Lehren aus dem Lockdown - Wie uns die Pandemie verändert hat - und was das für unsere Zukunftsplanung bedeutet - SPIEGEL-Gruppe

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Lehren aus dem Lockdown - Wie uns die Pandemie verändert hat - und was das für unsere Zukunftsplanung bedeutet - SPIEGEL-Gruppe
1 | 2021
                            Das Magazin für Studium und Berufseinstieg

                                               JOBS MIT ZUKUNFT
                                               Wo es noch Stellen gibt
                                               DEUTSCHLAND 4.0
                                               Was sich jetzt ändern muss
                                               GRÜNES GOLD
                                               Warum Pflanzen in sind

Lehren aus dem Lockdown
       Wie uns die Pandemie verändert hat –
  und was das für unsere Zukunftsplanung bedeutet
Lehren aus dem Lockdown - Wie uns die Pandemie verändert hat - und was das für unsere Zukunftsplanung bedeutet - SPIEGEL-Gruppe
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Lehren aus dem Lockdown - Wie uns die Pandemie verändert hat - und was das für unsere Zukunftsplanung bedeutet - SPIEGEL-Gruppe
HAUSMITTEILUNG

D       ie Coronapandemie hat verändert, wie wir studieren, arbeiten, leben. Drei Semester lang
        befanden sich die Hochschulen in Deutschland quasi im Dauershutdown, für das Winter-
semester gibt es zumindest ein bisschen Hoffnung auf Normalität. Aber was bedeutet das eigent-
lich, Normalität? Wird bald alles wieder wie vor der Pandemie? Wollen wir das überhaupt?
Diesen Fragen widmen wir uns in der Titelgeschichte dieses Heftes. Marie-Charlotte Maas hat
mit Studierenden, Lehrenden und Expert:innen gesprochen und herausgefunden: Auch wenn
die Pandemie in erster Linie eine riesige Herausforderung war, haben wir doch einiges aus ihr
gelernt (Seite 10). Das kann uns auch dann noch helfen, wenn Corona irgendwann vorbei ist.
Die Laufbahnberaterin Vera Pilkuhn etwa erklärt im Interview mit Susan Djahangard, wie wir
uns die Pandemieerfahrungen beim Berufseinstieg zunutze machen können (Seite 14).
     Auch sonst wagen wir mit diesem Heft einen Blick in die Zukunft: Katharina Hölter und
Florian Gontek erklären, wie sich der Arbeitsmarkt verändern wird und was das für deine Aus-
                                             bildung und Jobsuche bedeutet (Seite 20). Sophie
                                             Garbe und Okan Bellikli formulieren 18 Forderungen
                                             an die neue Bundesregierung (Seite 36). Janne
                                             Knödler und Anton Rainer suchen Antworten auf
                                             die Frage, warum so wenige Frauen Unternehmen
                                             gründen – und wie man das ändern kann (Seite 40).
                                                 Vor einem Jahr haben wir SPIEGEL START als
                                             Onlineangebot des SPIEGEL gelauncht, um unsere
                                             Leser:innen durchs Studium und in den ersten Job
                                             zu begleiten. Dies ist nun die erste gedruckte
                                             Ausgabe. Sie soll Antworten geben auf die großen
                                             Fragen unserer Zeit – und auch auf ein paar kleine.
                                             SPIEGEL START soll Lesestoff liefern für die Pause
                                             zwischen zwei Seminaren oder Meetings, wir
                                             wollen Gedanken anstoßen und vielleicht auch
                                             Gespräche. Wir freuen uns, wenn du Seiten heraus-
                                             reißt (die Übersicht über hormonfreie Verhütungs-
  Protagonistin                              mittel auf Seite 65 beispielsweise) – und wenn
  Betty Lohmeyer
  wurde an ihrer                             du uns Feedback gibst, bei Instagram @spiegelstart
  Uni in Hamburg
  fotografiert
                                             oder per E-Mail spiegel-start@spiegel.de.
                                             Viel Spaß wünscht deine SPIEGEL-START-Redaktion
Foto: Bettina Theuerkauf / DER SPIEGEL                                    Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START   3
Lehren aus dem Lockdown - Wie uns die Pandemie verändert hat - und was das für unsere Zukunftsplanung bedeutet - SPIEGEL-Gruppe
I N H A LT

44 Wie sähe Deutschland aus, wenn nur vegane Landwirtschaft betrieben würde?

Es gäbe mehr Platz, Nutztiere lieferten kein Fleisch mehr, das Klima würde geschont,
das Land röche anders, und ein veganer Landwirt wie Daniel Hausmann wäre nicht länger
ein Exot. Ganz klar: Der Bauernverband ist entsetzt.

D E R S P I E G E L G M B H & C O. K G

A B O - S E RV I C E                       M I TA R B E I T                                 PRODUKTION
Tel.: +49 (0)40/3007-2700                  Okan Bellikli, David Böcking, Simon Book,        Sonja Friedmann, Linda Grimmecke,
Fax: +49 (0)40/3007-3070                   Sofie Czilwik, Florian Diekmann,                 Ursula Overbeck
Mail: aboservice@spiegel.de                Susan Djahangard, Helene Flachsenberg,
                                           Sophie Garbe, Florian Gontek,                    VERANTWORTLICH FÜR
VERLAG UND                                 Katharina Hölter, Per Horstmann,                 ANZEIGEN
R E DA K T I O N                           Henning Jauernig, Matthias Kaufmann,             André Pätzold
Ericusspitze 1,                            Janne Knödler, Paula Josefine Küppers,
20457 Hamburg                              Nike Laurenz, Marie-Charlotte Maas,              ANZEIGENOBJEKTLEITUNG
Mail: spiegel-start@spiegel.de             Sebastian Maas, Bernhard Pötter, Anton Rainer,   Sabine Schramm-Lühr
Online: spiegel.de/start                   Pia Saunders, Timm Seckel, Pia Seitler,
                                           Christina Spitzmüller, Fabian Thomas,            OBJEKTLEITUNG
HERAUSGEBER                                Carolin Wahnbaeck, Lou Zucker                    Johannes Varvakis
Rudolf Augstein (1923 – 2002)
                                           D O KU M E N TAT I O N                           DRUCK
C H E F R E DA K T I O N                   Susmita Arp, Viola Broecker, Ines Köster,        appl druck GmbH & Co. KG, Wemding
Steffen Klusmann (V. i. S. d. P.),         Rainer Lübbert, Friederike Röhreke               SPIEGEL START wird auf
Dr. Melanie Amann,                                                                          Recyclingpapier gedruckt.
Thorsten Dörting,                          G E STA LT U N G / T I T E L B I L D
Clemens Höges                              Alexandra Grünig                                 G Ü LT I G E A N Z E I G E N P R E I S L I ST E
                                                                                            www.spiegelgruppe.de/spiegel-media
G E S C H Ä F TS F Ü H R E N D E           B I L D R E DA K T I O N                         Mediaunterlagen und Tarife
R E DA K T E U R I N                       Claudia Apel, Lena Wöhler                        Tel.: 0049 (0)40 3007-2493
Dr. Susanne Weingarten
                                           S C H L U S S R E DA K T I O N                   VERTRIEB HOCHSCHULEN
R E DA K T I O N S L E I T U N G           Christian Albrecht, Lutz Diedrichs, Dörte        CAMPUSdirekt DEUTSCHLAND GmbH,
Sophia Schirmer                            Karsten, Katharina Lüken, Sandra Waege           Tel.: 0049 (0)921 78778 59-0

C H E F I N V O M D I E N ST               O R G A N I S AT I O N                           G E S C H Ä F TS F Ü H R U N G
Anke Jensen                                Corinna Engels, Heike Kalb, Kathrin Maas         Thomas Hass (Vorsitzender), Stefan Ottlitz

4      SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021                                                                                         Titelfoto: Bettina Theuerkauf / DER SPIEGEL
Lehren aus dem Lockdown - Wie uns die Pandemie verändert hat - und was das für unsere Zukunftsplanung bedeutet - SPIEGEL-Gruppe
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8                 Was geht … in Studium und Berufseinstieg

10                Titel: Wie Corona die Uni verändert hat – und uns

14                Interview: Tipps für die Jobsuche nach Corona

16                Hausarbeit: Studierende über ihr Homeoffice

20                Digital und nachhaltig: Die Berufe der Zukunft

25                Mein erstes Jahr im Job: Die Projektmanagerin

26                Alles netto? So liest du deine Gehaltsabrechnung

28                15 Semester: Wie Pendeln das Studium erschwert

34                Was geht … in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft

36                Nach der Wahl: Das muss die Politik anpacken

40                Fehlstart-up: Warum es kaum Gründerinnen gibt

44                Veggie-Land: Wie sähe eine vegane Republik aus?

48                Fast neue Fashion: Secondhandmode im Trend

50                Interview: Wie ziehe ich mich nachhaltig an?

52                Und wer sorgt für sie? Pflegekräfte ohne Lobby

56                Kolumne: Die Kunst des grünen Liebens – ohne CO2

60                Was geht … in Alltag und Beziehung

62                Schluck! Wieso die Pille heute so verpönt ist

65                Horm-ohne: Wie du sonst noch verhüten kannst

68                Endlich erwachsen: Modetipps für den ersten Job

70                Kein Tabu: Marie Nasemann über ihre Fehlgeburt

74                Sei mir grün: Warum wir Zimmerpflanzen lieben

78                Kolumne: Kochen ohne Kohle – Oh, Gnocchi!

    Von SPIEGEL.de stammen folgende Texte: »Niemand in meinem Alter soll mich als Maßstab nehmen«, Seite 9 • Zwischen Petterson
    und Küchentisch, Seite 16 • »Ich erlebe Weltpolitik hautnah«, Seite 25 • Irgendwo zwischen Hamburg und Lüneburg ging meine Motivation
    verloren, Seite 28 • Willkommen auf dem digitalen Flohmarkt, Seite 48 • »Die Pflegekräfte sitzen am längeren Hebel«, Seite 52 • Das
    Fliegen der anderen, Seite 56 • »Was, du nimmst noch die Pille?«, Seite 62 • »Es war kein Raum da für den Schock«, Seite 70 • Die grüne
    Welle, Seite 74 • Gnocchi für 75 Cent, Seite 78. Aus dem SPIEGEL stammen: Ja, es gibt Gründerinnen, aber viel zu wenige, Seite 40 •
    Wenn Deutschland ein Land der Veganer wäre, Seite 44.

Fotos: Thomas Victor / DER SPIEGEL, Sebastian Lock / DER SPIEGEL, Stefan Mosebach / DER SPIEGEL,
Patricia Kühfuss, Tamara Eckhardt / DER SPIEGEL                                                               Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START     5
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                                    WOHIN WILL ICH?

SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
                                    I L L U S T R AT I O N R O S A A H L E R S
Lehren aus dem Lockdown - Wie uns die Pandemie verändert hat - und was das für unsere Zukunftsplanung bedeutet - SPIEGEL-Gruppe
INTRO

Studium und
Berufseinstieg
Die Jahre an der Uni und die erste Zeit im Job sind etwas Besonderes. Wir entscheiden,
was uns im Leben wichtig ist – so wichtig, dass wir es studieren und damit unser Geld verdienen
wollen. Wir probieren aus, orientieren uns vielleicht um, stellen die Weichen dafür,
wie unsere Zukunft aussieht. Das erste Kapitel widmet sich dieser Zeit, in der noch alles möglich
scheint – und gleichzeitig große Entscheidungen anstehen. Es blickt zurück auf
drei Semester Pandemie und auf das, was wir daraus gelernt haben. Und es schaut nach vorn,
auf die Zeit nach Corona und den Arbeitsmarkt der Zukunft.
                                                                           Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START   7
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WAS GEHT ... IN STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

                                                  UNI À L A CARTE: FOLGE 1

                          Endlich wieder in die Mensa!
Robert Abedini, 26, studiert im 14. Fachsemester Jura in Hamburg     finde ich das Leben hier sonst sehr teuer. Ich bezahle 450 Euro
»Schweinemensa – so nennen wir Studierenden die Mensa Studie-        Miete für ein zwölf Quadratmeter großes WG-Zimmer. Ich hatte
rendenhaus der Uni Hamburg. Woher der Spitzname kommt, weiß          Glück, meine WG liegt nur etwa 500 Meter von der Uni entfernt.
niemand so genau. Mit dem Essen hat er aber nichts zu tun, das ist   Während der Pandemie hat mir das leider nicht viel genutzt. Jetzt
nämlich meistens richtig gut. Heute gab es schwedische Köttbullar    bin ich aber wieder jeden Tag in der Bib – und in meinen Pausen
mit Salzkartoffeln und Preiselbeeren für 2,60 Euro. Auch wenn        in der Mensa. Ich stecke mitten in den Vorbereitungen für mein
mir der Vergleich fehlt, weil ich in Hamburg aufgewachsen bin,       erstes Staatsexamen, da erleichtert sie mir den Alltag enorm.«

BUCHTIPP

Steinzeit in Teilzeit
Ist die 40-Stunden-Woche eine Errungenschaft, über die wir uns freuen sollten? Vor nicht mal
150 Jahren mussten viele Menschen schließlich noch 60 Stunden die Woche schuften. Sind unse-
re Rufe nach Teilzeit also nur Jammern auf hohem Niveau? Der in Cambridge lebende Anthro-
pologe James Suzman wirft mit seinem Buch »Sie nannten es Arbeit« ein neues Licht auf die
Work-Life-Balance-Debatte. Denn tatsächlich haben unsere Vorfahr:innen jahrtausendelang
deutlich weniger gearbeitet, als wir es heute tun – die nomadisch lebenden Jagd- und Sammel-
kulturen der Steinzeit etwa gerade mal 15 Stunden pro Woche. Der Grund: Sie arbeiteten nur so
viel, wie sie zum Überleben brauchten, und produzierten keinen Überschuss. Erst nach Grün-
dung der ersten Siedlungen mussten die Menschen plötzlich länger ran. Über die Jahrhunderte
steigerte sich das Pensum, um dann mit der industriellen Revolution zu explodieren.
                       Für seine spannenden (und manchmal leider etwas sperrig ins Deutsche
                  übersetzten) Untersuchungen begleitet Suzman die Ju’/Hoansi in Namibia, eine
                  der letzten noch existierenden Jagd- und Sammelkulturen, die von der indus-
                  triellen Landwirtschaft bedroht wird. An dem Kulturwandel, den die Ju’/Hoansi
                  in den vergangenen 30 Jahren durchgemacht haben, zeichnet Suzman nach,
                  wie wir aufhörten, für das Leben zu arbeiten – und begannen, für die Arbeit zu
                  leben. Wer Argumente für die nächste Vertragsverhandlung oder den Streit
                  mit dem Boomer-Onkel benötigt, wird hier fündig.
                  James Suzman: »Sie nannten es Arbeit«. C. H. Beck; 398 Seiten; 26,95 Euro.
8    SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021                                  Fotos: Pia Seitler / DER SPIEGEL, Score by Aflo / plainpicture, TikTok Deutschland
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STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

                                         PODCAST

                                         Money, Money, Money
                                         Du möchtest dein Geld sinnvoll anlegen, hast aber nur 50 Euro
                                         pro Monat zur Verfügung – und keine Ahnung, wie Geldanlage
                                         überhaupt funktioniert? Mit dem Podcast »Money Master«
                                         lernst du es ohne großen Aufwand. In zwölf Folgen von etwa
                                         20 bis 30 Minuten erklären die »Wirtschaftswoche«-Journalist:in-
STUDIE
                                         nen Tina Zeinlinger und Matthias Rutkowski, wann sich eine
                                         Riester-Rente lohnt, wofür die Abkürzung ETF steht und warum
FRAU MÜLLER,                             die eigene Bank nicht immer am besten berät. Sie befragen
DIE II.                                  Fondsmanager:innen und Finanzexpert:innen, stellen verschie-
Wer wird Lehrer:in – und warum?          dene Anlagemethoden vor und probieren einige selbst aus. Das
Dieser Frage ist ein internationales     Beste: Die Tipps richten sich nicht an Menschen mit viel Geld,
Forschungsteam an der Uni Tübin-         sondern an Berufseinsteiger:innen. Verfügbar über wiwo.de
gen nachgegangen, mit überra-
schendem Ergebnis. Die wichtigsten                                    INTERVIEW
Faktoren bei der Entscheidung für
                                                                      »Niemand in meinem
ein Lehramtsstudium sind demnach
                                                                      Alter soll mich
nämlich: die Eltern. Wünschen sie
sich, dass ihre Kinder Lehrer:innen
                                                                      als Maßstab nehmen«
werden, erhöht das die Wahrschein-                                    Wie sieht der Arbeitsalltag von
lichkeit deutlich, dass sie es irgend-                                erfolgreichen Menschen wirklich
wann tatsächlich tun. Gleiches gilt,                                  aus? Wir fragen Charles Bahr, 19,
wenn ein Elternteil als Lehrer:in                                     der mit 14 Jahren seine erste
arbeitet oder gearbeitet hat.                                         Agentur gegründet hat und jetzt
Zu den Merkmalen, die ebenfalls                                       als Strategic Partner Manager bei
einen Einfluss auf die Entscheidung                                   TikTok arbeitet.
haben, gehören das Bedürfnis nach
                                              SPIEGEL: Charles, wie beginnst du deinen Arbeitstag?
einem sicheren Arbeitsplatz – dem             BAH R: Ich starte um 8.30 Uhr und arbeite erst einmal meine E-Mails ab.
Beamtenstatus sei Dank – und der         Da wir ein global agierendes Unternehmen sind, kommen viele Nachrichten
Wunsch, Kinder zu bekommen.              nachts. Vor meinem Feierabend mache ich das noch einmal, damit ich auf null
                                         bin. Dazwischen gucke ich nicht ins Postfach, um mich nicht ablenken zu lassen.
Was dagegen eine geringere Rolle
spielt, sind Entwicklungs- und Auf-           SPIEGEL: Wie priorisierst du deine Aufgaben?
stiegsmöglichkeiten, schreiben die            BAH R: Tatsächlich ist mir das am Anfang schwergefallen. Ein Kollege hat
Wissenschaftler:innen. »Das könnte       mir eine nützliche Tabelle an die Hand gegeben, demnach gibt es vier Formen
                                         von Aufgaben:
auch damit zusammenhängen, dass          •    Unwichtig und trotzdem dringend – diese Aufgaben sollte man delegieren.
die Gehälter für Lehrkräfte in           •    Wichtig, aber nicht dringend – für diese Aufgaben sollte man sich einen
Deutschland trotz geringer Auf-               Zeitplan machen.
                                         •    Wichtig und dringend – diese Aufgaben werden sofort erledigt.
stiegsmöglichkeiten relativ hoch         •    Unwichtig und nicht dringend – die Aufgaben kann man streichen.
eingeschätzt werden«, sagt Adam
Ayaita, einer der Autor:innen.                SPIEGEL: Wie gehst du mit Stress um? Hast du einen Tipp für andere?
Die Studie trägt auch zur Ehrenret-           BAH R: Mir hat es geholfen, eine E-Mail an mich selbst zu schreiben, wenn
                                         mich mal etwas aufregt. Diese Mail packe ich dann in einen Ordner namens »Re:
tung von angehenden Lehrer:innen         Charles« und schaue alle drei Monate wieder rein. Das ist sehr heilsam, denn
bei. Zuweilen wird ihnen ja »nega-       meist stelle ich fest, dass sich die Aufregung gar nicht gelohnt hat.
tive selection« vorgeworfen, dass
                                               SPIEGEL: Andere 19-Jährige haben außer Vorlesungen oder Berufs-
sie also Lehrer:innen würden, weil             schule und Arbeit wenig Termine – hättest du es gern weniger voll?
es für andere Berufsfelder nicht rei-          BAH R: Vermutlich ist mein Leben sogar entspannter als das einer Studentin
che. »Wir haben keine starken Hin-       oder eines Studenten. Ich habe Wochenenden und Urlaubstage, an denen ich
weise gefunden, dass das bei Leh-        komplett abschalten kann und nicht permanent Klausuren und Hausarbeiten im
                                         Hinterkopf habe. Was ich noch loswerden möchte: Niemand in meinem Alter
rer:innen eine größere Rolle spielt      soll mich als Maßstab nehmen. Ich habe einfach immer das getan, was mir Spaß
als in anderen Berufen«, sagt Ayaita.    macht. Und ich habe sehr früh herausgefunden, was das ist.

                                                                                          Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START   9
Lehren aus dem Lockdown - Wie uns die Pandemie verändert hat - und was das für unsere Zukunftsplanung bedeutet - SPIEGEL-Gruppe
Studentin Lohmeyer:
»Ich wollte dafür
sorgen, dass wir
gesehen werden«
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

       BAC H E LO R O F
         CORONA
                Die Pandemie hat Studierenden viel abverlangt – eine ganze Generation
                 wurde von der Politik ignoriert. Zugleich hat Corona gezeigt, dass Uni
               auch anders geht. Den Hochschulbetrieb könnte das nachhaltig verändern.

                                                  T E X T M A R I E - C H A R LOT T E M A A S
                              FOTOS   B E T T I N A T H E U E R K AU F, L I S A N OT Z K E , M A R I N A W E I G L

       rgendwann verlor Betty Lohmeyer die Geduld. Im März,               Als die Pandemie im März 2020 Deutschland erreichte,

I      als der lange Shutdownwinter sich langsam seinem Ende
       näherte, nach zwölf Monaten im Homeoffice, hatte die
                                                                    wurden Hochschulen, Bibliotheken und Mensen geschlossen,
                                                                    Campusse lagen verwaist. Auf der Tagesordnung standen in den
       25-jährige Studentin die Nase voll. Von der Ungewissheit, folgenden Monaten unzählige Stunden vor dem Laptop, Gruppen-
von den immer gleichen Vertröstungen durch Politik und Uni- arbeiten über Zoom oder Microsoft Teams. Wenn zwischendurch
bürokratie, von dem Versprechen, dass es bestimmt bald zurück       doch mal Treffen mit Kommiliton:innen möglich waren oder per-
in die Präsenzlehre gehe. »Ich hatte monatelang tagein, tagaus zu   sönliche Gespräche mit Lehrenden, wirkten sie wie Relikte aus
Hause gesessen, virtuelle Vorlesungen besucht und allein für meine  längst vergangenen Zeiten. Manch einer zog zurück ins Kinder-
Klausuren gelernt – anfangs noch mit dem Gefühl, einen Beitrag      zimmer, viele verloren nicht nur die sozialen Kontakte, sondern
für die Gemeinschaft zu leisten. Doch als dann nach und nach        auch ihre Nebenjobs.
viele wieder ins normale Leben zurückkehrten,                                                Anderthalb Jahre lang veränderte sich für
als immer mehr Ältere geimpft wurden und es
hieß, dass die Schulen zurück in den Präsenz-
                                                   »Als viele wieder                   die Studierenden wenig. Im Wintersemester
                                                                                       soll nun endlich Normalität auf die Campusse
unterricht sollten, während zugleich nicht ein     ins normale Leben                   der Republik zurückkehren, so zumindest das
Wort über uns Studierende verloren wurde,          zurückkehrten,                      offizielle Versprechen. Die Hochschulen wollen
fühlte ich mich einfach nur noch abgehängt.«                                           wieder mehr Präsenz wagen, die Mensen wie-
      Es war der Moment, so erzählt es Loh-        fühlte ich mich                     der mehr Miteinander erlauben. Lange war
meyer heute, an dem ihre Geduld in Frustration     abgehängt.«                         nicht überall klar, wie das funktionieren soll –
umschlug. Eine Frustration, die sich wenig spä-                                        ob mit Abstand oder Maske, ob nur für Ge-
ter als Antriebskraft erweisen sollte.            Betty Lohmeyer, Studentin            impfte, Genese und Getestete, und wer wird
      Lohmeyer hat im Herbst 2020 ihren Ba-                                            das alles kontrollieren? Doch Studieren soll
chelor in Wirtschaft und Politik abgeschlossen                                         möglichst wieder der soziale Prozess werden,
und studiert jetzt den Master International Business and Sustain- der es für viele vor der Pandemie war, darüber ist man sich einig.
ability an der Uni Hamburg. Sie ist eine von knapp drei Millionen   Wird es also bald vorbei sein mit der Corona-Uni? Wird man ir-
Studierenden in Deutschland, die vor anderthalb Jahren aus der      gendwann alles vergessen, das Chaos, den Frust, die Einsamkeit?
Normalität ihres Hochschullebens geschleudert wurden – hinein              Hört man sich um an den Hochschulen in Deutschland,
in einen sonderbaren Schwebezustand, in dem von ihnen erwartet      glauben daran nur wenige. Viele sind nach wie vor skeptisch, ob
wurde, dass sie mit dem Lernen weitermachen, aber ohne das          die Rückkehr zur Präsenzlehre im Winter wirklich gelingt, zumal
akademische und soziale Gerüst des Unialltags. Welche Zumutung      wenn die Infektionszahlen steigen oder es eine neue Virusmutante
das war und immer noch ist, welche Belastung für die Psyche         gibt. Und selbst wenn: Corona hat den Hochschulbetrieb verändert
vieler Studierender, das schien für Politik und Gesellschaft nur    – und die Studierenden. Nach anderthalb Jahren Pandemie gibt
eine untergeordnete Rolle zu spielen. Eine Generation Studieren- es längst eine neue Normalität. Und so ist es an der Zeit für eine
der ist in der Coronakrise schlicht vergessen worden.               Zwischenbilanz: Was wird bleiben von den Pandemieerfahrun-

                                                                                                                Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START   11
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

gen? Was sollte vielleicht sogar in die Post-Corona-                           der Politikwissenschaftler und Jugendforscher Mathias
Zeit übernommen werden?                                                        Albert. Vor allem bei denjenigen, die sich ohnehin
                                                                               schon für Politik interessiert hätten, könnten einschnei-
C O R O NA A L S A N T R I E B S K R A F T                                     dende Veränderungen im eigenen Leben der letzte
Für Betty Lohmeyer aus Hamburg war Corona der                                  Funke sein, den es braucht, um nicht mehr länger nur
Schubs, den sie gebraucht hat, so sagt sie es. Denn sie                        zuzugucken, sondern mitmischen zu wollen.
habe nicht nur von der Politik irgendwann die Nase                                   Wächst durch Corona etwa eine neue, politische-
voll gehabt, sondern auch von sich selbst. »Ich wollte                         re Generation Studierender heran? Um das beurteilen
nicht mehr nur schimpfen und klagen, ich wollte dafür                          zu können, sei es noch zu früh, sagt Albert: »Inwieweit
sorgen, dass wir Studierenden gesehen werden, dass                             das Engagement langfristiger Natur ist und sich viel-
wir uns Gehör verschaffen und dass wir nicht mehr                              leicht sogar zu einer Art Bildungsprotest entwickelt,
übergangen werden.« Im Juni dieses Jahres trat Loh-                            muss sich in den kommenden Monaten erst noch zei-
meyer der Partei Bündnis 90/Die Grünen bei. Schon                              gen.« Fest steht aber, dass sich in der Pandemie landauf,
in der Vergangenheit habe sie häufiger mit dem Ge-                             landab Initiativen gegründet haben, um die Anliegen
danken gespielt, sich politisch zu engagieren, den Ein-                        der Studierenden zu vertreten. Im sächsischen Mitt-
tritt in eine Partei jedoch immer wieder aufgeschoben,                         weida beispielsweise organisierten Studierende in Ei-
sagt sie. Die Unsicherheit, welche die richtige für sie                        genregie Impfungen mit AstraZeneca und errichteten
ist, habe sie abgehalten. »Ich hatte immer gedacht, dass                       ein Testzentrum auf dem Campus, weil sie nicht länger
man 100 Prozent mit allem einverstanden sein müsste,                           auf offizielle Angebote von Politik oder Hochschule
was eine Partei befürwortet, um ihr anzugehören. Doch                          warten wollten. In Berlin schaffte es »Nicht nur On-
die Pandemie hat mir gezeigt, dass man nicht zu lange                          line«, ein Zusammenschluss von Studierenden aller
zögern sollte.« Bei den Grünen will Lohmeyer jetzt                             Berliner Hochschulen, ihre Kommiliton:innen hinaus
unter anderem die Bildungspolitik mitgestalten, sich                           auf die Straße zu bringen, zu Seminaren unter freiem
für die Bedürfnisse von Studierenden einsetzen.                                Himmel. Bundesweit schrieben Studierende offene
       Das Erleben einer Krise und das Gefühl, abge-       Student Dichte:     Briefe an die Politik.
                                                           »Für mich ist der
hängt zu sein, als Anschub für politisches Engagement      Onlineunterricht          Die Kritik der Betroffenen ähnelt sich: Man habe
– dieser Zusammenhang sei nicht ungewöhnlich, sagt         ein Segen«          monatelang zugunsten der Allgemeinheit verzichtet,
                                                                               doch zurück bekäme man nichts, mehr noch, man spie-
                                                                               le in den Planungen der Regierung gar keine Rolle.
                                                                               Aber die Aktionen zeigen auch, wie aus dem Gefühl,
                                                                               vergessen zu werden, der Impuls entstehen kann, die
                                                                               Dinge selbst in die Hand zu nehmen – so wie bei Betty
                                                                               Lohmeyer: »Durch meine Tätigkeit in der Politik kann
                                                                               ich etwas bewegen. Der Stillstand aus der Corona-Zeit
                                                                               ist endlich vorbei.«

                                                                               F L E X I B I L I TÄT A L S V O R T E I L
                                                                               Die Coronakrise, das ist keine Frage, hätte niemand
                                                                               gebraucht. Aber manchmal steckt eben sogar in der
                                                                               Katastrophe etwas Positives. Auch bei Daniel Dichte
                                                                               und Kim Phuong Mol war das so. Die beiden kennen
                                                                               sich nicht. Dichte wohnt in Hamburg, Mol mehr als 400
                                                                               Kilometer entfernt in Köln. Dichte studiert Technische
                                                                               Informatik, Mol Wirtschaftspädagogik. Beide haben je-
                                                                               doch eine Gemeinsamkeit: Sie genießen die neue Flexi-
                                                                               bilität, die Corona an die Hochschulen gebracht hat.
                                                                                     Kim Phuong Mol, 28 Jahre alt, ist nicht nur Stu-
                                                                               dentin, sondern auch Mutter von zwei Töchtern, zwei
                                                                               und fünf Jahre alt. Zur Uni brauchte sie vor Corona
                                                                               eine halbe Stunde, davor musste sie ihren Kindern
                                                                               Frühstück machen, sie anziehen und die Große zur
                                                                               Kita bringen. Oft sei sie schon abgehetzt in die Vor-
                                                                               lesung gekommen, erzählt Mol. Hatte die Kleinere
                                                                               schlecht geschlafen, war es auch um Mols Konzentra-
                                                                               tion nicht gut bestellt: »Bei der dritten Veranstaltung
                                                                               am Tag habe ich gemerkt, dass es eigentlich sinnlos
                                                                               war, mich noch reinzusetzen. Doch weil der Stoff prü-
                                                                               fungsrelevant war, hatte ich keine Wahl.« War eines
                                                                               der Kinder krank und der Vater beruflich unterwegs,
                                                                               musste Mol zu Hause bleiben – und sich darauf ver-
                                                                               lassen, dass die Kommiliton:innen sie später mit Ma-
                                                                               terialien und Aufzeichnungen versorgten.
                                                                                     Als die Politik im März 2020 den ersten Shut-
                                                                               down verhängte, änderte sich diese Situation grund-
                                                                               legend. Wie alle anderen Studierenden lernte Mol von
                                                                               zu Hause aus. »Es war anstrengend«, sagt sie, »keine
                                                                               Frage. Wer sitzt schon gern wochenlang in den eigenen
                                                                               vier Wänden fest?« Doch für Mol kristallisierten sich

12   SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

nach ein paar Wochen auch Vorteile heraus: »Plötzlich wurden
die Veranstaltungen aufgezeichnet, ich konnte selbst entscheiden,     HOCHSCHULEN IN DER
wann und wo ich sie mir ansehe. Das war vor allem bei schwierigen     CORONAPANDEMIE
Fächern wie Makroökonomie ein enormer Gewinn, sogar meine
Noten sind besser geworden.«                                          9. M Ä R Z 2020
      Könnte Daniel Dichte hören, was Mol erzählt, er würde ver-      Die WHU – Otto Beisheim School of Management in Val-
mutlich eifrig nicken. Dichte, 29 Jahre alt, hat kein Kind. Doch er   lendar, Rheinland-Pfalz, muss als erste deutsche Hoch-
hat eine Freundin in Spanien, drei zeitintensive Nebenjobs – und      schule wegen Corona vorübergehend ihren Campus schlie-
er hat ADHS, das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom. Wenn andere          ßen. Ein Studierender hatte sich mit dem Virus infiziert.
gegen Abend müde werden, beginnt für Dichte die Zeit, in der er
am besten lernen kann: »Ab etwa 18 Uhr bin ich erfahrungsgemäß        M Ä R Z 2020
am wachsten im Kopf.« Uni-Seminare fänden zu so später Stunde         Bund und Länder beschließen erste Maßnahmen zur
an seiner Hochschule jedoch so gut wie nie statt. Dichte sagt: »Für   Eindämmung des Coronavirus. Bereits laufende Präsenz-
mich ist der Onlineunterricht ein Segen, weil ich nun selbst-         veranstaltungen an den Hochschulen werden ausgesetzt,
bestimmter lernen kann.« Zwar vermisse auch er den Kontakt zu         der Beginn des Sommersemesters nach hinten verlegt.
seinen Kommiliton:innen und die persönlichen Begegnungen mit
den Lehrenden, doch die positive Erfahrung habe für ihn über-         2. A P R I L 2020
wogen. »Während des dritten Lockdowns wurde der Vater meiner          Die Kultusministerkonferenz verschiebt den Vorlesungs-
Freundin in Spanien sehr krank.« Er sei sofort nach Murcia gereist,   beginn des Wintersemesters auf den 1. November, einheit-
um der Familie beizustehen. Seine Vorlesungen, Seminare und           lich für Universitäten und Fachhochschulen.
Gruppenarbeiten habe er von dort erledigt. »Hätte ich nicht online
studieren können, hätte ich nicht helfen können. Oder ich hätte       15. A P R I L 2020
geholfen und dafür auf meine Scheine verzichten müssen.«              Es gibt erste Erleichterungen bei den Coronamaßnahmen.
      Kim Phuong Mol und Daniel Dichte hoffen, dass Onlinelehre       Neben Prüfungen dürfen auch bestimmte Praxisveranstal-
auch künftig Teil ihres Studiums bleiben wird – und damit sind        tungen wieder vor Ort stattfinden, sofern Hygiene- und
sie nicht allein. In einer im Wintersemester 2020/21 durchgeführten   Abstandsregeln eingehalten werden. Der Großteil der Kur-
Befragung des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) unter           se wird aber weiterhin digital abgehalten.
mehr als 27 000 Studierenden und über 650 Professor:innen
wünschte sich ein großer Teil, dass digitale Lehrelemente auch        8. M A I 2020
nach der Pandemie gezielt eingebunden werden sollen, als Ergän-       Der erste Teil der Überbrückungshilfe für Studierende
zung zur Präsenzlehre. Insbesondere Aufzeichnungen von Lehr-          startet: Sie können sich nun bei der staatlichen Förderbank
veranstaltungen finden Studierende demnach hilfreich.                 KfW vorübergehend zinsfrei Geld leihen.
      Umfrageergebnisse wie diese überraschen Karin Bjerregaard
Schlüter nicht. Sie ist Digitalexpertin und organisiert aktuell im    16. J U N I 2020
Studiengang Leadership in digitaler Innovation an der Universität     Wer wegen Corona in eine Notlage gekommen ist, kann
der Künste Berlin die Weiterentwicklung der digitalen Lehre. »Co-     einen Zuschuss bei seinem Studierendenwerk beantragen –
rona hat etwas beschleunigt, was schon längst überfällig war«,        der zweite Teil der Überbrückungshilfe. Es gibt heftige
sagt sie. »Im ersten Lockdown war es stressig, denn alle Lehrenden    Kritik: Die Hürden seien zu hoch, die Beträge zu gering.
– und auch die Studierenden – mussten sich neu organisieren und
erst einmal einarbeiten. Das war zeitraubend. Aber ich habe den       16. D E Z E M B E R 2020
Eindruck, dass die meisten Studierenden mittlerweile viele Vorteile   Es gelten wieder verschärfte Coronaregeln: Hochschulen
in der Onlinelehre sehen.« Neben der Flexibilität, von der Mol        sind geschlossen, Präsenzlehre findet quasi nicht statt. So
und Dichte schwärmen, nennt die Expertin weitere Beispiele. Die       bleibt es für die folgenden Monate.
Effizienz: »Gruppenarbeiten funktionieren digital viel besser, weil
schon die Aufteilung der Gruppen schneller geht. Niemand muss         3. M Ä R Z 2021
warten, bis alle einen Platz gefunden haben.« Die Möglichkeiten:      In einem Beschlusspapier der Bund-Länder-Konferenz
»Das Studium wird internationaler, wenn man Lehrende aus aller        werden Öffnungsschritte festgelegt – und Hochschulen
Welt für ein Seminar über Zoom zuschaltet oder Studierende per        mit keinem Wort erwähnt. Studierende protestieren.
Microsoft Teams an Veranstaltungen anderer europäischer Hoch-
schulen teilnehmen.«                                                  23. A P R I L 2021
      Bjerregaard Schlüter ist überzeugt, dass sich in Zukunft eine   Die Bundesnotbremse tritt in Kraft. Ab einer Inzidenz
hybride Variante des Studiums durchsetzen wird. So werden Stu-        von 100 ist auch an Hochschulen nur noch Wechselunter-
dierende die Wahl haben, ob sie ihre Vorlesung lieber morgens         richt erlaubt, ab einem Wert von 165 nur noch Distanz-
live im Hörsaal verfolgen wollen oder später zu Hause am Küchen-      unterricht. Länder und Hochschulen kritisieren die Rege-
tisch. Alles ins Internet verlagern, das möchte aber auch sie, ein    lungen – und erwirken später Änderungen. So entfällt die
ausgewiesener Fan des Digitalen, nicht. Denn erstens hängt der        Pflicht zum Wechselunterricht, bestimmte Praxisver-
Erfolg von digitaler Lehre auch vom passenden Equipment und           anstaltungen sind auch bei hoher Inzidenz weiter möglich.
einer ausreichend schnellen Internetverbindung ab – Dinge, die
längst nicht für alle Studierenden selbstverständlich sind. Und       M A I 2 021
zweitens: »Lernen ist immer eine Mischung aus Wissensvermitt-         Angesichts sinkender Inzidenzwerte bereiten einige Hoch-
lung und Emotion«, sagt Bjerregaard Schlüter. »Letzteres kann         schulen erste Öffnungsschritte vor.
man in der Onlinelehre nur sehr schwer rüberbringen.«
                                                                      A U G U S T – S E P T E M B E R 2 0 21
AC H T S A M K E I T A L S E R R U N G E N S C H A F T                Im Wintersemester soll es wieder mehr Präsenzlehre
Dass Studieren mehr ist, als Vorlesungen zu absorbieren und Prü-      geben, kündigen Länder und Hochschulen an. Was genau
fungen zu schreiben, das wurde in der Pandemie überdeutlich.          das bedeutet und wie es funktionieren soll, dazu gibt es
Betty Lohmeyer erzählt, dass sie sich häufig einsam gefühlt habe      viele Diskussionen – und nicht immer klare Antworten.
– obwohl sie zunächst mit ihrem Freund und später auch mit dessen

                                                                                                     Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START   13
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

                       »Auch wenn man vor allem
                            auf dem Sofa lag,
                      hat man daraus etwas gelernt«
                          Warum man die Coronapandemie auf keinen Fall als Lücke
                             im Lebenslauf betrachten sollte, erklärt Vera Pilkuhn,
                      Laufbahnberaterin und Dozentin an der FH des Mittelstands in Köln.

                                              INTERVIEW     S U S A N DJA H A N G A R D

      SPIEGEL: Frau Pilkuhn, Sie unterstützen junge Menschen              PI LKUH N: Einige. Das, worüber wir gerade gesprochen
      bei der Suche nach dem ersten Arbeitsplatz. In der            haben, fällt ja in den Bereich Resilienz: auf sich selbst aufpassen
      Pandemie wurden aber gerade Stellen für Einsteiger:in-        zu können, zu wissen, was einem guttut und was nicht. Die Pan-
      nen oft gestrichen. Können Sie da überhaupt helfen?           demie war auch ein Crashkurs in Selbstorganisation und Selbst-
      PI LKUHN: In manchen Branchen ist es durch die Pandemie       motivation. Alle mussten lernen, weiterzumachen – ohne Semi-
sehr schwierig geworden, Stellen zu finden, das stimmt. Aber das    nare in der Uni vor Ort, ohne Fitnessstudio oder Lerngruppe.
ist nicht das größte Problem. Die meisten, die zu mir kommen,       Wenn man es da etwa geschafft hat, regelmäßig Sport zu machen
kämpfen damit, dass ihre Pläne dahin sind. Einige wollten zum       oder online Gitarre zu üben, ist das eine großartige Leistung! Das
Beispiel Praktika im Ausland machen. Das ging nicht, und dann       kann man ruhig so erzählen. Und wir haben alle unsere Flexibilität
standen sie plötzlich ohne Plan B da. Das ist eine enorme psy-      trainiert, das wurde ja schon vor Corona auf dem Arbeitsmarkt
chische Belastung, gerade wenn man sowieso schon in einer Um-       immer wichtiger. Statt in der Uni oder der Berufsschule hat man
bruchsituation steckt, weil das Studium oder die Ausbildung zu      eben von zu Hause aus gelernt.
Ende geht und man ins Berufsleben startet. Da geht es dann darum,
einen neuen Plan zu entwickeln.                                           SPIEGEL: Sie haben gar nicht erwähnt, dass Corona
                                                                          uns alle digitaler gemacht hat.
      SPIEGEL: Wie geht man damit um, wenn man nicht                      PI LKUHN: Man kann natürlich auch betonen, mit welchen
      sofort auf einen solchen Plan B kommt? Man soll               Programmen man jetzt besonders sicher ist, klar. Aber die meisten
      schließlich keine Lücke im Lebenslauf haben, heißt es.        jungen Menschen konnten auch vorher schon gut digital arbeiten.
      PI LKUH N: Mich hat diese Lückendiskussion schon immer        Ich glaube, da haben vor allem Ältere einen Sprung gemacht.
gestört. Das Hauptziel ist doch nicht, permanent beschäftigt zu
sein. Man nimmt aus jeder Zeit etwas mit. Auch wenn man in                SPIEGEL: Das klang jetzt alles sehr positiv, aber wir
den ersten Monaten der Pandemie vor allem auf dem Sofa lag,               sprechen nun mal über eine weltweite Krise. Was,
hat man daraus etwas gelernt: vielleicht nur, dass man nicht der          wenn man gerade nicht selbstbewusst in Bewerbungs-
Typ ist, der besonders schnell mit ungewöhnlichen Situationen             gespräche gehen kann, weil man einfach verunsichert
umgehen kann. Aber auch das bringt einen weiter. Das Wichtigste           ist nach diesen anderthalb Jahren?
ist, dass man wohlwollend auf sich selbst blickt und sich nicht           PI LKUH N: Das Wort Selbstbewusstsein bedeutet ja, sich
noch mehr stresst. Vielleicht war die Pandemie auch eine richtig    über sich selbst bewusst zu sein. Es hilft also, sich vorher Fragen
gute Zeit, weil man so viel schlafen konnte wie nie zuvor – oder    zu stellen und die Antworten aufzuschreiben: Was kann ich richtig
nach dem Stress mit der Abschlussarbeit endlich diese eine neue     gut? Und was will ich im Leben? Welche Werte sind für mich
Serie schauen konnte.                                               wichtig? Was habe ich während der Pandemie gemacht? Und was
                                                                    würde ich anders machen, wenn ich so eine Krise noch mal erlebe?
     SPIEGEL: Aber das kann man doch in einem                       Diese Fragen kann man auch Freund:innen und in der Familie
     Bewerbungsgespräch so nicht sagen.                             stellen. Wenn man das für sich sortiert hat, kann man viel selbst-
     PI LKUH N: Natürlich würde ich nicht empfehlen, vor al-        bewusster in ein Bewerbungsgespräch gehen.
lem über gute Serien zu sprechen, wenn man sich bei einem
Arbeitgeber vorstellt. Aber man kann plausibel vermitteln,                SPIEGEL: Und wenn man gerade einfach keinen Job
dass die Pandemie eine Herausforderung für uns alle war, und              findet?
zeigen, dass man damit selbstreflektiert umgeht. Ich glaube, da           PI LKUH N: Dann sollte man unbedingt den Markt und die
hat uns diese Krise ganz erheblich vorangebracht: Weil sie eine     eigene Branche analysieren, um herauszufinden, wo gesucht wird.
solche Ausnahmesituation war, haben wir uns alle besser ken-        Dafür kann man Podcasts hören, oder man liest einfach sehr viele
nengelernt. Und in einem Team beispielsweise braucht man bei-       Stellenanzeigen. Und ich empfehle, nach den positiven Beispielen
des – Menschen, die sehr schnell reagieren, und solche, die erst    zu suchen: die eine Kommilitonin, die gerade eine Festanstellung
mal nachdenken.                                                     bekommen hat, oder der eine Freund, der aus dem Praktikum
                                                                    übernommen wurde. Die gibt es ja weiterhin! Es wurden trotz
     SPIEGEL: Gibt es weitere Punkte, die man in                    Corona viele neue Jobs vergeben und Menschen neu eingearbeitet.
     den Shutdowns vielleicht gelernt hat und die man               Wenn man da jemanden kennt, kann man nachfragen: Wie hast
     in einem Bewerbungsgespräch nennen kann?                       du das geschafft? Davon kann man sich etwas abschauen.

14   SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

                                                                              befindens« in den vergangenen Jahren mehrere Tau-
                                                                              send Studierende begeistert. In der Pandemie wurde
                                                                              die Aufzeichnung des Kurses auf der ganzen Welt mehr
                                                                              als eine Million Mal geklickt – und damit zum gefrag-
                                                                              testen Onlineangebot in der 300-jährigen Geschichte
                                                                              der Yale University.
                                                                                    »Dass Angebote zur mentalen Gesundheit gefragt
                                                                              sind, wusste ich: Das Thema liegt im Trend«, sagt
                                                                              Adam. »Viele junge Menschen fragen sich, was sie
                                                                              glücklich macht und was ihrem Leben einen Sinn ver-
                                                                              leiht – gerade in Zeiten, in denen durch die Pandemie
                                                                              der gewohnte Alltag und viele soziale Kontakte von
                                                                              jetzt auf gleich weggebrochen sind.« Der 30-Jährige
                                                                              rechnete dementsprechend mit Interesse vonseiten der
                                                                              Studierenden – wie stark dieses sein würde, ahnte er
                                                                              allerdings nicht. »40 Teilnehmende hätten mich schon
                                                                              sehr gefreut, 80 wären ein enormer Erfolg gewesen«,
                                                                              sagt er, »am Ende waren es fast 120.« Darunter seien
                                                                              nicht nur angehende Wirtschaftsinformatiker:innen
                                                                              gewesen, sondern auch Studierende aus Fächern wie
                                                                              BWL, Pädagogik und Psychologie.
                                                                                     Auch an anderen Hochschulen gewinnt das The-
                                                                              ma Wohlbefinden offenbar an Bedeutung. Das Studie-
                                                                              rendenwerk der Universität Heidelberg etwa eröffnete
                                                                              im Februar dieses Jahres ein Referat gegen Einsamkeit.
                                                                              Werden Hochschulen künftig also mehr sein als reine
                                                                              Orte der Wissensvermittlung? Werden Lehrende die
                                                                              psychische Gesundheit ihrer Studierenden ebenso im
                                                                              Blick haben wie die Inhalte der nächsten Vorlesung?
                                                                                     Dozent Martin Adam kann sich gut vorstellen,
                                                                              dass das Thema Wohlbefinden an Universitäten künf-
                                                                              tig an Relevanz gewinnen wird. »Die psychische Ge-
                                                                              sundheit der Studierenden ist durch die Pandemie
                                                                              mehr in den Fokus gerückt«, sagt er. Und auch Betty
                                                                              Lohmeyer hat das Gefühl, dass die einst floskelhafte
                                                                              Frage »Wie geht es dir?« in den vergangenen Monaten
                                                                              an Ernsthaftigkeit gewonnen hat. »Man interessiert
                                                                              sich plötzlich mehr füreinander«, sagt sie. Dadurch sei
                                                                              es leichter geworden, offen zu sagen, wenn es einem
                                                                              mal nicht gut gehe. Eine Art neue Ehrlichkeit also. Die
                                                                              will Lohmeyer sich bewahren – nicht zuletzt für ihre
Eltern in einem Haushalt lebte. »Hätte ich dieses Um-     Studentin Mol,      Arbeit in der Politik.
feld nicht gehabt, ich wäre wohl verrückt geworden.«      Töchter:                   Die Pandemie hat das Leben und den Alltag von
                                                          »Sogar meine
      Forscher:innen der Universität Hildesheim haben     Noten sind besser   knapp drei Millionen Studierenden auf den Kopf ge-
bereits im Sommer 2020 bundesweit mehr als 2000           geworden«           stellt. Vieles, was in den vergangenen anderthalb Jah-
Studierende zu ihrem Studienalltag in der Pandemie                            ren passiert ist, war gewöhnungsbedürftig, einiges an-
befragt. Fast alle beklagten den Wegfall des sozialen                         strengend und manches schlichtweg nicht zumutbar.
Austauschs: 79 Prozent der Befragten vermissten das                           Doch nicht alles – das kann man rückblickend sagen –
Campusleben, 82 Prozent fehlte der direkte Kontakt                            war schlecht. Ob die Onlinelehre von jetzt an ein fester
zu anderen. Bei einer Neuauflage der Befragung im                             Teil der Vorlesungsverzeichnisse sein wird, ob Studie-
Sommer 2021 stiegen die Werte sogar noch leicht, auf                          rende künftig mehr gehört werden, auch weil sie sich
jeweils mehr als 84 Prozent. Zwei Studien der Organi-                         lauter zu Wort melden, ob an den Hochschulen bald
sation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-                            wirklich mehr aufeinander geachtet wird – all das wird
wicklung ergaben zudem, dass sich in vielen Ländern                           sich in den kommenden Semestern zeigen. Fest steht:
junge Erwachsene besonders einsam fühlten – und in-                           Corona hat einen Anstoß für Veränderungen gegeben,
folgedessen überdurchschnittlich oft an Depressionen                          die zum Teil längst überfällig waren. Fest steht auch:
oder Angststörungen erkrankten.                                               Die Pandemie hat Studierenden gezeigt, zu welchen
      Martin Adam sagt, er habe viele dieser Studien                          Leistungen sie in einer Ausnahmesituation fähig sind.
gekannt, als er im vergangenen Sommersemester an                              Und das ist eine Erfahrung, die ihnen auch nach dem
der TU Darmstadt die Masterveranstaltung »Wohlbe-                             Hochschulabschluss helfen wird.
finden verbessern mit Data Analytics« startete. Adam
hat in Wirtschaftsinformatik promoviert und habilitiert
nun im Fachgebiet Information Systems und Electronic                             SCH REI B UNS
Services. Auf die Idee, sich mit den Themen Glück-                               Welche Erfahrungen hast du in der Pandemie
lichsein und mentaler Gesundheit zu beschäftigen, sei                            an der Uni gemacht? Was hat dich gestört
er durch die Vorlesungen der US-amerikanischen Psy-                              und belastet – und was lief gut? Schreib uns:
chologieprofessorin Laurie Santos gekommen. Die hat-                             spiegel-start@spiegel.de
te mit ihrem Kurs über die »Wissenschaft des Wohl-

                                                                                                     Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START   15
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

                                           ZWISCHEN
                                         PET TERSON UND
                                          KÜCHENTISCH
               Drei Semester lang waren die Hochschulen dicht, zum Teil sitzen Studierende
                            immer noch im Homeoffice. Vier von ihnen zeigen,
                  wie sie auf beengtem Raum lernen – und erzählen, was sie hoffen lässt.

                                                  TEXT   K AT H A R I N A H Ö LT E R
                                                     FOTOS   PHILIPP REISS

                                                                      BADRIEH WANLI, 31, STUDIERT
                                                                      DEUTSCH UND KUNST AUF
                                                                      LEHRAMT AN DER HOCHSCHULE FÜR
                                                                      BILDENDE KÜNSTE UND
                                                                      AN DER UNIVERSITÄT HAMBURG.

»Ich habe zwei Kinder, mein Sohn ist fünf, meine Tochter drei.               Aus dem Shutdown habe ich gelernt, dass meine Ressourcen
Mein Freund arbeitet als selbstständiger Kameraassistent. Wenn         nicht unerschöpflich sind. Immer eine überdurchschnittliche
er zu einem Dreh muss, erfährt er das oft sehr spontan. Es gab         Studentin und gute Mutter zu sein, ging nicht mehr so einfach
während des Shutdowns Tage, an denen er die Kinder betreuen            parallel. Wenn ich an den Winter denke, habe ich Bauchschmerzen.
und ich mich ganz aufs Studium konzentrieren konnte, an anderen        Im Moment gehen die Kinder in die Kita, aber sicherlich steht
musste ich wissenschaftliche Texte durcharbeiten und parallel ›Pet-    uns wieder eine Schließung oder die ein oder andere Quarantäne
tersson und Findus‹ gucken. Wenn die Kinder herumrannten und           bevor. Jetzt immer leichtfertiger mit den Maßnahmen umzugehen,
an mir hingen, war an Studieren nicht zu denken. Oft habe ich          zeigt, dass Kinder in unserer Gesellschaft und bei den politischen
abends und nachts gearbeitet, mich in mein Atelier zurückgezogen.      Entscheidungen einen sehr geringen Stellenwert haben.«

16   SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

BEKHAN ZUBAJRAEV, 24, STUDIERT
MODEDESIGN AN DER AKADEMIE
FÜR MODE, DESIGN, KOMMUNIKATION
UND MANAGEMENT IN HAMBURG.

»Mein Studium hat einen großen Praxisanteil, wir haben                   Im Shutdown habe ich gelernt, meine Zeit mehr wertzuschät-
beispielsweise Näh- und Schnittunterricht. Beides aus der eigenen   zen – und besser zu nutzen. Statt Bus und Bahn zur Uni zu fahren,
Wohnung zu lernen, war echt eine Herausforderung. Aber unsere       konnte ich Unterrichtsstoff vorbereiten und an eigenen Designs
Hochschule hat das prima organisiert! Die Dozierenden haben         weiterarbeiten, zum Beispiel an meinen Bauchtaschen aus altem
drei, vier Kameras installiert, damit man ihre Arbeit aus jeder     PVC-Boden. Mein Wintersemester verbringe ich in Amsterdam.
Perspektive beobachten kann. Einige meiner Kommiliton:innen         Dort absolviere ich ein sechsmonatiges Praktikum – zum Glück
arbeiteten nach vorheriger Anmeldung an den Nähmaschinen in         in Präsenz. Es ist schön, das Erlernte in der realen Modebranche
der Hochschule, ich habe mir eine eigene für zu Hause gekauft.      anwenden zu können.«

                                                                                                     Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START   17
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

»Ich bin sehr froh, meine Instrumente als Ausgleich zu den                   Zum Ende des Sommers hatten wir immer mehr Kurse vor
Onlinevorlesungen zu haben. Ich schaue nicht den ganzen Tag            Ort. Ich hoffe, das bleibt auch im Winter so. Mir ist klar geworden,
auf einen Bildschirm, das ist ein großes Privileg. Bei uns fand auch   wie wichtig der direkte Austausch mit anderen Studierenden ist.
während des Shutdowns noch Präsenzunterricht statt: In Klavier         Allein zu Hause fällt es mir schwer, mich zu motivieren. Allerdings
und Gesang wurde ich von jeweils einem Dozenten unterrichtet –         habe ich mich auch weniger ablenken lassen, als keine Konzerte
auf Abstand, mit einer großen Plastikscheibe zwischen uns.             und Festivals stattfanden. Das war gut und schlecht zugleich.«

                                                                       ALENA BORG, 22, STUDIERT MUSIK
                                                                       AN DER HOCHSCHULE FÜR
                                                                       MUSIK UND THEATER IN HAMBURG.

18   SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

ARNDT STEINACKER, 31, STUDIERT
SOZIALE ARBEIT AN DER
HOCHSCHULE FÜR ANGEWANDTE
WISSENSCHAFTEN IN HAMBURG.

»Corona hat dazu geführt, dass viele ihren Alltagstrott hinter-   im November werden wir Eltern. Uns hat Corona noch enger zu-
fragt haben. Wie viel Raum sollen Studium und Arbeit wirklich     sammengeschweißt. Für das Wintersemester plant meine Hoch-
einnehmen? Ich betreibe ein eigenes Café, das trotz Shutdown      schule hybride Veranstaltungen, die sowohl vor Ort als auch online
immer gut angenommen wurde. Meine Freundin Luisa und ich          verfolgt werden können. Das Modell ermöglicht uns Studierenden
haben unsere Prioritäten trotzdem verschoben – weg vom Lern-      mehr Flexibilität und eine freiere Lebensgestaltung, auch nach
und Arbeitsstress. Seit vergangenem Jahr haben wir einen Hund,    Corona. Das kommt mir sehr entgegen.«

                                                                                                    Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START   19
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

               JOBS MIT ZUKUNFT
                           Die Wirtschaft in Deutschland muss digitaler und grüner
                   werden, da sind sich die Fachleute einig. Was bedeutet das für diejenigen,
                                die jetzt ihre Ausbildung und Karriere planen?
                           Wir erklären, wo es Stellen gibt – und wer sie bekommt.

                                            TEXT    F LO R I A N G O N T E K U N D K AT H A R I N A H Ö LT E R
                                              FOTOS     S E B A ST I A N LO C K U N D M A R I N A W E I G L

                                                                   Arbeitsmarkt der Zukunft bestimmen werden, fallen
                                                                   immer wieder zwei Schlagwörter – Digitalisierung und
                                                                   Dekarbonisierung. Was bedeutet: Es wird Menschen
                                                                   wie Sarah Julia Kriesch brauchen, die digitale Pro-
                                                                   gramme entwickeln und mit großen Datenmengen um-
                                                                   gehen können. Und solche, die dafür sorgen, dass sich
                                                                   die CO2-Bilanz von Unternehmen, Kommunen und
                                                                   Dienstleistungen verbessert.
                                                                        Beides war eigentlich längst klar, doch die Krisen
                                                                   und Katastrophen der vergangenen beiden Jahre ha-
                                                                   ben die Dringlichkeit der Veränderung offenbart: Die
                                                                   Coronapandemie hat gezeigt, dass Deutschland drin-
                                                                   gend digitaler werden muss. Wenn Men-
Wenn Sarah Julia Kriesch von ihrer letzten Vertrags-
verhandlung erzählt, klingt das ein bisschen nach Profi-
                                                                   schen zu Hause lernen und arbeiten
                                                                   wollen, brauchen sie stabiles Internet
                                                                                                                 »Wir werden
fußball. Um ein Talent wie Kriesch zu sich zu holen,               und verlässliche Software. Wenn Ge-           Personal brauchen,
lockte der Arbeitgeber mit allerlei Prämien: unbefris-
tete Vertragslaufzeit; Stundenzahl nach Absprache fle-
                                                                   sundheitsämter Infektionsketten nach-
                                                                   vollziehen müssen, sind digitale Daten
                                                                                                                 das ein digitales
xibel anpassbar; Weiterbildungsangebote während der                wichtiger als ausgedrucktes Papier. Und       Grundverständnis
Arbeitszeit; Nachlass auf die hauseigenen Unterneh-                spätestens seit der Flutkatastrophe im        mitbringt.«
mensaktien; und ein Gehalt, das auch ohne Boni schon               Sommer ist klar: Die Klimakrise ist in
bei mehr als 4500 Euro brutto pro Monat liegt.                     Deutschland angekommen. Auch sie Rainer Strack,
       Das alles dafür, dass Kriesch anderen dabei hilft,          verlangt nach einem Umdenken – und Boston Consulting Group
digitaler zu werden. Die 34-Jährige arbeitet als IT-Be-            nach neuen Jobs.
raterin bei einer Consultingfirma in Nürnberg. Ihr Job                  Doch was bedeutet das in der Pra-
ist es, Unternehmen bei Cloud-Lösungen zu unterstüt-               xis? Wo werden Schulabgänger:innen,
zen, also deren digitale Infrastruktur zu optimieren.              Azubis und Studierende gebraucht? Wo finden sie
Und das Beste, wie Kriesch findet: An bis zu acht                  künftig Stellen? Und was müssen sie dafür können?
Stunden in der Woche könne sie ihrer Leidenschaft
nachgehen, der Linux-Programmierung. Linux ist ein                 1 . D I G I TA L I S I E R U N G
alternatives Betriebssystem, etwa zu Windows oder                  Dass Sarah Julia Kriesch einmal in der IT landen wür-
macOS, und eines der bekanntesten Open-Source-Pro-                 de, zeichnete sich früh ab. Sie sei schon in der Schule
jekte. Die Arbeit daran habe mit ihrem Job zwar                    technikinteressiert gewesen, habe regelmäßig bei
eigentlich wenig zu tun, sagt Kriesch. Aber ihr Arbeit-            »Jugend forscht« mitgemacht, erzählt sie. Ihr sei auch
geber bezahle sie für etwas, das der Allgemeinheit                 immer wichtig gewesen, mit ihrem Beruf eine Familie
dient – und seine Mitarbeiterin glücklich macht. »An               ernähren zu können. Nach dem Schulabschluss machte
einem Tag in der Woche kann ich mich frei entfalten,               sie erst eine Ausbildung zur Fachinformatikerin, nach
meinen Interessen nachgehen, mich austauschen und                  vier Jahren im Job folgte das Informatikstudium an
zugleich etwas für das Gemeinwohl tun – für mich ist               der Technischen Hochschule Nürnberg.                        IT-Expertin Kriesch:
                                                                                                                               »An einem Tag in
das gerade perfekt.«                                                     Noch bevor Kriesch ihre Bachelorarbeit einreich-      der Woche kann ich
       Die Stelle passt zu Kriesch, Kriesch passt zu               te, hatte sie ihren ersten Arbeitsvertrag unterschrieben,   mich frei entfalten,
ihrer Stelle. Ein Match. Doch viele andere Berufsein-              bei einem Tech-Konzern in Böblingen. Und selbst als         meinen Interessen
steiger:innen müssen dieses Match noch finden – in                 sie schon nach fünf Monaten wieder einen Job suchte,        nachgehen und
                                                                                                                               zugleich etwas für
einer Zeit, in der sich Wirtschaft und Gesellschaft ver-           weil das Unternehmen wegen der Coronakrise                  das Gemeinwohl
ändern. Fragt man Expert:innen, welche Trends den                  umstrukturieren musste und Kriesch der Unsicherheit         tun«

20   SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021

 DIGAS_B2B-Belegexemplare-SpiegelStart_2021_10_02
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

22   SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

                                                                                     Zum Beispiel könnten Mediziner:innen sich nach ih-
                                                                                     rem Studium noch Kenntnisse in künstlicher Intelli-
DIGITALER BOOM                                                                       genz oder Big Data aneignen und diese dann in ihrem
Studierende* in Deutschland in ausgewählten Informatikstudiengängen                  Job anwenden. Karrierewege seien in der Vergangen-
                                                                                     heit oft starr verlaufen, der Fachkräftemangel und die
 150 000                                                                             Digitalisierung aber verlangten nach Flexibilität, nach
                                                         Informatik
                                                                                     cross-ausgebildetem Personal, sagt Strack. Dafür spricht
                                                                                     auch eine neue Vorgabe für alle anerkannten Ausbil-
100 000
                                                                                     dungsberufe: Seit August dieses Jahres müssen vier
                                                         Wirtschaftsinformatik       Punkte Teil jeder Ausbildung sein, neben Berufsbildung
  50 000
                                                                                     und Sicherheit bei der Arbeit auch »Digitalisierte Ar-
                                                                                     beitswelt« – und »Umweltschutz und Nachhaltigkeit«.
                                                         Medieninformatik
                                                         Bioinformatik
        0                                                                            2. DEKARBONISIERUNG
                                                         Computerlinguistik          Damit trägt die neue Ausbildungsvorgabe auch dem
         WS              WS              WS      WS
      2010/2011         13/14           16/17   19/20                                zweiten Megatrend auf dem Arbeitsmarkt Rechnung,
                                                                                     dem Bedarf nach Dekarbonisierung. In anderen Wor-
* jeweils nach erstem angegebenen Studienfach
                                                                                     ten: Eine Welt, die gegen die Klimakrise kämpft,
S Quelle: Destatis                                                                   braucht grüne Jobs.
                                                                                           Felix Borscz hat so einen grünen Job. Seit An-
                                                                                     fang des Jahres arbeitet der 27-Jährige als Klima-
                       entgehen wollte, dauerte es keine zwei Wochen bis             schutzmanager bei der Stadt Gummersbach, knapp
                       zum neuen Vertrag, dem mit den vielen Prämien.                eine Autostunde von Köln entfernt. Den Beruf habe
                             Auch in Zukunft wird Kriesch sich ihren Arbeit-         er nicht gewählt, weil ihm an einer besonders steilen
                       geber wohl frei aussuchen können. Fast täglich erhalte        Karriere gelegen war, sagt Borscz. Sein Antrieb: sich
                       sie über Xing oder LinkedIn neue Jobanfragen, erzählt         mit seinen Fähigkeiten bestmöglich für die Gesell-
                       sie. Erst einmal sei sie aber glücklich: »Mir ist wichtig,    schaft einbringen. »Ich wollte etwas Positives zur Welt
                       dass ich mich ständig weiterentwickeln kann«, sagt            beitragen, etwas Sinnvolles tun. Das mache ich jetzt
                       sie, das sei in ihrem aktuellen Job der Fall.                 in meinem Job.«
                                              Kriesch wird hofiert, weil sie eine          Auch Borscz hat sein Match gefunden. Als Klima-
»Bestehende                             seltene Ausbildung hat – zu selten,
                                        wenn es nach dem Bedarf am Arbeits-
                                                                                     schutzmanager entwickelt er für Gummersbach ein
                                                                                     städtisches Mobilitätskonzept, er kämpft um Budgets
Berufe entwickeln                       markt geht. Eine Modellberechnung der        für fahrradfreundliche Straßen und organisiert Pede-
sich in eine                            Unternehmensberatung Boston Consul-
                                        ting Group (BCG) geht davon aus, dass
                                                                                     lec-Trainings, damit mehr Menschen mit dem E-Bike
                                                                                     zur Arbeit fahren. Man habe lange nach einer geeigne-
grüne Richtung.«                        2030 allein in Deutschland etwa eine         ten Person gesucht, heißt es von der Stadt, gute Bewer-
Markus Janser,                          Million IT-Fachkräfte fehlen könnten,        ber:innen seien selten. Borscz habe sie sofort überzeugt.
Institut für Arbeitsmarkt-              darunter beispielsweise Cyber-Security-      Und so trat er kurz nach seinem Masterabschluss in
und Berufsforschung                     Analyst:innen oder Data-Scientists.          Umweltingenieurwesen die Stelle in Gummersbach an.
                                        Dem Dekra-Arbeitsmarktreport zufolge               Wie groß der Bedarf nach Know-how in Sachen
                                        richtet sich schon jetzt jede zehnte Stel-   Nachhaltigkeit auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich ist,
                                        lenanzeige an IT-Fachkräfte. Sogar in
                       der Coronakrise ist die Branche gewachsen: Laut Pro-
                       gnosen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufs-            GUTE ZEITEN,
                       forschung (IAB) dürften 2021 rund 40 000 Stellen im
                       IT-Bereich dazukommen.
                                                                                     SCHLECHTE ZEITEN
                             Zwar stieg in den vergangenen Jahren auch die           Beschäftigte nach Branchen, Veränderung 2021
                                                                                     gegenüber 2020 in Tausend, Prognose
                       Zahl derer, die Informatik oder ein verwandtes Fach
                       studieren. Unter den Top 20 aller Studienabschlüsse                   Öffentlicher Dienst,
                                                                                          Erziehung, Gesundheit                                 +190
                       lag Informatik im Jahr 2019 trotzdem gerade mal auf
                       Platz 6, Wirtschaftsinformatik auf Platz 16. Betrachtet                               Gesamt               +66
                       man nur Frauen, tauchen beide Fächer gar nicht auf –
                       ein Problem bei einer so hohen Nachfrage nach Fach-                                             IT       +41
                       kräften. Schon seit Jahren versuchen Politik, Verbände
                                                                                                                   Bau        +29
                       und Unternehmen, MINT-Studienfächer attraktiver
                       zu machen, gerade für Frauen – bislang mit mäßigem            Land- und Forstwirtschaft, +2
                                                                                                     Fischerei
                       Erfolg. Aber, und das ist die gute Nachricht: Man muss
                                                                                             Grundstücks- und
                       gar nicht unbedingt Informatik studiert haben, um von                  Wohnungswesen +1
                       dem Boom zu profitieren.
                             Aus Sicht von Rainer Strack, Senior Partner bei                                        −4 Finanzwirtschaft
                       BCG, könnten sogenannte Micro-Credentials die Lö-                                          −14       Sonstige Dienstleister
Klimaschutz-
                       sung sein. Das sind akademische Abschlüsse, die man
                       mit geringem zeitlichen Aufwand und oft online ab-                                     −33           Handel, Verkehr,
manager Borscz:                                                                                                             Gastgewerbe
»Ich wollte etwas      solvieren kann, etwa nach dem eigentlichen Studium                                                   Unternehmens-
Positives zur Welt     oder parallel zum Job. »Wir werden sogenannte Brü-                                   −53             dienstleister
beitragen, etwas       ckenbauer:innen brauchen«, sagt Strack. »Damit                                 −93                   Produzierendes Gewerbe
Sinnvolles tun.                                                                                                             ohne Bau
Das mache ich jetzt    meine ich Personal in einem klassischen Beruf, das zu-
in meinem Job«         sätzlich ein digitales Grundverständnis mitbringt.«           S Quelle: IAB; Stand: März 2021

                                                                                                                   Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START   23
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