Eins 2022 Das Forschungsmagazin der Universität Potsdam - Universität Potsdam
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32 Inhalt Ein fruchtbarer Ort In Berlin-Britz und Kassel entstehen drei Waldgärten ��������������4 Eine Frage der Haltung Wie reagiert man auf antisemitische Äußerungen im Unterricht oder Rassismus unter Schülern? Ein Modellprojekt gibt Antworten��������������������������������������������10 Antike Texte sichern unser kulturelles Erbe Dr. Hedwig Schmalzgruber folgt einer besonderen Mission�� 16 Sexuelle Aggression Ein Team um die Psychologin Barbara Krahé will die Kompetenz von jungen Erwachsenen in sexuellen 10 Situationen fördern ����������������������������������������������������������������� 20 Das kulturelle Erbe wiederentdecken Jüdische Friedhöfe in Brandenburg und Westpolen����������������26 Aus der Vogelperspektive BIRD schaut auf die Fülle digitaler Lernangebote und verknüpft sie auf einer nationalen Bildungsplattform ������������ 32 92 Unterwegs im Irak Religionswissenschaftliche Exkursion in die „Autonome Region Kurdistan“ ������������������������������������������������36 „Religiöse Vielfalt im Nordirak“ Eine deutsch-irakische Zusammenarbeit ������������������������������� 44 Liebe auf Mittelhochdeutsch Wie mittelalterliche Minnedichtung Wissen über die Liebeswerbung vermittelte������������������������������������������������������� 46 Angezeichnet�������������������������������������������������������������������������� 51 Präventiv gegen Hass Wie das Programm „HateLess“ Jugendlichen dabei hilft, ihre Schule von Hatespeech zu befreien���������������������������������� 52 Wenn Starkregen zum Hochwasser wird Geoforschungsgruppe untersucht Gefährdung von Städten durch Flash Floods������������������������������������������������������56 36 „Ein Exzellenz-Cluster für Potsdam ist jetzt dran …“ Vizepräsidentin Prof. Dr. Barbara Höhle geht zielstrebig vor�� � 60 Vielfalt mit Konf liktpotenzial Das Projekt „Bodyrules“ er forscht offizielle und inoffizielle Regeln rund um den Körper����������������������������������� 64 Über Berg und Tal Prof. Peter van der Beek erforscht die Triebkräfte der Gebirgsbildung��������������������������������������������������������������������70 Impressum Titelbild: Andreas Töpfer Augenblicke Layout/Gestaltung: Bewegungen der Augen können viel verraten. unicom-berlin.de Was genau, untersucht eine Nachwuchsforschungsgruppe ��76 Portal Wissen Das Forschungsmagazin der Universität Potsdam Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe: Daten statt Ideologie ISSN 2194-4237 30. April 2022 Der Sozialwissenschaftler Jasper Tjaden forscht zu Herausgeber: Referat für Presse- und Formatanzeigen: unicom MediaService, Migration und Integration��������������������������������������������������������82 Öffentlichkeitsarbeit im Auftrag des Präsidiums Tel.: (030) 509 69 89 -15, Fax: -20 Gültige Anzeigenpreisliste: Nr. 1 Weltweite Rechtsordnung im Auf- oder Abwind? Redaktion: Dr. Silke Engel (verantwortlich), www.hochschulmedia.de Matthias Zimmermann Eine DFG-Forschungsgruppe untersucht das Mitarbeit: Luisa Agrofylax, Antje Horn-Conrad, Druck: Völkerrecht im Wandel������������������������������������������������������������� 86 Heike Kampe, Dr. Stefanie Mikulla, Dr. Jana Scholz ARNOLD group – arnoldgroup.de Anschrift der Redaktion: Nachdruck gegen Belegexemplar bei Quellen- 33 Fragen Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam und Autorenangabe frei. an Prof. Dr. Karoline Wiesner����������������������������������������������������92 Tel.: (0331) 977-1474 Fax: (0331) 977-1130 Portal Wissen finden Sie online unter Geometrie im Unendlichen E-Mail: presse@uni-potsdam.de $ www.uni-potsdam.de/portal Mathematiker der Universität Potsdam forschen zu eigentlich unvorstellbaren Dingen������������������������������������� 96
Z U S A M M E N Darüber, was den Menschen Pandemie in einer Zeit, in sexuelle Aggression unter sam jüdische Friedhöfe in zum Menschen macht – der die Welt vor eine – wört- jungen Menschen verringern Brandenburg und Westpolen und von anderen Lebewesen lich genommen – allumfas- lässt, und zwar gemeinsam. wiederentdecken. auf der Erde unterscheidet sende Aufgabe gestellt ist, Eine Altphilologin hat uns – wird schon lange und bis die sie, wie bereits vielfach erklärt, warum Mensch und Natürlich bringt das Heft heute eifrig diskutiert. Als geäußert, nur zusammen Tier in antiken Fabeln eine darüber hinaus die ganze „Homo sapiens“ ist die bewältigen kann. Und doch ganz besondere Beziehung Breite der Forschung an der wissenschaftliche Selbst- sorgen sich viele Menschen eingehen, und wir haben Uni Potsdam zusammen, beschreibung unserer Art auf vielfältige Weise vor al- einen ersten Blick auf den versprochen! Wir haben uns schon die Charakterisierung lem um ihr eigenes Wohl – Prototypen einer nationalen schlau gemacht, wie aus als „verstehender, weiser, nicht selten ohne zu reflek- Bildungsplattform geworfen, Starkregen „flash floods“ wissender Mensch“. Dieses tieren, dass auf diesem We- die digitales Lernen aller werden und wie man sich Mehr an Wissen verdanken ge das Wohl vieler anderer Art künftig bündeln soll. darauf vorbereiten kann. wir, so ließe sich argumen- leidet und möglicherweise Außerdem stellen wir zwei Wir haben mit der Vizeprä- tieren, dem Wesenszug, letztlich sogar ihr eigenes. Modellprojekte vor, die auf sidentin für Forschung Prof. dass wir unseresgleichen Wenn es mehr Zusammen unterschiedlichen Wegen Barbara Höhle über Anfänge (grundsätzlich) besonders braucht, wo viel über Spal- Lehrenden sowie Schüler und Zukünfte gesprochen, verbunden sind. Wir sind, tung gesprochen wird, zeigt innen und Schülern dabei einen Migrationsforscher was wir sind, vor allem, sich, dass der Erfolg des helfen wollen, antidemo- befragt und einen Geofor- vielleicht sogar ausschließ- Miteinander kein Selbstläu- kratischen Tendenzen und scher besucht, den es auf lich: zusammen. Die Ent- fer ist: Wenn wir zusammen Hatespeech vorzubeugen. Berg und Tal gleichermaßen wicklung, durch die aus etwas erreichen wollen, Nicht zuletzt präsentiert das zieht. Es geht um – oft un- Gemeinschaften irgendwann müssen wir über die Ziele Heft eine kleine Auswahl geschriebene – „body rules“ Gesellschaften wurden, in und den Weg dorthin immer aus der Vielfalt der Koopera- im Alltag, die höfische Min- deren Zuge Kultur und Wis- im Gespräch bleiben. tionen über Fach- und Län- ne und was sie uns heute sen entstanden, ließe sich dergrenzen: Wir zeigen, wie noch zu sagen hat, die Erfor- durchaus als eine Geschich- Was Menschen miteinander Forschende aus der Rechts- schung unseres Blicks mit- te des mehr oder weniger erreichen können und wie und der Politikwissenschaft hilfe Künstlicher Intelligenz, Zusammens erzählen. Er- Wissenschaft das „Geheim- zusammen das Auf und 33 Antworten voller Kom- folgreich waren Menschen nis des Zusammens“ an vie- Ab des Völkerrechts in den plexität und die Mathematik immer dann, wenn sie mitei- len Stellen zu ergründen ver- Blick nehmen, warum Reli- im Unendlichen. Genug der Abbildungen: Töpfer, Andreas (S. 2, l. o., S. 3); Meyer-Oldenburg, Valentina (S. 2, l. u.); AdobeStock/elenabsl (S. 2, r. o.), Travel man (S. 2, r. u.) nander statt gegeneinander sucht, haben wir für dieses gionswissenschaftlerinnen Worte. Lesen Sie selbst – al- lebten, später Bestauntes Heft zusammengetragen. und -wissenschaftler aus lein oder zusammen. Wie entstand, wenn sie zusam- Wir haben ein Team von Potsdam und dem Irak von- Sie wollen! menarbeiteten, Wissen, das Umweltwissenschaftlerin- einander profitieren und wie als Fortschritt Geschichte nen und -wissenschaftlern die Uni Potsdam und die MATTHIAS ZIMMERMANN machte, wurde von Köpfen besucht, die gemeinsam Europauniversität Viadrina entwickelt, die ins Gespräch mit engagierten Bürgerin- in Frankfurt/Oder gemein- kamen. nen und Bürgern Waldgär- ten entwickeln – als grüne Umso verwunderlicher, dass Oasen mitten in der Stadt. dieses „Erfolgsrezept“ in Wir haben Psychologinnen Zeiten, wo es mehr denn je über die Schulter geschaut, gebraucht wird, in den Hin- die untersuchen, wie sich tergrund gedrängt wird. Wir leben infolge der Corona- PORTAL WISSEN · EINS 2022 3
Ein fruchtbarer Ort In Berlin-Britz und Kassel entstehen drei Waldgärten PORTAL WISSEN · EINS 2022 5
Die Zukunft des Menschen liegt in der Stadt. Schon Projekts: „Waldgärten sollen Orte sein, an denen Men- jetzt leben 57 Prozent der Weltbevölkerung in schen langfristig die Perspektive haben, gemeinsam zu Städten. Im Jahr 2030, so Schätzungen, werden es gärtnern, Lebensmittel anzubauen, aber auch Klimaoa- 60 Prozent sein. Gleichzeitig steigt die Sehnsucht sen zu schaffen und erlebbare Orte der Umweltbildung nach einem Leben in und mit der Natur – und die und des Dialogs der Generationen zu etablieren.“ Erkenntnis, dass wir sie mehr brauchen als sie uns. Während manche Menschen der Stadt den Rücken kehren und aufs Land „flüchten“, hat Dr. Jennifer Modellgarten in Britz Schulz von der Universität Potsdam ein Vorhaben angeschoben, das städtische Räume grün und arten- In Berlin-Britz soll all das in den kommenden Jahren reich gestalten soll: Waldgärten. In Berlin-Britz Wirklichkeit werden: der essbare Wald, die Oase, der wird in den kommenden Jahren ein Modellprojekt Bildungsort und der Generationentreffpunkt. Damit ein umgesetzt: Auf 28.000 Quadratmetern entsteht Waldgarten entstehen kann, muss vieles zusammen- ein Waldgarten – als Gemeinschaftswerk von Wis- passen. Das hat die Vorstudie gezeigt, die das Team um senschaft, Politik, Verwaltung und den Menschen Jennifer Schulz und Torsten Lipp von der Universität vor Ort. Zeitgleich werden in Kassel zwei weitere Potsdam von 2018 bis 2020 durchgeführt hat. Zunächst Gärten geschaffen. Gefördert wird das Vorhaben im ermittelten die Forschenden, ob es in einer Großstadt Bundesprogramm Biologische Vielfalt vom Bundes- wie Berlin überhaupt geeignete Flächen gibt. „Wir amt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesumwelt- haben ein komplexes Verfahren zur systematischen ministeriums sowie in Berlin von der Senatsverwal- Standortsuche entwickelt“, so Schulz. Sind die Flächen tung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. groß genug? Unbebaut? Gut erreichbar? Wo würden Waldgärten einen Beitrag zu Klimaschutz, grüner Infra- Obstbäume – etwa Pflaumen-, Aprikosen- und Ap- struktur und Umweltbildung leisten? Mit einem eigens felbäume – bilden mit ihren Kronen das Dach. Ge- geschaffenen GIS-Modell lassen sich vorhandene In- schützt darunter stehen Beerensträucher wie Johan- formationen zu Stadtgebieten analysieren und infrage nis-, Stachel- oder Himbeere, zu deren Füßen wiede- kommende Areale bewerten. „Für einen Waldgarten rum Stauden, Wurzelgemüse und Kräuter Platz fin- sollte man mindestens 5.000 Quadratmeter Fläche den. „Ein Waldgarten orientiert sich an der Struktur einplanen – und sie muss langfristig verfügbar und des Ökosystems Mischwald“, erklärt Jennifer Schulz. rechtlich gesichert sein“, sagt die Forscherin. „In Berlin, „Er ahmt die verschiedenen Vegetationsschichten das sich ständig verändert und wo eher weiter baulich nach, aber mit essbaren Pflanzen.“ Für die Forscherin verdichtet wird, eine echte Herausforderung.“ Wichtig verkörpern Waldgärten die Zukunft des Urban Garde- ist aber auch zu klären, ob es Menschen in der Nachbar- ning mit Biodiversitäts- und Klimaschutz. Sie machen schaft gibt, die Interesse haben, den Waldgarten zu ent- es etwa möglich, verschiedene Nutzpflanzen auf rela- wickeln, aufzubauen und dauerhaft zu bewirtschaften. Foto: Schulz, Jennifer tiv wenig Raum zu kultivieren. Im Idealfall ergänzen Finden sich auf der anderen Seite Institutionen, die be- sich die Pflanzen in Sachen Licht-, Nährstoff- und reit sind, das Projekt mitzutragen und zu unterstützen? Wasserbedarf durch unterschiedliche Wurzellängen Dafür seien sie in unzählige Gespräche gegangen – mit und -tiefen und Wuchshöhen sowie individuelle Licht- ansprüche. Dank einer gezielten Auswahl und Kombi- nation an Arten und Sorten kann der Waldgarten fast das ganze Jahr hindurch Erträge liefern. „Gleichzeitig brauchen wir, gerade in Städten, wo viel gebaut wird, dringend die ökologische Funktion des Waldes“, betont Schulz. „Ein paar begrünte Dach- terrassen reichen da nicht.“ Das Ökosystem Waldgar- ten dient als CO2-Speicher, bildet einen kühlenden Gegenpol zu überhitzten Betonwüsten und unter- stützt die Erhaltung der Artenvielfalt. Im vielschichti- gen Biotop finden zahlreiche Tierarten und vor allem Insekten ein Zuhause – die Nützlinge unter ihnen halten wiederum Schädlinge fern und sind essenziell für die Bestäubung. Waldgärten sind aber nicht nur ökologisch mul- Auf dem Gelände tifunktional. Sie bieten auch soziale Perspektiven. des künftigen „In Städten müssen die wenigen Grünflächen viele Waldgartens Aufgaben übernehmen – nicht zuletzt als soziale Räu- in Britz me“, erläutert Schulz eines der wichtigsten Ziele ihres 6 PORTAL WISSEN · EINS 2022
Berliner Senatsverwaltungen, Bezirksgrünflächenäm- che für andernorts wegfallende Kleingärten mitsamt tern, Kleingärtnerverbänden, Naturschutzorganisatio- einem bereits bestehenden Bebauungsplan festgelegt“, nen und Urban Gardening-Akteuren. „Ich habe noch so Jennifer Schulz. „Dadurch ist das Areal dauerhaft nie ein Projekt erlebt, in dem ich so viel Schwung und gesichert. Ein Glücksfall.“ Für die neu entstehende Euphorie begegnet bin“, freut sich Schulz. Kleingartenanlage haben die Potsdamer Forschenden gemeinsam mit ihren Projektpartnern wie dem Be- zirksverband Berlin-Süden der Kleingärtner e.V., den Erst planen, dann pf lanzen zuständigen Verwaltungen und den Freiwilligen, die sich für das Projekt begeistern, eine neuartige, mo- In dem knapp 300 Seiten dicken Abschlussbericht der derne Form eines Kleingartenparks mit dem Leitbild Voruntersuchung hat das Forschungsteam alles zu- sammengetragen, was bei der Planung von Waldgärten zu beachten ist. Von der Suche nach der richtigen Flä- DAS PRO JEKT che und den nötigen Aktiven bis zu den nicht minder wichtigen rechtlichen Fragen, die es zu beantworten Titel: „Urbane Waldgärten: Mehrjährig, mehrschichtig, gilt. Das richtige Betreibermodell, Haftungsfragen, multifunktional“ Verkehrssicherheit – es braucht mehr als eine große Wiese und eine Handvoll Pflanzen, damit die Idee Förderung: im Bundesprogramm Biologische Vielfalt Wirklichkeit wird. „In der Stadtplanung ist das Konzept durch das Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln Waldgarten bislang unbekannt. Hier sind viel Recher- des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz che, die Vernetzung von und die Kommunikation mit und nukleare Sicherheit; Berliner Senatsverwaltung für Akteuren, aber auch Erfindungsreichtum und Durch- Umwelt, Verkehr und Klimaschutz haltevermögen gefragt“, so die Wissenschaftlerin. Laufzeit: 04/2021–03/2027 Das galt auch für die Forschenden selbst. Nach in- Verbundkoordination: Universität Potsdam: Dr. Jen- tensiver Suche hatte das Team in Berlin ursprünglich nifer Schulz & Dr. Torsten Lipp (beide Leitung), Luisa rund ein Dutzend geeignete Flächen ins Auge gefasst, Gedon, Lea Matscheroth, Luca Durstewitz; Verbund- darunter öffentliche Grünanlagen, Grünanlagen an partner: Bezirksverband Berlin-Süden der Kleingärtner Sportflächen, Bildungseinrichtungen oder in Woh- e.V., Freilandlabor Britz e.V., Stadt Kassel: Umwelt- nungsbausiedlungen, Brachflächen und sogar einen und Gartenamt ehemaligen Friedhof. Doch eine nach der anderen schieden aus. Bei den meisten fehlte die langfristige Im Rahmen der Voruntersuchung eines BfN-geförder- Perspektive, die ein Waldgarten braucht. In Berlin- ten Erprobungs- und Entwicklungsvorhabens waren Britz hat es schließlich geklappt. Anstelle von klassi- von 2018 bis 2020 die Bedingungen für Waldgärten Fotos: Schulz, Jennifer schen Kleingartenparzellen entsteht in den kommen- im urbanen Raum mitsamt Beteiligungsverfahren den Monaten und Jahren südlich des Britzer Gartens untersucht worden. Basierend darauf erfolgten für die eine vorbildliche Anlage, die Menschen und Pflanzen Projektfläche in Berlin-Britz im Laufe des Jahres 2021 zusammenbringen soll. „Das Gelände ist als Ersatzflä- ein vertiefender, partizipativer Planungsprozess und Vorbereitungen, sodass im Frühjahr 2022 die Struktur der Waldgarten-Kleingartenanlage gebaut und der Waldgarten anschließend auf der Fläche beginnen kann zu wachsen. In Kassel sollen parallel dazu am Wahlebach-Grünzug in Waldau sowie im Bereich Mar- bachshöhe zwei Waldgärten entstehen. $ https://urbane-waldgaerten.de PORTAL WISSEN · EINS 2022 7
Waldgarten erarbeitet. Zuletzt wurde das 2,8 Hektar schen Universität Berlin und ist seit 2020 dabei. „Ich große Gebiet durch den Britzer Garten als Grünland wollte mir schon immer einen Kleingarten zulegen, genutzt und mit Rindern und Schafen beweidet. Ab doch erst beim ersten Lockdown hatte ich endlich die Anfang 2022 entstehen dort 60 Kleingartenparzellen Zeit, mich darum zu kümmern.“ Als er online auf das und ein 5.000 Quadratmeter großer gemeinschaftli- Projekt stieß, war er direkt angetan – „weil es sich cher Waldgarten. Dieser befindet sich zusammen mit nicht um eine typische Kleingartenanlage handelt, einer 1.000 Quadratmeter großen Zone für Umwelt- sondern einen Waldgarten, in dem jede Pflanze den bildung, die durch das Freilandlabor Britz e.V. betreut anderen Pflanzen hilft, sei es durch Schatten oder wird, in der Mitte der Gesamtanlage. Ringsum werden Nährstoffe, sich zu entfalten.“ Besonders reizvoll fin- jeweils acht bis zehn Parzellen – teils mit, teils ohne det er das Miteinander der Aktiven: „Es kommt viel Laube – in Clustern zusammengefasst. Gemeinsam Wissen zusammen, das alle mehr oder weniger ins eingefriedet, sind innerhalb der Cluster keine Garten- Projekt einfließen lassen können.“ zäune vorgesehen. Die Cluster besitzen eine gemein- Auch Jennifer Schulz hat sich in die Gartengestal- same „Kernzone“, die gemeinschaftlich genutzt und tung eingebracht. Schon während ihres Studiums gestaltet werden kann und dabei mit Obstbäumen und war die Forscherin dem Konzept der Waldgärten -sträuchern der Waldgartenstruktur folgen soll. begegnet und untersuchte die ökologischen Vorteile dieser Anbauweise. Später legte sie für einen Kunden einen Garten mit über 500 essbaren Pflanzen an. Der Ideen vieler für einen Garten Britzer Waldgarten ist für sie ein persönliches High- light. „Bislang sind Waldgärten – sowohl in urbanen Dieses Konzept ist das Ergebnis der intensiven Vorar- als auch ländlichen Räumen – in Deutschland noch beiten, in die nicht nur die Expertise der Forschenden weitgehend unbekannt und kaum erforscht. Beides sowie von Landschaftsarchitektinnen und -architek- können wir mit unserem Vorhaben ändern.“ ten und Gartenbaufachleuten, sondern auch die Ideen und das Engagement der beteiligten Bürgerinnen und Bürger eingeflossen sind. Schon im Sommer 2019 Fruchtbarer Boden wurde dafür eine Workshopreihe durchgeführt – in einem von Expertinnen und Experten begleiteten, Wesentlich für das Gelingen ist die Zusammenarbeit aktivierenden Beteiligungsverfahren. „Eine wichti- mit verschiedenen städtischen Institutionen, vor al- ge Erkenntnis unserer Vorstudie ist: Dieser Prozess lem in Berlin, wo es galt, mit Bezirksverwaltung und ist für ein so langfristiges und komplexes Vorhaben Senatsverwaltung gleich zwei Ebenen zu überzeugen. wie einen Waldgarten unerlässlich“, führt Jennifer „Rückenwind aus Politik und Verwaltung ist unver- Schulz aus. Die Menschen müssten sich kennenler- zichtbar“, so Jennifer Schulz. Die Bezirksverwaltung nen, Wünsche und Vorstellungen austauschen, zu- Neukölln verpachtet das Areal an den Bezirksverband sammenarbeiten, sich selbst organisieren. „Nur dann Berlin-Süden der Kleingärtner e.V., der für das Gelin- gelingt es, dass sie schließlich die Verantwortung für gen des Projekts große Verantwortung trägt und die das Projekt übernehmen und es dauerhaft tragen. Das Parzellen an die zukünftigen Nutzerinnen und Nutzer darf man nicht unterschätzen – das holpert auch mal. weiterverpachtet. Die Berliner Senatsverwaltung für Aber es ruckelt sich zurecht.“ Umwelt, Verkehr und Klimaschutz (SenUVK) wiede- Einer, der sich in Britz engagiert, ist Philipp Resch. rum beteiligt sich an der Finanzierung des Projekts. Der 27-Jährige studiert Biotechnologie an der Techni- „Dessen Fortsetzung war infolge der Corona-Pande- mie zwischenzeitlich keineswegs gesichert“, erklärt die Wissenschaftlerin. Während Jennifer Schulz die nötigen Förderanträge schrieb, setzte ihre Kollegin Luisa Gedon die Arbeit mit den Aktiven fort – pande- miebedingt vor allem online. Dies funktioniert auch dank der Kommunikations-AG, die Philipp Resch mit DAS TEAM: v.l.n.r.: Luisa Gedon, Dr. Torsten Lipp, Dr. Jennifer Schulz, Luca Durstewitz sowie Lea Matscheroth (nicht im Bild). Foto: Hopfgarten, Tobias u jennifer.schulz@uni-potsdam.de 8 PORTAL WISSEN · EINS 2022
zwei anderen gegründet hat, immer besser. „Seit wir Dr. Jennifer Schulz die Website Miro für Onlineseminare und zur Erar- beitung unserer Ideen nutzen, hat sich unsere Arbeit enorm verbessert“, berichtet er. „So konnten wir unse- re erarbeiteten Ergebnisse final auch einfacher an das Landschaftsarchitekturbüro übergeben.“ Erst im Frühjahr 2021 war klar: Ein Waldgarten mitten in Berlin ist nicht nur möglich, sondern wird auch Wirklichkeit. Dank der Förderung durch BfN und BMU im Bundesprogramm Biologische Vielfalt und die Berliner Senatsverwaltung SenUVK können die Pläne in den kommenden sechs Jahren umgesetzt wer- den. Alle Vorarbeiten zur räumlichen Planung wurden unterstützt. „Das Wissen rund um den Waldgarten einem Team aus Fachplanerinnen und -planern unter wollen wir so aufbereiten, dass es auch mithilfe neuer Federführung eines Landschaftsarchitekturbüros über- Medien erfahrbar ist“, erläutert Jennifer Schulz. „Un- geben. Diese erarbeiteten anschließend gemeinsam sere Gärtnerin ist bereits dabei, Pflanzensteckbriefe mit der Freiwilligengruppe in partizipativen Work- zusammenzustellen. Wenn die per QR-Codes neben shops die finale Planung. Zwei weitere Waldgärten den Pflanzen abrufbar sind, ist das Wissen vor Ort entstehen zeitgleich in Kassel. Die Stadt ist schon seit digital verfügbar – für Gärtnernde wie Interessierte.“ 2019 dabei und das Umwelt- und Gartenamt treibt die Begleitet werden aber nicht nur die planerischen, dortige Projektentwicklung engagiert voran. In beiden gärtnerischen oder biologischen Entwicklungen. Städten wurden inzwischen wichtige Projektstruktu- Auch die sozialen Dimensionen werden erfasst. Wie ren und notwendige Personalstellen geschaffen. arbeiten die Menschen im Projekt zusammen? Wie Die Forschenden der Uni Potsdam koordinieren kommunizieren sie? Welchen Wissenszuwachs gibt weiterhin das Verbundprojekt, werden es aber vor al- es und wie wird er genutzt? Die Erkenntnisse könnten lem auch wissenschaftlich begleiten und auswerten. kommenden Projekten helfen. Ziel ist nicht nur eine Dokumentation zu Forschungs- Jennifer Schulz ist überzeugt, dass das Modell zwecken. Es soll auch eine Wissensplattform entstehen, Schule machen wird. Immerhin war das Interesse am die dafür sorgen kann, dass die drei Projekt-Waldgärten Projekt von Beginn an groß. Bereits während der Mach- nur die ersten von vielen sind. „Mithilfe der Plattform barkeitsstudie hatten zahlreiche Städte und Initiativen wollen wir all das, was wir im Projekt gelernt haben, signalisiert, teilnehmen zu wollen, darunter Bremen, weitergeben, damit andere Städte diesen Prozess selbst Heidelberg, Freiburg und Tübingen. Mit einigen von durchlaufen können.“ Dafür sammeln Jennifer Schulz ihnen war das Team schon auf der Suche nach geeig- und das Waldgarten-Team von Beginn an so viele neten Flächen. Doch die Corona-Pandemie hat viele Daten wie möglich. Schon vor den Baumaßnahmen dieser Initiativen ausgebremst. Wenn der Britzer und wurden zwei Klimamessstationen aufgestellt, eine im die Kasseler Gärten Früchte tragen, könnten sie wieder Gebiet des Waldgartens, eine vergleichende außerhalb. Fahrt aufnehmen. „Ich kann mir gut vorstellen, dass es Sie messen Temperaturen, Niederschläge, Feuchtig- eine Bewegung in Richtung ökologischen Stadtumbau keit in der Luft und im Boden, Sonneneinstrahlung geben wird, bei denen Waldgärten eine interessante und Wind. Später kommen etliche kleine Minisender, Rolle spielen können“, meint die Forscherin. sogenannte Data Logger, an vielen Stellen des Areals In Britz geht es ab Frühjahr 2022 richtig los: Die dazu. Und ganz im Sinne des Projekts sollen auch die letzten Zäune und Wege der Vornutzung wurden Ende Waldgärtnerinnen und -gärtner mithelfen: beim Ar- 2021 zurückgebaut, und im Laufe des Jahres werden tenmonitoring etwa. „In Bezug auf die Bodenbiologie die Gartenstruktur gebaut und Wasseranschlüsse für wurden beispielsweise schon erste Erhebungen zu Re- die gärtnerische Nutzung gelegt. Dann kommen auch genwürmern durchgeführt“, sagt Jennifer Schulz. „Ein die neuen „Bewohner“: 400 (Obst-)bäume, 2.000 (Bee- Teil unseres Teams hat daran mitgewirkt und konzi- ren-)sträucher und 10.000 Stauden verschiedenster piert derzeit, wie man bürgerliches Engagement auch Arten Gemüse und Kräuter müssen verteilt werden. in die Erforschung des Waldgartens einbinden kann.“ Gemeinsam mit den Aktiven werden zahlreiche Ein- sätze geplant: Mitmachbaustellen an Gartenhäuschen und Sitzgelegenheiten, Pflanzen setzen. Philipp Resch Nicht nur auf bauen, auch begleiten ist bereit und voll Vorfreude. „Ehrlicherweise habe ich noch nicht so viel Erfahrung im Gärtnern. Aber wie Helfen dürfte auch die konsequent mitgedachte Digi- lernt man es besser als direkt von anderen Menschen?“ talisierung an den richtigen Stellen. So könnten bei- Er ist sich sicher: „Auf diesem Gelände wird etwas Foto: Hopfgarten, Tobias spielsweise Apps für Zählungen genutzt werden. Und Großartiges entstehen.“ auch die Umweltbildung wird von Beginn an digital MATTHIAS ZIMMERMANN PORTAL WISSEN · EINS 2022 9
EINE FRAGE DER HALTUNG Wie reagiert man auf antisemitische Äußerungen im Unterricht oder Rassismus unter Schülern? Ein Modellprojekt gibt Antworten 10 PORTAL WISSEN · EINS 2022
Illustration: Töpfer, Andreas PORTAL WISSEN · EINS 2022 11
Diskriminierung und rechtes Denken machen auch einzelne Schüler oder Schülerinnen demokratiefeind- vor dem Klassenzimmer nicht Halt. Darauf richtig lich äußerten. Udo Dannemann erinnert sich etwa, als zu reagieren, ist eine enorme Herausforderung für er in seinem Unterricht die Themen Flucht und Mig- Lehrkräfte. Ein Modellprojekt an Brandenburgs ration behandelte. Damals äußerte ein Schüler in der Berufsschulen unterstützt sie dabei. Anhand kon- Diskussion, dass doch nicht jedes in Seenot geratene kreter Fallbeispiele arbeiten Lehrerinnen und Leh- Flüchtlingsboot gerettet werden müsse. Ein anderes rer in einer kollegialen Fallberatung und gemein- Mal behauptete ein Schüler, es sei völlig gerechtfertigt, sam mit Forschenden Konfliktsituationen auf und dass Frauen weniger verdienten als Männer. Denn lernen, wie sie damit umgehen können. schließlich arbeiteten diese härter. „Das kann einen ganz schön aus der Spur bringen“, weiß Dannemann. Diskriminierung hat viele Gesichter. Manchmal zeigt sie sich in Beleidigungen: „Du Kanacke!“ oder „Du Kampflesbe!“. Oft sind es aber auch viel subtilere Diskriminierung ist ein f lächendecken- Äußerungen, die zeigen: Wer hier spricht, hat de- des Problem mokratiefeindliche und diskriminierende Ansichten. Etwa wenn jemand auf eine jüdische Weltverschwö- In so einem Fall sei das Wichtigste, klare Haltung rung anspielt oder behinderte Menschen abwertet. zu zeigen, erklärt der Wissenschaftler. „Aber“, räumt Die Beleidigungen und Angriffe richten sich häufig er ein, „manchmal ist es gar nicht so leicht, antide- gegen Mitschülerinnen und Mitschüler, oft aber auch mokratische oder diskriminierende Positionen als gegen Lehrkräfte oder gezielt gegen bestimmte Bevöl- solche überhaupt zu erkennen.“ An diesen beiden kerungsgruppen. Doch egal, in welcher Form: Wenn Stellschrauben setzt das Projekt „Starke Lehrer*innen sich Antisemitismus, Rassismus, Sexismus oder Ho- – starke Schüler*innen“ an: Es soll Lehrkräfte von mophobie in Klassenzimmern und auf Schulhöfen Berufsschulen einerseits für Diskriminierungsfor- zeigen, sind die Lehrkräfte gefordert – und häufig men oder Verschwörungsmythen sensibilisieren und überfordert. „In dem Moment weiß man, dass man ihnen andererseits vermitteln, wie sie darauf gut re- irgendwie und ganz schnell darauf reagieren muss“, agieren können. erzählt der Sozialwissenschaftler Udo Dannemann. Zwölf der insgesamt 25 Oberstufenzentren aus Aber die Frage sei, wie. Brandenburg haben sich um eine Teilnahme am Pro- Er selbst kennt den Schulalltag als Lehrer ganz jekt beworben. „Das zeigt, wie groß der Bedarf ist“, genau. Nach dem Lehramtsstudium unterrichtete betont Udo Dannemann. „Rassismus, Sexismus oder er Politik und Mathematik an Schulen in Lissabon andere Diskriminierungsformen sind flächendecken- und Berlin. Hier wurde auch er zum ersten Mal mit de Probleme.“ Sechs Oberstufenzentren konnten die schwierigen Situationen konfrontiert, in denen sich Forscherinnen und Forscher schließlich zur Teilnah- Foto: Hopfgarten, Tobias 12 PORTAL WISSEN · EINS 2022
me einladen. Jede Schule entsendet nun drei bis vier Lehrkräfte, die sich im Modellprojekt für drei Jahre DAS PRO JEKT weiterbilden und den Umgang mit Diskriminierung und extrem rechten und rechtspopulistischen Einstel- „Starke Lehrer*innen – starke Schüler*innen“ ist ein lungen und Positionen trainieren können. Modellprojekt in Brandenburg, das teilnehmenden Berufsschulen stehen gezielt im Mittelpunkt des Lehrkräften das notwendige fachliche und methodi- Projekts, denn die Schulform, an der die meisten sche Basis- und Hintergrundwissen vermittelt, um auf Schülerinnen und Schüler in Deutschland lernen, ist diskriminierende und demokratiefeindliche Positionen nur selten Teil von Modellprojekten. Hinzu kommt: an Berufsschulen reagieren zu können. Kooperations- „Das Fach Politische Bildung hat an den Berufsschu- partner und Förderer des Projekts sind neben dem len einen vergleichsweise schweren Stand und wird Lehrstuhl für Politische Bildung der Universität Pots- oft von fachfremden Lehrkräften unterrichtet“, erklärt dam das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport Udo Dannemann. Die Inhalte des Fachs sind nicht des Landes Brandenburg (MBJS), die Bundeszentrale prüfungsrelevant. Generell finde man an den Ober- für politische Bildung (bpb) und die Robert-Bosch- stufenzentren sehr unterschiedliche Schülerinnen Stiftung (RBS). und Schüler, und besonders häufig seien hier rechte und demokratiefeindliche Tendenzen vorhanden. Laufzeit: 2021–2023 „Das wird gerade heute wieder sichtbarer“, er- $ www.uni-potsdam.de/de/politische-bildung/1/ klärt der Forscher. Während sich das Problem in den modellprojekt-starke-lehrerinnen-starke-schuelerin- Illustration: Töpfer, Andreas 1990er Jahren vor allem in Gewaltkonflikten zeigte, nen-in-brandenburg sind es gegenwärtig eher psychische Gewalt, Beleidi- PORTAL WISSEN · EINS 2022 13
gungen und eine latente Demokratiefeindlichkeit. „Es stellungen könne nur dann adäquat eingegangen wer- ist viel schwieriger, auf so etwas zu reagieren als zum den, wenn ein soziologisch-politikwissenschaftlicher Beispiel auf eine Prügelei“, so Dannemann. „Starke Blick bei den beteiligten Lehrkräften geschult werde, Lehrer*innen – starke Schüler*innen“ soll nun eine beschreibt Udo Dannemann. von vielen möglichen Antworten auf diese Entwick- Für viele Lehrerinnen und Lehrer sind die Work- lung sein. shops wohl die erste Gelegenheit, mit anderen inten- Ein Vorläuferprojekt der TU Dresden und der Ro- siv über ihre Erfahrungen mit antidemokratischen bert Bosch Stiftung fand bereits von 2015 bis 2018 in Vorfällen an ihren Schulen zu sprechen. Im vollge- Dresden statt. Dieses konzentrierte sich vor allem auf packten Schulalltag ist dafür kaum Zeit. Hier können Rechtsextremismus als Form der Demokratiefeind- sie erzählen, Fragen stellen und anhand von konkre- lichkeit. Es folgte ein zweites Modellprojekt in Nie- ten Fallbeispielen ausprobieren, welche Strategien bei dersachsen, nun ein drittes in Brandenburg. Diesmal bestimmten Situationen helfen. Konflikte richtig zu blicken die Forscherinnen und Forscher auf antide- managen oder ein Argumentationstraining zu absol- mokratische Positionen und Einstellungen allgemein vieren, sind eine Säule des Programms. Eine zweite und berücksichtigen dabei auch die gesellschaftli- ist, die Lehrkräfte dafür zu sensibilisieren, wie man Illustration: Töpfer, Andreas chen, ökonomischen und sozialen Ursachen solchen diskriminierende und antidemokratische Positionen Denkens. Auf antidemokratische Positionen und Ein- überhaupt als solche erkennt. 14 PORTAL WISSEN · EINS 2022
Vernetzung als Schlüssel zum Erfolg Brücken zwischen Schulen und außerschulischen Vereinen, Initiativen und Stiftungen, um die bereits „Das erste halbe Jahr ist erst einmal dafür da, die Pro- vorhandene Expertise dorthin zu lenken, wo sie be- bleme überhaupt zu sehen“, erzählt Udo Dannemann. nötigt wird. Manchmal kämen Lehrerinnen und Lehrer in die Die Erfahrungen aus dem sächsischen Vorläufer- Workshops mit der Überzeugung: „Demokratiefeind- projekt zeigen: Lehrkräfte, die das Modellvorhaben lichkeit? Das gibt es bei uns nicht.“ Wenn man dann durchlaufen haben, fühlen sich sicherer im Umgang darüber etwas ausführlicher spreche, und Beispiele mit antidemokratischen Positionen, können Situati- für Diskriminierungsformen nenne, sei die Überra- onen besser einschätzen und sind handlungsfähig. schung groß: „Doch, das kennen wir auch.“ Auch das Brandenburger Projekt wird wissenschaft- Anfangs gehe es deshalb um die Frage, welche an- lich evaluiert: Das Forschungsteam erfragt vor und tidemokratischen Einstellungen es gibt und wie man nach den Workshops den Wissensstand der Lehr- sie erkennt. Was stecken für Ideologien dahinter und kräfte zu demokratiefeindlichen Einstellungen, was wie sind sie sozialwissenschaftlich zu erklären? „Das sie als besonders hilfreich wahrnehmen und wie sich kann sich keine Lehrerin und kein Lehrer in der Frei- ihre Argumentations- und Handlungssicherheit ver- zeit und allein aneignen“, betont Udo Dannemann. ändert hat. Ein Team der Universität Eichstätt, das die Gerade bei unterschwelligen Aussagen ist das Wissen Workshops begleitet, evaluiert ebenfalls alle aktuellen darüber jedoch wichtig, um die Situation einschätzen Standorte des Projekts mit Fragebögen und Gruppen- zu können und mit den Schülerinnen und Schülern interviews. ins Gespräch zu kommen. Dabei ist Fingerspitzen- gefühl gefragt: Mitunter vermag ein vorsichtiges Ge- Diskursverschiebung nach rechts spräch, in dem über Fakten, Motivation und Hinter- gründe gesprochen wird, mehr auszurichten, als die Das Projekt in Brandenburg hat gerade erst begon- klare Kante zu zeigen. Manchmal ist es aber auch nen. Doch für Udo Dannemann steht schon jetzt fest: umgekehrt. Nicht selten gerät das zu einer Gratwan- „Nach drei Jahren ist das nicht vorbei.“ Aussagen, derung für die Lehrkräfte. die Menschenrechte verletzen – das finde man nicht Die Kollegiale Fallberatung ist eine weitere wich- nur in der Schule, sondern zunehmend auch in der tige Ebene des Projekts, die auf externe Beraterinnen allgemeinen Gesellschaft. Wer solchen Positionen und Berater der Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, widerspreche, gelte schnell als Gegner der Meinungs- Integration und Demokratie (RAA) Brandenburg freiheit. Eine Diskursverschiebung nach rechts beob- setzt. Schon seit den 1990er Jahren unterstützt die achten Forscherinnen und Forscher tatsächlich schon RAA Schulen bei konkreten Problemen. Im Modell- seit einigen Jahren. Extreme rechte Positionen werden projekt gehen die Beraterinnen und Berater fünf Mal nach und nach in der „Mitte der Gesellschaft“ salon- pro Jahr an die teilnehmenden Schulen und geben fähig. „Was macht das mit Werten und Normen einer den Lehrkräften in einem kleinen, geschützten Raum demokratischen Gesellschaft?“, fragt Dannemann. Hilfestellung zu aktuellen Fällen. Diese regelmäßige, „Was passiert gerade im Schulalltag und wie kann professionelle Begleitung wüssten die Schulen sehr man intervenieren? Damit müssen sich Gesellschaft zu schätzen, sagt Udo Dannemann. Die Beratenden und Wissenschaft langfristig befassen.“ wiederum werden ebenfalls durch Qualifizierungs- „Starke Lehrer*innen – starke Schüler*innen“ soll maßnahmen innerhalb des Modellprojekts unter- deshalb auch über das Projektende hinauswirken. Die stützt. Vernetzungsworkshops stärken außerdem die Forschenden entwickeln aus den Projektergebnissen Bausteine für Fortbildungen, planen die Herausgabe einer Broschüre mit Ansprechpartnern für die Ober- D E R FOR SC H E R stufenzentren sowie eines „Werkzeugkoffers“ und bereiten analysierte Fallbeispiele in einer Sammlung Udo Dannemann hat Politik und auf. Hilfreiche Strukturen, die es schon jetzt an den Mathematik auf Lehramt an der Schulen gibt, sollen ergänzt und gestärkt werden. Universität Oldenburg und der Uni- Denn niemand sollte mit diesen Problemen allein- versität Bremen studiert. Er arbeitete gelassen werden, findet Dannemann. Er hofft, dass als Lehrer in Lissabon und Berlin einige der Projektteilnehmerinnen und -teilnehmer und promoviert derzeit an der Universität Potsdam in ihren Schulen zu Multiplikatoren werden, die ihren zur sozialwissenschaftlichen Bildung in der Schulpra- Kolleginnen und Kollegen künftig dabei helfen, sich xis im Modellprojekt „Starke Lehrer*innen – starke Diskriminierung und Demokratiefeindlichkeit entge- Schüler*innen“. genzustellen. „Es gibt dabei kein Patentrezept“, betont der Forscher. „Aber es kommt auf die Haltung an, die Foto: Hopfgarten, Tobias u dannemann@uni-potsdam.de man mitbringt oder sich erarbeitet.“ HEIKE KAMPE PORTAL WISSEN · EINS 2022 15
16 PORTAL WISSEN · EINS 2022 Illustration: Töpfer, Andreas
ANTIKE TEXTE SICHERN UNSER KULTURELLES ERBE Dr. Hedwig Schmalzgruber folgt einer besonderen Mission Schon im schulischen Lateinunterricht entdeckte Chefin in Potsdam, für die Qualifikationsarbeit einen Dr. Hedwig Schmalzgruber ihre Leidenschaft für weniger polarisierenden Ansatz zu wählen. „Da habe antike Sprachen und Texte. Später unterrichtete ich überlegt: Was ist innovativ?“ Auf der Suche nach sie selbst als Studienrätin an einem Gymnasium in einem geeigneten Thema rückten die so genannten Passau Deutsch, Latein und Griechisch, ehe sie der „Human-Animal-Studies“ (HAS) in ihren Fokus und Schule den Rücken kehrte, um ganz in die Wissen- Schmalzgruber entschied, diese Methode in der Klas- schaft einzutauchen. Im August 2017 kam die Phi- sischen Philologie einzusetzen. „Die Tier-Perspektive lologin an die Universität Potsdam, um ihre Habili- auf Fabeln anzuwenden, das gibt es bislang so gut wie tation zu schreiben. Darin analysiert sie lateinische gar nicht“, erzählt die Wissenschaftlerin. „Bisher hätte und griechische Fabelsammlungen in Versform. man gefragt, welche Lehren aus Fabeln zu ziehen sind oder welche Symbole die Tiere darstellen. Sich jedoch „Wenn ich einen großen Gutshof in Brandenburg in die Perspektive der Tiere hineinzuversetzen, um hätte, würde ich Ziegen halten. Ich liebe Ziegen“, das Verhältnis zum Menschen genauer zu charak- schwärmt Dr. Hedwig Schmalzgruber. „Sie sind wit- terisieren, ist ein gewinnbringender Impuls für die zig, klettern fleißig, haben Charakter und sind nütz- Forschung“, betont sie. lich.“ Nach einer kurzen Pause überrascht sie mit dem Nachsatz: „Und ich mag auch ihren Geruch gerne.“ Dass die Wissenschaftlerin über Tiere in antiken Fa- Als Lehrerin zurück in die Wissenschaft beln forschen würde, war so allerdings nicht geplant. Eigentlich wollte sie Fabeln in Verbindung mit Gen- Hedwig Schmalzgruber kommt aus einer oberfrän- der Studies analysieren. Als sie das Thema aus Wup- kischen Lehrerfamilie. In Erlangen studierte sie zu- pertal, wo sie promoviert wurde und als wissenschaft- nächst Latein und Deutsch auf Lehramt. Später kam liche Mitarbeiterin tätig war, mitbrachte, riet ihre neue noch Griechisch hinzu. Nach über fünf Jahren als PORTAL WISSEN · EINS 2022 17
Lehrerin an bayerischen Gymnasien bemerkte sie, inzwischen weitere Studien nach sich gezogen, „ein dass sie im Schuldienst nicht glücklich werden wür- Meilenstein in der Forschung“, resümiert die Wissen- de, „weil ich mich inhaltlich und wissenschaftlich mit schaftlerin nicht ohne Stolz. Texten befassen wollte.“ Die Entscheidung, zurück in die Forschung zu gehen, sei ihr nicht leichtgefallen, erinnert sie sich. Sie musste die Sicherheit des Schul- Tiere und Menschen in antiken Fabeln dienstes aufgeben und das Beamtenverhältnis lösen. „Doch ich habe das durchgezogen“, berichtet die Li- Als wissenschaftliche Mitarbeiterin kam sie 2017 an teraturwissenschaftlerin und ihre Augen leuchten. den Lehrstuhl Klassische Philologie der Universität An der Universität Wuppertal promovierte Schmalz- Potsdam. In ihrem Habilitationsprojekt erforscht sie gruber über ein lateinisches Bibelepos aus dem 5. hier die „Mensch-Tier-Beziehung und Mensch-Tier- Jahrhundert n. Chr., in dem das Alte Testament in Grenze in antiken Fabelsammlungen“. Für das Cor- Hexametern aufgearbeitet wird. Ihre Doktorarbeit hat pus hat sie zwei Fabeldichter ausgewählt: den relativ bekannten lateinischen Dichter Phaedrus aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. und den unbekannten griechi- D I E FOR SC H E R I N schen Autor Babrios, der vermutlich im 2. Jahrhun- dert n. Chr. lebte. In den Texten untersucht die Wis- Dr. Hedwig Schmalzgruber studierte senschaftlerin, welche Formen der Interaktion zwi- Latein, Deutsch sowie Griechisch an schen Mensch und Tier es gibt und wie sie miteinan- der Universität Erlangen-Nürnberg. der kommunizieren. Neben diesen zentralen Fragen Seit 2017 ist sie wissenschaftliche beleuchtet Hedwig Schmalzgruber die Beziehungen Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Klas- und die Machtverhältnisse. „Sind die Beziehungen sische Philologie der Universität Potsdam. z.B. durch Ausbeutung zu ökonomischen Zwecken gekennzeichnet oder spielt emotionale Zuwendung Fotos: Hopfgarten, Tobias (2) u hedwig.schmalzgruber@uni-potsdam.de eine Rolle?“ Überrascht hat die Philologin, dass die Autoren ein wirkliches Interesse an Tieren zeigen. 18 PORTAL WISSEN · EINS 2022
Dr. Hedwig Schmalzgruber „In einer Fabel beschreibt Babrios detailliert den All- Als kulturelle Botschafterin in der tag eines Esels, der Lasten trägt und als Nutztier seine Forschung Rolle hat, bis er sich in den Esel regelrecht hineinver- setzt. Dabei wird deutlich“, führt sie aus, „dass der Hier lassen sich Ansätze einer artgerechten Haltung Esel wie das Haushündchen seines Herren behandelt erkennen. Auch zeige das Beispiel, dass Frauen in der werden möchte. Der Esel sehnt sich nach Liebe und antiken Fabel oft schlecht wegkommen. „Sie gehen Zuwendung, bricht aus seinem Stall aus, rennt in mit ihren Tieren grob und rücksichtslos um“, erläu- das Zimmer seines Herrn und wirft sich ihm an den tert Schmalzgruber. In ihrer Stimme klingt Erleich- Hals.“ Das führt am Ende dazu, dass eine große Panik terung mit, dass sie den Ansatz der Gender Studies entsteht und der Esel erschlagen wird. Für Hedwig nicht weiterverfolgt hat. „Der jetzige Zugriff über die Schmalzgruber sagt dieser Text viel aus. Tierperspektive ist facettenreich und vielschichtig“, „Oder eine alte Witwe hält sich ein Schaf“, be- resümiert sie. „Die Genderfrage wäre insgesamt nicht richtet sie aus einer anderen Fabel des Dichters. „Sie so ergiebig gewesen.“ möchte möglichst viel Wolle von ihrem Schaf bekom- Dr. Hedwig Schmalzgruber hofft, Mitte 2022 ihre men. Doch sie setzt ihre Schere so nah an der Haut Habilitation abzuschließen. „Ich möchte in der Wis- an, dass sie das Schaf verletzt.“ Daraufhin erhebt das senschaft bleiben, das ist meine Leidenschaft“, stellt Tier seine Stimme: „Wenn Du mein Fleisch willst, sie klar. In jedem Fall verfolgt sie neben ihren For- dann hole bitte einen Metzger, der macht das richtig. schungsthemen noch eine weitere Mission: „Latein Wenn Du nur meine Wolle willst“, fasst die Philo- darf nicht aus den Lehrplänen verschwinden“, mahnt login zusammen, „dann hol einen Scherer, der mit sie mit Blick auf unser kulturelles Erbe. „Forschung dem Werkzeug umzugehen weiß.“ Eine ihrer Lieb- zum Corona-Virus ist jetzt zwar wichtiger als eine lingsfabeln, wie Schmalzgruber betont. „Daran finde Studie über antike Fabeln. Doch langfristig gilt es, die ich einerseits frappierend, wie das Schaf fordert, als Wurzel unserer Kultur, zu der Lateinlernen gehört, Tier angemessen behandelt zu werden. Andererseits nicht abzuschneiden.“ Foto: Hopfgarten, Tobias zweifelt das Schaf überhaupt nicht daran, dass es zum Nutzen der Witwe da ist.“ DR. SILKE ENGEL PORTAL WISSEN · EINS 2022 19
Sexuelle Aggression Ein Team um die Psychologin Barbara Krahé will die Kompetenz von jungen Erwachsenen in sexuellen Situationen fördern #MeToo hat Wellen geschlagen – und das nicht nur im Netz, sondern auch in den Köpfen. Viele Menschen bewerten nun Berührungen, Gesten und Worte als sexualisierten Übergriff, die sie vorher vielleicht als Privatsache zwischen zwei Menschen einsortiert haben. Und das Erkennen sexualisierter Gewalt ist die Voraussetzung dafür, sie zu verhindern. Die Sozialpsychologin Barbara Krahé hat mit ihrem Team in einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Studie gefragt, wie sexueller Aggression, definiert als unfrei- willige sexuelle Kontakte, vorgebeugt werden kann. 1.181 Studierende der Uni- versitäten in Potsdam und Berlin nahmen von 2018 bis 2020 daran teil. 20 PORTAL WISSEN · EINS 2022
Foto: AdobeStock/mihaisurdu PORTAL WISSEN · EINS 2022 21
Die Forscherinnen Sexualisierte Gewalt ist erschreckend verbreitet. Doch was sind die Risikofaktoren dafür, Opfer oder Täter DAS PRO JEKT zu werden? Und wie lässt sie sich verhindern? Was es wahrscheinlicher macht, sexuelle Aggression zu erle- Preventing Sexual Aggression among College Students: ben oder auszuüben, das hatten Barbara Krahé und ih- An Online Intervention Study re Mitarbeiterin Anja Berger schon in einer früheren Studie aus den Jahren 2011 bis 2013 herausgefunden. Beteiligt: Prof. Dr. Barbara Krahé (Leitung), Isabell Damals befragten die Psychologinnen über 2.400 Schuster, Paulina Tomaszewska Studierende und stellten fest, dass die Vorstellungen Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) über den Ablauf von freiwilligen sexuellen Kontak- Laufzeit: 2018–2021 ten eine „ganz entscheidende Bedeutung“ haben. Barbara Krahé nennt diese Skripts auch Verhaltens- drehbücher. „Das ist vergleichbar mit einem Besuch Krahé zusammen mit ihren Mitarbeiterinnen Paulina im Restaurant“, erklärt die Psychologin. „Jede Per- Tomaszewska und Isabell Schuster eine zweite Studie son hat eine allgemeine Vorstellung davon, wie eine auf den Weg. „KisS – Kompetenz in sexuellen Situati- solche Situation abläuft: Wo setze ich mich hin, was onen“ nennt sich die Interventionsstudie, die sie mit bestelle ich, wann gehe ich wieder?“ In Bezug auf se- dem Titel bewusst positiv besetzen wollten. Die Stu- xuelle Aggression sind solche Verhaltensdrehbücher dienteilnehmenden waren durchschnittlich 22 Jahre dann als riskant einzuschätzen, wenn sie bestimmte alt und stammten überwiegend aus der Region. 65 Merkmale aufweisen, die nachgewiesenermaßen mit Prozent von ihnen waren weiblich. „Wir haben einen sexuellen Opfererfahrungen und Täterhandlungen in inklusiven Ansatz verfolgt, indem gleichgeschlechtli- Verbindung stehen. Dies ist etwa der Fall, wenn eine che, gegengeschlechtliche und Kontakte mit beiden Person denkt, dass Alkoholkonsum zu sexuellen In- Geschlechtern erfasst wurden.“ Häufig würden in teraktionen dazugehört oder dass man seine sexuellen Studien Frauen nur nach Opfererfahrungen und Absichten und Wünsche nicht zu deutlich kommu- Männer nur nach Täterhandeln befragt. „Das ist aus nizieren sollte. Solche Skripts lenken das Verhalten unserer Sicht überholt“, sagt Krahé. Zwar hätten Frau- in sexuellen Situationen und wirken sich so auf das en eine höhere Opferwahrscheinlichkeit und Männer Risiko aus, unfreiwillige sexuelle Kontakte zu erleben riskantere Skripts. „Aber für beide gilt: Je riskanter die oder andere dazu zu bringen. Verhaltensdrehbücher, desto wahrscheinlicher ist ein Foto: Hopfgarten, Tobias Um herauszufinden, wie das Risiko für unfreiwil- riskantes Verhalten und damit die Wahrscheinlichkeit lige sexuelle Kontakte gesenkt werden kann, brachte unfreiwilliger sexueller Erfahrungen.“ 22 PORTAL WISSEN · EINS 2022
Die Probandinnen und Probanden konnten die wurden für diesen Zeitabschnitt von neun Prozent der Psychologinnen vor allem über Mailinglisten der Frauen und 18 Prozent der Männer berichtet. Diese Universität Potsdam und von Berliner Hochschulen Zahlen zeigen klar, dass es einen Bedarf für Präventi- gewinnen. Sie wurden anschließend per Zufallsprin- onsmaßnahmen gibt. zip und unwissentlich in eine Kontroll- und eine „Wir sind davon ausgegangen, dass wir nach Ab- Interventionsgruppe aufgeteilt. In beiden Gruppen schluss der Befragung bei der Interventionsgruppe wurden zunächst die sexuellen Skripts und eine Reihe weniger aggressives Verhalten und weniger Opfer- anderer Aspekte des Denkens und Handelns in Bezug erfahrungen finden würden“, erklärt Barbara Krahé. auf sexuelle Begegnungen erfasst, um sie mit den Da- „Dies hat sich bestätigt: Bei den Probandinnen und ten vergleichen zu können, die nach der Intervention Probanden, die an dem sechswöchigen Präventions- erhoben werden sollten. Danach bearbeitete die In- programm teilgenommen hatten, fanden sich weni- terventionsgruppe im wöchentlichen Abstand sechs ger riskante Skripts. Das sexuelle Selbstwertgefühl Präventionsmodule, während die Kontrollgruppe kei- war höher und die Akzeptanz für sexuelle Nötigung ne Aufgaben erhielt. „Eine Woche nach dem letzten geringer“, erklärt Krahé. „Wir haben gezeigt, dass Modul haben wir beide Gruppen befragt, dann noch wir das Risiko für unfreiwillige sexuelle Kontakte einmal neun Monate und schließlich zwölf Monate verringern können, wenn die Skripts für freiwilligen später ein drittes Mal“, erklärt Schuster. Sex weniger riskant werden.“ Unter dem sexuellen Beim ersten Messzeitpunkt vor der Intervention Selbstwertgefühl verstehen die Wissenschaftlerinnen wurden die Probandinnen und Probanden gefragt, ob positive Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen sie seit dem 14. Lebensjahr sexuelle Aggression erlebt in Bezug auf die eigene Sexualität. „Hat jemand ein oder ausgeübt hatten. Später dann, ob sie seit der letz- hohes sexuelles Selbstwertgefühl, ist die Wahrschein- ten Befragung sexuellen Kontakt gegen ihren Willen lichkeit, sexuelle Gewalt auszuüben oder zu erfahren erlebt oder andere dazu gebracht hatten. Das heißt geringer – es ist also ein schützender Faktor“, erklärt konkret: Erlebten die Befragten beispielsweise Berüh- Isabell Schuster. rungen, Küsse oder Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen oder brachten eine andere Person dazu? Gab es verbale Nötigung, wurden etwa Gerüchte verbrei- Die Studierenden bearbeiteten Module tet oder wurde gedroht, die Beziehung zu beenden? zur Förderung der sexuellen Kompetenz Konnte sich eine Person nicht wehren, weil sie unter Alkoholeinfluss stand? Stell dir vor, du willst zum ersten Mal mit deinem Die Ergebnisse der Studie sind aufgrund der ho- Partner schlafen, wie würde es ablaufen? Wie wahr- hen Opferzahlen erschreckend, sie zeigen aber auch, scheinlich ist es, dass du ja sagst, obwohl du nein dass Prävention möglich ist. Zu Beginn der Studie meinst? Wie gut kanntest du die Person, mit der du berichteten 62 Prozent der Frauen und 37 Prozent zuletzt geschlafen hast? Bist du zufrieden mit deinen der Männer, seit dem 14. Lebensjahr mindestens eine sexuellen Kontakten? Wie häufig konsumierst du Por- Opfererfahrung gemacht zu haben. Täterhandlungen nografie? Hast du schon einmal eine Person, die sehr Prof. Barbara Krahé Foto: Hopfgarten, Tobias PORTAL WISSEN · EINS 2022 23
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