                            mäß nicht einfach gestaltet, hat Mar-
                                                                                                                gules neue Ideen für das Marketing
                                Besser hätte es nicht laufen kön-      Für alle zugänglich                      entwickelt: So findet einmal im Jahr
                             nen. Nachdem die Maccabi-Kampf-              Seit die jüngeren Jahrgänge (U8 bis im Metropol ein Sponsoringkonzert
                             mannschaft in der vergangenen Sai-        U12) im zweiten Bezirk trainieren kön- für Maccabi Wien statt. Das nächste
                             son den Aufstieg in die zweite Wiener     nen, spielen viele Kinder der nahen derartige Benefizkonzert wird im März
                             Landesliga schaffte, rangiert man nun     Zwi-Perez-Chajes-Schule mit. Das be- über die Bühne gehen.
                             in der zweithöchsten Spielklasse in       sondere Merkmal an Maccabi Wien ist        Und nicht nur weil das österreichi-
                             Wien im oberen Drittel der Tabelle.       die Tatsache, dass die Mannschaft und sche Frauenteam der männlichen Na-
                             Das ist das Ergebnis von langer, harter   die Fußballsektion für alle zugänglich tionalmannschaft einiges vorgelegt
                             Arbeit. Und das Verdienst von vielen      sind: Um mitspielen zu können, muss hat, bleibt für Maccabi Wien ein wei-
                             fleißigen Leuten, die sich dem Fußball    man nicht IKG-Mitglied sein. Maccabi terer Zukunftswunsch: die Etablierung
                             verschrieben haben.                       ist somit der einzige Verein in ganz von Frauen- und Mädchenfußball.
                                Maccabi Wien sieht sich als der        Österreich, in dem Vertreter aller Reli- Aber bis dorthin ist es wohl noch ein
                             Nachfolger der legendären Hakoah          gionen zusammenspielen. Und selbst- langer Weg.
                             Wien, die 1925 sogar österreichischer     verständlich sind alle Spieler merklich
                             Fußballmeister wurde. Nach dem „An-       stolz, als „Maccabäer“ einzulaufen. In
                             schluss“ wurde der Verein aufgelöst,      der U23-Mannschaft spielen viele Is-
                             1970 unter dem Namen Maccabi Wien         raelis.
                             wiederbelebt und 1995 in seiner heu-         Freilich gibt es auch Wünsche. Seit
                             tigen Form neu aufgebaut. Michael         Jahren versucht Maccabi gemeinsam
                             Margules, seit 2003 Präsident – und       mit der IKG, endlich eine eigene Heim-

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