SCHWERPUNKT JÜDISCHE IDENTITÄT - UNTERWEGS MIT EDMUND DE WAAL JÜDISCHES MAGAZIN FÜR POLITIK UND KULTUR - NUNU.AT
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Ausgabe Nr. 77 (3/2019) · Tishrei 5780 · € 6,50- www.nunu.at Jüdisches Magazin für Politik und Kultur Unterwegs mit Edmund de Waal Schwerpunkt Jüdische Identität
Editorial VON DANIELLE SPERA VON ANDREA SCHURIAN HERAUSGEBERIN CHEFREDAKTEURIN Für die Vielfalt Eine Frage der Identität Was bestimmt die jüdische Identität, was macht uns jü- Trennend, verbindend, dazugehörend, abgrenzend, in- disch? Gebete, Feiertage, Bräuche, Gewohnheiten, all das be- klusiv, exklusiv: Wie definiert sich Identität, gibt es eine stimmt ein jüdisches Leben. Aber viel mehr als die Rituale, die explizit jüdische Identität? Ist sie statisch? Dynamisch? Ist Feiertage, bedeutet uns die Erinnerung an unsere Wurzeln. die Zugehörigkeit zu einer Religion oder Ethnie identitäts- Aus dieser Erinnerung können wir Kraft schöpfen, sie gibt stiftend? Der Schwerpunkt dieser NU-Ausgabe mischt sich uns Sicherheit. Jude sein bedeutet auch – und das ist ganz aus verschiedensten Blickwinkeln, mit persönlichen Erin- wesentlich – zusammenzuhalten, Lehren aus unseren Erfah- nerungen, kontroversiellen Kommentaren, konzisen Ana- rungen und unserem Schicksal zu ziehen. Die Grundwerte des lysen in den Identitätsdiskurs ein. Die deutsche Schrift- Judentums haben sich über Jahrhunderte hinweg, verstreut stellerin Lena Gorelik erklärt in ihrem ebenso witzigen wie über die ganze Welt, erhalten, sie sind über viele Generationen tiefernsten Buch Lieber Mischa … der Du fast Schlomo Adolf weitergegeben worden. An ihnen halten wir Juden fest, durch Grinblum geheißen hättest, es tut mir so leid, dass ich Dir sie sind wir miteinander verbunden. das nicht ersparen konnte: Du bist ein Jude ihrem Sohn, „Jude sein – was ist das eigentlich?“ Jeder verbindet damit was Jüdischsein bedeutet und welchen anti- und philose- etwas anderes. Es gibt jede Menge unterschiedliche Auffas- mitischen Vorurteilen er im Laufe seines Lebens begegnen sungen darüber, wie Menschen dieses „Jude sein“ auslegen würde. Wie eine Fortsetzung dazu lesen sich Ronni Sinais und leben. Bei hundert Juden findet man dazu garantiert 120 Erinnerungen an seine assimilierte Kindheit in Wien. Wie Meinungen. Meist hört man, „Ich bin so geboren, es ist einfach sehr ihre Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Heimat das so.“ Religion, Kindheitserinnerung, Tradition, Lebensgefühl, Schreiben der Dichterin Mascha Kaléko bestimmte, be- das Wissen um die Schicksalsgemeinschaft, die Erinnerung schreibt der Psychotherapeut, katholische Theologe und an die Schoah, all das und noch mehr wird genannt, wenn Autor zahlreicher Bücher Arnold Mettnitzer. Ob und wie man Juden nach ihrer Identität fragt. sehr jüdische Identität für Israel Zusammenhalt und hoch- Aus diesem Grund haben wir uns für die aktuelle Ausgabe explosiven Konfliktstoff bedeutet, fragt Michael Reinprecht von NU diesem Thema gewidmet. Andrea Schurian war mit die israelische Botschafterin Talya Lador-Fresher. Edmund de Waal unterwegs, dem britischen Keramikkünst- Danielle Spera, NU-Herausgeberin und Direktorin des ler, der mit seinem Buch Der Hase mit den Bernsteinaugen die Jüdischen Museums Wien, reflektiert über die identi- Geschichte seiner Familie, der Ephrussis, wieder in das kol- tätsstiftende Funktion eines jüdischen Museums. Davut lektive Bewusstsein rückte. Viele Wienerinnen und Wiener Mizrahi, türkisch-österreichisch-jüdischer Kunsthändler dachten, das Palais Ephrussi hätte immer dem staatlichen und Restaurator, erklärt hingegen im Gespräch mit Dodie Glücksspielkonzern gehört, der dort nach dem Zweiten Welt- Schurzel: „Ich bin Davut Mizrahi. Das muss reichen.“ Konrad krieg lange seinen Hauptsitz hatte. Dass die Familie Ephrussi Paul Liessmann, einer der prominentesten und argumenta- einiges zum Aufbau der Infrastruktur unserer Stadt beigetra- tionsstärksten Philosophen des Landes, zitiert aus Ludwig gen hatte, 1938 enteignet, vertrieben und in alle Welt zerstreut Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus: „Von zwei wurde, darüber lag der in Österreich lange immanente Mantel Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, und des Schweigens. In der Familie de Waal-Ephrussi spielt das von Einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt Thema Identität bis heute eine Rolle. Edmund de Waal be- gar nichts“, jeder Mensch könne also nur mit sich selbst schreibt sich selbst als christlich aufgewachsenen, buddhisti- identisch sein. Kritik an identitätspolitischen Konzep- schen, anglikanisch-jüdischen Quäker. Das wichtige jüdische ten übten auch Vertreter der Kritischen Theorie, so auch Prinzip, das Leben nach bestem Wissen und Gewissen zu Theodor W. Adorno, den Ronald Pohl anlässlich des 50. To- leben und alle eigenen Talente auf das Beste zu nützen, erfüllt destages würdigt. Edmund de Waal jedenfalls vortrefflich. Warum die jüdische Gemeinde in Belgrad auf die Bar- Nicht stehen zu bleiben, sich immer wieder zu erneu- rikaden geht, berichtet Nathan Spasić. Weitaus weniger ern und mit sich selbst im Reinen zu sein, gehört auch zum turbulent ist die Situation in Wien: Wie es in der IKG und Thema Identität. Das jüdische Neujahrsfest bietet uns Anlass, im Stadttempel nach dem Rücktritt von Oberrabbiner Ariel darüber zu reflektieren, was in unserem Leben wesentlich ist. Folger zu- und künftig weitergeht, analysiert René Wach- Jude sein heißt vor allem Mensch sein: „Kol Israel Areivim Se tel. Zu Kontroversen und Diskussionen regt vielleicht der La Se“, wie es im Talmud steht – ganz Israel haftet füreinan- Kommentar von George Frey an: Er hält die Entscheidung, der. Alle Juden bürgen füreinander, sind füreinander da. Die- dass Jom Kippur weiterhin als Feiertag gilt und Jüdinnen sen wichtigen Grundsatz sollten wir gerade in den Tagen um und Juden in Österreich einen Feiertag mehr haben als alle Rosch Haschana und Jom Kippur verinnerlichen und versu- anderen, im Lichte der Karfreitagsdiskussion für ungerecht chen, im nächsten Jahr danach zu handeln. In diesem Sinn und kontraproduktiv. Schreiben Sie uns Ihre Meinung dazu! wünsche ich Ihnen herzlich Schana Tova umetuka! Ein gutes Ich wünsche Ihnen eine gute Einschreibung in das Buch und süßes neues Jahr, sowie eine gute Einschreibung in das des Lebens, vor allem aber ein friedvolles, gesundes und Buch des Lebens. süßes neues Jahr. 3 | 2019 3
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Inhalt & Impressum Aktuell Identität, speziell „jüdische Identität“: Unterwegs mit Der Schriftsteller und Psychologe Arbeitsfrei zu Jom Kippur: Arno Gruen über das Gefühl, sich nicht dem Londoner Künstler Edmund de Ungerechtfertigtes Privileg? zugehörig zu fühlen..............................S. 24 Waal durch das jüdische Venedig Kommentar von George Frey..........S. 6 Von Andrea Schurian …....................S. 46 „Heimweh, wonach?“, oder: „Wo Belgrader Juden auf gehöre ich hin?“: Die Ephrussis: Eine Zeitreise im den Barrikaden:Ein Bericht Für den Theologen Arnold Mettnitzer Jüdischen Museum Wien von Nathan Spasić................................S. 7 bedeutet Identität, Von Gabriele Kohlbauer ...................S. 48 zu den Irrtümern des eigenen Lebens Neue Wege im Stadttempel: zu stehen.................................................S. 26 Kultur Kommentar von René Wachtel........S. 8 „Mit meinen Fragen habe ich diese „Was wir zu hören bekamen, „Jeder soll für sich definieren, was Schweigemauer durchbrechen war oft mehr, als wir ertragen Judentum bedeutet“: Mark Napadenski können“:Gabriele Flossmann konnten“: Edek Bartz und im Gespräch mit Bini Guttmann, dem im Gespräch mit dem Schriftsteller Albert Misak machten als Geduldig neuer Präsidenten der European Union David Weiss …........................................S. 28 und Thimann zwanzig Jahre of Jewish Students...........................................S. 9 lang mit jiddischen Songs auf sich Einen Schritt beiseite wagen: Danny aufmerksam. Ein Porträt Schwerpunkt: Jüdische Identität Leder wirft einen Blick von Gabriele Flossmann....................S. 48 auf die Vielfalt der ethnischen und Die Top Ten der antisemitischen geografischen Ursprünge Wiederholungen als Wege zum Selbst: Vorurteile: Warum sie wahr sind der jüdischen Gemeinschaften in Ronald Pohl über Theodor W. Adorno Von Lena Gorelik …..............................S. 12 Afrika. ......................................................S. 33 zu dessen 50. Todestag …..................S. 52 Weder Abgrenzung noch Verzicht: Ein jüdisches Museum zwischen Unerschrockene Beharrlichkeit Kommentar von Eric Frey...............S. 13 gestern und morgen: Kommentar für ein klein wenig Trost: von Danielle Spera............................ S. 36 Die Arbeiten des russisch- Arche Noah unter österreichischer französischen Historikers Léon Flagge: Erinnerungen an eine Das große Ganze: Poliakov sind in einer Neuauflage assimilierte Kindheit Israel ist als Staat und Demokratie auf auf Deutsch erschienen. von Ronni Sinai....................................S. 14 der Suche nach seiner Identität Von Marc Ottiker .......................... S. 54 Von Michael Reinprecht ….............. S. 37 Eine Frage der Identität: Humor als Waffe: Juden als Mitglieder einer religiösen „Die Armee ist die Eintrittskarte in die Elia Suleiman ist palästinensischer Gemeinschaft und israelische Gesellschaft“: und israelischer Regisseur zugleich. Angehörige einer Nation Talya Lador-Fresher, israelische Ein Porträt anlässlich seines neuen Von Jonathan Rosenblum...............S. 16 Botschafterin in Österreich, im Films von Gabriele Flossmann ....S. 56 Gespräch mit Michael Reinprecht ..S. 40 „Jüdischsein ist in Österreich immer Zeitgeschichte noch keine Selbstverständlichkeit“: Inkonsistente Identität: Worin Christina Hainzl forscht über unterscheiden sich linke Identität zum Überleben: jüdisches Leben in Österreich Identitätspolitik und Geduldete und verordnete Kunst im Von Michael Pekler rechte identitäre Politik? Konzentrationslager und René Wachtel …............................S. 18 Kommentar von Von Rosalinda Napadenski …........S. 58 Konrad Paul Liessmann ..................S. 42 „Ich bin Davut Mizrahi, das muss Chassidische Weisheiten genügen“: Dodie Schurzel über den Israel sehr bestimmten türkisch- von Oberrabbiner Chaim Paul österreichisch-jüdischen Von der Finsternis zum Licht: Eisenberg: Warum ein Griffel Kunsthändler ......................................S. 20 Moshe Safdie, der berühmteste sehr nützlich sein kann …................S. 60 Architekt Jerusalems, ha Die große Herausforderung mit seinen Visionen die Stadt Bücher einer modernen nachhaltig geprägt. jüdischen Identität: Kommentar Ein Porträt Neuerscheinungen, gelesen von von Martin Engelberg ….......................S. 23 von René Wachtel. …...........................S. 43 Gregor Auenhammer .......................S. 62 Erscheinungsweise: KONTAKT BANKVERBINDUNG SIE SIND AN EINEM ABO-SERVICE, 4 x jährlich Tel.: +43 (0)1 535 63 44 NU-ABONNEMENT INTERESSIERT? VERTRIEB & IBAN: Nächste Ausgabe: Fax: +43 (0)1 535 63 46 ANZEIGEN AT78 1100 0085 7392 3300 Jahres-Abo (vier Hefte) inkl. Versand: Dezember 2019. E-Mail: office@nunu.at Österreich: Euro 22,– Ronni Sinai Auflage: 4.700 Internet: www.nunu.at BIC: BKAUATWW Europäische Union: Euro 25,– ronni.sinai@ Außerhalb der EU: Euro 28,– nunu.at TITELBILD © Fulvio Orsenigo
Aktuell Arbeitsfrei zu Jom Kippur: Ungerechtfertigtes Privileg? KOMMENTAR VON GEORGE FREY Loyalität und unser Zugehörigkeitsge- und Buddhisten sollen Juden, wenn fühl zu Österreich und seinen Institu- ihnen ein Feiertag besonders wichtig Am 9. Oktober werden viele Wiener tionen – im absoluten Sinn und eben ist, einen ihrer Urlaubstage dafür in Jüdinnen und Juden die Synagoge be- auch relativ zum Staat Israel. Anspruch nehmen. Das ist auch eine suchen, um Jom Kippur zu begehen. Ich bin in Wien geboren und aufge- Frage der Solidarität – ich wünsche Jene, die in einem Dienstverhältnis wachsen, habe die meiste Zeit meines mir kein ungerechtfertigtes Privileg stehen, werden an diesem Tag einen Lebens hier gewohnt und habe hier auf Kosten der restlichen Bevölkerung. zusätzlichen freien Tag in Anspruch Familie und viele Freunde, jüdisch und Bei Sportveranstaltungen mit israe- nehmen, der ihnen auf Grund des Ge- nichtjüdisch. Ich verspüre eine starke lischer Beteiligung schlägt auch mein neralkollektivvertrags auch zusteht. Bindung an und Dankbarkeit für die- Herz für den israelischen Sportler – Im Gegensatz zu den vergangenen ses Land, trotz Ambivalenz und vieler egal ob Jude oder Araber –, auch dann, Jahren – und nach der Neuregelung Zweifel und Ärgernisse. wenn ich seinen oder ihren Namen zu- des Karfreitags durch die ehemalige Ich konnte seit jeher jene Juden meist noch nie gehört habe. Bundesregierung – wird Jom Kippur in Wien nicht verstehen, die hier mit Aber wenn ich um drei Uhr in der der einzige Feiertag sein, der zusätz- Selbstverständlichkeit die besten Rah- Früh aufstehe, dann deshalb, um mir lich zu den Urlaubstagen genommen menbedingungen für ein friedliches, Dominic Thiem bei den US Open anzu- werden darf. Damit können Juden sicheres, erfolgreiches Leben (jüdisch sehen. Und wenn Marcel Hirscher den in Österreich einen Urlaubstag mehr und im Allgemeinen) nutzen, aber zu- Olympiaslalom fährt, dann stockt mir haben als alle anderen Bediensteten. gleich Solidarität mit Österreich und der Atem, wie er es beim israelischen Am Tag darauf findet im Ernst-Hap- Patriotismus kleinreden oder sogar Judoka nicht tut. Diesen Patriotismus pel-Stadion ein Fußballspiel zwischen verneinen. vergesse ich nicht, wenn es um die Österreich und Israel statt; ein wichti- Wir Juden haben in Österreich auf- EM-Qualifikation gegen Israel geht. ges, vorentscheidendes Spiel, das der grund des Holocaust und der daraus Was bedeutet das konkret für diese siegreichen Mannschaft gute Chancen resultierenden Verantwortung der Re- beiden Themen? auf die EM-Qualifikation eröffnet. Viele publik eine gewisse Sonderstellung. Ich erwarte mir von den politischen meiner Wiener jüdischen Freunde und Das führt z.B. dazu, dass jüdisches Verantwortlichen der IKG, dass sie auf Bekannten, die sonst österreichische Leben in Österreich gefördert wird, die ungerechtfertigte Besserstellung Sportler voll unterstützen, werden dass jüdische Institutionen beson- des Extra-Feiertags verzichten, statt dort wohl mit Begeisterung israelische ders geschützt werden und dass die um etwas zu kämpfen, das mit größter Fahnen schwingen, inbrünstig die Ha- Erinnerung an die Vertreibung und Wahrscheinlichkeit ohnehin angefoch- tikvah mitsingen und bei etwaigen is- Vernichtung jüdischen Lebens ein we- ten und vor Gericht nicht halten wird. raelischen Toren jubeln. sentlicher Eckpfeiler für das Selbstver- Im Ernst-Happel-Stadion sollten die Was haben die beiden Anlässe mit- ständnis Österreichs bleibt. jüdischen Sportvereine uns allen eine einander zu tun, abgesehen davon, Aber Sonderstellung bedeutet nicht österreichische und eine israelische dass sie an zwei aufeinanderfolgen- Besserstellung. Es gibt aus meiner Fahne in die Hand drücken, damit wir den Tagen stattfinden? Sicht keine moralische Rechtferti- unsere beiden Loyalitäten zum Aus- Beide beinhalten eine Kernfrage gung, weshalb Jom Kippur anders be- druck bringen können. Es ist ja voll unserer Identität als Juden und Jü- handelt werde sollte als jeder andere okay, auf einen Sieg Israels zu hoffen dinnen in Österreich: Wie stark aus- Feiertag einer religiösen Minderheit. – bloß bitte nicht auf eine Niederlage geprägt ist unsere Solidarität, unsere Genauso wie Moslems, Protestanten Österreichs. nu 6 3 | 2019
Aktuell Belgrader Juden auf den Barrikaden VON NATHAN SPASIĆ Medićs Verwaltung des Gemeindever- zipien hätten nichts mit jüdischer Tradi- mögens sei intransparent. So soll er die tion gemein. „Aus diesen Gründen sagte Vor dem Justizministerium in Belgrad im Restitutionsgesetz festgelegte Be- ihm die absolute Mehrheit der jüdischen versammeln sich seit Ende Juni fast täg- richtspflicht über die Verwendung der Gemeinde in Belgrad: ‚Geh weg!‘, wie Mose lich Dutzende Mitglieder der kleinen jüdi- Gelder missachtet und keinen Bericht einst dem Pharao sagte: ‚Lass mein Volk schen Gemeinde. Sie demonstrieren, weil abgegeben haben. Medić bestreitet die gehen!‘“. Der Oberrabbiner wirft Medić vor, sie meinen, dass die serbische Regierung Behauptung und verteidigt seinen Um- er habe ungehorsame Gemeindemitglie- ihre Rechte als Religionsgemeinschaft gang mit den Gemeindefinanzen: „Jeder der marginalisiert, ihm wohlgesinnte mit untergrabe. Diese würde sich weigern, kann sich nach der finanziellen Situation Posten belohnt. den im März bei einem außerordentli- der Gemeinde erkundigen und Antwor- In einem Schreiben an Alexander chen Votum designierten Vorsitzenden ten erhalten.“ Der designierte Vorsitzende Jinker sichert der Europäische Jüdische der jüdischen Gemeinde, Alexander Alexander Jinker kontert, dass Medić die Kongress der Gemeinde Belgrads seine Jinker, als solchen anzuerkennen und Buchhaltung unter Verschluss halten volle Unterstützung zu, um „die Ordnung einzutragen. Damals erhielt Jinker 335 und den Belgrader Juden den Zugang und das Vertrauen wiederherzustellen“. Stimmen, sein Kontra- Man blicke angesichts der hent, der bisherige Vor- aktuellen Situation und sitzende Danilo Medić, der mangelnden Trans- nur fünf. „Nun steht © CREATIVE COMMONS parenz zutiefst besorgt das jüdische Leben nach Belgrad. „Es ist nicht still, weil die Regierung hinnehmbar, dass die Re- einen Konflikt illegal stitutionsgelder von ihren aufrechterhält“, so Jin- rechtmäßigen Berechtig- ker. Diese wiederum ten abgezweigt werden“, verweist auf einen an- heißt es abschließend. dauernden Rechtsstreit Ein weiterer Grund mit Medić, dessen Aus- für die Opposition gegen gang erst abgewartet Medić war dessen Rolle werden müsse. in der Causa rund um die Die Vorgeschichte: geplante Errichtung eines 2016 verabschiedete Die Synagoge Sukkat Shalom im Belgrader Stadtzentrum. Einkaufszentrums auf das serbische Parla- dem Gelände des ehema- ment ein Gesetz, welches die Rückgabe verweigern würde. Nun hat sich auch ligen Konzentrationslagers Topovske und Reparationszahlungen für während Oberrabbiner Isak Asiel in den Konflikt Šupe am Stadtrand von Belgrad. Dabei der Schoah konfisziertes Eigentum vor- eingeschaltet und erhebt schwere Vor- hat Medić als Gemeindevorsitzender den sieht. Dabei wurden etliche Liegenschaf- würfe. Abriss des Lagers schriftlich abgesegnet. ten, die sich vor der Schoah in jüdischem In einer Videobotschaft spricht er von Topovske Šupe war das erste Konzen- Besitz befanden, an die jüdische Ge- „zehn Plagen“, welche die Gemeinde ereilt trationslager auf serbischem Gebiet und meinde übergeben. Zusätzlich verpflich- hätten, und wirft Medić vor, er habe die wurde von August bis Dezember 1941 tete sich Serbien, bis 2041 jährlich Zah- Gemeinde in eine undemokratische, hier- betrieben. In diesem Zeitraum wurden lungen in Höhe von 950.000 Euro an die archische Partei umgewandelt. Zudem knapp 4300 Menschen, hauptsächlich Gemeinde zu leisten. Diese Mittel werde soll er mit einer eigens dafür gegründeten Juden und Roma, ermordet. Oberrabbiner man für Bildung, die Unterstützung von Firma Restitutionsgelder intransparent Asiel spricht in einem Interview von Ver- Schoah-Überlebenden und den Kampf verwaltet haben. „Danilo Medić behan- rat und kündigt weitere Schritte an. gegen Antisemitismus verwenden, hieß delt das Budget der jüdischen Gemeinde In einer Aussendung schreiben die es vonseiten des damaligen Gemein- Belgrad, als ob es das Investitionsbudget Demonstranten: „Wir bitten nicht um viel. devorstands. Zur gleichen Zeit wurde seiner privaten Firma wäre“, so der Ober- Nur um die Rechte, die uns die Verfas- der nun im Visier der Demonstranten rabbiner. Medić gefährde damit nicht nur sung Serbiens garantiert. Dafür werden stehende Geschäftsmann Danilo Medić die Existenz der jüdischen Gemeinde wir auch weiterhin demonstrieren!“. Für zum Vorsitzenden der jüdischen Ge- in Belgrad, sondern auch der gesamten die nächste Ausgabe reist NU nach Bel- meinde Belgrads gewählt. Bereits nach jüdischen Gemeinde Serbiens, heißt es grad, um sich ein genaueres Bild vor Ort kurzer Zeit erhoben Kritiker den Vorwurf, weiter. Seine Arbeits- und Geschäftsprin- zu machen. nu 3 | 2019 7
Jüdische Identität Neue Wege im Stadttempel KOMMENTAR VON RENÉ WACHTEL Generalsekretariat bzw. Präsidium aus- teressanter, vielfältiger und – speziell, gearbeitet wurde und zweitens Ruhe in wenn sie Thomas Gross macht – auch Ende Juni kündigte überraschend den Stadttempel bringt. humorvoller geworden. Arie Folger: Er trat als Oberrabbiner Der neue Tempelvorstand, in den im Es geht jetzt darum, die Gemeinde- von Wien zurück und damit auch als vergangenen März erstmals auch drei mitglieder, die in den letzten Jahren Vorsteher der Synagoge in der Seiten- Frauen gewählt wurden, hat viel zur dem Stadttempel ferngeblieben waren, stettengasse. Der offizielle Tempel der Beruhigung beigetragen. Mit seinem zur Rückkehr zu motivieren, ihnen ein Israelitischen Kultusgemeinde ist für Sprecher, dem neu in den Tempel- Gemeinschaftsgefühl zu vermitteln, viele Juden in Wien der wichtigste und vorstand gewählten Professor Arnold ein „Zuhause“ zu geben. Ob es gelingt, einzige religiöse Bezugspunkt. In der Pollak, hat der Tempelvorstand seinen wird sich vor allem rund um die Hohen Sitzung des Kultusrates im Juli 2019 Öffentlichkeitsauftritt deutlich verbes- Feiertage zeigen. wurde eine Rabbinerfindungskommis- sert und wirkt nicht, wie oft in der Ver- In der Diskussion rund um die Be- sion installiert, die alle Strömungen der gangenheit, als zerstrittener Haufen. rufung eines neuen Oberrabbiners hat Gemeinde vertritt, bestehend aus zwölf Er hat auch die Betenden aufgefordert, IKG-Präsident Oskar Deutsch immer stimmberechtigten Personen sowie mehr für ihren Stadttempel zu tun; in wieder betont, wie wichtig es sei, einen zwei nicht stimmberechtigten Beisit- einem Bürgerforum wurde diskutiert, Rabbiner zu finden, den die Gemeinde- zern. Diese Kommission soll bis Ende wie der Stadttempel wieder attraktiver mitglieder verstehen – und vice versa. des Jahres einen neuen Oberrabbiner gemacht und vor allem auch die Ju- Viele sind geprägt durch die fast 70 finden und damit auch einen Vorsteher gend einbezogen werden könnte. Viele Jahre währende Ära Eisenberg Vater für die Synagoge Seitenstettengasse. Gemeindemitglieder waren damals und Sohn und derer liebevoller, fami- In der Zwischenzeit werden Ober- noch skeptisch, nicht zuletzt wegen liärer, humorvoller, auf die Menschen kantor Shmuel Barzilai und Kantor der polarisierenden Figur von Rabbi- zugehender und, ja, immer wieder Alexander Lerner die Gebete leiten, die ner Folger. Das hat sich durch dessen auch etwas unorthodoxer Gemeinde- Tora-Lesungen bleiben weiterhin in Rücktritt erledigt. arbeit. Sie hoffen, dass auch der neue den bewährten Händen von Thomas Schon nach den ersten Schabbats Oberrabbiner zumindest einige die- Gross. im Juli machte sich im Stadttempel ser Eigenschaften hat und genügend Jetzt stellt sich die Frage: Benötigt eine neue Stimmung bemerkbar, die Empathie zeigt. Deshalb überwiegt man denn überhaupt einen Oberrab- Geschlossenheit signalisierte und auch die Meinung, lieber länger zu suchen, biner? Viele Gemeindemitglieder sind ein volleres Haus brachte. als der Gemeinde (vor-)schnell einen nach der schwierigen Zeit unter Rabbi- Eine der neuen Ideen war, die Men- Rabbiner aufs Auge zu drücken, so wie ner Arie Folger froh, dass rasch eine Lö- schen aufzufordern, Draschot (Predig- es bei Rabbiner Folger damals der Fall sung gefunden wurde, die erstens aus ten) am Freitagabend und Samstag war. dem Haus kommt und gemeinsam mit zu halten. Es machen schon Etliche So gesehen ist die aktuelle Situation dem neuen Tempelvorstand sowie dem davon Gebrauch, die Draschot sind in- eigentlich gar nicht so schlecht. nu 8 3 | 2019
Aktuell „Jeder soll für sich © MICHAEL RAUSCH-SCHOTT / VERLAGSGRUPPE NEWS / PICTUREDESK.COM definieren, was Judentum bedeutet“ Mitte August wurde Bini Guttmann, Co-Präsident der jüdischen österreichischen HochschülerInnen (JöH), zum Präsidenten der European Union of Jewish Students gewählt. Ein Gespräch über florierendes jüdisches Leben in Europa, zunehmenden Antisemitismus und was es für ihn bedeutet, ein junger Jude in Europa zu sein. VON MARK NAPADENSKI den Herbst eine größere Aktion, in der zu dem fast immer über hundert Leute die Diskriminierung innerhalb der jü- kommen. Wir sind allerdings in erster NU: Gratulation zum Wahlerfolg. Lass uns dischen Gemeinde thematisiert wer- Linie keine religiöse, sondern eine kul- bei den Wurzeln anfangen: Welche Rolle den soll. Allerdings muss ich durchaus turelle und politische Organisation, die spielt für dich die jüdische Identität? selbstkritisch sagen, dass der Großteil in auch für nichtjüdische Menschen offen Bini Guttmann: Ich war mein Leben der JöH säkulare aschkenasische Juden ist. Man wird an der Tür nicht gefragt, lang in jüdischen Institutionen, Sportver- sind. So gesehen vertreten wir den reli- ob man jüdisch ist! (lacht) Es geht auch einen und Schulen, also mein gesamtes giösen Teil weniger als den säkularen, um Themen wie LGBTQ im Judentum, Wertesystem baut darauf auf. Das Ju- auch, weil weniger Bedarf besteht. Die andererseits hatten wir auch Veranstal- dentum ist ein wesentlicher Teil meiner religiöse Gemeinde hat ihre eigenen tungen mit den Rabbinern der Gemeinde Identität. Institutionen. Aber natürlich sind wir hier bei uns. in allen unseren Events inklusiv und Bist du religiös? offen. Alle unsere Schabbat-Essen sind Wie stehst du zu Reformbewegungen im Ich gehe in die Synagoge, allerding koscher, es kommen auch viele religiöse Judentum? Sollen Frauen auch Rabbine- weniger oft, als ich gerne würde. Leute, aber chassidische Jugendliche rinnen werden können? Andererseits bin ich aber religiöser als kommen naturgemäß eher selten zu Das ist eine sehr grundsätzliche Frage die meisten, die in unserem Vorstand uns. Im Großen und Ganzen würde ich in Wien. Hier gibt es eine orthodoxe Ge- aktiv sind. Ich esse zum Beispiel nur sagen, dass die JöH ein größeres Spek- meinde, die nicht religiös ist, was ein koscheres Fleisch und lege jeden Tag trum abdeckt, als alle anderen Jugend- sehr interessanter Fall ist. Es ist aber na- Tefillin an. Es sollte jeder für sich eine organisationen außer vielleicht Mac- türlich so, dass in der traditionellen Aus- Grenze finden und definieren, was das cabi und die Zwi Peres Chajes-Schule. richtung des Judentums die Position der Judentum für ihn bedeutet. Das ist ja Die JöH sollte beispielhaft sein für die Frau keine gute ist. Da besteht sicherlich auch das Schöne im Judentum. Du gesamte jüdische Gemeinde. In meiner Reformbedarf. Ich bin aber keine rab- kannst gleichzeitig Atheist und jüdisch Generation verändert sich auch einiges binische Autorität, deswegen kann ich sein, das macht den Unterschied zu zwischen den georgisch-bucharischen nicht über Halacha reden. Doch in vielen anderen Religionen. Das Judentum ist und aschkenasischen Gemeinden zum Ländern bekommen Frauen auch in or- eben nicht nur eine Religion, sondern Besseren. Das könnte auch als Vorbild thodoxen Gemeinden immer mehr Platz viel mehr, ein Volk und eine Kultur. dienen. Aber natürlich gibt es auch bei eingeräumt. Bei den Wahlen zum Tem- uns Luft nach oben. pelvorstand gab es zum Beispiel fünf Du bist Co-Präsident der Jüdischen Plätze für Männer und drei für Frauen. österreichischen HochschülerInnen- Welche Rolle spielt das Judentum für die Dass es nicht fünfzig-fünfzig ist, erach- schaft. Würdest du sagen, dass ihr alle JöH? ten wir als problematisch. jungen jüdischen Studenten vertretet? Besonders der kulturelle und politi- Ich habe es jedenfalls versucht. Wir sche Aspekt sind wichtig, wiewohl wir Wie kam es, dass du dich für die Position haben gemeinsame Veranstaltungen natürlich auch religiöse Aspekte abdec- des Präsidenten der European Union of für Aschkenasen und Bucharen ge- ken. Wir veranstalten zu den meisten Jewish Students (EUJS) beworben hast? macht, beispielsweise ein bucharisches Feiertagen Events, einmal im Monat gibt Dafür muss ich erklären, warum Schabbat-Dinner. Wir planen auch für es ein gemeinsames Schabbat-Essen, ich überhaupt bei der JöH angefangen 3 | 2019 9
Aktuell habe. Vor fast drei Jahren hat die FPÖ listischer werden und solidarisch sein inklusive der Mannschaft und den zum Gedenken an die Novemberpo- mit anderen Gruppen, die diskriminiert Eltern versuchten, unsere Kabine zu grome eine Podiumsdiskussion über und unterdrückt werden. Der Antise- stürmen. Die Mannschaft wurde von den neuen Antisemitismus organisiert mitismus steigt zwar, aber Jüdinnen der Liga ausgeschlossen. Das war ein und dazu bekannte Islamkritiker ein- und Juden sind in vielen Ländern nicht ziemlich arger Vorfall! Im Stadion habe geladen, da Antisemitismus in ihren das erste Ziel von rassistischem Hass. ich auch schon viel Antisemitismus ge- Augen nur von der islamischen Seite Außerdem möchte ich eine jährliche hört. Auf der amerikanischen Neonazi- kommt. Diese Islamkritiker haben dann Policy-Konferenz einführen, bei der es Website Judaswatch ist ein Profil von mit rechtsextremen FPÖ-Politikern, die jedesmal um ein anderes Thema gehen mir angelegt, mit Fotos und Artikeln, die Verbindungen zur organisierten Neo- wird. Beginnen würde ich gerne mit Zio- ich geschrieben habe und mit einem Da- nazi-Szene haben, diskutiert, obwohl nismus, um darüber zu diskutieren, was vidstern daneben, um zu kennzeichnen, die FPÖ eine strukturell antisemitische für uns als junge europäische Juden dass ich ein Jude bin! Mein Einfluss ist, Partei ist, wie sich auch in den letzten Zionismus im 21. Jahrhundert bedeutet. laut Judaswatch, leider „low“. Jahren hinlänglich gezeigt hat. Es ist Ich glaube, die Antwort, auf die wir kom- ein Beispiel dafür, wie rechtsextreme men werden, wird sehr anders sein als Als Präsident aber nicht mehr! Parteien in ganz Europa versuchen, das, was 60-jährige Amerikaner, die den Ich schreibe ihnen und frage, ob sie sich an die jüdischen Gemeinden und Diskurs in der Diaspora beherrschen, mich upgraden können. (lacht) Spaß vor allem auch an Israel anzubiedern, darüber denken. beiseite, solche Sachen sind beängsti- um ihren Rassismus weißzuwaschen gend! Ich glaube, dass sich Antisemitis- und zu kaschieren. Wir haben damals Welche Rolle spielt für dich der Zionis- mus durch alle Gesellschaftsschichten eine Demonstration organisiert, denn mus? Du warst Mitglied des Hashomer in Österreich bis hin zur ehemaligen mit diesen Menschen gedenke ich nicht Hatzair, der sich ganz klar zum Zionismus und vielleicht auch zukünftigen Regie- meiner Vorfahren. Kurz darauf haben bekennt. Wirst du daher auch das Amt des rung zieht. Er ist allgegenwärtig und wir die JöH wieder aktiver gestaltet, um Präsidenten in diesem Sinne ausüben? nimmt im Moment auch wieder zu. jungen Juden – auch solchen, die für Ja, ich bin grundsätzlich Zionist Der Unterschied zwischen Österreich andere Jugendorganisationen bereits und die Ideologie des Shomers hat und Deutschland ist die Aufarbeitung, zu alt waren – einen Ort zu geben, wo mich sehr geprägt. Gleichzeitig finde in Österreich muss noch viel Arbeit ge- sie sich politisch und kulturell betätigen ich nicht alles gut, was die israelische leistet werden. Im Großen und Ganzen „Es muss unsere Generation sein, die ihre Meinung ganz klar und deutlich sagt, damit wir etwas verändern können.“ können. So bin ich auch zum ersten Mal Regierung macht. Zionismus ist nicht ist es aber in den letzten dreißig Jahren in Kontakt mit der EUJS gekommen immer gleich Israel Advocacy, das ist besser geworden. Es gibt in Europa der- und habe gemerkt, dass es ganz viele nicht dasselbe. Ich finde, dass wir zu Is- zeit Antisemitismus von Rechtsextre- Themen gibt, die nicht nur in Öster- rael stehen müssen, aber es ist auch le- men, es gibt islamistischen Antisemitis- reich problematisch sind. Rechtsextre- gitim, die israelische Regierung zu kriti- mus, und es gibt auch den Antisemitis- mismus ist leider in ganz Europa ein sieren – gerade weil wir Zionisten sind! mus der extremen Linken. Ganz wichtig Problem; den muss man, um effektiv Es ist natürlich immer schwer, hier die ist, alle Antisemitismen zu bekämpfen. zu sein, auf gesamteuropäischer Ebene Linie zu finden, weil man von ande- Jeder, der sich nur eine Seite aussucht, bekämpfen. Deswegen habe ich kan- ren Kräften missbraucht werden kann, weil es gerade politisch opportun ist, didiert. Priorität wird eine Kampagne mit denen man nichts zu tun haben meint es nicht ernst im Kampf dagegen gegen Rechtsextreme und rechte Par- möchte. Ich glaube, dass es ganz wich- und ist sicher niemand, mit dem wir zu- teien in Europa sein. tig wäre, einen Ort für linke und liberale sammenarbeiten können. Zionisten zu schaffen, die üblicherweise Was willst du in der EUJS verändern? in jüdischen Organisationen nur wenig Fühlst du dich als Jude in Europa sicher? Ich möchte sie aktionistischer ma- Platz haben. Es ist unsere Verantwor- Ich bin auf der Straße nicht als Jude chen, so wie die JöH. Als Studenten tung, auch solchen Positionen einen zu erkennen, daher ist meine Erfahrung können wir uns einfach mehr erlauben, Platz zu bieten. sicherlich eine ganz andere als von Leu- um uns Gehör zu verschaffen. Die EUJS ten, die wirklich als Juden erkennbar hat dahingehend auch schon viel er- Hast du schon Antisemitismus erfahren sind. Natürlich erfahren sie mehr Anti- reicht. Als der damalige iranische Präsi- müssen? semitismus im Alltag als ich. Ich fühle dent Mahmoud Achmadinejad vor dem Schön öfter, in allen möglichen For- mich schon sicher, vor allem gibt es die UNHCR über Israel sprach, haben EUJS- men. Vor allem bei Maccabi Wien, wo Bewachung aller jüdischen Einrich- Aktivisten die Rede gestört. Sie alle wur- ich Fußball gespielt habe, gab es eine tungen. Ich war in der ZPC-Schule, die den verhaftet und haben dadurch für ganze Reihe an Vorfällen. Einmal mus- wahrscheinlich das sicherste Gebäude große internationale Aufmerksamkeit sten wir uns einsperren, bis die Polizei Österreichs ist und ein bisschen aus- gesorgt. Die EUJS soll auch universa- kam, nachdem die gegnerischen Fans sieht wie ein Gefängnis. Ich gehe auch 10 3 | 2019
Junge Jüdinnen und Juden bringen trotz Belästigungen in Europa ihre jüdische Identität zum Ausdruck © DUDI VAKNIN/FLASH90 Basierend auf den Daten der EU-Agentur für Grundrechte (FRA) 81 Prozent der jungen jüdischen Europäerinnen und Europäer bekennen sich zu einer starken jüdi- schen Identität. Vier von fünf jungen jüdischen Europäerinnen und Europäern sagen, dass Antisemitismus in ihren Län- dern ein Problem ist und sind der Ansicht, dass Antise- mitismus in den letzten fünf Jahren zugenommen hat. 81 Prozent der jungen jüdischen Europäerinnen und Europäer sind der Ansicht, dass Rassismus in ihren Ländern ein Problem ist, und 74 Prozent bemerken speziell eine Zunahme von Hass gegenüber Muslimen. Das Gedenken an den Holocaust ist der wichtigste Faktor für die jüdische Identität der jungen jüdischen Europäerinnen und Europäer (95 Prozent). Während das Thema „Unterstützung Israels“ bei der Identität der jungen jüdischen Europäerinnen und Europäer eine geringere Rolle spielt als für die ältere „Viele jüdische Europäerinnen und Eu- braucherschutz und Gleichstellung, Věra Generation, geben 85 Prozent der Befragten an, dass ropäer sind Belästigungen ausgesetzt, Jourová, betont: „Jungen jüdischen ihnen in ihren Ländern zumindest „gelegentlich“ die lassen sich aber nicht unterkriegen und Europäerinnen und Europäern ist ihre Schuld für das gegeben wird, was von der israeli- bringen ihre jüdische Identität deutlich jüdische Identität sehr wichtig. Es macht schen Regierung unternommen wird. zum Ausdruck.“ So lautet die Schluss- mich traurig, zu hören, dass sie um ihre 44 Prozent der jungen jüdischen Europäerinnen folgerung eines Berichts, der von der Sicherheit besorgt sind, sich nicht trauen, und Europäer haben Erfahrungen mit antisemiti- Europäischen Kommission und der FRA eine Kippa zu tragen und einige sogar schen Belästigungen; das sind 12 Prozent mehr als (EU-Agentur für Grundrechte) veröffent- eine Auswanderung in Erwägung ziehen. in der älteren Generation. 80 Prozent der jungen licht wurde. Zunehmende Hetze und In- Wir müssen rasch handeln, um den Anti- Opfer melden Belästigungen nicht bei der Polizei toleranz zeigen, dass die gemeinsamen semitismus in Europa zu bekämpfen und oder einer anderen Behörde. Anstrengungen unbedingt fortgesetzt unsere Anstrengungen bündeln, um die 45 Prozent der jungen jüdischen Europäerinnen werden müssen, um die seit Langem Sicherheit unserer jungen Menschen zu und Europäer entscheiden sich dafür, in der Öffent- bestehenden und anhaltenden Feindse- gewährleisten. Wir möchten, dass junge lichkeit keine erkennbaren jüdischen Gegenstände ligkeiten gegenüber Jüdinnen und Juden Menschen jüdischen Glaubens in Europa zu tragen, mitzuführen oder sichtbar zu machen, da angemessen zu bekämpfen. so aufwachsen, dass sie sich vollständig sie um ihre Sicherheit fürchten. Aus dem Bericht „Young Jews in con- zugehörig fühlen. Antisemitismus stellt 41 Prozent haben bereits an Auswanderung ge- temporary Europe“ geht hervor, dass sich eine Bedrohung für unsere europäischen dacht, da sie sich in ihrem Land als Person jüdischen junge jüdische Europäerinnen und Euro- Werte dar. Deshalb gehört seine Be- Glaubens nicht sicher fühlen. päer weitgehend klar zu ihrer jüdischen kämpfung zu unseren Prioritäten und 48 Prozent sind der Ansicht, dass sie von ihrer Re- Identität bekennen, obwohl sie Antisemi- arbeiten wir eng mit den Mitgliedstaaten gierung angemessen geschützt werden, aber nur 17 tismus noch stärker ausgesetzt sind als zusammen, um dafür zu sorgen, dass Prozent finden, dass Antisemitismus in ihrem Land die ältere Generation. Der Bericht basiert diese jungen Menschen vollständiger wirksam bekämpft wird. auf Daten von mehr als 2700 jungen Teil unserer Union sind.“ Die Ergebnisse entstammen der Erhebung, die von jüdischen Europäerinnen und Europäern, „Antisemitismus in Europa ist wie ein der FRA unter der jüdischen Bevölkerung von zwölf die 2018 für die Erhebung der FRA zu hartnäckiger Fleck, der nicht rausgeht“, Mitgliedstaaten, in denen schätzungsweise über 96 „Erfahrungen und Wahrnehmungen von sagt der Direktor der FRA, Michael Prozent der jüdischen Bevölkerung der EU leben, Antisemitismus“ befragt wurden. Er zeigt O’Flaherty. „Wir sind es allen Jüdinnen durchgeführt wurde. An der Erhebung haben mehr auch, dass sich diese jungen Menschen und Juden und insbesondere den künfti- als 2700 Jüdinnen und Juden im Alter von 16 bis 34 der allgemeinen Veränderungen in der gen Generationen schuldig, diesen Fleck Jahren teilgenommen. Auf Anregung der European Gesellschaft im Hinblick auf die zuneh- ein für allemal zu entfernen, indem wir Union of Jewish Students ersuchte die Europäische mende Hetze und Intoleranz bewusst abgestimmte Maßnahmen auf EU- und Kommission die FRA um Erstellung dieses Berichts. sind und sich in Europa generell unsicher nationaler Ebene ergreifen und eng mit Die FRA beauftragte das Institute for Jewish Policy fühlen. den jüdischen Gemeinden zusammen- Research mit dessen Abfassung. Die EU-Kommissarin für Justiz, Ver- arbeiten.“ (4.7.2019, www.fra.europe.eu) in eine Synagoge, vor der sehr viel Po- in Washington viel eigenartiger fand damit wir etwas verändern können, auch lizei steht. Das ist für mich ganz selbst- als in Brüssel! wenn wir eine sehr kleine Gruppe sind. verständlich. Aber damit es nicht falsch rüberkommt: Vor zwei Jahren war ich mit der Gibt es noch etwas, was du zu Jom Kip- Ich glaube, dass es Jüdinnen und Juden EUJS in Brüssel und dann in Washing- pur den Lesern und Leserinnen als Präsi- in Europa nicht schlecht geht, und dass ton. In Brüssel stehen vor der Synagoge dent mitteilen möchtest? das jüdische Leben ein sehr gutes und Soldaten mit Maschinengewehren, in Dass wir als junge Jüdinnen und vielfältiges ist. Es geht darum, genau dies Washington niemand. Wobei es sich Juden uns einsetzen müssen für die zu bewahren, weiterzuentwickeln und zu mittlerweile auch in den USA leider Werte, die uns wichtig sind, weil sie in schauen, dass es nicht schlechter wird. sehr geändert hat. Dennoch war es dort, ganz Europa oder eigentlich auf der gan- Das würde ich mir wünschen von vielen als würdest du hier in Österreich in eine zen Welt immer mehr in Gefahr geraten. jungen Jüdinnen und Juden! Und natür- Kirche gehen. Das hat mich zum Nach- Es muss unsere Generation sein, die ihre lich „ois Guade“ im neuen Jahr! (lacht) denken gebracht, weil ich die Situation Meinung ganz klar und deutlich sagt, nu 3 | 2019 11
Jüdische Identität Die Top Ten der antisemitischen Vorurteile: Warum sie wahr sind VON LENA GORELIK ehrlich: Problematisch ist die Beziehung nicht. Aber sie, wie soll ich sagen, gestal- 1. Juden haben Hakennasen tet den Alltag: „Wie hast du geschlafen? Grundsätzlich gilt: Alles, worüber Hast du das gesunde Kopfkissen benutzt, Juden Witze machen, trifft zu. Meine das ich dir neulich geschickt habe?“, Nase sieht eindeutig sonderbar aus. Mög- „Was hast du gefrühstückt? Wie, du früh- licherweise noch keine klassische Ha- stückst nicht? Das ist doch die wichtigste kennase, wie man sie aus Nazikarikatu- Mahlzeit des Tages!“, „Weißt du, wie kalt ren kennt, aber doch zu lang. Kürzer zwar es in München werden soll? Nimm einen als die der meisten meiner Familienmit- Schal. Jaja, ich leg ja schon auf!“ Und das Lena Gorelik, geboren 1981 in Sankt glieder, aber eben zu lang. Macht nichts, alles vor neun Uhr morgens. Aber pro- Petersburg, kam 1992 zusammen mit ich habe auch abstehende Elefantenoh- blematisch? Nein, problematisch ist die ihrer russisch-jüdischen Familie als ren, die diese Nase wunderbar ergänzen. Beziehung nicht. „Kontingentflüchtling“ nach Deutschland. Schon ihr Erstling Meine weißen Nächte 2. Juden haben Glatzen 6. Juden sind schlauer als andere (2004) wurde von der Literaturkritik als Was soll ich sagen? Mein Vater hat Schach spielen konnte ich mit drei, „der beste Roman über Deutschland“ eine Glatze. Er hatte schon immer eine lesen mit vier Jahren. An meiner Intel- und „absolut hinreißendes Buch“ gelobt. Hochzeit in Jerusalem war 2007 für den Glatze, an seine Haarfarbe erinnere ligenz liegt das nicht – etwas anderes Deutschen Buchpreis 2007 nominiert. ich mich nicht. Mischas Vater hat eine hätte ich meinem Vater schlichtweg Im März 2011 erschien ihr hinreißend Glatze. Über die Glatze ist er trauriger als nicht antun können. So wie sportver- komisches, kluges, schonungslos ehrliches Buch Lieber Mischa... im ich. Früher zählte er seine verbliebenen rückte Väter in US-Filmen von ihren Graf Verlag. Lena Gorelik wurde mit Haare. Nun rasiert er sich immer den Söhnen erwarten, Baseball zu spielen, dem Bayerischen Kunstförderpreis, Kopf, damit man die Glatze nicht als sol- und nicht damit umgehen können, wenn dem Ernst-Hoferichter-Preis und dem Förderpreis Friedrich-Hölderlin-Preis der che erkennt. Ich find’s nicht schlimm. Er diese lieber Ballett tanzen, so ist es für jü- Stadt Bad Homburg ausgezeichnet. ist doch Jude. dische Eltern unvorstellbar, dass das Kind www.lenagorelik.de 3. Juden haben viel Geld keine Leseratte ist, wie sie, ihre Eltern, Rothschilds Existenz will ich natürlich Groß- und Urgroßeltern es gewesen sind. nicht leugnen. Leider Gottes ist er nicht 7. Juden sind verschlagen, mit uns verwandt (obwohl alle Juden ir- hinterlistig, gerissen rence erschlich sich zum Beispiel Ent- gendwie miteinander verwandt zu sein Gerissen schon. Hinterlistig nicht. schädigungszahlungen in Höhe von 42 scheinen oder es angeblich sogar sind). Gerissen mussten die Juden sein, um Millionen Dollar. Das ist zwar noch keine 4. Juden sind Wucherer zu überleben. Weil es oft um Leben und Weltverschwörung an sich, sondern Der „Judenzins“ ist bekannt. Ich Tod ging – oder um den Alltag. „Ich eine Sauerei und im Grunde ein Phä- selbst verleihe ja eher Bücher als Geld. hätte gerne das Fischbrötchen!“, bestellt nomen, das nicht nur in der Politik weit Die kriege ich leider nur selten zurück ein Jude. „Das ist aber Schinken, nicht verbreitet ist. Aber man könnte es, wenn (weshalb ich dann Geld für andere Bü- Fisch!“, antwortet der Verkäufer. „Habe man wollte, als Vorzeichen von Weltver- cher ausgeben muss; ein Teufelskreis). ich Sie gefragt, wie der Fisch heißt?“ Ge- schwörung betrachten. Andere Vorzei- Ich sinniere schon länger darüber, einen rissen schon. Hinterlistig nicht. chen fallen mir nicht ein. Denn: Leider Bücherjudenzins einzuführen: Wer ein 8. Juden sind Lobbyisten, klüngeln dürfen bei der Weltverschwörung nur Buch zu spät oder unzufrieden zurück- „Das ist einer von uns“, sagt mein auserwählte Juden mitmachen. Mich gibt – unzufrieden, obwohl ich eines Vater, wenn er jemanden etwas Kluges laden sie nicht dazu ein. meiner geliebten Bücher voller Begeiste- im Fernsehen sagen hört. Auch auf He- 10. Juden sind inzestgefährdeter rung weitergegeben habe –, muss den bräisch ist „jemand von uns“ ein gängi- als andere Bücherjudenzins zahlen. So käme ich zu ger Begriff. So eine Art große Familie, ein Nun, wer so gute Filme macht wie Geld und könnte eine richtige Jüdin wer- Zusammengehörigkeitsgefühl über Lan- Woody Allen, darf heiraten, wen er will. den, die Bücher verleiht zu Wucherprei- desgrenzen hinweg. Weil Jüdischsein Und wenn’s seine Katze ist. sen. Die Welt wäre dann ein Stück weit irgendwie verbindet. Warum, wissen wir mehr so, wie man sie sich vorstellt. Und selbst nicht so genau. Heutzutage be- Aus: Lena Gorelik: „Lieber Mischa: ... ich hätte Geld und Bücher. zeichnen manche das als „Judenlobby“. der Du fast Schlomo Adolf Grinblum ge- 5. Juden haben eine problematische So nennt das aber „keiner von uns“. heißen hättest, es tut mir so leid, dass ich Beziehung zu ihrer Mutter 9. Jüdische Weltverschwörung Dir das nicht ersparen konnte: Du bist ein Nein, natürlich nicht. Aber damit Ist doch kein Klischee, gibt’s doch Jude“. würde ich lügen. (Was Juden ja auch an- wirklich. Man muss nur die Augen auf- Nachdruck mit freundlicher geblich gern tun.) Also, jetzt mal jüdisch- machen. Die jüdische Claims Confe- Genehmigung des List Verlags 12 3 | 2019
Jüdische Identität Weder Abgrenzung noch Verzicht Der Versuch, eine jüdische Identität nur durch positive Inhalte zu leben, ist weniger leicht als es klingt. KOMMENTAR VON ERIC FREY für den Schabbat, die Traditionen der jeder jüdischen Identität. Meine erste meisten Feiertage beruhen auf jenen Erinnerung in dieser Hinsicht geht Wenn man rechte Österreicher Handlungen, die man als frommer zurück auf meine Zeit in der öffent- fragt, was eigentlich ihre Identität aus- Jude nicht setzen darf. Und das be- lichen Volksschule in Wien, als ich macht, die sie mit so viel Kraft verteidi- rührt auch das Leben von traditionel- beim Morgengebet die Hände nicht gen, so bekommt man meist all das zu len Juden, die es mit dem Gesetz nicht faltete und mich dafür nicht schämte hören, was sie nicht sind und nicht tun: so genau nehmen. Natürlich kann und im Dezember stolz erklärte, dass Wir sind nicht faul und unzuverlässig, man Pessach feiern, indem man eine das Christkindl zu mir nicht kommen wir wollen keinen Gottesstaat, wir un- Woche Mazzes isst. Aber Sinn ergibt wird, weil wir nicht Weihnachten terdrücken unsere Frauen nicht. Iden- diese Tradition erst dann, wenn man feiern. Weihnachten nicht zu feiern tität definiert sich hier vor allem durch auf Brot und Teigwaren in dieser Zeit war das Entscheidende, denn Cha- Abgrenzung zu anderen und Betonung verzichtet. Und wer die Stimmung nukka, das wusste ich damals schon, des Negativen. eines echten Schabbats erleben will, war kein echter Ersatz für das größte Seit ich als Jugendlicher begonnen der muss an diesem Tag gewisse Dinge christliche Fest. habe, mich mit der Frage meiner Iden- unterlassen. Ohne Fasten ist Jom Kip- Ich bleibe dennoch dabei, Identität tität auseinanderzusetzen, habe ich pur ein Tag wie jeder anderer. als positive Erfahrung im mehrfachen genau das versucht zu vermeiden. Wer Und vergessen wir nicht: Judentum Sinn anzustreben. In meiner Familie ich bin, soll sich durch positive Werte ist eine Religion und eine Kultur, die leben wir ein liberales, progressives und Traditionen definieren und nicht von Anfang an auf eine Abgrenzung Judentum, das wir mit Inhalten zu fül- über die Abgrenzung von anderen, die gegenüber anderen Völkern ausgerich- len versuchen – Schabbat-Kerzen, Fei- leicht in Verachtung und sogar Hass tet war. Das war historisch und sozio- ertage, jüdische Kultur und bei meiner umschlagen kann. Und so wie viele logisch gesehen der Zweck der Spei- Tochter jiddische Musik –, ohne uns im andere säkular aufgewachsene Juden segesetze: Wer nur koscher essen darf, Leben einzuschränken. Fasten zu Jom wollte ich mein Judentum über die kann nicht mit anderen speisen. Und Kippur und Mehlverzicht zu Pessach schönen Seiten der Tradition erleben gemeinsame Mahlzeiten waren und sind die Ausnahmen. Und wir grenzen und nicht unbedingt über Verzicht und sind die Grundlage für Beziehungen. uns von der nichtjüdischen Welt nicht Verbote. Auch heute noch gilt: Je orthodoxer ein ab, weder von den Menschen noch von Doch gerade beim Judentum ist jüdisches Leben, desto stärker wird die den Werten oder Traditionen. Diese Art dieser zeitgeistgerechte Vorsatz nicht gesellschaftliche Abschottung. der Identität entspricht einem moder- leicht umzusetzen. Schließlich bilden Und auch in einem nicht durch nen, aufgeklärten Ideal. Ich denke, das die 613 Gebote und Verbote den Kern Religion geprägten jüdischen Leben kann gelingen. Aber so wie Tewje der der Religion, und von denen sind die ist eine gewisse Abgrenzung stets Milchmann in Anatevka macht uns Mehrzahl Verbote, nämlich 365. Die präsent. Das Gefühl, anders zu sein, das auch zu Geigern auf dem Dach. Speisegesetze der Kaschrut, die Regeln ist ein entscheidender Bestandteil Und die können abstürzen. nu 3 | 2019 13
Jüdische Identität Arche Noah unter österreichischer Flagge In den 1960er Jahren als jüdischer Bub in Österreich aufzuwachsen, war durchaus eine Herausforderung. Lieber unauffällig bleiben, lautete das Motto. Erinnerungen an eine assimilierte Kindheit. VON RONNI SINAI (TEXT UND ZEICHNUNGEN) schreiben, bis dieser gefüllt war. Aus Beliebt in Interviews ist häufig die heutiger Sicht wohl eine pädagogisch Frage nach der Vervollständigung des bedenkliche Aufgabe eines mäßig begab- Satzes „Meine Mutter hat immer gesagt: ten Lehrers. Aber immerhin wirksam, ich ...“. In meinem Fall wäre die Antwort: habe bis heute nicht vergessen, was ich „Du wirst einmal weder da noch dort bin, wer weiß, wie mein Leben sonst ver- dazugehören.“ Mit „da“ war die jüdische laufen wäre. Am Ende hätte ich gar ein Gemeinde, mit „dort“ der Rest der Gesell- Dasein als langweiliger Agnostiker ge- schaft gemeint (oder umgekehrt?), wobei fristet, den Namen des Herrn ohne feh- der Satz insgesamt die Bedrohung einer lenden Buchstaben schreiben oder sogar Vereinsamung vermittelte, einer Aus- Israel kritisieren dürfen. Auch käme ich grenzung als Österreicher durch Öster- ohne ökumenisches Weihnukka-Fest reicher. Doch wie kam es zu dieser Äuße- im Dezember aus und dürfte keine an- rung meiner Mutter, die auch mein Vater tisemitischen Bemerkungen machen. durchaus bekräftigte? (Anmerkung: Als Jude darf man durch- Es begann in der Volksschule, die aus gelegentlich Antisemit sein, aber ich in unserem Wohnort Klosterneu- Bedenken gegenüber israelischer Politik burg besuchte, in den Sechzigern noch sind zumindest hierzulande ein No-go, eher dem ländlichen Raum zuzuordnen womit sich linke Juden, wie etwa André und zudem dem Einfluss des Chorher- unsympathischen Mann mit merkwür- Heller oder allen voran Bruno Kreisky in renstiftes ausgesetzt – was durch die digem Akzent. Aufgrund einer auf Ge- der Gemeinde seinerzeit nicht gerade Präsenz von einschlägigen kirchlichen heiß des Lehrers – oder was auch immer beliebt gemacht haben.) Letztlich liegt Vereinen und Aktivitäten zu bemerken er war – angefertigten Zeichnung der der Verdacht nahe, dass aufgrund des war. Ich war noch nicht einmal sechs Arche Noah, welcher ich die österreichi- Zwischenfalles im Rahmen meiner er- Jahre alt und musste die Religions- sche Flagge verpasste, und auch wegen sten Religionsstunde Jahre später der stunde schon in einem anderen Klas- einiger widersprüchlicher Aussagen Begriff „mosaisch“ gegen „israelitisch“ senzimmer verbringen, wenngleich meinerseits, an die ich mich im Detail ausgetauscht wurde, was meiner An- gemeinsam mit ein paar evangelischen nicht mehr so genau erinnern kann oder sicht nach allerdings nicht zu einem Kindern, die mich für „ihresgleichen“ will, bekam der Herr Lehrer Zweifel, ob gesteigerten Identitätsbewusstsein bei- hielten. Doch um „meinesgleichen“ zu ich überhaupt Jude sei, was er in einer getragen hat. Manchmal wurde mir die begegnen, sollte ich nach Wien zu einem Frage auch formulierte. Ich sagte, ich sei Frage gestellt – und das nicht nur von eigenen Religionsunterricht der Kultus- nicht Jude (sondern gemäß meiner Ge- bildungsfernen Menschen –, ob ich aus gemeinde geschippert werden, der zu burtsurkunde mosaisch, was ich dachte, Israel komme oder wann wir nach Öster- meinem unsäglichen Bedauern justa- aber nicht erwähnte). So kam es zu einer reich eingewandert seien. Vielleicht ment zeitgleich mit der wöchentlichen Nachfrage des Lehrers an meine Eltern, hätte ich antworten sollen, dass wir uns Kasperlaufführung in der Urania statt- ob meine Teilnahme am jüdischen Reli- lange gewehrt hätten und erst in jüng- fand, welche – wäre es nach mir gegan- gionsunterricht vielleicht ein peinlicher ster Geschichte aus dem heiligen Land gen – eindeutig Priorität gehabt hätte. Irrtum sein könnte. Selbstverständlich vertrieben wurden. sei ich Jude, gaben meine entsetzten El- Zurück zur Schulzeit. Um der bereits Eindringlicher Einzelunterricht tern zurück. angesprochenen Vereinsamung ent- Ich erinnere mich gut an die erste Darauf folgte meine erste eindring- gegenzuwirken und Kontakt zu Glau- Religionsstunde. Ich war interessanter- liche Lektion im Einzelunterricht. Ich bensgenossen (?) zu vermitteln, nahmen weise der Einzige und bekam sozusagen musste auf einen linierten A4-Bogen so mich meine Eltern zu den wöchentli- Privatunterricht von einem mir äußerst oft „Ich bin Jude, ich bin Jude, ich bin ...“ chen Schwimmabenden des jüdischen 14 3 | 2019
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