Lehren aus dem Lockdown - Wie uns die Pandemie verändert hat - und was das für unsere Zukunftsplanung bedeutet - SPIEGEL-Gruppe
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1 | 2021 Das Magazin für Studium und Berufseinstieg JOBS MIT ZUKUNFT Wo es noch Stellen gibt DEUTSCHLAND 4.0 Was sich jetzt ändern muss GRÜNES GOLD Warum Pflanzen in sind Lehren aus dem Lockdown Wie uns die Pandemie verändert hat – und was das für unsere Zukunftsplanung bedeutet
HAUSMITTEILUNG D ie Coronapandemie hat verändert, wie wir studieren, arbeiten, leben. Drei Semester lang befanden sich die Hochschulen in Deutschland quasi im Dauershutdown, für das Winter- semester gibt es zumindest ein bisschen Hoffnung auf Normalität. Aber was bedeutet das eigent- lich, Normalität? Wird bald alles wieder wie vor der Pandemie? Wollen wir das überhaupt? Diesen Fragen widmen wir uns in der Titelgeschichte dieses Heftes. Marie-Charlotte Maas hat mit Studierenden, Lehrenden und Expert:innen gesprochen und herausgefunden: Auch wenn die Pandemie in erster Linie eine riesige Herausforderung war, haben wir doch einiges aus ihr gelernt (Seite 10). Das kann uns auch dann noch helfen, wenn Corona irgendwann vorbei ist. Die Laufbahnberaterin Vera Pilkuhn etwa erklärt im Interview mit Susan Djahangard, wie wir uns die Pandemieerfahrungen beim Berufseinstieg zunutze machen können (Seite 14). Auch sonst wagen wir mit diesem Heft einen Blick in die Zukunft: Katharina Hölter und Florian Gontek erklären, wie sich der Arbeitsmarkt verändern wird und was das für deine Aus- bildung und Jobsuche bedeutet (Seite 20). Sophie Garbe und Okan Bellikli formulieren 18 Forderungen an die neue Bundesregierung (Seite 36). Janne Knödler und Anton Rainer suchen Antworten auf die Frage, warum so wenige Frauen Unternehmen gründen – und wie man das ändern kann (Seite 40). Vor einem Jahr haben wir SPIEGEL START als Onlineangebot des SPIEGEL gelauncht, um unsere Leser:innen durchs Studium und in den ersten Job zu begleiten. Dies ist nun die erste gedruckte Ausgabe. Sie soll Antworten geben auf die großen Fragen unserer Zeit – und auch auf ein paar kleine. SPIEGEL START soll Lesestoff liefern für die Pause zwischen zwei Seminaren oder Meetings, wir wollen Gedanken anstoßen und vielleicht auch Gespräche. Wir freuen uns, wenn du Seiten heraus- reißt (die Übersicht über hormonfreie Verhütungs- Protagonistin mittel auf Seite 65 beispielsweise) – und wenn Betty Lohmeyer wurde an ihrer du uns Feedback gibst, bei Instagram @spiegelstart Uni in Hamburg fotografiert oder per E-Mail spiegel-start@spiegel.de. Viel Spaß wünscht deine SPIEGEL-START-Redaktion Foto: Bettina Theuerkauf / DER SPIEGEL Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 3
I N H A LT 44 Wie sähe Deutschland aus, wenn nur vegane Landwirtschaft betrieben würde? Es gäbe mehr Platz, Nutztiere lieferten kein Fleisch mehr, das Klima würde geschont, das Land röche anders, und ein veganer Landwirt wie Daniel Hausmann wäre nicht länger ein Exot. Ganz klar: Der Bauernverband ist entsetzt. D E R S P I E G E L G M B H & C O. K G A B O - S E RV I C E M I TA R B E I T PRODUKTION Tel.: +49 (0)40/3007-2700 Okan Bellikli, David Böcking, Simon Book, Sonja Friedmann, Linda Grimmecke, Fax: +49 (0)40/3007-3070 Sofie Czilwik, Florian Diekmann, Ursula Overbeck Mail: aboservice@spiegel.de Susan Djahangard, Helene Flachsenberg, Sophie Garbe, Florian Gontek, VERANTWORTLICH FÜR VERLAG UND Katharina Hölter, Per Horstmann, ANZEIGEN R E DA K T I O N Henning Jauernig, Matthias Kaufmann, André Pätzold Ericusspitze 1, Janne Knödler, Paula Josefine Küppers, 20457 Hamburg Nike Laurenz, Marie-Charlotte Maas, ANZEIGENOBJEKTLEITUNG Mail: spiegel-start@spiegel.de Sebastian Maas, Bernhard Pötter, Anton Rainer, Sabine Schramm-Lühr Online: spiegel.de/start Pia Saunders, Timm Seckel, Pia Seitler, Christina Spitzmüller, Fabian Thomas, OBJEKTLEITUNG HERAUSGEBER Carolin Wahnbaeck, Lou Zucker Johannes Varvakis Rudolf Augstein (1923 – 2002) D O KU M E N TAT I O N DRUCK C H E F R E DA K T I O N Susmita Arp, Viola Broecker, Ines Köster, appl druck GmbH & Co. KG, Wemding Steffen Klusmann (V. i. S. d. P.), Rainer Lübbert, Friederike Röhreke SPIEGEL START wird auf Dr. Melanie Amann, Recyclingpapier gedruckt. Thorsten Dörting, G E STA LT U N G / T I T E L B I L D Clemens Höges Alexandra Grünig G Ü LT I G E A N Z E I G E N P R E I S L I ST E www.spiegelgruppe.de/spiegel-media G E S C H Ä F TS F Ü H R E N D E B I L D R E DA K T I O N Mediaunterlagen und Tarife R E DA K T E U R I N Claudia Apel, Lena Wöhler Tel.: 0049 (0)40 3007-2493 Dr. Susanne Weingarten S C H L U S S R E DA K T I O N VERTRIEB HOCHSCHULEN R E DA K T I O N S L E I T U N G Christian Albrecht, Lutz Diedrichs, Dörte CAMPUSdirekt DEUTSCHLAND GmbH, Sophia Schirmer Karsten, Katharina Lüken, Sandra Waege Tel.: 0049 (0)921 78778 59-0 C H E F I N V O M D I E N ST O R G A N I S AT I O N G E S C H Ä F TS F Ü H R U N G Anke Jensen Corinna Engels, Heike Kalb, Kathrin Maas Thomas Hass (Vorsitzender), Stefan Ottlitz 4 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021 Titelfoto: Bettina Theuerkauf / DER SPIEGEL
I N H A LT 8 Was geht … in Studium und Berufseinstieg 10 Titel: Wie Corona die Uni verändert hat – und uns 14 Interview: Tipps für die Jobsuche nach Corona 16 Hausarbeit: Studierende über ihr Homeoffice 20 Digital und nachhaltig: Die Berufe der Zukunft 25 Mein erstes Jahr im Job: Die Projektmanagerin 26 Alles netto? So liest du deine Gehaltsabrechnung 28 15 Semester: Wie Pendeln das Studium erschwert 34 Was geht … in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft 36 Nach der Wahl: Das muss die Politik anpacken 40 Fehlstart-up: Warum es kaum Gründerinnen gibt 44 Veggie-Land: Wie sähe eine vegane Republik aus? 48 Fast neue Fashion: Secondhandmode im Trend 50 Interview: Wie ziehe ich mich nachhaltig an? 52 Und wer sorgt für sie? Pflegekräfte ohne Lobby 56 Kolumne: Die Kunst des grünen Liebens – ohne CO2 60 Was geht … in Alltag und Beziehung 62 Schluck! Wieso die Pille heute so verpönt ist 65 Horm-ohne: Wie du sonst noch verhüten kannst 68 Endlich erwachsen: Modetipps für den ersten Job 70 Kein Tabu: Marie Nasemann über ihre Fehlgeburt 74 Sei mir grün: Warum wir Zimmerpflanzen lieben 78 Kolumne: Kochen ohne Kohle – Oh, Gnocchi! Von SPIEGEL.de stammen folgende Texte: »Niemand in meinem Alter soll mich als Maßstab nehmen«, Seite 9 • Zwischen Petterson und Küchentisch, Seite 16 • »Ich erlebe Weltpolitik hautnah«, Seite 25 • Irgendwo zwischen Hamburg und Lüneburg ging meine Motivation verloren, Seite 28 • Willkommen auf dem digitalen Flohmarkt, Seite 48 • »Die Pflegekräfte sitzen am längeren Hebel«, Seite 52 • Das Fliegen der anderen, Seite 56 • »Was, du nimmst noch die Pille?«, Seite 62 • »Es war kein Raum da für den Schock«, Seite 70 • Die grüne Welle, Seite 74 • Gnocchi für 75 Cent, Seite 78. Aus dem SPIEGEL stammen: Ja, es gibt Gründerinnen, aber viel zu wenige, Seite 40 • Wenn Deutschland ein Land der Veganer wäre, Seite 44. Fotos: Thomas Victor / DER SPIEGEL, Sebastian Lock / DER SPIEGEL, Stefan Mosebach / DER SPIEGEL, Patricia Kühfuss, Tamara Eckhardt / DER SPIEGEL Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 5
INTRO Studium und Berufseinstieg Die Jahre an der Uni und die erste Zeit im Job sind etwas Besonderes. Wir entscheiden, was uns im Leben wichtig ist – so wichtig, dass wir es studieren und damit unser Geld verdienen wollen. Wir probieren aus, orientieren uns vielleicht um, stellen die Weichen dafür, wie unsere Zukunft aussieht. Das erste Kapitel widmet sich dieser Zeit, in der noch alles möglich scheint – und gleichzeitig große Entscheidungen anstehen. Es blickt zurück auf drei Semester Pandemie und auf das, was wir daraus gelernt haben. Und es schaut nach vorn, auf die Zeit nach Corona und den Arbeitsmarkt der Zukunft. Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 7
WAS GEHT ... IN STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG UNI À L A CARTE: FOLGE 1 Endlich wieder in die Mensa! Robert Abedini, 26, studiert im 14. Fachsemester Jura in Hamburg finde ich das Leben hier sonst sehr teuer. Ich bezahle 450 Euro »Schweinemensa – so nennen wir Studierenden die Mensa Studie- Miete für ein zwölf Quadratmeter großes WG-Zimmer. Ich hatte rendenhaus der Uni Hamburg. Woher der Spitzname kommt, weiß Glück, meine WG liegt nur etwa 500 Meter von der Uni entfernt. niemand so genau. Mit dem Essen hat er aber nichts zu tun, das ist Während der Pandemie hat mir das leider nicht viel genutzt. Jetzt nämlich meistens richtig gut. Heute gab es schwedische Köttbullar bin ich aber wieder jeden Tag in der Bib – und in meinen Pausen mit Salzkartoffeln und Preiselbeeren für 2,60 Euro. Auch wenn in der Mensa. Ich stecke mitten in den Vorbereitungen für mein mir der Vergleich fehlt, weil ich in Hamburg aufgewachsen bin, erstes Staatsexamen, da erleichtert sie mir den Alltag enorm.« BUCHTIPP Steinzeit in Teilzeit Ist die 40-Stunden-Woche eine Errungenschaft, über die wir uns freuen sollten? Vor nicht mal 150 Jahren mussten viele Menschen schließlich noch 60 Stunden die Woche schuften. Sind unse- re Rufe nach Teilzeit also nur Jammern auf hohem Niveau? Der in Cambridge lebende Anthro- pologe James Suzman wirft mit seinem Buch »Sie nannten es Arbeit« ein neues Licht auf die Work-Life-Balance-Debatte. Denn tatsächlich haben unsere Vorfahr:innen jahrtausendelang deutlich weniger gearbeitet, als wir es heute tun – die nomadisch lebenden Jagd- und Sammel- kulturen der Steinzeit etwa gerade mal 15 Stunden pro Woche. Der Grund: Sie arbeiteten nur so viel, wie sie zum Überleben brauchten, und produzierten keinen Überschuss. Erst nach Grün- dung der ersten Siedlungen mussten die Menschen plötzlich länger ran. Über die Jahrhunderte steigerte sich das Pensum, um dann mit der industriellen Revolution zu explodieren. Für seine spannenden (und manchmal leider etwas sperrig ins Deutsche übersetzten) Untersuchungen begleitet Suzman die Ju’/Hoansi in Namibia, eine der letzten noch existierenden Jagd- und Sammelkulturen, die von der indus- triellen Landwirtschaft bedroht wird. An dem Kulturwandel, den die Ju’/Hoansi in den vergangenen 30 Jahren durchgemacht haben, zeichnet Suzman nach, wie wir aufhörten, für das Leben zu arbeiten – und begannen, für die Arbeit zu leben. Wer Argumente für die nächste Vertragsverhandlung oder den Streit mit dem Boomer-Onkel benötigt, wird hier fündig. James Suzman: »Sie nannten es Arbeit«. C. H. Beck; 398 Seiten; 26,95 Euro. 8 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021 Fotos: Pia Seitler / DER SPIEGEL, Score by Aflo / plainpicture, TikTok Deutschland
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG PODCAST Money, Money, Money Du möchtest dein Geld sinnvoll anlegen, hast aber nur 50 Euro pro Monat zur Verfügung – und keine Ahnung, wie Geldanlage überhaupt funktioniert? Mit dem Podcast »Money Master« lernst du es ohne großen Aufwand. In zwölf Folgen von etwa 20 bis 30 Minuten erklären die »Wirtschaftswoche«-Journalist:in- STUDIE nen Tina Zeinlinger und Matthias Rutkowski, wann sich eine Riester-Rente lohnt, wofür die Abkürzung ETF steht und warum FRAU MÜLLER, die eigene Bank nicht immer am besten berät. Sie befragen DIE II. Fondsmanager:innen und Finanzexpert:innen, stellen verschie- Wer wird Lehrer:in – und warum? dene Anlagemethoden vor und probieren einige selbst aus. Das Dieser Frage ist ein internationales Beste: Die Tipps richten sich nicht an Menschen mit viel Geld, Forschungsteam an der Uni Tübin- sondern an Berufseinsteiger:innen. Verfügbar über wiwo.de gen nachgegangen, mit überra- schendem Ergebnis. Die wichtigsten INTERVIEW Faktoren bei der Entscheidung für »Niemand in meinem ein Lehramtsstudium sind demnach Alter soll mich nämlich: die Eltern. Wünschen sie sich, dass ihre Kinder Lehrer:innen als Maßstab nehmen« werden, erhöht das die Wahrschein- Wie sieht der Arbeitsalltag von lichkeit deutlich, dass sie es irgend- erfolgreichen Menschen wirklich wann tatsächlich tun. Gleiches gilt, aus? Wir fragen Charles Bahr, 19, wenn ein Elternteil als Lehrer:in der mit 14 Jahren seine erste arbeitet oder gearbeitet hat. Agentur gegründet hat und jetzt Zu den Merkmalen, die ebenfalls als Strategic Partner Manager bei einen Einfluss auf die Entscheidung TikTok arbeitet. haben, gehören das Bedürfnis nach SPIEGEL: Charles, wie beginnst du deinen Arbeitstag? einem sicheren Arbeitsplatz – dem BAH R: Ich starte um 8.30 Uhr und arbeite erst einmal meine E-Mails ab. Beamtenstatus sei Dank – und der Da wir ein global agierendes Unternehmen sind, kommen viele Nachrichten Wunsch, Kinder zu bekommen. nachts. Vor meinem Feierabend mache ich das noch einmal, damit ich auf null bin. Dazwischen gucke ich nicht ins Postfach, um mich nicht ablenken zu lassen. Was dagegen eine geringere Rolle spielt, sind Entwicklungs- und Auf- SPIEGEL: Wie priorisierst du deine Aufgaben? stiegsmöglichkeiten, schreiben die BAH R: Tatsächlich ist mir das am Anfang schwergefallen. Ein Kollege hat Wissenschaftler:innen. »Das könnte mir eine nützliche Tabelle an die Hand gegeben, demnach gibt es vier Formen von Aufgaben: auch damit zusammenhängen, dass • Unwichtig und trotzdem dringend – diese Aufgaben sollte man delegieren. die Gehälter für Lehrkräfte in • Wichtig, aber nicht dringend – für diese Aufgaben sollte man sich einen Deutschland trotz geringer Auf- Zeitplan machen. • Wichtig und dringend – diese Aufgaben werden sofort erledigt. stiegsmöglichkeiten relativ hoch • Unwichtig und nicht dringend – die Aufgaben kann man streichen. eingeschätzt werden«, sagt Adam Ayaita, einer der Autor:innen. SPIEGEL: Wie gehst du mit Stress um? Hast du einen Tipp für andere? Die Studie trägt auch zur Ehrenret- BAH R: Mir hat es geholfen, eine E-Mail an mich selbst zu schreiben, wenn mich mal etwas aufregt. Diese Mail packe ich dann in einen Ordner namens »Re: tung von angehenden Lehrer:innen Charles« und schaue alle drei Monate wieder rein. Das ist sehr heilsam, denn bei. Zuweilen wird ihnen ja »nega- meist stelle ich fest, dass sich die Aufregung gar nicht gelohnt hat. tive selection« vorgeworfen, dass SPIEGEL: Andere 19-Jährige haben außer Vorlesungen oder Berufs- sie also Lehrer:innen würden, weil schule und Arbeit wenig Termine – hättest du es gern weniger voll? es für andere Berufsfelder nicht rei- BAH R: Vermutlich ist mein Leben sogar entspannter als das einer Studentin che. »Wir haben keine starken Hin- oder eines Studenten. Ich habe Wochenenden und Urlaubstage, an denen ich weise gefunden, dass das bei Leh- komplett abschalten kann und nicht permanent Klausuren und Hausarbeiten im Hinterkopf habe. Was ich noch loswerden möchte: Niemand in meinem Alter rer:innen eine größere Rolle spielt soll mich als Maßstab nehmen. Ich habe einfach immer das getan, was mir Spaß als in anderen Berufen«, sagt Ayaita. macht. Und ich habe sehr früh herausgefunden, was das ist. Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 9
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG BAC H E LO R O F CORONA Die Pandemie hat Studierenden viel abverlangt – eine ganze Generation wurde von der Politik ignoriert. Zugleich hat Corona gezeigt, dass Uni auch anders geht. Den Hochschulbetrieb könnte das nachhaltig verändern. T E X T M A R I E - C H A R LOT T E M A A S FOTOS B E T T I N A T H E U E R K AU F, L I S A N OT Z K E , M A R I N A W E I G L rgendwann verlor Betty Lohmeyer die Geduld. Im März, Als die Pandemie im März 2020 Deutschland erreichte, I als der lange Shutdownwinter sich langsam seinem Ende näherte, nach zwölf Monaten im Homeoffice, hatte die wurden Hochschulen, Bibliotheken und Mensen geschlossen, Campusse lagen verwaist. Auf der Tagesordnung standen in den 25-jährige Studentin die Nase voll. Von der Ungewissheit, folgenden Monaten unzählige Stunden vor dem Laptop, Gruppen- von den immer gleichen Vertröstungen durch Politik und Uni- arbeiten über Zoom oder Microsoft Teams. Wenn zwischendurch bürokratie, von dem Versprechen, dass es bestimmt bald zurück doch mal Treffen mit Kommiliton:innen möglich waren oder per- in die Präsenzlehre gehe. »Ich hatte monatelang tagein, tagaus zu sönliche Gespräche mit Lehrenden, wirkten sie wie Relikte aus Hause gesessen, virtuelle Vorlesungen besucht und allein für meine längst vergangenen Zeiten. Manch einer zog zurück ins Kinder- Klausuren gelernt – anfangs noch mit dem Gefühl, einen Beitrag zimmer, viele verloren nicht nur die sozialen Kontakte, sondern für die Gemeinschaft zu leisten. Doch als dann nach und nach auch ihre Nebenjobs. viele wieder ins normale Leben zurückkehrten, Anderthalb Jahre lang veränderte sich für als immer mehr Ältere geimpft wurden und es hieß, dass die Schulen zurück in den Präsenz- »Als viele wieder die Studierenden wenig. Im Wintersemester soll nun endlich Normalität auf die Campusse unterricht sollten, während zugleich nicht ein ins normale Leben der Republik zurückkehren, so zumindest das Wort über uns Studierende verloren wurde, zurückkehrten, offizielle Versprechen. Die Hochschulen wollen fühlte ich mich einfach nur noch abgehängt.« wieder mehr Präsenz wagen, die Mensen wie- Es war der Moment, so erzählt es Loh- fühlte ich mich der mehr Miteinander erlauben. Lange war meyer heute, an dem ihre Geduld in Frustration abgehängt.« nicht überall klar, wie das funktionieren soll – umschlug. Eine Frustration, die sich wenig spä- ob mit Abstand oder Maske, ob nur für Ge- ter als Antriebskraft erweisen sollte. Betty Lohmeyer, Studentin impfte, Genese und Getestete, und wer wird Lohmeyer hat im Herbst 2020 ihren Ba- das alles kontrollieren? Doch Studieren soll chelor in Wirtschaft und Politik abgeschlossen möglichst wieder der soziale Prozess werden, und studiert jetzt den Master International Business and Sustain- der es für viele vor der Pandemie war, darüber ist man sich einig. ability an der Uni Hamburg. Sie ist eine von knapp drei Millionen Wird es also bald vorbei sein mit der Corona-Uni? Wird man ir- Studierenden in Deutschland, die vor anderthalb Jahren aus der gendwann alles vergessen, das Chaos, den Frust, die Einsamkeit? Normalität ihres Hochschullebens geschleudert wurden – hinein Hört man sich um an den Hochschulen in Deutschland, in einen sonderbaren Schwebezustand, in dem von ihnen erwartet glauben daran nur wenige. Viele sind nach wie vor skeptisch, ob wurde, dass sie mit dem Lernen weitermachen, aber ohne das die Rückkehr zur Präsenzlehre im Winter wirklich gelingt, zumal akademische und soziale Gerüst des Unialltags. Welche Zumutung wenn die Infektionszahlen steigen oder es eine neue Virusmutante das war und immer noch ist, welche Belastung für die Psyche gibt. Und selbst wenn: Corona hat den Hochschulbetrieb verändert vieler Studierender, das schien für Politik und Gesellschaft nur – und die Studierenden. Nach anderthalb Jahren Pandemie gibt eine untergeordnete Rolle zu spielen. Eine Generation Studieren- es längst eine neue Normalität. Und so ist es an der Zeit für eine der ist in der Coronakrise schlicht vergessen worden. Zwischenbilanz: Was wird bleiben von den Pandemieerfahrun- Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 11
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG gen? Was sollte vielleicht sogar in die Post-Corona- der Politikwissenschaftler und Jugendforscher Mathias Zeit übernommen werden? Albert. Vor allem bei denjenigen, die sich ohnehin schon für Politik interessiert hätten, könnten einschnei- C O R O NA A L S A N T R I E B S K R A F T dende Veränderungen im eigenen Leben der letzte Für Betty Lohmeyer aus Hamburg war Corona der Funke sein, den es braucht, um nicht mehr länger nur Schubs, den sie gebraucht hat, so sagt sie es. Denn sie zuzugucken, sondern mitmischen zu wollen. habe nicht nur von der Politik irgendwann die Nase Wächst durch Corona etwa eine neue, politische- voll gehabt, sondern auch von sich selbst. »Ich wollte re Generation Studierender heran? Um das beurteilen nicht mehr nur schimpfen und klagen, ich wollte dafür zu können, sei es noch zu früh, sagt Albert: »Inwieweit sorgen, dass wir Studierenden gesehen werden, dass das Engagement langfristiger Natur ist und sich viel- wir uns Gehör verschaffen und dass wir nicht mehr leicht sogar zu einer Art Bildungsprotest entwickelt, übergangen werden.« Im Juni dieses Jahres trat Loh- muss sich in den kommenden Monaten erst noch zei- meyer der Partei Bündnis 90/Die Grünen bei. Schon gen.« Fest steht aber, dass sich in der Pandemie landauf, in der Vergangenheit habe sie häufiger mit dem Ge- landab Initiativen gegründet haben, um die Anliegen danken gespielt, sich politisch zu engagieren, den Ein- der Studierenden zu vertreten. Im sächsischen Mitt- tritt in eine Partei jedoch immer wieder aufgeschoben, weida beispielsweise organisierten Studierende in Ei- sagt sie. Die Unsicherheit, welche die richtige für sie genregie Impfungen mit AstraZeneca und errichteten ist, habe sie abgehalten. »Ich hatte immer gedacht, dass ein Testzentrum auf dem Campus, weil sie nicht länger man 100 Prozent mit allem einverstanden sein müsste, auf offizielle Angebote von Politik oder Hochschule was eine Partei befürwortet, um ihr anzugehören. Doch warten wollten. In Berlin schaffte es »Nicht nur On- die Pandemie hat mir gezeigt, dass man nicht zu lange line«, ein Zusammenschluss von Studierenden aller zögern sollte.« Bei den Grünen will Lohmeyer jetzt Berliner Hochschulen, ihre Kommiliton:innen hinaus unter anderem die Bildungspolitik mitgestalten, sich auf die Straße zu bringen, zu Seminaren unter freiem für die Bedürfnisse von Studierenden einsetzen. Himmel. Bundesweit schrieben Studierende offene Das Erleben einer Krise und das Gefühl, abge- Student Dichte: Briefe an die Politik. »Für mich ist der hängt zu sein, als Anschub für politisches Engagement Onlineunterricht Die Kritik der Betroffenen ähnelt sich: Man habe – dieser Zusammenhang sei nicht ungewöhnlich, sagt ein Segen« monatelang zugunsten der Allgemeinheit verzichtet, doch zurück bekäme man nichts, mehr noch, man spie- le in den Planungen der Regierung gar keine Rolle. Aber die Aktionen zeigen auch, wie aus dem Gefühl, vergessen zu werden, der Impuls entstehen kann, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen – so wie bei Betty Lohmeyer: »Durch meine Tätigkeit in der Politik kann ich etwas bewegen. Der Stillstand aus der Corona-Zeit ist endlich vorbei.« F L E X I B I L I TÄT A L S V O R T E I L Die Coronakrise, das ist keine Frage, hätte niemand gebraucht. Aber manchmal steckt eben sogar in der Katastrophe etwas Positives. Auch bei Daniel Dichte und Kim Phuong Mol war das so. Die beiden kennen sich nicht. Dichte wohnt in Hamburg, Mol mehr als 400 Kilometer entfernt in Köln. Dichte studiert Technische Informatik, Mol Wirtschaftspädagogik. Beide haben je- doch eine Gemeinsamkeit: Sie genießen die neue Flexi- bilität, die Corona an die Hochschulen gebracht hat. Kim Phuong Mol, 28 Jahre alt, ist nicht nur Stu- dentin, sondern auch Mutter von zwei Töchtern, zwei und fünf Jahre alt. Zur Uni brauchte sie vor Corona eine halbe Stunde, davor musste sie ihren Kindern Frühstück machen, sie anziehen und die Große zur Kita bringen. Oft sei sie schon abgehetzt in die Vor- lesung gekommen, erzählt Mol. Hatte die Kleinere schlecht geschlafen, war es auch um Mols Konzentra- tion nicht gut bestellt: »Bei der dritten Veranstaltung am Tag habe ich gemerkt, dass es eigentlich sinnlos war, mich noch reinzusetzen. Doch weil der Stoff prü- fungsrelevant war, hatte ich keine Wahl.« War eines der Kinder krank und der Vater beruflich unterwegs, musste Mol zu Hause bleiben – und sich darauf ver- lassen, dass die Kommiliton:innen sie später mit Ma- terialien und Aufzeichnungen versorgten. Als die Politik im März 2020 den ersten Shut- down verhängte, änderte sich diese Situation grund- legend. Wie alle anderen Studierenden lernte Mol von zu Hause aus. »Es war anstrengend«, sagt sie, »keine Frage. Wer sitzt schon gern wochenlang in den eigenen vier Wänden fest?« Doch für Mol kristallisierten sich 12 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG nach ein paar Wochen auch Vorteile heraus: »Plötzlich wurden die Veranstaltungen aufgezeichnet, ich konnte selbst entscheiden, HOCHSCHULEN IN DER wann und wo ich sie mir ansehe. Das war vor allem bei schwierigen CORONAPANDEMIE Fächern wie Makroökonomie ein enormer Gewinn, sogar meine Noten sind besser geworden.« 9. M Ä R Z 2020 Könnte Daniel Dichte hören, was Mol erzählt, er würde ver- Die WHU – Otto Beisheim School of Management in Val- mutlich eifrig nicken. Dichte, 29 Jahre alt, hat kein Kind. Doch er lendar, Rheinland-Pfalz, muss als erste deutsche Hoch- hat eine Freundin in Spanien, drei zeitintensive Nebenjobs – und schule wegen Corona vorübergehend ihren Campus schlie- er hat ADHS, das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom. Wenn andere ßen. Ein Studierender hatte sich mit dem Virus infiziert. gegen Abend müde werden, beginnt für Dichte die Zeit, in der er am besten lernen kann: »Ab etwa 18 Uhr bin ich erfahrungsgemäß M Ä R Z 2020 am wachsten im Kopf.« Uni-Seminare fänden zu so später Stunde Bund und Länder beschließen erste Maßnahmen zur an seiner Hochschule jedoch so gut wie nie statt. Dichte sagt: »Für Eindämmung des Coronavirus. Bereits laufende Präsenz- mich ist der Onlineunterricht ein Segen, weil ich nun selbst- veranstaltungen an den Hochschulen werden ausgesetzt, bestimmter lernen kann.« Zwar vermisse auch er den Kontakt zu der Beginn des Sommersemesters nach hinten verlegt. seinen Kommiliton:innen und die persönlichen Begegnungen mit den Lehrenden, doch die positive Erfahrung habe für ihn über- 2. A P R I L 2020 wogen. »Während des dritten Lockdowns wurde der Vater meiner Die Kultusministerkonferenz verschiebt den Vorlesungs- Freundin in Spanien sehr krank.« Er sei sofort nach Murcia gereist, beginn des Wintersemesters auf den 1. November, einheit- um der Familie beizustehen. Seine Vorlesungen, Seminare und lich für Universitäten und Fachhochschulen. Gruppenarbeiten habe er von dort erledigt. »Hätte ich nicht online studieren können, hätte ich nicht helfen können. Oder ich hätte 15. A P R I L 2020 geholfen und dafür auf meine Scheine verzichten müssen.« Es gibt erste Erleichterungen bei den Coronamaßnahmen. Kim Phuong Mol und Daniel Dichte hoffen, dass Onlinelehre Neben Prüfungen dürfen auch bestimmte Praxisveranstal- auch künftig Teil ihres Studiums bleiben wird – und damit sind tungen wieder vor Ort stattfinden, sofern Hygiene- und sie nicht allein. In einer im Wintersemester 2020/21 durchgeführten Abstandsregeln eingehalten werden. Der Großteil der Kur- Befragung des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) unter se wird aber weiterhin digital abgehalten. mehr als 27 000 Studierenden und über 650 Professor:innen wünschte sich ein großer Teil, dass digitale Lehrelemente auch 8. M A I 2020 nach der Pandemie gezielt eingebunden werden sollen, als Ergän- Der erste Teil der Überbrückungshilfe für Studierende zung zur Präsenzlehre. Insbesondere Aufzeichnungen von Lehr- startet: Sie können sich nun bei der staatlichen Förderbank veranstaltungen finden Studierende demnach hilfreich. KfW vorübergehend zinsfrei Geld leihen. Umfrageergebnisse wie diese überraschen Karin Bjerregaard Schlüter nicht. Sie ist Digitalexpertin und organisiert aktuell im 16. J U N I 2020 Studiengang Leadership in digitaler Innovation an der Universität Wer wegen Corona in eine Notlage gekommen ist, kann der Künste Berlin die Weiterentwicklung der digitalen Lehre. »Co- einen Zuschuss bei seinem Studierendenwerk beantragen – rona hat etwas beschleunigt, was schon längst überfällig war«, der zweite Teil der Überbrückungshilfe. Es gibt heftige sagt sie. »Im ersten Lockdown war es stressig, denn alle Lehrenden Kritik: Die Hürden seien zu hoch, die Beträge zu gering. – und auch die Studierenden – mussten sich neu organisieren und erst einmal einarbeiten. Das war zeitraubend. Aber ich habe den 16. D E Z E M B E R 2020 Eindruck, dass die meisten Studierenden mittlerweile viele Vorteile Es gelten wieder verschärfte Coronaregeln: Hochschulen in der Onlinelehre sehen.« Neben der Flexibilität, von der Mol sind geschlossen, Präsenzlehre findet quasi nicht statt. So und Dichte schwärmen, nennt die Expertin weitere Beispiele. Die bleibt es für die folgenden Monate. Effizienz: »Gruppenarbeiten funktionieren digital viel besser, weil schon die Aufteilung der Gruppen schneller geht. Niemand muss 3. M Ä R Z 2021 warten, bis alle einen Platz gefunden haben.« Die Möglichkeiten: In einem Beschlusspapier der Bund-Länder-Konferenz »Das Studium wird internationaler, wenn man Lehrende aus aller werden Öffnungsschritte festgelegt – und Hochschulen Welt für ein Seminar über Zoom zuschaltet oder Studierende per mit keinem Wort erwähnt. Studierende protestieren. Microsoft Teams an Veranstaltungen anderer europäischer Hoch- schulen teilnehmen.« 23. A P R I L 2021 Bjerregaard Schlüter ist überzeugt, dass sich in Zukunft eine Die Bundesnotbremse tritt in Kraft. Ab einer Inzidenz hybride Variante des Studiums durchsetzen wird. So werden Stu- von 100 ist auch an Hochschulen nur noch Wechselunter- dierende die Wahl haben, ob sie ihre Vorlesung lieber morgens richt erlaubt, ab einem Wert von 165 nur noch Distanz- live im Hörsaal verfolgen wollen oder später zu Hause am Küchen- unterricht. Länder und Hochschulen kritisieren die Rege- tisch. Alles ins Internet verlagern, das möchte aber auch sie, ein lungen – und erwirken später Änderungen. So entfällt die ausgewiesener Fan des Digitalen, nicht. Denn erstens hängt der Pflicht zum Wechselunterricht, bestimmte Praxisver- Erfolg von digitaler Lehre auch vom passenden Equipment und anstaltungen sind auch bei hoher Inzidenz weiter möglich. einer ausreichend schnellen Internetverbindung ab – Dinge, die längst nicht für alle Studierenden selbstverständlich sind. Und M A I 2 021 zweitens: »Lernen ist immer eine Mischung aus Wissensvermitt- Angesichts sinkender Inzidenzwerte bereiten einige Hoch- lung und Emotion«, sagt Bjerregaard Schlüter. »Letzteres kann schulen erste Öffnungsschritte vor. man in der Onlinelehre nur sehr schwer rüberbringen.« A U G U S T – S E P T E M B E R 2 0 21 AC H T S A M K E I T A L S E R R U N G E N S C H A F T Im Wintersemester soll es wieder mehr Präsenzlehre Dass Studieren mehr ist, als Vorlesungen zu absorbieren und Prü- geben, kündigen Länder und Hochschulen an. Was genau fungen zu schreiben, das wurde in der Pandemie überdeutlich. das bedeutet und wie es funktionieren soll, dazu gibt es Betty Lohmeyer erzählt, dass sie sich häufig einsam gefühlt habe viele Diskussionen – und nicht immer klare Antworten. – obwohl sie zunächst mit ihrem Freund und später auch mit dessen Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 13
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG »Auch wenn man vor allem auf dem Sofa lag, hat man daraus etwas gelernt« Warum man die Coronapandemie auf keinen Fall als Lücke im Lebenslauf betrachten sollte, erklärt Vera Pilkuhn, Laufbahnberaterin und Dozentin an der FH des Mittelstands in Köln. INTERVIEW S U S A N DJA H A N G A R D SPIEGEL: Frau Pilkuhn, Sie unterstützen junge Menschen PI LKUH N: Einige. Das, worüber wir gerade gesprochen bei der Suche nach dem ersten Arbeitsplatz. In der haben, fällt ja in den Bereich Resilienz: auf sich selbst aufpassen Pandemie wurden aber gerade Stellen für Einsteiger:in- zu können, zu wissen, was einem guttut und was nicht. Die Pan- nen oft gestrichen. Können Sie da überhaupt helfen? demie war auch ein Crashkurs in Selbstorganisation und Selbst- PI LKUHN: In manchen Branchen ist es durch die Pandemie motivation. Alle mussten lernen, weiterzumachen – ohne Semi- sehr schwierig geworden, Stellen zu finden, das stimmt. Aber das nare in der Uni vor Ort, ohne Fitnessstudio oder Lerngruppe. ist nicht das größte Problem. Die meisten, die zu mir kommen, Wenn man es da etwa geschafft hat, regelmäßig Sport zu machen kämpfen damit, dass ihre Pläne dahin sind. Einige wollten zum oder online Gitarre zu üben, ist das eine großartige Leistung! Das Beispiel Praktika im Ausland machen. Das ging nicht, und dann kann man ruhig so erzählen. Und wir haben alle unsere Flexibilität standen sie plötzlich ohne Plan B da. Das ist eine enorme psy- trainiert, das wurde ja schon vor Corona auf dem Arbeitsmarkt chische Belastung, gerade wenn man sowieso schon in einer Um- immer wichtiger. Statt in der Uni oder der Berufsschule hat man bruchsituation steckt, weil das Studium oder die Ausbildung zu eben von zu Hause aus gelernt. Ende geht und man ins Berufsleben startet. Da geht es dann darum, einen neuen Plan zu entwickeln. SPIEGEL: Sie haben gar nicht erwähnt, dass Corona uns alle digitaler gemacht hat. SPIEGEL: Wie geht man damit um, wenn man nicht PI LKUHN: Man kann natürlich auch betonen, mit welchen sofort auf einen solchen Plan B kommt? Man soll Programmen man jetzt besonders sicher ist, klar. Aber die meisten schließlich keine Lücke im Lebenslauf haben, heißt es. jungen Menschen konnten auch vorher schon gut digital arbeiten. PI LKUH N: Mich hat diese Lückendiskussion schon immer Ich glaube, da haben vor allem Ältere einen Sprung gemacht. gestört. Das Hauptziel ist doch nicht, permanent beschäftigt zu sein. Man nimmt aus jeder Zeit etwas mit. Auch wenn man in SPIEGEL: Das klang jetzt alles sehr positiv, aber wir den ersten Monaten der Pandemie vor allem auf dem Sofa lag, sprechen nun mal über eine weltweite Krise. Was, hat man daraus etwas gelernt: vielleicht nur, dass man nicht der wenn man gerade nicht selbstbewusst in Bewerbungs- Typ ist, der besonders schnell mit ungewöhnlichen Situationen gespräche gehen kann, weil man einfach verunsichert umgehen kann. Aber auch das bringt einen weiter. Das Wichtigste ist nach diesen anderthalb Jahren? ist, dass man wohlwollend auf sich selbst blickt und sich nicht PI LKUH N: Das Wort Selbstbewusstsein bedeutet ja, sich noch mehr stresst. Vielleicht war die Pandemie auch eine richtig über sich selbst bewusst zu sein. Es hilft also, sich vorher Fragen gute Zeit, weil man so viel schlafen konnte wie nie zuvor – oder zu stellen und die Antworten aufzuschreiben: Was kann ich richtig nach dem Stress mit der Abschlussarbeit endlich diese eine neue gut? Und was will ich im Leben? Welche Werte sind für mich Serie schauen konnte. wichtig? Was habe ich während der Pandemie gemacht? Und was würde ich anders machen, wenn ich so eine Krise noch mal erlebe? SPIEGEL: Aber das kann man doch in einem Diese Fragen kann man auch Freund:innen und in der Familie Bewerbungsgespräch so nicht sagen. stellen. Wenn man das für sich sortiert hat, kann man viel selbst- PI LKUH N: Natürlich würde ich nicht empfehlen, vor al- bewusster in ein Bewerbungsgespräch gehen. lem über gute Serien zu sprechen, wenn man sich bei einem Arbeitgeber vorstellt. Aber man kann plausibel vermitteln, SPIEGEL: Und wenn man gerade einfach keinen Job dass die Pandemie eine Herausforderung für uns alle war, und findet? zeigen, dass man damit selbstreflektiert umgeht. Ich glaube, da PI LKUH N: Dann sollte man unbedingt den Markt und die hat uns diese Krise ganz erheblich vorangebracht: Weil sie eine eigene Branche analysieren, um herauszufinden, wo gesucht wird. solche Ausnahmesituation war, haben wir uns alle besser ken- Dafür kann man Podcasts hören, oder man liest einfach sehr viele nengelernt. Und in einem Team beispielsweise braucht man bei- Stellenanzeigen. Und ich empfehle, nach den positiven Beispielen des – Menschen, die sehr schnell reagieren, und solche, die erst zu suchen: die eine Kommilitonin, die gerade eine Festanstellung mal nachdenken. bekommen hat, oder der eine Freund, der aus dem Praktikum übernommen wurde. Die gibt es ja weiterhin! Es wurden trotz SPIEGEL: Gibt es weitere Punkte, die man in Corona viele neue Jobs vergeben und Menschen neu eingearbeitet. den Shutdowns vielleicht gelernt hat und die man Wenn man da jemanden kennt, kann man nachfragen: Wie hast in einem Bewerbungsgespräch nennen kann? du das geschafft? Davon kann man sich etwas abschauen. 14 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG befindens« in den vergangenen Jahren mehrere Tau- send Studierende begeistert. In der Pandemie wurde die Aufzeichnung des Kurses auf der ganzen Welt mehr als eine Million Mal geklickt – und damit zum gefrag- testen Onlineangebot in der 300-jährigen Geschichte der Yale University. »Dass Angebote zur mentalen Gesundheit gefragt sind, wusste ich: Das Thema liegt im Trend«, sagt Adam. »Viele junge Menschen fragen sich, was sie glücklich macht und was ihrem Leben einen Sinn ver- leiht – gerade in Zeiten, in denen durch die Pandemie der gewohnte Alltag und viele soziale Kontakte von jetzt auf gleich weggebrochen sind.« Der 30-Jährige rechnete dementsprechend mit Interesse vonseiten der Studierenden – wie stark dieses sein würde, ahnte er allerdings nicht. »40 Teilnehmende hätten mich schon sehr gefreut, 80 wären ein enormer Erfolg gewesen«, sagt er, »am Ende waren es fast 120.« Darunter seien nicht nur angehende Wirtschaftsinformatiker:innen gewesen, sondern auch Studierende aus Fächern wie BWL, Pädagogik und Psychologie. Auch an anderen Hochschulen gewinnt das The- ma Wohlbefinden offenbar an Bedeutung. Das Studie- rendenwerk der Universität Heidelberg etwa eröffnete im Februar dieses Jahres ein Referat gegen Einsamkeit. Werden Hochschulen künftig also mehr sein als reine Orte der Wissensvermittlung? Werden Lehrende die psychische Gesundheit ihrer Studierenden ebenso im Blick haben wie die Inhalte der nächsten Vorlesung? Dozent Martin Adam kann sich gut vorstellen, dass das Thema Wohlbefinden an Universitäten künf- tig an Relevanz gewinnen wird. »Die psychische Ge- sundheit der Studierenden ist durch die Pandemie mehr in den Fokus gerückt«, sagt er. Und auch Betty Lohmeyer hat das Gefühl, dass die einst floskelhafte Frage »Wie geht es dir?« in den vergangenen Monaten an Ernsthaftigkeit gewonnen hat. »Man interessiert sich plötzlich mehr füreinander«, sagt sie. Dadurch sei es leichter geworden, offen zu sagen, wenn es einem mal nicht gut gehe. Eine Art neue Ehrlichkeit also. Die will Lohmeyer sich bewahren – nicht zuletzt für ihre Eltern in einem Haushalt lebte. »Hätte ich dieses Um- Studentin Mol, Arbeit in der Politik. feld nicht gehabt, ich wäre wohl verrückt geworden.« Töchter: Die Pandemie hat das Leben und den Alltag von »Sogar meine Forscher:innen der Universität Hildesheim haben Noten sind besser knapp drei Millionen Studierenden auf den Kopf ge- bereits im Sommer 2020 bundesweit mehr als 2000 geworden« stellt. Vieles, was in den vergangenen anderthalb Jah- Studierende zu ihrem Studienalltag in der Pandemie ren passiert ist, war gewöhnungsbedürftig, einiges an- befragt. Fast alle beklagten den Wegfall des sozialen strengend und manches schlichtweg nicht zumutbar. Austauschs: 79 Prozent der Befragten vermissten das Doch nicht alles – das kann man rückblickend sagen – Campusleben, 82 Prozent fehlte der direkte Kontakt war schlecht. Ob die Onlinelehre von jetzt an ein fester zu anderen. Bei einer Neuauflage der Befragung im Teil der Vorlesungsverzeichnisse sein wird, ob Studie- Sommer 2021 stiegen die Werte sogar noch leicht, auf rende künftig mehr gehört werden, auch weil sie sich jeweils mehr als 84 Prozent. Zwei Studien der Organi- lauter zu Wort melden, ob an den Hochschulen bald sation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wirklich mehr aufeinander geachtet wird – all das wird wicklung ergaben zudem, dass sich in vielen Ländern sich in den kommenden Semestern zeigen. Fest steht: junge Erwachsene besonders einsam fühlten – und in- Corona hat einen Anstoß für Veränderungen gegeben, folgedessen überdurchschnittlich oft an Depressionen die zum Teil längst überfällig waren. Fest steht auch: oder Angststörungen erkrankten. Die Pandemie hat Studierenden gezeigt, zu welchen Martin Adam sagt, er habe viele dieser Studien Leistungen sie in einer Ausnahmesituation fähig sind. gekannt, als er im vergangenen Sommersemester an Und das ist eine Erfahrung, die ihnen auch nach dem der TU Darmstadt die Masterveranstaltung »Wohlbe- Hochschulabschluss helfen wird. finden verbessern mit Data Analytics« startete. Adam hat in Wirtschaftsinformatik promoviert und habilitiert nun im Fachgebiet Information Systems und Electronic SCH REI B UNS Services. Auf die Idee, sich mit den Themen Glück- Welche Erfahrungen hast du in der Pandemie lichsein und mentaler Gesundheit zu beschäftigen, sei an der Uni gemacht? Was hat dich gestört er durch die Vorlesungen der US-amerikanischen Psy- und belastet – und was lief gut? Schreib uns: chologieprofessorin Laurie Santos gekommen. Die hat- spiegel-start@spiegel.de te mit ihrem Kurs über die »Wissenschaft des Wohl- Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 15
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG ZWISCHEN PET TERSON UND KÜCHENTISCH Drei Semester lang waren die Hochschulen dicht, zum Teil sitzen Studierende immer noch im Homeoffice. Vier von ihnen zeigen, wie sie auf beengtem Raum lernen – und erzählen, was sie hoffen lässt. TEXT K AT H A R I N A H Ö LT E R FOTOS PHILIPP REISS BADRIEH WANLI, 31, STUDIERT DEUTSCH UND KUNST AUF LEHRAMT AN DER HOCHSCHULE FÜR BILDENDE KÜNSTE UND AN DER UNIVERSITÄT HAMBURG. »Ich habe zwei Kinder, mein Sohn ist fünf, meine Tochter drei. Aus dem Shutdown habe ich gelernt, dass meine Ressourcen Mein Freund arbeitet als selbstständiger Kameraassistent. Wenn nicht unerschöpflich sind. Immer eine überdurchschnittliche er zu einem Dreh muss, erfährt er das oft sehr spontan. Es gab Studentin und gute Mutter zu sein, ging nicht mehr so einfach während des Shutdowns Tage, an denen er die Kinder betreuen parallel. Wenn ich an den Winter denke, habe ich Bauchschmerzen. und ich mich ganz aufs Studium konzentrieren konnte, an anderen Im Moment gehen die Kinder in die Kita, aber sicherlich steht musste ich wissenschaftliche Texte durcharbeiten und parallel ›Pet- uns wieder eine Schließung oder die ein oder andere Quarantäne tersson und Findus‹ gucken. Wenn die Kinder herumrannten und bevor. Jetzt immer leichtfertiger mit den Maßnahmen umzugehen, an mir hingen, war an Studieren nicht zu denken. Oft habe ich zeigt, dass Kinder in unserer Gesellschaft und bei den politischen abends und nachts gearbeitet, mich in mein Atelier zurückgezogen. Entscheidungen einen sehr geringen Stellenwert haben.« 16 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG BEKHAN ZUBAJRAEV, 24, STUDIERT MODEDESIGN AN DER AKADEMIE FÜR MODE, DESIGN, KOMMUNIKATION UND MANAGEMENT IN HAMBURG. »Mein Studium hat einen großen Praxisanteil, wir haben Im Shutdown habe ich gelernt, meine Zeit mehr wertzuschät- beispielsweise Näh- und Schnittunterricht. Beides aus der eigenen zen – und besser zu nutzen. Statt Bus und Bahn zur Uni zu fahren, Wohnung zu lernen, war echt eine Herausforderung. Aber unsere konnte ich Unterrichtsstoff vorbereiten und an eigenen Designs Hochschule hat das prima organisiert! Die Dozierenden haben weiterarbeiten, zum Beispiel an meinen Bauchtaschen aus altem drei, vier Kameras installiert, damit man ihre Arbeit aus jeder PVC-Boden. Mein Wintersemester verbringe ich in Amsterdam. Perspektive beobachten kann. Einige meiner Kommiliton:innen Dort absolviere ich ein sechsmonatiges Praktikum – zum Glück arbeiteten nach vorheriger Anmeldung an den Nähmaschinen in in Präsenz. Es ist schön, das Erlernte in der realen Modebranche der Hochschule, ich habe mir eine eigene für zu Hause gekauft. anwenden zu können.« Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 17
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG »Ich bin sehr froh, meine Instrumente als Ausgleich zu den Zum Ende des Sommers hatten wir immer mehr Kurse vor Onlinevorlesungen zu haben. Ich schaue nicht den ganzen Tag Ort. Ich hoffe, das bleibt auch im Winter so. Mir ist klar geworden, auf einen Bildschirm, das ist ein großes Privileg. Bei uns fand auch wie wichtig der direkte Austausch mit anderen Studierenden ist. während des Shutdowns noch Präsenzunterricht statt: In Klavier Allein zu Hause fällt es mir schwer, mich zu motivieren. Allerdings und Gesang wurde ich von jeweils einem Dozenten unterrichtet – habe ich mich auch weniger ablenken lassen, als keine Konzerte auf Abstand, mit einer großen Plastikscheibe zwischen uns. und Festivals stattfanden. Das war gut und schlecht zugleich.« ALENA BORG, 22, STUDIERT MUSIK AN DER HOCHSCHULE FÜR MUSIK UND THEATER IN HAMBURG. 18 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG ARNDT STEINACKER, 31, STUDIERT SOZIALE ARBEIT AN DER HOCHSCHULE FÜR ANGEWANDTE WISSENSCHAFTEN IN HAMBURG. »Corona hat dazu geführt, dass viele ihren Alltagstrott hinter- im November werden wir Eltern. Uns hat Corona noch enger zu- fragt haben. Wie viel Raum sollen Studium und Arbeit wirklich sammengeschweißt. Für das Wintersemester plant meine Hoch- einnehmen? Ich betreibe ein eigenes Café, das trotz Shutdown schule hybride Veranstaltungen, die sowohl vor Ort als auch online immer gut angenommen wurde. Meine Freundin Luisa und ich verfolgt werden können. Das Modell ermöglicht uns Studierenden haben unsere Prioritäten trotzdem verschoben – weg vom Lern- mehr Flexibilität und eine freiere Lebensgestaltung, auch nach und Arbeitsstress. Seit vergangenem Jahr haben wir einen Hund, Corona. Das kommt mir sehr entgegen.« Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 19
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG JOBS MIT ZUKUNFT Die Wirtschaft in Deutschland muss digitaler und grüner werden, da sind sich die Fachleute einig. Was bedeutet das für diejenigen, die jetzt ihre Ausbildung und Karriere planen? Wir erklären, wo es Stellen gibt – und wer sie bekommt. TEXT F LO R I A N G O N T E K U N D K AT H A R I N A H Ö LT E R FOTOS S E B A ST I A N LO C K U N D M A R I N A W E I G L Arbeitsmarkt der Zukunft bestimmen werden, fallen immer wieder zwei Schlagwörter – Digitalisierung und Dekarbonisierung. Was bedeutet: Es wird Menschen wie Sarah Julia Kriesch brauchen, die digitale Pro- gramme entwickeln und mit großen Datenmengen um- gehen können. Und solche, die dafür sorgen, dass sich die CO2-Bilanz von Unternehmen, Kommunen und Dienstleistungen verbessert. Beides war eigentlich längst klar, doch die Krisen und Katastrophen der vergangenen beiden Jahre ha- ben die Dringlichkeit der Veränderung offenbart: Die Coronapandemie hat gezeigt, dass Deutschland drin- gend digitaler werden muss. Wenn Men- Wenn Sarah Julia Kriesch von ihrer letzten Vertrags- verhandlung erzählt, klingt das ein bisschen nach Profi- schen zu Hause lernen und arbeiten wollen, brauchen sie stabiles Internet »Wir werden fußball. Um ein Talent wie Kriesch zu sich zu holen, und verlässliche Software. Wenn Ge- Personal brauchen, lockte der Arbeitgeber mit allerlei Prämien: unbefris- tete Vertragslaufzeit; Stundenzahl nach Absprache fle- sundheitsämter Infektionsketten nach- vollziehen müssen, sind digitale Daten das ein digitales xibel anpassbar; Weiterbildungsangebote während der wichtiger als ausgedrucktes Papier. Und Grundverständnis Arbeitszeit; Nachlass auf die hauseigenen Unterneh- spätestens seit der Flutkatastrophe im mitbringt.« mensaktien; und ein Gehalt, das auch ohne Boni schon Sommer ist klar: Die Klimakrise ist in bei mehr als 4500 Euro brutto pro Monat liegt. Deutschland angekommen. Auch sie Rainer Strack, Das alles dafür, dass Kriesch anderen dabei hilft, verlangt nach einem Umdenken – und Boston Consulting Group digitaler zu werden. Die 34-Jährige arbeitet als IT-Be- nach neuen Jobs. raterin bei einer Consultingfirma in Nürnberg. Ihr Job Doch was bedeutet das in der Pra- ist es, Unternehmen bei Cloud-Lösungen zu unterstüt- xis? Wo werden Schulabgänger:innen, zen, also deren digitale Infrastruktur zu optimieren. Azubis und Studierende gebraucht? Wo finden sie Und das Beste, wie Kriesch findet: An bis zu acht künftig Stellen? Und was müssen sie dafür können? Stunden in der Woche könne sie ihrer Leidenschaft nachgehen, der Linux-Programmierung. Linux ist ein 1 . D I G I TA L I S I E R U N G alternatives Betriebssystem, etwa zu Windows oder Dass Sarah Julia Kriesch einmal in der IT landen wür- macOS, und eines der bekanntesten Open-Source-Pro- de, zeichnete sich früh ab. Sie sei schon in der Schule jekte. Die Arbeit daran habe mit ihrem Job zwar technikinteressiert gewesen, habe regelmäßig bei eigentlich wenig zu tun, sagt Kriesch. Aber ihr Arbeit- »Jugend forscht« mitgemacht, erzählt sie. Ihr sei auch geber bezahle sie für etwas, das der Allgemeinheit immer wichtig gewesen, mit ihrem Beruf eine Familie dient – und seine Mitarbeiterin glücklich macht. »An ernähren zu können. Nach dem Schulabschluss machte einem Tag in der Woche kann ich mich frei entfalten, sie erst eine Ausbildung zur Fachinformatikerin, nach meinen Interessen nachgehen, mich austauschen und vier Jahren im Job folgte das Informatikstudium an zugleich etwas für das Gemeinwohl tun – für mich ist der Technischen Hochschule Nürnberg. IT-Expertin Kriesch: »An einem Tag in das gerade perfekt.« Noch bevor Kriesch ihre Bachelorarbeit einreich- der Woche kann ich Die Stelle passt zu Kriesch, Kriesch passt zu te, hatte sie ihren ersten Arbeitsvertrag unterschrieben, mich frei entfalten, ihrer Stelle. Ein Match. Doch viele andere Berufsein- bei einem Tech-Konzern in Böblingen. Und selbst als meinen Interessen steiger:innen müssen dieses Match noch finden – in sie schon nach fünf Monaten wieder einen Job suchte, nachgehen und zugleich etwas für einer Zeit, in der sich Wirtschaft und Gesellschaft ver- weil das Unternehmen wegen der Coronakrise das Gemeinwohl ändern. Fragt man Expert:innen, welche Trends den umstrukturieren musste und Kriesch der Unsicherheit tun« 20 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021 DIGAS_B2B-Belegexemplare-SpiegelStart_2021_10_02
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STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG Zum Beispiel könnten Mediziner:innen sich nach ih- rem Studium noch Kenntnisse in künstlicher Intelli- DIGITALER BOOM genz oder Big Data aneignen und diese dann in ihrem Studierende* in Deutschland in ausgewählten Informatikstudiengängen Job anwenden. Karrierewege seien in der Vergangen- heit oft starr verlaufen, der Fachkräftemangel und die 150 000 Digitalisierung aber verlangten nach Flexibilität, nach Informatik cross-ausgebildetem Personal, sagt Strack. Dafür spricht auch eine neue Vorgabe für alle anerkannten Ausbil- 100 000 dungsberufe: Seit August dieses Jahres müssen vier Wirtschaftsinformatik Punkte Teil jeder Ausbildung sein, neben Berufsbildung 50 000 und Sicherheit bei der Arbeit auch »Digitalisierte Ar- beitswelt« – und »Umweltschutz und Nachhaltigkeit«. Medieninformatik Bioinformatik 0 2. DEKARBONISIERUNG Computerlinguistik Damit trägt die neue Ausbildungsvorgabe auch dem WS WS WS WS 2010/2011 13/14 16/17 19/20 zweiten Megatrend auf dem Arbeitsmarkt Rechnung, dem Bedarf nach Dekarbonisierung. In anderen Wor- * jeweils nach erstem angegebenen Studienfach ten: Eine Welt, die gegen die Klimakrise kämpft, S Quelle: Destatis braucht grüne Jobs. Felix Borscz hat so einen grünen Job. Seit An- fang des Jahres arbeitet der 27-Jährige als Klima- entgehen wollte, dauerte es keine zwei Wochen bis schutzmanager bei der Stadt Gummersbach, knapp zum neuen Vertrag, dem mit den vielen Prämien. eine Autostunde von Köln entfernt. Den Beruf habe Auch in Zukunft wird Kriesch sich ihren Arbeit- er nicht gewählt, weil ihm an einer besonders steilen geber wohl frei aussuchen können. Fast täglich erhalte Karriere gelegen war, sagt Borscz. Sein Antrieb: sich sie über Xing oder LinkedIn neue Jobanfragen, erzählt mit seinen Fähigkeiten bestmöglich für die Gesell- sie. Erst einmal sei sie aber glücklich: »Mir ist wichtig, schaft einbringen. »Ich wollte etwas Positives zur Welt dass ich mich ständig weiterentwickeln kann«, sagt beitragen, etwas Sinnvolles tun. Das mache ich jetzt sie, das sei in ihrem aktuellen Job der Fall. in meinem Job.« Kriesch wird hofiert, weil sie eine Auch Borscz hat sein Match gefunden. Als Klima- »Bestehende seltene Ausbildung hat – zu selten, wenn es nach dem Bedarf am Arbeits- schutzmanager entwickelt er für Gummersbach ein städtisches Mobilitätskonzept, er kämpft um Budgets Berufe entwickeln markt geht. Eine Modellberechnung der für fahrradfreundliche Straßen und organisiert Pede- sich in eine Unternehmensberatung Boston Consul- ting Group (BCG) geht davon aus, dass lec-Trainings, damit mehr Menschen mit dem E-Bike zur Arbeit fahren. Man habe lange nach einer geeigne- grüne Richtung.« 2030 allein in Deutschland etwa eine ten Person gesucht, heißt es von der Stadt, gute Bewer- Markus Janser, Million IT-Fachkräfte fehlen könnten, ber:innen seien selten. Borscz habe sie sofort überzeugt. Institut für Arbeitsmarkt- darunter beispielsweise Cyber-Security- Und so trat er kurz nach seinem Masterabschluss in und Berufsforschung Analyst:innen oder Data-Scientists. Umweltingenieurwesen die Stelle in Gummersbach an. Dem Dekra-Arbeitsmarktreport zufolge Wie groß der Bedarf nach Know-how in Sachen richtet sich schon jetzt jede zehnte Stel- Nachhaltigkeit auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich ist, lenanzeige an IT-Fachkräfte. Sogar in der Coronakrise ist die Branche gewachsen: Laut Pro- gnosen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufs- GUTE ZEITEN, forschung (IAB) dürften 2021 rund 40 000 Stellen im IT-Bereich dazukommen. SCHLECHTE ZEITEN Zwar stieg in den vergangenen Jahren auch die Beschäftigte nach Branchen, Veränderung 2021 gegenüber 2020 in Tausend, Prognose Zahl derer, die Informatik oder ein verwandtes Fach studieren. Unter den Top 20 aller Studienabschlüsse Öffentlicher Dienst, Erziehung, Gesundheit +190 lag Informatik im Jahr 2019 trotzdem gerade mal auf Platz 6, Wirtschaftsinformatik auf Platz 16. Betrachtet Gesamt +66 man nur Frauen, tauchen beide Fächer gar nicht auf – ein Problem bei einer so hohen Nachfrage nach Fach- IT +41 kräften. Schon seit Jahren versuchen Politik, Verbände Bau +29 und Unternehmen, MINT-Studienfächer attraktiver zu machen, gerade für Frauen – bislang mit mäßigem Land- und Forstwirtschaft, +2 Fischerei Erfolg. Aber, und das ist die gute Nachricht: Man muss Grundstücks- und gar nicht unbedingt Informatik studiert haben, um von Wohnungswesen +1 dem Boom zu profitieren. Aus Sicht von Rainer Strack, Senior Partner bei −4 Finanzwirtschaft BCG, könnten sogenannte Micro-Credentials die Lö- −14 Sonstige Dienstleister Klimaschutz- sung sein. Das sind akademische Abschlüsse, die man mit geringem zeitlichen Aufwand und oft online ab- −33 Handel, Verkehr, manager Borscz: Gastgewerbe »Ich wollte etwas solvieren kann, etwa nach dem eigentlichen Studium Unternehmens- Positives zur Welt oder parallel zum Job. »Wir werden sogenannte Brü- −53 dienstleister beitragen, etwas ckenbauer:innen brauchen«, sagt Strack. »Damit −93 Produzierendes Gewerbe Sinnvolles tun. ohne Bau Das mache ich jetzt meine ich Personal in einem klassischen Beruf, das zu- in meinem Job« sätzlich ein digitales Grundverständnis mitbringt.« S Quelle: IAB; Stand: März 2021 Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 23
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