SCHWERPUNKT JÜDISCHE IDENTITÄT - UNTERWEGS MIT EDMUND DE WAAL JÜDISCHES MAGAZIN FÜR POLITIK UND KULTUR - NUNU.AT

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SCHWERPUNKT JÜDISCHE IDENTITÄT - UNTERWEGS MIT EDMUND DE WAAL JÜDISCHES MAGAZIN FÜR POLITIK UND KULTUR - NUNU.AT
Ausgabe Nr. 77 (3/2019) · Tishrei 5780 · € 6,50-      www.nunu.at

Jüdisches Magazin für Politik und Kultur

Unterwegs mit
Edmund de Waal

                                                     Schwerpunkt
                                                        Jüdische
                                                         Identität
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Editorial

                      VON DANIELLE SPERA                                                VON ANDREA SCHURIAN
                      HERAUSGEBERIN                                                     CHEFREDAKTEURIN

Für die Vielfalt                                                   Eine Frage der Identität
    Was bestimmt die jüdische Identität, was macht uns jü-            Trennend, verbindend, dazugehörend, abgrenzend, in-
disch? Gebete, Feiertage, Bräuche, Gewohnheiten, all das be-       klusiv, exklusiv: Wie definiert sich Identität, gibt es eine
stimmt ein jüdisches Leben. Aber viel mehr als die Rituale, die    explizit jüdische Identität? Ist sie statisch? Dynamisch? Ist
Feiertage, bedeutet uns die Erinnerung an unsere Wurzeln.          die Zugehörigkeit zu einer Religion oder Ethnie identitäts-
Aus dieser Erinnerung können wir Kraft schöpfen, sie gibt          stiftend? Der Schwerpunkt dieser NU-Ausgabe mischt sich
uns Sicherheit. Jude sein bedeutet auch – und das ist ganz         aus verschiedensten Blickwinkeln, mit persönlichen Erin-
wesentlich – zusammenzuhalten, Lehren aus unseren Erfah-           nerungen, kontroversiellen Kommentaren, konzisen Ana-
rungen und unserem Schicksal zu ziehen. Die Grundwerte des         lysen in den Identitätsdiskurs ein. Die deutsche Schrift-
Judentums haben sich über Jahrhunderte hinweg, verstreut           stellerin Lena Gorelik erklärt in ihrem ebenso witzigen wie
über die ganze Welt, erhalten, sie sind über viele Generationen    tiefernsten Buch Lieber Mischa … der Du fast Schlomo Adolf
weitergegeben worden. An ihnen halten wir Juden fest, durch        Grinblum geheißen hättest, es tut mir so leid, dass ich Dir
sie sind wir miteinander verbunden.                                das nicht ersparen konnte: Du bist ein Jude ihrem Sohn,
    „Jude sein – was ist das eigentlich?“ Jeder verbindet damit    was Jüdischsein bedeutet und welchen anti- und philose-
etwas anderes. Es gibt jede Menge unterschiedliche Auffas-         mitischen Vorurteilen er im Laufe seines Lebens begegnen
sungen darüber, wie Menschen dieses „Jude sein“ auslegen           würde. Wie eine Fortsetzung dazu lesen sich Ronni Sinais
und leben. Bei hundert Juden findet man dazu garantiert 120        Erinnerungen an seine assimilierte Kindheit in Wien. Wie
Meinungen. Meist hört man, „Ich bin so geboren, es ist einfach     sehr ihre Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Heimat das
so.“ Religion, Kindheitserinnerung, Tradition, Lebensgefühl,       Schreiben der Dichterin Mascha Kaléko bestimmte, be-
das Wissen um die Schicksalsgemeinschaft, die Erinnerung           schreibt der Psychotherapeut, katholische Theologe und
an die Schoah, all das und noch mehr wird genannt, wenn            Autor zahlreicher Bücher Arnold Mettnitzer. Ob und wie
man Juden nach ihrer Identität fragt.                              sehr jüdische Identität für Israel Zusammenhalt und hoch-
    Aus diesem Grund haben wir uns für die aktuelle Ausgabe        explosiven Konfliktstoff bedeutet, fragt Michael Reinprecht
von NU diesem Thema gewidmet. Andrea Schurian war mit              die israelische Botschafterin Talya Lador-Fresher.
Edmund de Waal unterwegs, dem britischen Keramikkünst-                Danielle Spera, NU-Herausgeberin und Direktorin des
ler, der mit seinem Buch Der Hase mit den Bernsteinaugen die       Jüdischen Museums Wien, reflektiert über die identi-
Geschichte seiner Familie, der Ephrussis, wieder in das kol-       tätsstiftende Funktion eines jüdischen Museums. Davut
lektive Bewusstsein rückte. Viele Wienerinnen und Wiener           Mizrahi, türkisch-österreichisch-jüdischer Kunsthändler
dachten, das Palais Ephrussi hätte immer dem staatlichen           und Restaurator, erklärt hingegen im Gespräch mit Dodie
Glücksspielkonzern gehört, der dort nach dem Zweiten Welt-         Schurzel: „Ich bin Davut Mizrahi. Das muss reichen.“ Konrad
krieg lange seinen Hauptsitz hatte. Dass die Familie Ephrussi      Paul Liessmann, einer der prominentesten und argumenta-
einiges zum Aufbau der Infrastruktur unserer Stadt beigetra-       tionsstärksten Philosophen des Landes, zitiert aus Ludwig
gen hatte, 1938 enteignet, vertrieben und in alle Welt zerstreut   Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus: „Von zwei
wurde, darüber lag der in Österreich lange immanente Mantel        Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, und
des Schweigens. In der Familie de Waal-Ephrussi spielt das         von Einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt
Thema Identität bis heute eine Rolle. Edmund de Waal be-           gar nichts“, jeder Mensch könne also nur mit sich selbst
schreibt sich selbst als christlich aufgewachsenen, buddhisti-     identisch sein. Kritik an identitätspolitischen Konzep-
schen, anglikanisch-jüdischen Quäker. Das wichtige jüdische        ten übten auch Vertreter der Kritischen Theorie, so auch
Prinzip, das Leben nach bestem Wissen und Gewissen zu              Theodor W. Adorno, den Ronald Pohl anlässlich des 50. To-
leben und alle eigenen Talente auf das Beste zu nützen, erfüllt    destages würdigt.
Edmund de Waal jedenfalls vortrefflich.                               Warum die jüdische Gemeinde in Belgrad auf die Bar-
    Nicht stehen zu bleiben, sich immer wieder zu erneu-           rikaden geht, berichtet Nathan Spasić. Weitaus weniger
ern und mit sich selbst im Reinen zu sein, gehört auch zum         turbulent ist die Situation in Wien: Wie es in der IKG und
Thema Identität. Das jüdische Neujahrsfest bietet uns Anlass,      im Stadttempel nach dem Rücktritt von Oberrabbiner Ariel
darüber zu reflektieren, was in unserem Leben wesentlich ist.      Folger zu- und künftig weitergeht, analysiert René Wach-
Jude sein heißt vor allem Mensch sein: „Kol Israel Areivim Se      tel. Zu Kontroversen und Diskussionen regt vielleicht der
La Se“, wie es im Talmud steht – ganz Israel haftet füreinan-      Kommentar von George Frey an: Er hält die Entscheidung,
der. Alle Juden bürgen füreinander, sind füreinander da. Die-      dass Jom Kippur weiterhin als Feiertag gilt und Jüdinnen
sen wichtigen Grundsatz sollten wir gerade in den Tagen um         und Juden in Österreich einen Feiertag mehr haben als alle
Rosch Haschana und Jom Kippur verinnerlichen und versu-            anderen, im Lichte der Karfreitagsdiskussion für ungerecht
chen, im nächsten Jahr danach zu handeln. In diesem Sinn           und kontraproduktiv. Schreiben Sie uns Ihre Meinung dazu!
wünsche ich Ihnen herzlich Schana Tova umetuka! Ein gutes             Ich wünsche Ihnen eine gute Einschreibung in das Buch
und süßes neues Jahr, sowie eine gute Einschreibung in das         des Lebens, vor allem aber ein friedvolles, gesundes und
Buch des Lebens.                                                   süßes neues Jahr.

                                                                                                          3 | 2019    3
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Im 4., 6., 8., 9. und 19. Bezirk gibt es eigene Wahlreferate außerhalb des Bezirksamtes.

Alle Infos zur Wahl auf www.wahlen.wien.at oder telefonisch unter 01/50 255.

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Inhalt & Impressum
Aktuell                                                             Identität, speziell „jüdische Identität“:                             Unterwegs mit
                                                                    Der Schriftsteller und Psychologe
Arbeitsfrei zu Jom Kippur:                                          Arno Gruen über das Gefühl, sich nicht                                dem Londoner Künstler Edmund de
Ungerechtfertigtes Privileg?                                        zugehörig zu fühlen..............................S. 24                Waal durch das jüdische Venedig
Kommentar von George Frey..........S. 6                                                                                                   Von Andrea Schurian …....................S. 46
                                                                    „Heimweh, wonach?“, oder: „Wo
Belgrader Juden auf                                                 gehöre ich hin?“:                                                     Die Ephrussis: Eine Zeitreise im
den Barrikaden:Ein Bericht                                          Für den Theologen Arnold Mettnitzer                                   Jüdischen Museum Wien
von Nathan Spasić................................S. 7               bedeutet Identität,                                                   Von Gabriele Kohlbauer ...................S. 48
                                                                    zu den Irrtümern des eigenen Lebens
Neue Wege im Stadttempel:                                           zu stehen.................................................S. 26       Kultur
Kommentar von René Wachtel........S. 8
                                                                    „Mit meinen Fragen habe ich diese                                     „Was wir zu hören bekamen,
„Jeder soll für sich definieren, was                                Schweigemauer durchbrechen                                            war oft mehr, als wir ertragen
Judentum bedeutet“: Mark Napadenski                                 können“:Gabriele Flossmann                                             konnten“: Edek Bartz und
im Gespräch mit Bini Guttmann, dem                                  im Gespräch mit dem Schriftsteller                                     Albert Misak machten als Geduldig
neuer Präsidenten der European Union                                David Weiss …........................................S. 28            und Thimann zwanzig Jahre
of Jewish Students...........................................S. 9                                                                          lang mit jiddischen Songs auf sich
                                                                    Einen Schritt beiseite wagen: Danny                                   aufmerksam. Ein Porträt
Schwerpunkt: Jüdische Identität                                     Leder wirft einen Blick                                               von Gabriele Flossmann....................S. 48
                                                                    auf die Vielfalt der ethnischen und
Die Top Ten der antisemitischen                                     geografischen Ursprünge                                               Wiederholungen als Wege zum Selbst:
Vorurteile: Warum sie wahr sind                                     der jüdischen Gemeinschaften in                                       Ronald Pohl über Theodor W. Adorno
Von Lena Gorelik …..............................S. 12               Afrika. ......................................................S. 33   zu dessen 50. Todestag …..................S. 52

Weder Abgrenzung noch Verzicht:                                     Ein jüdisches Museum zwischen                                         Unerschrockene Beharrlichkeit
Kommentar von Eric Frey...............S. 13                         gestern und morgen: Kommentar                                         für ein klein wenig Trost:
                                                                    von Danielle Spera............................ S. 36                  Die Arbeiten des russisch-
Arche Noah unter österreichischer                                                                                                         französischen Historikers Léon
Flagge: Erinnerungen an eine                                        Das große Ganze:                                                      Poliakov sind in einer Neuauflage
assimilierte Kindheit                                               Israel ist als Staat und Demokratie auf                               auf Deutsch erschienen.
von Ronni Sinai....................................S. 14            der Suche nach seiner Identität                                       Von Marc Ottiker .......................... S. 54
                                                                    Von Michael Reinprecht ….............. S. 37
Eine Frage der Identität:                                                                                                                 Humor als Waffe:
Juden als Mitglieder einer religiösen                               „Die Armee ist die Eintrittskarte in die                              Elia Suleiman ist palästinensischer
Gemeinschaft und                                                    israelische Gesellschaft“:                                            und israelischer Regisseur zugleich.
Angehörige einer Nation                                             Talya Lador-Fresher, israelische                                      Ein Porträt anlässlich seines neuen
Von Jonathan Rosenblum...............S. 16                          Botschafterin in Österreich, im                                       Films von Gabriele Flossmann ....S. 56
                                                                    Gespräch mit Michael Reinprecht ..S. 40
„Jüdischsein ist in Österreich immer                                                                                                      Zeitgeschichte
noch keine Selbstverständlichkeit“:                                 Inkonsistente Identität: Worin
Christina Hainzl forscht über                                       unterscheiden sich linke                                              Identität zum Überleben:
jüdisches Leben in Österreich                                       Identitätspolitik und                                                 Geduldete und verordnete Kunst im
Von Michael Pekler                                                  rechte identitäre Politik?                                            Konzentrationslager
und René Wachtel …............................S. 18                 Kommentar von                                                         Von Rosalinda Napadenski …........S. 58
                                                                    Konrad Paul Liessmann ..................S. 42
„Ich bin Davut Mizrahi, das muss                                                                                                          Chassidische Weisheiten
genügen“: Dodie Schurzel über den                                   Israel
sehr bestimmten türkisch-                                                                                                                 von Oberrabbiner Chaim Paul
österreichisch-jüdischen                                            Von der Finsternis zum Licht:                                         Eisenberg: Warum ein Griffel
Kunsthändler ......................................S. 20            Moshe Safdie, der berühmteste                                         sehr nützlich sein kann …................S. 60
                                                                    Architekt Jerusalems, ha
Die große Herausforderung                                           mit seinen Visionen die Stadt                                         Bücher
einer modernen                                                      nachhaltig geprägt.
jüdischen Identität: Kommentar                                      Ein Porträt                                                           Neuerscheinungen, gelesen von
von Martin Engelberg ….......................S. 23                  von René Wachtel. …...........................S. 43                   Gregor Auenhammer .......................S. 62

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                              Dezember 2019.                   E-Mail: office@nunu.at                                   Österreich:           Euro 22,–                    Ronni Sinai
                              Auflage: 4.700                   Internet: www.nunu.at           BIC: BKAUATWW            Europäische Union: Euro 25,–                       ronni.sinai@
                                                                                                                        Außerhalb der EU:     Euro 28,–                    nunu.at

TITELBILD © Fulvio Orsenigo
SCHWERPUNKT JÜDISCHE IDENTITÄT - UNTERWEGS MIT EDMUND DE WAAL JÜDISCHES MAGAZIN FÜR POLITIK UND KULTUR - NUNU.AT
Aktuell

                                      Arbeitsfrei zu
                                      Jom Kippur:
                                      Ungerechtfertigtes
                                      Privileg?
      KOMMENTAR VON GEORGE FREY
                                                 Loyalität und unser Zugehörigkeitsge-      und Buddhisten sollen Juden, wenn
                                                 fühl zu Österreich und seinen Institu-     ihnen ein Feiertag besonders wichtig
         Am 9. Oktober werden viele Wiener       tionen – im absoluten Sinn und eben        ist, einen ihrer Urlaubstage dafür in
      Jüdinnen und Juden die Synagoge be-        auch relativ zum Staat Israel.             Anspruch nehmen. Das ist auch eine
      suchen, um Jom Kippur zu begehen.             Ich bin in Wien geboren und aufge-      Frage der Solidarität – ich wünsche
      Jene, die in einem Dienstverhältnis        wachsen, habe die meiste Zeit meines       mir kein ungerechtfertigtes Privileg
      stehen, werden an diesem Tag einen         Lebens hier gewohnt und habe hier          auf Kosten der restlichen Bevölkerung.
      zusätzlichen freien Tag in Anspruch        Familie und viele Freunde, jüdisch und        Bei Sportveranstaltungen mit israe-
      nehmen, der ihnen auf Grund des Ge-        nichtjüdisch. Ich verspüre eine starke     lischer Beteiligung schlägt auch mein
      neralkollektivvertrags auch zusteht.       Bindung an und Dankbarkeit für die-        Herz für den israelischen Sportler –
      Im Gegensatz zu den vergangenen            ses Land, trotz Ambivalenz und vieler      egal ob Jude oder Araber –, auch dann,
      Jahren – und nach der Neuregelung          Zweifel und Ärgernisse.                    wenn ich seinen oder ihren Namen zu-
      des Karfreitags durch die ehemalige           Ich konnte seit jeher jene Juden        meist noch nie gehört habe.
      Bundesregierung – wird Jom Kippur          in Wien nicht verstehen, die hier mit         Aber wenn ich um drei Uhr in der
      der einzige Feiertag sein, der zusätz-     Selbstverständlichkeit die besten Rah-     Früh aufstehe, dann deshalb, um mir
      lich zu den Urlaubstagen genommen          menbedingungen für ein friedliches,        Dominic Thiem bei den US Open anzu-
      werden darf. Damit können Juden            sicheres, erfolgreiches Leben (jüdisch     sehen. Und wenn Marcel Hirscher den
      in Österreich einen Urlaubstag mehr        und im Allgemeinen) nutzen, aber zu-       Olympiaslalom fährt, dann stockt mir
      haben als alle anderen Bediensteten.       gleich Solidarität mit Österreich und      der Atem, wie er es beim israelischen
         Am Tag darauf findet im Ernst-Hap-      Patriotismus kleinreden oder sogar         Judoka nicht tut. Diesen Patriotismus
      pel-Stadion ein Fußballspiel zwischen      verneinen.                                 vergesse ich nicht, wenn es um die
      Österreich und Israel statt; ein wichti-      Wir Juden haben in Österreich auf-      EM-Qualifikation gegen Israel geht.
      ges, vorentscheidendes Spiel, das der      grund des Holocaust und der daraus            Was bedeutet das konkret für diese
      siegreichen Mannschaft gute Chancen        resultierenden Verantwortung der Re-       beiden Themen?
      auf die EM-Qualifikation eröffnet. Viele   publik eine gewisse Sonderstellung.           Ich erwarte mir von den politischen
      meiner Wiener jüdischen Freunde und        Das führt z.B. dazu, dass jüdisches        Verantwortlichen der IKG, dass sie auf
      Bekannten, die sonst österreichische       Leben in Österreich gefördert wird,        die ungerechtfertigte Besserstellung
      Sportler voll unterstützen, werden         dass jüdische Institutionen beson-         des Extra-Feiertags verzichten, statt
      dort wohl mit Begeisterung israelische     ders geschützt werden und dass die         um etwas zu kämpfen, das mit größter
      Fahnen schwingen, inbrünstig die Ha-       Erinnerung an die Vertreibung und          Wahrscheinlichkeit ohnehin angefoch-
      tikvah mitsingen und bei etwaigen is-      Vernichtung jüdischen Lebens ein we-       ten und vor Gericht nicht halten wird.
      raelischen Toren jubeln.                   sentlicher Eckpfeiler für das Selbstver-      Im Ernst-Happel-Stadion sollten die
         Was haben die beiden Anlässe mit-       ständnis Österreichs bleibt.               jüdischen Sportvereine uns allen eine
      einander zu tun, abgesehen davon,             Aber Sonderstellung bedeutet nicht      österreichische und eine israelische
      dass sie an zwei aufeinanderfolgen-        Besserstellung. Es gibt aus meiner         Fahne in die Hand drücken, damit wir
      den Tagen stattfinden?                     Sicht keine moralische Rechtferti-         unsere beiden Loyalitäten zum Aus-
         Beide beinhalten eine Kernfrage         gung, weshalb Jom Kippur anders be-        druck bringen können. Es ist ja voll
      unserer Identität als Juden und Jü-        handelt werde sollte als jeder andere      okay, auf einen Sieg Israels zu hoffen
      dinnen in Österreich: Wie stark aus-       Feiertag einer religiösen Minderheit.      – bloß bitte nicht auf eine Niederlage
      geprägt ist unsere Solidarität, unsere     Genauso wie Moslems, Protestanten          Österreichs.                       nu

             6      3 | 2019
SCHWERPUNKT JÜDISCHE IDENTITÄT - UNTERWEGS MIT EDMUND DE WAAL JÜDISCHES MAGAZIN FÜR POLITIK UND KULTUR - NUNU.AT
Aktuell

Belgrader Juden
auf den Barrikaden
VON NATHAN SPASIĆ
                                           Medićs Verwaltung des Gemeindever-              zipien hätten nichts mit jüdischer Tradi-
                                           mögens sei intransparent. So soll er die        tion gemein. „Aus diesen Gründen sagte
    Vor dem Justizministerium in Belgrad   im Restitutionsgesetz festgelegte Be-           ihm die absolute Mehrheit der jüdischen
versammeln sich seit Ende Juni fast täg-   richtspflicht über die Verwendung der           Gemeinde in Belgrad: ‚Geh weg!‘, wie Mose
lich Dutzende Mitglieder der kleinen jüdi- Gelder missachtet und keinen Bericht            einst dem Pharao sagte: ‚Lass mein Volk
schen Gemeinde. Sie demonstrieren, weil    abgegeben haben. Medić bestreitet die           gehen!‘“. Der Oberrabbiner wirft Medić vor,
sie meinen, dass die serbische Regierung   Behauptung und verteidigt seinen Um-            er habe ungehorsame Gemeindemitglie-
ihre Rechte als Religionsgemeinschaft      gang mit den Gemeindefinanzen: „Jeder           der marginalisiert, ihm wohlgesinnte mit
untergrabe. Diese würde sich weigern,      kann sich nach der finanziellen Situation       Posten belohnt.
den im März bei einem außerordentli-       der Gemeinde erkundigen und Antwor-                 In einem Schreiben an Alexander
chen Votum designierten Vorsitzenden       ten erhalten.“ Der designierte Vorsitzende      Jinker sichert der Europäische Jüdische
der jüdischen Gemeinde, Alexander          Alexander Jinker kontert, dass Medić die        Kongress der Gemeinde Belgrads seine
Jinker, als solchen anzuerkennen und       Buchhaltung unter Verschluss halten             volle Unterstützung zu, um „die Ordnung
einzutragen. Damals erhielt Jinker 335     und den Belgrader Juden den Zugang              und das Vertrauen wiederherzustellen“.
Stimmen, sein Kontra-                                                                                      Man blicke angesichts der
hent, der bisherige Vor-                                                                                   aktuellen Situation und
sitzende Danilo Medić,                                                                                     der mangelnden Trans-
nur fünf. „Nun steht                                                                    © CREATIVE COMMONS
                                                                                                           parenz zutiefst besorgt
das jüdische Leben                                                                                         nach Belgrad. „Es ist nicht
still, weil die Regierung                                                                                  hinnehmbar, dass die Re-
einen Konflikt illegal                                                                                     stitutionsgelder von ihren
aufrechterhält“, so Jin-                                                                                   rechtmäßigen Berechtig-
ker. Diese wiederum                                                                                        ten abgezweigt werden“,
verweist auf einen an-                                                                                     heißt es abschließend.
dauernden Rechtsstreit                                                                                         Ein weiterer Grund
mit Medić, dessen Aus-                                                                                     für die Opposition gegen
gang erst abgewartet                                                                                       Medić war dessen Rolle
werden müsse.                                                                                              in der Causa rund um die
    Die Vorgeschichte:                                                                                     geplante Errichtung eines
2016 verabschiedete Die Synagoge Sukkat Shalom im Belgrader Stadtzentrum.                                  Einkaufszentrums auf
das serbische Parla-                                                                                       dem Gelände des ehema-
ment ein Gesetz, welches die Rückgabe verweigern würde. Nun hat sich auch                  ligen Konzentrationslagers Topovske
und Reparationszahlungen für während Oberrabbiner Isak Asiel in den Konflikt               Šupe am Stadtrand von Belgrad. Dabei
der Schoah konfisziertes Eigentum vor- eingeschaltet und erhebt schwere Vor-               hat Medić als Gemeindevorsitzender den
sieht. Dabei wurden etliche Liegenschaf- würfe.                                            Abriss des Lagers schriftlich abgesegnet.
ten, die sich vor der Schoah in jüdischem   In einer Videobotschaft spricht er von         Topovske Šupe war das erste Konzen-
Besitz befanden, an die jüdische Ge- „zehn Plagen“, welche die Gemeinde ereilt             trationslager auf serbischem Gebiet und
meinde übergeben. Zusätzlich verpflich- hätten, und wirft Medić vor, er habe die           wurde von August bis Dezember 1941
tete sich Serbien, bis 2041 jährlich Zah- Gemeinde in eine undemokratische, hier-          betrieben. In diesem Zeitraum wurden
lungen in Höhe von 950.000 Euro an die archische Partei umgewandelt. Zudem                 knapp 4300 Menschen, hauptsächlich
Gemeinde zu leisten. Diese Mittel werde soll er mit einer eigens dafür gegründeten         Juden und Roma, ermordet. Oberrabbiner
man für Bildung, die Unterstützung von Firma Restitutionsgelder intransparent              Asiel spricht in einem Interview von Ver-
Schoah-Überlebenden und den Kampf verwaltet haben. „Danilo Medić behan-                    rat und kündigt weitere Schritte an.
gegen Antisemitismus verwenden, hieß delt das Budget der jüdischen Gemeinde                    In einer Aussendung schreiben die
es vonseiten des damaligen Gemein- Belgrad, als ob es das Investitionsbudget               Demonstranten: „Wir bitten nicht um viel.
devorstands. Zur gleichen Zeit wurde seiner privaten Firma wäre“, so der Ober-             Nur um die Rechte, die uns die Verfas-
der nun im Visier der Demonstranten rabbiner. Medić gefährde damit nicht nur               sung Serbiens garantiert. Dafür werden
stehende Geschäftsmann Danilo Medić die Existenz der jüdischen Gemeinde                    wir auch weiterhin demonstrieren!“. Für
zum Vorsitzenden der jüdischen Ge- in Belgrad, sondern auch der gesamten                   die nächste Ausgabe reist NU nach Bel-
meinde Belgrads gewählt. Bereits nach jüdischen Gemeinde Serbiens, heißt es                grad, um sich ein genaueres Bild vor Ort
kurzer Zeit erhoben Kritiker den Vorwurf, weiter. Seine Arbeits- und Geschäftsprin-        zu machen.                             nu

                                                                                                              3 | 2019      7
SCHWERPUNKT JÜDISCHE IDENTITÄT - UNTERWEGS MIT EDMUND DE WAAL JÜDISCHES MAGAZIN FÜR POLITIK UND KULTUR - NUNU.AT
Jüdische Identität

                               Neue Wege im
                               Stadttempel
      KOMMENTAR VON RENÉ WACHTEL                  Generalsekretariat bzw. Präsidium aus-      teressanter, vielfältiger und – speziell,
                                                  gearbeitet wurde und zweitens Ruhe in       wenn sie Thomas Gross macht – auch
         Ende Juni kündigte überraschend          den Stadttempel bringt.                     humorvoller geworden.
      Arie Folger: Er trat als Oberrabbiner          Der neue Tempelvorstand, in den im          Es geht jetzt darum, die Gemeinde-
      von Wien zurück und damit auch als          vergangenen März erstmals auch drei         mitglieder, die in den letzten Jahren
      Vorsteher der Synagoge in der Seiten-       Frauen gewählt wurden, hat viel zur         dem Stadttempel ferngeblieben waren,
      stettengasse. Der offizielle Tempel der     Beruhigung beigetragen. Mit seinem          zur Rückkehr zu motivieren, ihnen ein
      Israelitischen Kultusgemeinde ist für       Sprecher, dem neu in den Tempel-            Gemeinschaftsgefühl zu vermitteln,
      viele Juden in Wien der wichtigste und      vorstand gewählten Professor Arnold         ein „Zuhause“ zu geben. Ob es gelingt,
      einzige religiöse Bezugspunkt. In der       Pollak, hat der Tempelvorstand seinen       wird sich vor allem rund um die Hohen
      Sitzung des Kultusrates im Juli 2019        Öffentlichkeitsauftritt deutlich verbes-    Feiertage zeigen.
      wurde eine Rabbinerfindungskommis-          sert und wirkt nicht, wie oft in der Ver-      In der Diskussion rund um die Be-
      sion installiert, die alle Strömungen der   gangenheit, als zerstrittener Haufen.       rufung eines neuen Oberrabbiners hat
      Gemeinde vertritt, bestehend aus zwölf      Er hat auch die Betenden aufgefordert,      IKG-Präsident Oskar Deutsch immer
      stimmberechtigten Personen sowie            mehr für ihren Stadttempel zu tun; in       wieder betont, wie wichtig es sei, einen
      zwei nicht stimmberechtigten Beisit-        einem Bürgerforum wurde diskutiert,         Rabbiner zu finden, den die Gemeinde-
      zern. Diese Kommission soll bis Ende        wie der Stadttempel wieder attraktiver      mitglieder verstehen – und vice versa.
      des Jahres einen neuen Oberrabbiner         gemacht und vor allem auch die Ju-          Viele sind geprägt durch die fast 70
      finden und damit auch einen Vorsteher       gend einbezogen werden könnte. Viele        Jahre währende Ära Eisenberg Vater
      für die Synagoge Seitenstettengasse.        Gemeindemitglieder waren damals             und Sohn und derer liebevoller, fami-
         In der Zwischenzeit werden Ober-         noch skeptisch, nicht zuletzt wegen         liärer, humorvoller, auf die Menschen
      kantor Shmuel Barzilai und Kantor           der polarisierenden Figur von Rabbi-        zugehender und, ja, immer wieder
      Alexander Lerner die Gebete leiten, die     ner Folger. Das hat sich durch dessen       auch etwas unorthodoxer Gemeinde-
      Tora-Lesungen bleiben weiterhin in          Rücktritt erledigt.                         arbeit. Sie hoffen, dass auch der neue
      den bewährten Händen von Thomas                Schon nach den ersten Schabbats          Oberrabbiner zumindest einige die-
      Gross.                                      im Juli machte sich im Stadttempel          ser Eigenschaften hat und genügend
         Jetzt stellt sich die Frage: Benötigt    eine neue Stimmung bemerkbar, die           Empathie zeigt. Deshalb überwiegt
      man denn überhaupt einen Oberrab-           Geschlossenheit signalisierte und auch      die Meinung, lieber länger zu suchen,
      biner? Viele Gemeindemitglieder sind        ein volleres Haus brachte.                  als der Gemeinde (vor-)schnell einen
      nach der schwierigen Zeit unter Rabbi-         Eine der neuen Ideen war, die Men-       Rabbiner aufs Auge zu drücken, so wie
      ner Arie Folger froh, dass rasch eine Lö-   schen aufzufordern, Draschot (Predig-       es bei Rabbiner Folger damals der Fall
      sung gefunden wurde, die erstens aus        ten) am Freitagabend und Samstag            war.
      dem Haus kommt und gemeinsam mit            zu halten. Es machen schon Etliche             So gesehen ist die aktuelle Situation
      dem neuen Tempelvorstand sowie dem          davon Gebrauch, die Draschot sind in-       eigentlich gar nicht so schlecht.  nu

              8     3 | 2019
SCHWERPUNKT JÜDISCHE IDENTITÄT - UNTERWEGS MIT EDMUND DE WAAL JÜDISCHES MAGAZIN FÜR POLITIK UND KULTUR - NUNU.AT
Aktuell

„Jeder soll für sich

                                                                                                                                         © MICHAEL RAUSCH-SCHOTT / VERLAGSGRUPPE NEWS / PICTUREDESK.COM
definieren, was
Judentum bedeutet“
Mitte August wurde Bini Guttmann, Co-Präsident
der jüdischen österreichischen HochschülerInnen
(JöH), zum Präsidenten der European Union
of Jewish Students gewählt. Ein Gespräch
über florierendes jüdisches Leben in Europa,
zunehmenden Antisemitismus und was es für ihn
bedeutet, ein junger Jude in Europa zu sein.

VON MARK NAPADENSKI                          den Herbst eine größere Aktion, in der       zu dem fast immer über hundert Leute
                                             die Diskriminierung innerhalb der jü-        kommen. Wir sind allerdings in erster
NU: Gratulation zum Wahlerfolg. Lass uns     dischen Gemeinde thematisiert wer-           Linie keine religiöse, sondern eine kul-
bei den Wurzeln anfangen: Welche Rolle       den soll. Allerdings muss ich durchaus       turelle und politische Organisation, die
spielt für dich die jüdische Identität?      selbstkritisch sagen, dass der Großteil in   auch für nichtjüdische Menschen offen
   Bini Guttmann: Ich war mein Leben         der JöH säkulare aschkenasische Juden        ist. Man wird an der Tür nicht gefragt,
lang in jüdischen Institutionen, Sportver-   sind. So gesehen vertreten wir den reli-     ob man jüdisch ist! (lacht) Es geht auch
einen und Schulen, also mein gesamtes        giösen Teil weniger als den säkularen,       um Themen wie LGBTQ im Judentum,
Wertesystem baut darauf auf. Das Ju-         auch, weil weniger Bedarf besteht. Die       andererseits hatten wir auch Veranstal-
dentum ist ein wesentlicher Teil meiner      religiöse Gemeinde hat ihre eigenen          tungen mit den Rabbinern der Gemeinde
Identität.                                   Institutionen. Aber natürlich sind wir       hier bei uns.
                                             in allen unseren Events inklusiv und
Bist du religiös?                            offen. Alle unsere Schabbat-Essen sind       Wie stehst du zu Reformbewegungen im
   Ich gehe in die Synagoge, allerding       koscher, es kommen auch viele religiöse      Judentum? Sollen Frauen auch Rabbine-
weniger oft, als ich gerne würde.            Leute, aber chassidische Jugendliche         rinnen werden können?
Andererseits bin ich aber religiöser als     kommen naturgemäß eher selten zu                Das ist eine sehr grundsätzliche Frage
die meisten, die in unserem Vorstand         uns. Im Großen und Ganzen würde ich          in Wien. Hier gibt es eine orthodoxe Ge-
aktiv sind. Ich esse zum Beispiel nur        sagen, dass die JöH ein größeres Spek-       meinde, die nicht religiös ist, was ein
koscheres Fleisch und lege jeden Tag         trum abdeckt, als alle anderen Jugend-       sehr interessanter Fall ist. Es ist aber na-
Tefillin an. Es sollte jeder für sich eine   organisationen außer vielleicht Mac-         türlich so, dass in der traditionellen Aus-
Grenze finden und definieren, was das        cabi und die Zwi Peres Chajes-Schule.        richtung des Judentums die Position der
Judentum für ihn bedeutet. Das ist ja        Die JöH sollte beispielhaft sein für die     Frau keine gute ist. Da besteht sicherlich
auch das Schöne im Judentum. Du              gesamte jüdische Gemeinde. In meiner         Reformbedarf. Ich bin aber keine rab-
kannst gleichzeitig Atheist und jüdisch      Generation verändert sich auch einiges       binische Autorität, deswegen kann ich
sein, das macht den Unterschied zu           zwischen den georgisch-bucharischen          nicht über Halacha reden. Doch in vielen
anderen Religionen. Das Judentum ist         und aschkenasischen Gemeinden zum            Ländern bekommen Frauen auch in or-
eben nicht nur eine Religion, sondern        Besseren. Das könnte auch als Vorbild        thodoxen Gemeinden immer mehr Platz
viel mehr, ein Volk und eine Kultur.         dienen. Aber natürlich gibt es auch bei      eingeräumt. Bei den Wahlen zum Tem-
                                             uns Luft nach oben.                          pelvorstand gab es zum Beispiel fünf
Du bist Co-Präsident der Jüdischen                                                        Plätze für Männer und drei für Frauen.
österreichischen HochschülerInnen-           Welche Rolle spielt das Judentum für die     Dass es nicht fünfzig-fünfzig ist, erach-
schaft. Würdest du sagen, dass ihr alle      JöH?                                         ten wir als problematisch.
jungen jüdischen Studenten vertretet?           Besonders der kulturelle und politi-
   Ich habe es jedenfalls versucht. Wir      sche Aspekt sind wichtig, wiewohl wir        Wie kam es, dass du dich für die Position
haben gemeinsame Veranstaltungen             natürlich auch religiöse Aspekte abdec-      des Präsidenten der European Union of
für Aschkenasen und Bucharen ge-             ken. Wir veranstalten zu den meisten         Jewish Students (EUJS) beworben hast?
macht, beispielsweise ein bucharisches       Feiertagen Events, einmal im Monat gibt         Dafür muss ich erklären, warum
Schabbat-Dinner. Wir planen auch für         es ein gemeinsames Schabbat-Essen,           ich überhaupt bei der JöH angefangen

                                                                                                              3 | 2019      9
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Aktuell

      habe. Vor fast drei Jahren hat die FPÖ       listischer werden und solidarisch sein       inklusive der Mannschaft und den
      zum Gedenken an die Novemberpo-              mit anderen Gruppen, die diskriminiert       Eltern versuchten, unsere Kabine zu
      grome eine Podiumsdiskussion über            und unterdrückt werden. Der Antise-          stürmen. Die Mannschaft wurde von
      den neuen Antisemitismus organisiert         mitismus steigt zwar, aber Jüdinnen          der Liga ausgeschlossen. Das war ein
      und dazu bekannte Islamkritiker ein-         und Juden sind in vielen Ländern nicht       ziemlich arger Vorfall! Im Stadion habe
      geladen, da Antisemitismus in ihren          das erste Ziel von rassistischem Hass.       ich auch schon viel Antisemitismus ge-
      Augen nur von der islamischen Seite          Außerdem möchte ich eine jährliche           hört. Auf der amerikanischen Neonazi-
      kommt. Diese Islamkritiker haben dann        Policy-Konferenz einführen, bei der es       Website Judaswatch ist ein Profil von
      mit rechtsextremen FPÖ-Politikern, die       jedesmal um ein anderes Thema gehen          mir angelegt, mit Fotos und Artikeln, die
      Verbindungen zur organisierten Neo-          wird. Beginnen würde ich gerne mit Zio-      ich geschrieben habe und mit einem Da-
      nazi-Szene haben, diskutiert, obwohl         nismus, um darüber zu diskutieren, was       vidstern daneben, um zu kennzeichnen,
      die FPÖ eine strukturell antisemitische      für uns als junge europäische Juden          dass ich ein Jude bin! Mein Einfluss ist,
      Partei ist, wie sich auch in den letzten     Zionismus im 21. Jahrhundert bedeutet.       laut Judaswatch, leider „low“.
      Jahren hinlänglich gezeigt hat. Es ist       Ich glaube, die Antwort, auf die wir kom-
      ein Beispiel dafür, wie rechtsextreme        men werden, wird sehr anders sein als        Als Präsident aber nicht mehr!
      Parteien in ganz Europa versuchen,           das, was 60-jährige Amerikaner, die den         Ich schreibe ihnen und frage, ob sie
      sich an die jüdischen Gemeinden und          Diskurs in der Diaspora beherrschen,         mich upgraden können. (lacht) Spaß
      vor allem auch an Israel anzubiedern,        darüber denken.                              beiseite, solche Sachen sind beängsti-
      um ihren Rassismus weißzuwaschen                                                          gend! Ich glaube, dass sich Antisemitis-
      und zu kaschieren. Wir haben damals          Welche Rolle spielt für dich der Zionis-     mus durch alle Gesellschaftsschichten
      eine Demonstration organisiert, denn         mus? Du warst Mitglied des Hashomer          in Österreich bis hin zur ehemaligen
      mit diesen Menschen gedenke ich nicht        Hatzair, der sich ganz klar zum Zionismus    und vielleicht auch zukünftigen Regie-
      meiner Vorfahren. Kurz darauf haben          bekennt. Wirst du daher auch das Amt des     rung zieht. Er ist allgegenwärtig und
      wir die JöH wieder aktiver gestaltet, um     Präsidenten in diesem Sinne ausüben?         nimmt im Moment auch wieder zu.
      jungen Juden – auch solchen, die für            Ja, ich bin grundsätzlich Zionist         Der Unterschied zwischen Österreich
      andere Jugendorganisationen bereits          und die Ideologie des Shomers hat            und Deutschland ist die Aufarbeitung,
      zu alt waren – einen Ort zu geben, wo        mich sehr geprägt. Gleichzeitig finde        in Österreich muss noch viel Arbeit ge-
      sie sich politisch und kulturell betätigen   ich nicht alles gut, was die israelische     leistet werden. Im Großen und Ganzen

     „Es muss unsere Generation sein, die ihre Meinung ganz klar und
     deutlich sagt, damit wir etwas verändern können.“

      können. So bin ich auch zum ersten Mal       Regierung macht. Zionismus ist nicht         ist es aber in den letzten dreißig Jahren
      in Kontakt mit der EUJS gekommen             immer gleich Israel Advocacy, das ist        besser geworden. Es gibt in Europa der-
      und habe gemerkt, dass es ganz viele         nicht dasselbe. Ich finde, dass wir zu Is-   zeit Antisemitismus von Rechtsextre-
      Themen gibt, die nicht nur in Öster-         rael stehen müssen, aber es ist auch le-     men, es gibt islamistischen Antisemitis-
      reich problematisch sind. Rechtsextre-       gitim, die israelische Regierung zu kriti-   mus, und es gibt auch den Antisemitis-
      mismus ist leider in ganz Europa ein         sieren – gerade weil wir Zionisten sind!     mus der extremen Linken. Ganz wichtig
      Problem; den muss man, um effektiv           Es ist natürlich immer schwer, hier die      ist, alle Antisemitismen zu bekämpfen.
      zu sein, auf gesamteuropäischer Ebene        Linie zu finden, weil man von ande-          Jeder, der sich nur eine Seite aussucht,
      bekämpfen. Deswegen habe ich kan-            ren Kräften missbraucht werden kann,         weil es gerade politisch opportun ist,
      didiert. Priorität wird eine Kampagne        mit denen man nichts zu tun haben            meint es nicht ernst im Kampf dagegen
      gegen Rechtsextreme und rechte Par-          möchte. Ich glaube, dass es ganz wich-       und ist sicher niemand, mit dem wir zu-
      teien in Europa sein.                        tig wäre, einen Ort für linke und liberale   sammenarbeiten können.
                                                   Zionisten zu schaffen, die üblicherweise
      Was willst du in der EUJS verändern?         in jüdischen Organisationen nur wenig        Fühlst du dich als Jude in Europa sicher?
         Ich möchte sie aktionistischer ma-        Platz haben. Es ist unsere Verantwor-           Ich bin auf der Straße nicht als Jude
      chen, so wie die JöH. Als Studenten          tung, auch solchen Positionen einen          zu erkennen, daher ist meine Erfahrung
      können wir uns einfach mehr erlauben,        Platz zu bieten.                             sicherlich eine ganz andere als von Leu-
      um uns Gehör zu verschaffen. Die EUJS                                                     ten, die wirklich als Juden erkennbar
      hat dahingehend auch schon viel er-          Hast du schon Antisemitismus erfahren        sind. Natürlich erfahren sie mehr Anti-
      reicht. Als der damalige iranische Präsi-    müssen?                                      semitismus im Alltag als ich. Ich fühle
      dent Mahmoud Achmadinejad vor dem               Schön öfter, in allen möglichen For-      mich schon sicher, vor allem gibt es die
      UNHCR über Israel sprach, haben EUJS-        men. Vor allem bei Maccabi Wien, wo          Bewachung aller jüdischen Einrich-
      Aktivisten die Rede gestört. Sie alle wur-   ich Fußball gespielt habe, gab es eine       tungen. Ich war in der ZPC-Schule, die
      den verhaftet und haben dadurch für          ganze Reihe an Vorfällen. Einmal mus-        wahrscheinlich das sicherste Gebäude
      große internationale Aufmerksamkeit          sten wir uns einsperren, bis die Polizei     Österreichs ist und ein bisschen aus-
      gesorgt. Die EUJS soll auch universa-        kam, nachdem die gegnerischen Fans           sieht wie ein Gefängnis. Ich gehe auch

              10    3 | 2019
Junge Jüdinnen und Juden bringen trotz Belästigungen in Europa
                        ihre jüdische Identität zum Ausdruck
© DUDI VAKNIN/FLASH90

                                                                                                                   Basierend auf den Daten der
                                                                                                                   EU-Agentur für Grundrechte (FRA)
                                                                                                                      81 Prozent der jungen jüdischen Europäerinnen
                                                                                                                   und Europäer bekennen sich zu einer starken jüdi-
                                                                                                                   schen Identität.
                                                                                                                      Vier von fünf jungen jüdischen Europäerinnen und
                                                                                                                   Europäern sagen, dass Antisemitismus in ihren Län-
                                                                                                                   dern ein Problem ist und sind der Ansicht, dass Antise-
                                                                                                                   mitismus in den letzten fünf Jahren zugenommen hat.
                                                                                                                      81 Prozent der jungen jüdischen Europäerinnen und
                                                                                                                   Europäer sind der Ansicht, dass Rassismus in ihren
                                                                                                                   Ländern ein Problem ist, und 74 Prozent bemerken
                                                                                                                   speziell eine Zunahme von Hass gegenüber Muslimen.
                                                                                                                      Das Gedenken an den Holocaust ist der wichtigste
                                                                                                                   Faktor für die jüdische Identität der jungen jüdischen
                                                                                                                   Europäerinnen und Europäer (95 Prozent).
                                                                                                                      Während das Thema „Unterstützung Israels“ bei
                                                                                                                   der Identität der jungen jüdischen Europäerinnen und
                                                                                                                   Europäer eine geringere Rolle spielt als für die ältere
                          „Viele jüdische Europäerinnen und Eu-      braucherschutz und Gleichstellung, Věra       Generation, geben 85 Prozent der Befragten an, dass
                        ropäer sind Belästigungen ausgesetzt,        Jourová, betont: „Jungen jüdischen            ihnen in ihren Ländern zumindest „gelegentlich“ die
                        lassen sich aber nicht unterkriegen und      Europäerinnen und Europäern ist ihre          Schuld für das gegeben wird, was von der israeli-
                        bringen ihre jüdische Identität deutlich     jüdische Identität sehr wichtig. Es macht     schen Regierung unternommen wird.
                        zum Ausdruck.“ So lautet die Schluss-        mich traurig, zu hören, dass sie um ihre         44 Prozent der jungen jüdischen Europäerinnen
                        folgerung eines Berichts, der von der        Sicherheit besorgt sind, sich nicht trauen,   und Europäer haben Erfahrungen mit antisemiti-
                        Europäischen Kommission und der FRA          eine Kippa zu tragen und einige sogar         schen Belästigungen; das sind 12 Prozent mehr als
                        (EU-Agentur für Grundrechte) veröffent-      eine Auswanderung in Erwägung ziehen.         in der älteren Generation. 80 Prozent der jungen
                        licht wurde. Zunehmende Hetze und In-        Wir müssen rasch handeln, um den Anti-        Opfer melden Belästigungen nicht bei der Polizei
                        toleranz zeigen, dass die gemeinsamen        semitismus in Europa zu bekämpfen und         oder einer anderen Behörde.
                        Anstrengungen unbedingt fortgesetzt          unsere Anstrengungen bündeln, um die             45 Prozent der jungen jüdischen Europäerinnen
                        werden müssen, um die seit Langem            Sicherheit unserer jungen Menschen zu         und Europäer entscheiden sich dafür, in der Öffent-
                        bestehenden und anhaltenden Feindse-         gewährleisten. Wir möchten, dass junge        lichkeit keine erkennbaren jüdischen Gegenstände
                        ligkeiten gegenüber Jüdinnen und Juden       Menschen jüdischen Glaubens in Europa         zu tragen, mitzuführen oder sichtbar zu machen, da
                        angemessen zu bekämpfen.                     so aufwachsen, dass sie sich vollständig      sie um ihre Sicherheit fürchten.
                          Aus dem Bericht „Young Jews in con-        zugehörig fühlen. Antisemitismus stellt          41 Prozent haben bereits an Auswanderung ge-
                        temporary Europe“ geht hervor, dass sich     eine Bedrohung für unsere europäischen        dacht, da sie sich in ihrem Land als Person jüdischen
                        junge jüdische Europäerinnen und Euro-       Werte dar. Deshalb gehört seine Be-           Glaubens nicht sicher fühlen.
                        päer weitgehend klar zu ihrer jüdischen      kämpfung zu unseren Prioritäten und              48 Prozent sind der Ansicht, dass sie von ihrer Re-
                        Identität bekennen, obwohl sie Antisemi-     arbeiten wir eng mit den Mitgliedstaaten      gierung angemessen geschützt werden, aber nur 17
                        tismus noch stärker ausgesetzt sind als      zusammen, um dafür zu sorgen, dass            Prozent finden, dass Antisemitismus in ihrem Land
                        die ältere Generation. Der Bericht basiert   diese jungen Menschen vollständiger           wirksam bekämpft wird.
                        auf Daten von mehr als 2700 jungen           Teil unserer Union sind.“                        Die Ergebnisse entstammen der Erhebung, die von
                        jüdischen Europäerinnen und Europäern,         „Antisemitismus in Europa ist wie ein       der FRA unter der jüdischen Bevölkerung von zwölf
                        die 2018 für die Erhebung der FRA zu         hartnäckiger Fleck, der nicht rausgeht“,      Mitgliedstaaten, in denen schätzungsweise über 96
                        „Erfahrungen und Wahrnehmungen von           sagt der Direktor der FRA, Michael            Prozent der jüdischen Bevölkerung der EU leben,
                        Antisemitismus“ befragt wurden. Er zeigt     O’Flaherty. „Wir sind es allen Jüdinnen       durchgeführt wurde. An der Erhebung haben mehr
                        auch, dass sich diese jungen Menschen        und Juden und insbesondere den künfti-        als 2700 Jüdinnen und Juden im Alter von 16 bis 34
                        der allgemeinen Veränderungen in der         gen Generationen schuldig, diesen Fleck       Jahren teilgenommen. Auf Anregung der European
                        Gesellschaft im Hinblick auf die zuneh-      ein für allemal zu entfernen, indem wir       Union of Jewish Students ersuchte die Europäische
                        mende Hetze und Intoleranz bewusst           abgestimmte Maßnahmen auf EU- und             Kommission die FRA um Erstellung dieses Berichts.
                        sind und sich in Europa generell unsicher    nationaler Ebene ergreifen und eng mit        Die FRA beauftragte das Institute for Jewish Policy
                        fühlen.                                      den jüdischen Gemeinden zusammen-             Research mit dessen Abfassung. 
                          Die EU-Kommissarin für Justiz, Ver-        arbeiten.“                                                           (4.7.2019, www.fra.europe.eu)

                        in eine Synagoge, vor der sehr viel Po-         in Washington viel eigenartiger fand              damit wir etwas verändern können, auch
                        lizei steht. Das ist für mich ganz selbst-      als in Brüssel!                                   wenn wir eine sehr kleine Gruppe sind.
                        verständlich.                                                                                     Aber damit es nicht falsch rüberkommt:
                           Vor zwei Jahren war ich mit der              Gibt es noch etwas, was du zu Jom Kip-            Ich glaube, dass es Jüdinnen und Juden
                        EUJS in Brüssel und dann in Washing-            pur den Lesern und Leserinnen als Präsi-          in Europa nicht schlecht geht, und dass
                        ton. In Brüssel stehen vor der Synagoge         dent mitteilen möchtest?                          das jüdische Leben ein sehr gutes und
                        Soldaten mit Maschinengewehren, in                  Dass wir als junge Jüdinnen und               vielfältiges ist. Es geht darum, genau dies
                        Washington niemand. Wobei es sich               Juden uns einsetzen müssen für die                zu bewahren, weiterzuentwickeln und zu
                        mittlerweile auch in den USA leider             Werte, die uns wichtig sind, weil sie in          schauen, dass es nicht schlechter wird.
                        sehr geändert hat. Dennoch war es dort,         ganz Europa oder eigentlich auf der gan-          Das würde ich mir wünschen von vielen
                        als würdest du hier in Österreich in eine       zen Welt immer mehr in Gefahr geraten.            jungen Jüdinnen und Juden! Und natür-
                        Kirche gehen. Das hat mich zum Nach-            Es muss unsere Generation sein, die ihre          lich „ois Guade“ im neuen Jahr! (lacht)
                        denken gebracht, weil ich die Situation         Meinung ganz klar und deutlich sagt,                                                     nu

                                                                                                                                                3 | 2019      11
Jüdische Identität

      Die Top Ten der antisemitischen
      Vorurteile: Warum sie wahr sind
      VON LENA GORELIK                               ehrlich: Problematisch ist die Beziehung
                                                     nicht. Aber sie, wie soll ich sagen, gestal-
      1. Juden haben Hakennasen                      tet den Alltag: „Wie hast du geschlafen?
         Grundsätzlich gilt: Alles, worüber          Hast du das gesunde Kopfkissen benutzt,
      Juden Witze machen, trifft zu. Meine           das ich dir neulich geschickt habe?“,
      Nase sieht eindeutig sonderbar aus. Mög-       „Was hast du gefrühstückt? Wie, du früh-
      licherweise noch keine klassische Ha-          stückst nicht? Das ist doch die wichtigste
      kennase, wie man sie aus Nazikarikatu-         Mahlzeit des Tages!“, „Weißt du, wie kalt
      ren kennt, aber doch zu lang. Kürzer zwar      es in München werden soll? Nimm einen
      als die der meisten meiner Familienmit-        Schal. Jaja, ich leg ja schon auf!“ Und das
                                                                                                         Lena Gorelik, geboren 1981 in Sankt
      glieder, aber eben zu lang. Macht nichts,      alles vor neun Uhr morgens. Aber pro-               Petersburg, kam 1992 zusammen mit
      ich habe auch abstehende Elefantenoh-          blematisch? Nein, problematisch ist die             ihrer russisch-jüdischen Familie als
      ren, die diese Nase wunderbar ergänzen.        Beziehung nicht.                                    „Kontingentflüchtling“ nach Deutschland.
                                                                                                         Schon ihr Erstling Meine weißen Nächte
      2. Juden haben Glatzen                         6. Juden sind schlauer als andere                   (2004) wurde von der Literaturkritik als
          Was soll ich sagen? Mein Vater hat            Schach spielen konnte ich mit drei,              „der beste Roman über Deutschland“
      eine Glatze. Er hatte schon immer eine         lesen mit vier Jahren. An meiner Intel-             und „absolut hinreißendes Buch“ gelobt.
                                                                                                         Hochzeit in Jerusalem war 2007 für den
      Glatze, an seine Haarfarbe erinnere            ligenz liegt das nicht – etwas anderes              Deutschen Buchpreis 2007 nominiert.
      ich mich nicht. Mischas Vater hat eine         hätte ich meinem Vater schlichtweg                  Im März 2011 erschien ihr hinreißend
      Glatze. Über die Glatze ist er trauriger als   nicht antun können. So wie sportver-                komisches, kluges, schonungslos
                                                                                                         ehrliches Buch Lieber Mischa... im
      ich. Früher zählte er seine verbliebenen       rückte Väter in US-Filmen von ihren                 Graf Verlag. Lena Gorelik wurde mit
      Haare. Nun rasiert er sich immer den           Söhnen erwarten, Baseball zu spielen,               dem Bayerischen Kunstförderpreis,
      Kopf, damit man die Glatze nicht als sol-      und nicht damit umgehen können, wenn                dem Ernst-Hoferichter-Preis und dem
                                                                                                         Förderpreis Friedrich-Hölderlin-Preis der
      che erkennt. Ich find’s nicht schlimm. Er      diese lieber Ballett tanzen, so ist es für jü-      Stadt Bad Homburg ausgezeichnet.
      ist doch Jude.                                 dische Eltern unvorstellbar, dass das Kind          www.lenagorelik.de
      3. Juden haben viel Geld                       keine Leseratte ist, wie sie, ihre Eltern,
         Rothschilds Existenz will ich natürlich     Groß- und Urgroßeltern es gewesen sind.
      nicht leugnen. Leider Gottes ist er nicht      7. Juden sind verschlagen,
      mit uns verwandt (obwohl alle Juden ir-        hinterlistig, gerissen                           rence erschlich sich zum Beispiel Ent-
      gendwie miteinander verwandt zu sein              Gerissen schon. Hinterlistig nicht.           schädigungszahlungen in Höhe von 42
      scheinen oder es angeblich sogar sind).        Gerissen mussten die Juden sein, um              Millionen Dollar. Das ist zwar noch keine
      4. Juden sind Wucherer                         zu überleben. Weil es oft um Leben und           Weltverschwörung an sich, sondern
         Der „Judenzins“ ist bekannt. Ich            Tod ging – oder um den Alltag. „Ich              eine Sauerei und im Grunde ein Phä-
      selbst verleihe ja eher Bücher als Geld.       hätte gerne das Fischbrötchen!“, bestellt        nomen, das nicht nur in der Politik weit
      Die kriege ich leider nur selten zurück        ein Jude. „Das ist aber Schinken, nicht          verbreitet ist. Aber man könnte es, wenn
      (weshalb ich dann Geld für andere Bü-          Fisch!“, antwortet der Verkäufer. „Habe          man wollte, als Vorzeichen von Weltver-
      cher ausgeben muss; ein Teufelskreis).         ich Sie gefragt, wie der Fisch heißt?“ Ge-       schwörung betrachten. Andere Vorzei-
      Ich sinniere schon länger darüber, einen       rissen schon. Hinterlistig nicht.                chen fallen mir nicht ein. Denn: Leider
      Bücherjudenzins einzuführen: Wer ein           8. Juden sind Lobbyisten, klüngeln               dürfen bei der Weltverschwörung nur
      Buch zu spät oder unzufrieden zurück-             „Das ist einer von uns“, sagt mein            auserwählte Juden mitmachen. Mich
      gibt – unzufrieden, obwohl ich eines           Vater, wenn er jemanden etwas Kluges             laden sie nicht dazu ein.
      meiner geliebten Bücher voller Begeiste-       im Fernsehen sagen hört. Auch auf He-            10. Juden sind inzestgefährdeter
      rung weitergegeben habe –, muss den            bräisch ist „jemand von uns“ ein gängi-          als andere
      Bücherjudenzins zahlen. So käme ich zu         ger Begriff. So eine Art große Familie, ein        Nun, wer so gute Filme macht wie
      Geld und könnte eine richtige Jüdin wer-       Zusammengehörigkeitsgefühl über Lan-             Woody Allen, darf heiraten, wen er will.
      den, die Bücher verleiht zu Wucherprei-        desgrenzen hinweg. Weil Jüdischsein              Und wenn’s seine Katze ist.
      sen. Die Welt wäre dann ein Stück weit         irgendwie verbindet. Warum, wissen wir
      mehr so, wie man sie sich vorstellt. Und       selbst nicht so genau. Heutzutage be-               Aus: Lena Gorelik: „Lieber Mischa: ...
      ich hätte Geld und Bücher.                     zeichnen manche das als „Judenlobby“.            der Du fast Schlomo Adolf Grinblum ge-
      5. Juden haben eine problematische             So nennt das aber „keiner von uns“.              heißen hättest, es tut mir so leid, dass ich
      Beziehung zu ihrer Mutter                      9. Jüdische Weltverschwörung                     Dir das nicht ersparen konnte: Du bist ein
        Nein, natürlich nicht. Aber damit              Ist doch kein Klischee, gibt’s doch            Jude“.
      würde ich lügen. (Was Juden ja auch an-        wirklich. Man muss nur die Augen auf-               Nachdruck mit freundlicher
      geblich gern tun.) Also, jetzt mal jüdisch-    machen. Die jüdische Claims Confe-               Genehmigung des List Verlags

              12     3 | 2019
Jüdische Identität

                                             Weder
                                             Abgrenzung
                                             noch Verzicht
Der Versuch, eine jüdische Identität nur durch positive Inhalte zu leben, ist weniger
leicht als es klingt.

KOMMENTAR VON ERIC FREY
                                             für den Schabbat, die Traditionen der     jeder jüdischen Identität. Meine erste
                                             meisten Feiertage beruhen auf jenen       Erinnerung in dieser Hinsicht geht
    Wenn man rechte Österreicher             Handlungen, die man als frommer           zurück auf meine Zeit in der öffent-
fragt, was eigentlich ihre Identität aus-    Jude nicht setzen darf. Und das be-       lichen Volksschule in Wien, als ich
macht, die sie mit so viel Kraft verteidi-   rührt auch das Leben von traditionel-     beim Morgengebet die Hände nicht
gen, so bekommt man meist all das zu         len Juden, die es mit dem Gesetz nicht    faltete und mich dafür nicht schämte
hören, was sie nicht sind und nicht tun:     so genau nehmen. Natürlich kann           und im Dezember stolz erklärte, dass
Wir sind nicht faul und unzuverlässig,       man Pessach feiern, indem man eine        das Christkindl zu mir nicht kommen
wir wollen keinen Gottesstaat, wir un-       Woche Mazzes isst. Aber Sinn ergibt       wird, weil wir nicht Weihnachten
terdrücken unsere Frauen nicht. Iden-        diese Tradition erst dann, wenn man       feiern. Weihnachten nicht zu feiern
tität definiert sich hier vor allem durch    auf Brot und Teigwaren in dieser Zeit     war das Entscheidende, denn Cha-
Abgrenzung zu anderen und Betonung           verzichtet. Und wer die Stimmung          nukka, das wusste ich damals schon,
des Negativen.                               eines echten Schabbats erleben will,      war kein echter Ersatz für das größte
    Seit ich als Jugendlicher begonnen       der muss an diesem Tag gewisse Dinge      christliche Fest.
habe, mich mit der Frage meiner Iden-        unterlassen. Ohne Fasten ist Jom Kip-        Ich bleibe dennoch dabei, Identität
tität auseinanderzusetzen, habe ich          pur ein Tag wie jeder anderer.            als positive Erfahrung im mehrfachen
genau das versucht zu vermeiden. Wer            Und vergessen wir nicht: Judentum      Sinn anzustreben. In meiner Familie
ich bin, soll sich durch positive Werte      ist eine Religion und eine Kultur, die    leben wir ein liberales, progressives
und Traditionen definieren und nicht         von Anfang an auf eine Abgrenzung         Judentum, das wir mit Inhalten zu fül-
über die Abgrenzung von anderen, die         gegenüber anderen Völkern ausgerich-      len versuchen – Schabbat-Kerzen, Fei-
leicht in Verachtung und sogar Hass          tet war. Das war historisch und sozio-    ertage, jüdische Kultur und bei meiner
umschlagen kann. Und so wie viele            logisch gesehen der Zweck der Spei-       Tochter jiddische Musik –, ohne uns im
andere säkular aufgewachsene Juden           segesetze: Wer nur koscher essen darf,    Leben einzuschränken. Fasten zu Jom
wollte ich mein Judentum über die            kann nicht mit anderen speisen. Und       Kippur und Mehlverzicht zu Pessach
schönen Seiten der Tradition erleben         gemeinsame Mahlzeiten waren und           sind die Ausnahmen. Und wir grenzen
und nicht unbedingt über Verzicht und        sind die Grundlage für Beziehungen.       uns von der nichtjüdischen Welt nicht
Verbote.                                     Auch heute noch gilt: Je orthodoxer ein   ab, weder von den Menschen noch von
    Doch gerade beim Judentum ist            jüdisches Leben, desto stärker wird die   den Werten oder Traditionen. Diese Art
dieser zeitgeistgerechte Vorsatz nicht       gesellschaftliche Abschottung.            der Identität entspricht einem moder-
leicht umzusetzen. Schließlich bilden           Und auch in einem nicht durch          nen, aufgeklärten Ideal. Ich denke, das
die 613 Gebote und Verbote den Kern          Religion geprägten jüdischen Leben        kann gelingen. Aber so wie Tewje der
der Religion, und von denen sind die         ist eine gewisse Abgrenzung stets         Milchmann in Anatevka macht uns
Mehrzahl Verbote, nämlich 365. Die           präsent. Das Gefühl, anders zu sein,      das auch zu Geigern auf dem Dach.
Speisegesetze der Kaschrut, die Regeln       ist ein entscheidender Bestandteil        Und die können abstürzen.          nu

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Jüdische Identität

      Arche Noah unter
      österreichischer Flagge
      In den 1960er Jahren als jüdischer Bub in Österreich aufzuwachsen, war durchaus eine
      Herausforderung. Lieber unauffällig bleiben, lautete das Motto. Erinnerungen an eine
      assimilierte Kindheit.

      VON RONNI SINAI (TEXT UND ZEICHNUNGEN)
                                                                                                  schreiben, bis dieser gefüllt war. Aus
           Beliebt in Interviews ist häufig die                                                   heutiger Sicht wohl eine pädagogisch
      Frage nach der Vervollständigung des                                                        bedenkliche Aufgabe eines mäßig begab-
      Satzes „Meine Mutter hat immer gesagt:                                                      ten Lehrers. Aber immerhin wirksam, ich
      ...“. In meinem Fall wäre die Antwort:                                                      habe bis heute nicht vergessen, was ich
      „Du wirst einmal weder da noch dort                                                         bin, wer weiß, wie mein Leben sonst ver-
      dazugehören.“ Mit „da“ war die jüdische                                                     laufen wäre. Am Ende hätte ich gar ein
      Gemeinde, mit „dort“ der Rest der Gesell-                                                   Dasein als langweiliger Agnostiker ge-
      schaft gemeint (oder umgekehrt?), wobei                                                     fristet, den Namen des Herrn ohne feh-
      der Satz insgesamt die Bedrohung einer                                                      lenden Buchstaben schreiben oder sogar
      Vereinsamung vermittelte, einer Aus-                                                        Israel kritisieren dürfen. Auch käme ich
      grenzung als Österreicher durch Öster-                                                      ohne ökumenisches Weihnukka-Fest
      reicher. Doch wie kam es zu dieser Äuße-                                                    im Dezember aus und dürfte keine an-
      rung meiner Mutter, die auch mein Vater                                                     tisemitischen Bemerkungen machen.
      durchaus bekräftigte?                                                                       (Anmerkung: Als Jude darf man durch-
           Es begann in der Volksschule, die                                                      aus gelegentlich Antisemit sein, aber
      ich in unserem Wohnort Klosterneu-                                                          Bedenken gegenüber israelischer Politik
      burg besuchte, in den Sechzigern noch                                                       sind zumindest hierzulande ein No-go,
      eher dem ländlichen Raum zuzuordnen                                                         womit sich linke Juden, wie etwa André
      und zudem dem Einfluss des Chorher-         unsympathischen Mann mit merkwür-               Heller oder allen voran Bruno Kreisky in
      renstiftes ausgesetzt – was durch die       digem Akzent. Aufgrund einer auf Ge-            der Gemeinde seinerzeit nicht gerade
      Präsenz von einschlägigen kirchlichen       heiß des Lehrers – oder was auch immer          beliebt gemacht haben.) Letztlich liegt
      Vereinen und Aktivitäten zu bemerken        er war – angefertigten Zeichnung der            der Verdacht nahe, dass aufgrund des
      war. Ich war noch nicht einmal sechs        Arche Noah, welcher ich die österreichi-        Zwischenfalles im Rahmen meiner er-
      Jahre alt und musste die Religions-         sche Flagge verpasste, und auch wegen           sten Religionsstunde Jahre später der
      stunde schon in einem anderen Klas-         einiger widersprüchlicher Aussagen              Begriff „mosaisch“ gegen „israelitisch“
      senzimmer verbringen, wenngleich            meinerseits, an die ich mich im Detail          ausgetauscht wurde, was meiner An-
      gemeinsam mit ein paar evangelischen        nicht mehr so genau erinnern kann oder          sicht nach allerdings nicht zu einem
      Kindern, die mich für „ihresgleichen“       will, bekam der Herr Lehrer Zweifel, ob         gesteigerten Identitätsbewusstsein bei-
      hielten. Doch um „meinesgleichen“ zu        ich überhaupt Jude sei, was er in einer         getragen hat. Manchmal wurde mir die
      begegnen, sollte ich nach Wien zu einem     Frage auch formulierte. Ich sagte, ich sei      Frage gestellt – und das nicht nur von
      eigenen Religionsunterricht der Kultus-     nicht Jude (sondern gemäß meiner Ge-            bildungsfernen Menschen –, ob ich aus
      gemeinde geschippert werden, der zu         burtsurkunde mosaisch, was ich dachte,          Israel komme oder wann wir nach Öster-
      meinem unsäglichen Bedauern justa-          aber nicht erwähnte). So kam es zu einer        reich eingewandert seien. Vielleicht
      ment zeitgleich mit der wöchentlichen       Nachfrage des Lehrers an meine Eltern,          hätte ich antworten sollen, dass wir uns
      Kasperlaufführung in der Urania statt-      ob meine Teilnahme am jüdischen Reli-           lange gewehrt hätten und erst in jüng-
      fand, welche – wäre es nach mir gegan-      gionsunterricht vielleicht ein peinlicher       ster Geschichte aus dem heiligen Land
      gen – eindeutig Priorität gehabt hätte.     Irrtum sein könnte. Selbstverständlich          vertrieben wurden.
                                                  sei ich Jude, gaben meine entsetzten El-            Zurück zur Schulzeit. Um der bereits
      Eindringlicher Einzelunterricht             tern zurück.                                    angesprochenen Vereinsamung ent-
         Ich erinnere mich gut an die erste           Darauf folgte meine erste eindring-         gegenzuwirken und Kontakt zu Glau-
      Religionsstunde. Ich war interessanter-     liche Lektion im Einzelunterricht. Ich          bensgenossen (?) zu vermitteln, nahmen
      weise der Einzige und bekam sozusagen       musste auf einen linierten A4-Bogen so          mich meine Eltern zu den wöchentli-
      Privatunterricht von einem mir äußerst      oft „Ich bin Jude, ich bin Jude, ich bin ...“   chen Schwimmabenden des jüdischen

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