POLITIK FÜR EINE DEMOKRATISCHE KULTUR DER ARBEITSWELT - Hans-Böckler-Stiftung
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DOSSIER Nr. 3, November 2019 POLITIK FÜR EINE DEMOKRATISCHE KULTUR DER ARBEITSWELT Hilmar Höhn DEMOKRATISCHE RENAISSANCE gegen kennt Fort- und Rückschritte. Der sozialen Ordnung der Weimarer Republik folgte in Nazi- Deutschland das Führerprinzip auch in den Betrie- In der Diskussion über die Arbeit steht deren Ord- ben. nung im Zentrum. Sie erscheint als Ergebnis von Ge- Mit der Fortschreibung des DGB-Index Gute Ar- setzen, Verordnungen und Erlassen, von Tarifverträ- beit wird der Output als Element des Entwicklungs- gen, Mitbestimmung oder Richterrecht. Vermessen standes der Kultur der Arbeit beschrieben. Es gibt wird, ob die Systeme ausreichend flexibel für den dazu Vorbedingungen: den Willen von Arbeitgebern, globalen Wettbewerb sind. Oder ob sie genügend sich als Tarifpartei zu organisieren, das Selbstver- soziale Sicherheit für die Beschäftigten garantieren. ständnis von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Die Gewerkschaften haben in dieser Debatte das mern und den daraus folgenden Organisationsgrad Leitbild der „Guten Arbeit“ verankert. Es schließt in Gewerkschaften. Traditionen spielen eine Rolle, Mitbestimmung ein, gerechte Bezahlung, einen Werte und natürlich die sich ändernden politischen nachhaltigen Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie Mehrheitsverhältnisse. Grob gesagt ist eine Kultur den Zugang von Beschäftigten zu Systemen sozialer der Arbeit demokratisch zu nennen, wenn ihre Orga- Sicherheit (IG Metall). nisation durch möglichst viele freie Wahlen und Ver- Wozu bedarf es noch einer Kultur der Arbeit? Was handlungen zwischen freien Vereinigungen für Bran- könnte sie sein? Arbeit ist in einem doppelten Sinn chen gelingt, um Entgelte und Arbeitsbedingungen Kultur: Sie ist selbst ein schöpferischer Prozess, aus dem Wettbewerb zu entziehen und den Vielen ein ihr gehen durch (mehr oder weniger) planvolles Han- gutes selbstbestimmtes Leben ermöglicht. deln Werte hervor. Zudem wird Arbeit in einem sozi- 30 lange Jahre hat sich diese Kultur zurückentwi- alen System erbracht. ckelt. Heute muss der Staat vielfach Löhne garantie- Kultur ist immer in Entwicklung. Die Möglichkei- ren, weil er als demokratischer und sozialer Rechts- ten des Menschen, schöpferisch tätig zu sein, hängt staat Armut trotz Arbeit nicht tolerieren kann. Neu- vom Bildungsstand und zur Verfügung stehenden erdings gibt es jedoch Anzeichen für eine Ressourcen und Technologien ab. Dieser Aspekt der demokratische Renaissance der Arbeitswelt. Dieses Arbeit ist eng mit der wissenschaftlichen und tech- Dossier handelt von der Traditionslinie demokrati- nischen Fortschritts verknüpft. scher Arbeit, ihrem Entwicklungsstand und dem Die sozialen Dimensionen der Kultur der Arbeit hin- Aufbruch der Gewerkschaften.
INHALT Demokratische Renaissance 1 Wege in eine solidarische Arbeitswelt – Die Gewerkschaften Kulturgut Arbeit 3 brechen in die Zukunft auf 42 1.1 Grundkonturen einer demokratischen 4.1. IG Metall organisiert die Vielfalt der Kultur der Arbeit 3 Interessen in Belegschaften neu 42 1.2 1918: Hugo Stinnes und Carl Legien „Wir sagen ja zu dieser Zukunft“ 43 schließen einen historischen Pakt 6 4.2 Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft Der Fall Wolfgang Streeck oder: gab den Anstoß für eine neue Arbeitszeit- Das wechselvolle Verhältnis von Demokratie und Beteiligungspolitik 44 und Kapitalismus 7 4.3 Gewerkschaft Nahrung-Genuss- 1.3 Das Grundgesetz greift den Pakt von Gaststätten lernt von Foodora-Ridern und 1918 auf 10 erzielt Erfolge im Häuserkampf 45 1.4 Soziale Ordnung durch Tarif- und 4.4 ver.di baut auf enge Verbindung zu Sozialpartnerschaft 10 Beschäftigten, erhöht den Druck und erzielt Unsicherheit, Ungerechtigkeit, Prekarität: außerordentliche Erfolge 47 Kultur der Arbeit am Scheideweg 12 4.5 IG BCE aktiviert Vertrauensleute und bereitet sich systematisch auf den Umbruch 2.1 Tarifbindung nimmt langsam aber in ihren Branchen vor 47 stetig ab 12 4.6 Die IG Metall erreicht die Trendwende 2.2 Sinkende Mitgliederzahlen, bei den Mitgliedern und sorgt sich nicht wachsende Ungerechtigkeit 13 mehr so sehr vor dem Gang der Baby-Boomer Arbeit in und mit der Blockchain? 14 in die Rente 48 2.3 Elf Millionen Menschen oder die Angst Die Generationen Y und Z oder der vorm Abrutschen in die unteren Etagen des Rückkehr des Politischen 50 Arbeitsmarktes 17 2.4 Mehr Betriebsräte im Jahresvergleich: Schlussbemerkung Zwischenhoch oder Trendwende? 19 Verhandeln oder behandelt werden 52 Die 40.000 Stunden des Jean Fourastié 21 „Das Thema Arbeitszeit ist wieder auf Bibliographie 55 dem Tisch“ 22 Autor 58 Gestaltung der Arbeit - eine Bewusstseinsfrage 27 3.1 Viele Arbeitgeber sind Gefangene des Irrwegs „Neue soziale Marktwirtschaft“ 27 3.2 Deutsche Sozial- und Tarifpartnerschaft organisierte sich nach Welt-Krisen neu 28 3.3 Arbeitgeberfunktionäre sind von ihrer Arbeit nicht überzeugt 28 „Der Zeitpunkt ist jetzt“ 31 3.4. Ohne Alternative: die Topf-Deckel- Strategie der Gewerkschaften 36 3.5 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zwischen Verunsicherung und Widerständigkeit: Nicht normale Normalität 36 3.6 Drei Welten der Arbeit 39 Europa und die Arbeit - Eine s pannungsreiche Beziehung 40 Dossier Nr. 3, 11.2019 · Seite 2
Kapitel 1 KULTURGUT ARBEIT Arbeit ist elementarer Bestandteil unserer Kultur. Wie die Musik, die wir hören, Bilder, die wir betrachten oder die Feste, die wir feiern, ist Arbeit Ausdruck menschlichen Handelns. Zwischen 18 und 65, bald wieder 67 Jahren beherrscht sie den Alltag der meisten Men- schen. Mehr Zeit als mit Arbeit verbringt der Mensch wohl nur mit Schlafen. Wonach aber wäre eine Kultur der Arbeit zu beschreiben? Und was macht sie demokratisch? 1.1 Grundkonturen einer demokratischen Kul- Arbeit ist genau genommen in einem doppelten Sinn tur der Arbeit ein Ausdruck von Kultur: Als schöpferischer Pro- zess, ausgeübt im Rahmen von (mehr oder weniger) Vereinfacht beschrieben ist Kultur das, was Men- planvoller Organisation. Eben diese über Generatio- schen mit dem, was sie vorfinden und dem was sie nen entwickelte Organisation ist selbst Ausdruck können, unternehmen. Deswegen gibt es nicht die von Kultur. Doch obwohl sie einen so großen Raum eine Kultur. Es gibt eine Vielfalt von Kulturbegrif- im Leben einnimmt, ist selten bis gar nicht von ihr fen: Pop-Kultur, politische Kultur, Alltagskultur die Rede. oder Esskultur. In ihrem ursprünglichen Sinn, schreibt der Kul- turwissenschaftler Ansgar Nünning, bezeichne Arbeit ist in doppeltem Sinne Kultur Kultur „das ‚vom Menschen Gemachte‘ bzw. das ‚gestaltend Hervorgebrachte‘ - im Gegensatz zu Arbeit wird schließlich nicht irgendwie erbracht. dem, was nicht vom Menschen geschaffen, son- Sie beruht auf Verträgen, auf den Parteien, die sie dern von Natur aus vorhanden ist“. (Nünning, abschließen, auf Gerichten, vor denen die Leistun- 2009) gen aus den Verträgen eingefordert werden kön- Arbeit wird nur in seltenen Ausnahmefällen den nen. Das Grundgesetz schafft in Artikel 9 Absatz 3 Künsten zugerechnet. In der Regel ist sie Teil der ausdrücklich jenen Raum der Freiheit, der es Ar- Alltagskultur, deren Bedeutung, so Nünning wei- beitnehmerinnen und Arbeitnehmern erlaubt, sich ter, darin bestehe, „dass z.B. Feiern, Feste und an- in Gewerkschaften zusammenzuschließen und ihre dere Rituale maßgeblich dazu beitragen, die kultu- Forderungen auch durch Arbeitskämpfe zu erzwin- rellen Werte und Normen einer Gesellschaft darzu- gen. stellen, sichtbar zu machen, weiterzugeben und zu In seiner Betrachtung über die Demokratie in erneuern“. Amerika schrieb der französische Publizist Alexis de Dossier Nr. 3 , 11.2019 · Seite 3
Tocqueville, an der Spitze von Neuerungen finde einsame Entscheidungen zu treffen. Regierung man „in Frankreich den Staat, in England einen und Parlament, Bundesebene, Länder und Gerich- Mann von Rang, in den Vereinigten Staaten werden te bilden ein auf wechselseitige Balance ausgerich- sie sicher einen Verband finden“. (Tocqueville, 1835) tetes System. „Amerika“, so der Politikwissenschaftler Michael Das Grundgesetz gibt für die Sphäre der Arbeit kei- Ehrke über Tocquevilles Beobachtung, „konnte ne Organisationsgrundsätze vor. Ob und wie sie sich einen schwachen Zentralstaat leisten, weil es durch freie Vereinigungen geordnet wird, wie die über eine starke Zivilgesellschaft verfügte“. (Ehrke, Machtverhältnisse in der Arbeitswelt ausbalanciert 2001) werden, entscheiden letzten Endes die Menschen. Von der Freiheit Gebrauch zu machen, heißt, Zeit und Ressourcen zu geben, sonst wird es nicht Tocqueville oder der „Geschmack der Freiheit“ gelingen die „Arbeits- und Wirtschaftsbedingun- gen“ auf dem Verhandlungsweg, wenn nötig nach Die Bürger regelten auf der lokalen Ebene ihre An- dem Umweg eines Arbeitskampfes, zu ordnen. gelegenheiten selbst. So, fasst Ehrke Tocqueville Das Grundgesetz mutet den Bürgerinnen und Bür- weiter zusammen, „lernen sie nicht nur in Praxis, gern einiges zu. Eine demokratische Kultur der Ar- wie die Demokratie funktioniert, sondern entwi- beit gelingt nur, wenn viele wenigstens dann und ckeln auch ein positives emotionales Verhältnis zur wann die Komfortzone verlassen. öffentlichen Beteiligung: Sie finden ‚Geschmack an der Freiheit‘“. Die Bundesrepublik Deutschland ist freilich alles Ohne Engagement gelingt keine Demokratie andere als ein schwacher Staat. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände haben - anders als in der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände füllen Weimarer Reichsverfassung im Grundgesetz kei- just jene Funktion aus, die Tocqueville für die Zivil- nen festen Platz. Sie erscheinen in Artikel 9.3 unse- gesellschaft vorsah. Handlungsmächtige und hand- rer Verfassung als Möglichkeit: „Das Recht, zur lungswillige Tarifparteien halten den Staat von sen- Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirt- siblen Punkten unserer Gesellschaft fern: Den ma- schaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist teriellen Grundlagen der privaten Haushalte und für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.“ der Unternehmen. Verträge zwischen beiden Par- Vor diesem Hintergrund obliegt es jeder Generati- teien entscheiden über die Möglichkeit der Vielen, on in ihrer beruflich aktiven Zeit, jenen „Ge- am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und es zu schmack an der Freiheit“ zu finden. Oder nicht. gestalten. Der Staatsrechtler Hans Kelsen, einer der Vor- Deswegen ist die Kultur der Arbeit keineswegs denker des Grundgesetzes, hat sich in seiner durch die bloße Aufzählung von Gesetzen, Verord- Schrift „Was ist Gerechtigkeit?“ mit der Frage be- nungen und Verträgen zu beschreiben. Auch ge- fasst, wie denn selbige erreicht werden könne. Er nügt es nicht, die tatsächlichen, möglicherweise verwirft das „kommunistische Gerechtigkeitsprin- abweichenden Realitäten von Arbeit abzubilden. zip“ als „typische Utopie eines in die Zukunft ver- Um den Stand der Entwicklung der Kultur der legten goldenen Zeitalters“. (Kelsen, 1953) Arbeit zu vermessen, muss zuerst die Bereitschaft Er widerspricht der auf den antiken Philosophen der Bürgerinnen und Bürger, sich zu Gewerkschaf- Aristoteles zurückgehende Idee, das ideale Maß ten und von Unternehmen, sich zu Verbänden zu- könne als Mitte zwischen Extremen bestimmt wer- sammenzuschließen, betrachtet werden. den. Die Formel laufe darauf hinaus, „dass gut ist, was nach der bestehenden Gesellschaftsordnung gut ist.“ Kelsen resümiert, er wisse nicht und kön- Organisationskraft ist die Grundlage für eine nen nicht sagen, was Gerechtigkeit ist, die absolu- demokratische Ordnung der Arbeit te Gerechtigkeit, „dieser schöne Traum der Menschheit“. Organisationskraft ist – da der Staat das Feld den Er begnüge sich mit der „relativen Gerechtig- Tarifparteien überlässt – der Ausgangspunkt für keit“, dies sei „die Gerechtigkeit der Freiheit, die eine demokratische Ordnung der Arbeit. Verträge Gerechtigkeit des Friedens, die Gerechtigkeit der und Verordnungen und Gesetze ohne Anhänger Demokratie, die Gerechtigkeit der Toleranz.“ sind vergänglich. Sie können leicht übergangen Das Grundgesetz ist durchzogen von dieser werden. Der Volksmund hat dafür eine Redensart Grundidee. Es vertritt kein absolutes Maß. Unsere geschaffen: „Wo kein Kläger, da kein Richter“. Zie- Verfassung ist auf das Prinzip von Verhandeln und hen die Menschen sich aus Organisationen oder der Balance von Interessen ausgelegt. Organisationen von den Menschen zurück, dauert Deutlich wird dies an der Verortung von Macht. es nicht lange, bis Verträge wertlos werden und Anders als in Präsidialdemokratien gibt es im Gefü- Gesetze keine Anwendung mehr finden. ge der Bundesrepublik keinen Ort, an dem eine In- Kultur baut auf Traditionen. Ein Versuch, eine stitution mit so viel Macht ausgestattet wäre, um solche Tradition zu entwickeln, war die Mitte der Dossier Nr. 3, 11.2019 · Seite 4
80er Jahre unternommene Definition eines „Nor- malarbeitsverhältnisses“. Der Arbeitsmarktexperte Rainer Dombois fasst die Prinzipien zusammen: – Abhängige Erwerbsarbeit ist die einzige Ein- kommens- und Versorgungsquelle. Sie wird in Vollzeit verrichtet und verschafft mindestens ein existenzsicherndes Einkommen. Das Ar- beitsverhältnis ist unbefristet, im Prinzip auf Dauer angelegt und in ein engmaschiges Netz von rechtlichen und tariflichen Normen einge- nen Arbeits- und Ehebiographien, Massenarbeits- woben, die Vertragsbedingungen und soziale losigkeit und das Wachstum des Arbeitsmarktes in Sicherungen regeln. Auch die zeitliche Organi- geringer regulierten Dienstleistungssektoren ver- sation der Arbeit – Länge und Lage der Arbeits- änderten die Kultur der Arbeit. Die Erneuerung ging zeit - wird standardisiert. einher mit einem geringeren Maß an Sicherheiten für einen wachsenden Anteil der Beschäftigten. – Das Arbeitsverhältnis bildet einen mehr oder Die Entwicklung macht ganz praktisch deutlich, weniger langen Abschnitt einer kontinuierli- was diese „Zumutung der Freiheit“ letzten Endes chen Erwerbsbiografie, die allenfalls durch kur- bedeutet. Sie kann zu einem höheren oder - wie im ze Phasen der Arbeitslosigkeit unterbrochen ist. Fall des Übergangs von der Industrie- zur Dienst- Alter, Beschäftigungsdauer, vor allem aber Be- leistungsgesellschaft - einem niedrigeren Niveau triebszugehörigkeit drücken sich in zunehmen- von demokratischer und sozialer Ordnung führen. den Statusrechten und -sicherungen aus. Tat- sächlich sind Erwerbsverläufe nicht nur durch den Beruf, sondern auch durch strikte Alters- Welches gesellschaftliche Selbstverständnis und Senioritätsnormen strukturiert und neh- treibt die heute aktive Generation von Arbeit- men die Form von ‚Normalbiografien‘ an, die nehmerinnen und Arbeitnehmer bzw. Arbeitge- durch karriereförmige Muster der Stabilisierung bern? oder Verbesserung des beruflichen Status charakterisiert werden.“ Um den demokratischen Charakter einer Kultur der Arbeit zu vermessen, müssen eine ganze Reihe an Die Ironie an der Definition ist, dass sie zu einem Parametern betrachtet werden: Zeitpunkt vorgenommen wurde, als die Industriear- – Werden Entgelte und Arbeitsbedingungen de- beit als ökonomische Basis dieses Modells zu brö- mokratisch und auf Augenhöhe verhandelt ckeln begonnen hatte. Dombois schrieb 1999, die oder vorgegeben? Werden sie Betrieb für Be- gängigen Definitionen waren also keine zwanzig trieb erstritten? Oder schaffen Verhandlungen Jahre alt: in einer Branche oder für mehrere verwandte „Bereits in der normativen Konstruktion wurden Branchen soziale Gerechtigkeit, weil sie die aber Formen der Ungleichheit festgeschrieben. Löhne dem Wettbewerb entziehen? Dies drückt sich etwa in Schutzfunktionen aus, die – Wie hoch ist der Organisationsgrad auf beiden direkt oder indirekt an die Betriebsgröße gekoppelt Seiten der Konflikt- oder Sozialpartnerschaft? sind und Beschäftigte in Großbetrieben mit etab- – Welche ernst zu nehmenden Anstrengungen lierten Mitbestimmungsorganen und kompromiss- unternehmen die an der Kultur beteiligten Or- förmigen Personalpolitiken privilegieren. Aber ganisationen, um neue Mitglieder zu gewin- auch faktisch waren große Gruppen von Personen nen, die bereit sind, in die Auseinandersetzung von den sozialen Stabilitäts- und Sicherungsver- um die Bedingungen der Arbeit zu gehen? sprechen des Normalarbeitsverhältnisses ausge- Oder arbeiten sie an ihrer eigenen Überflüssig- schlossen. Das Normalarbeitsverhältnis schien keit? zwar universalistische Maßstäbe zu setzen, unter- – Ganz entscheidend ist, welches gesellschaftli- stellte aber eine Normalität von Lebensverhältnis- che Selbstverständnis treibt die heute aktive sen, die nur für einen Teil der Bevölkerung galt. Generation von Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Frauen etwa waren von den materiellen und sozia- nehmer bzw. Arbeitgebern? Drei Kategorien len Sicherungen des Normalarbeitsverhältnisses sind denkbar: Verstehen sie Mitgliedschaft als weitgehend ausgeschlossen, weil sie im Rahmen Willen, die Arbeit demokratisch und sozial zu des herkömmlichen Geschlechterarrangements gestalten? Sind sie nur bereit, gesellschaftlich der ‚männlichen Versorgerehe bzw. Hausfrauene- erwünschte Vorgaben einzulösen? Oder sind he‘ nicht oder nicht voll und kontinuierlich er- sie gar bereit, die Aufgabe der Ordnung der Ar- werbstätig sein konnten oder wollten.“ (Dombois, beit letzten Endes in die Hand des Staates zu 1999) übergeben? Die Emanzipation von Frauen in Gesellschaft, Werner Widuckel, früher in der Mitbestimmung Wirtschaft und Arbeitswelt, die brüchig geworde- erst bei VW, dann Arbeitsdirektor von Audi und Dossier Nr. 3 , 11.2019 · Seite 5
heute Professor für Personalwesen an der Fried- Mehrheit im Paulskirchenparlament. Vieles von rich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, hat dem, was 1848 aufnotiert wurde, wurde „erst den Begriff der Arbeitskultur als Amalgam von Ar- durch das Betriebsrätegesetz v. 4. 2. 1920 in die Tat beitsorganisation, Arbeitswirklichkeit, privatem Le- umgesetzt“. (Kraushaar, 1990) benshintergrund sowie politischen und gesell- Dass dieses Gesetz verabschiedet werden konn- schaftlichen Strukturen beschrieben. te, hat seinen Anfang im November 1918, als nach der Niederlage des Deutschen Reiches im 1. Welt- krieg eine Revolution drohte Die Kultur der Arbeit ist reich an Spannungen Millionen Männer waren vom Kaiser, seinen Marschällen und Offizieren in den Tod geschickt Das Besondere an der Kultur der Arbeit: Die Interes- worden. Wer überlebt hatte, hatte Brüder, Freunde sen der Beteiligten sind mit Blick auf die Prosperität und Verwandte verloren. Viele waren an Körper und eines Unternehmens, einer Branche oder der Ge- Seele verletzt. samtwirtschaft ähnlich gelagert. Geht es jedoch um Deutschland war in Aufruhr. Am 9. November - Themen der Verteilung oder der Wahrnehmung in- der Kaiser war gerade ins Exil gegangen - wurde in dividueller oder kollektiver Rechte im Betrieb, ste- der Berlin gleich zwei Mal eine Republik ausgeru- hen Beschäftigte, ihre Gewerkschaften und Be- fen. Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann pro- triebsräte im handfesten Widerspruch zu den Inter- klamierte vom Balkon des Reichstages die „Deut- essen der Arbeitgeber. Der kann durch einen guten sche Republik“. Kompromiss aufgelöst, jedoch niemals überwun- Wenige hundert Meter weiter und wenige Stun- den werden. den später rief Karl Liebknecht im Berliner Lustgar- Keine einfache Ausgangslage also, um am Ende ten vor dem verlassenen Stadtschloss die „freie so- eine gemeinsame Kultur zu erschaffen, zu erhalten zialistische Republik Deutschlands“ aus. oder besser noch: weiter zu entwickeln. Darauf stürmte die Menge das Schloss. Auf dem Der Entwicklungsstand einer Kultur der Arbeit Balkon ergriff Liebknecht erneut das Wort. Er rief kann hoch sein oder niedrig. Gute Arbeit könnte der Menge zu, es werde keine Knechte mehr geben das Ergebnis staatlicher Gesetze und Verordnun- und „jeder ehrliche Arbeiter“ werde „den ehrlichen gen sowie einer strengen Überwachung sein. Lohn seiner Arbeit finden“. Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Be- Die Ausrufung der Republik hatte Scheidemann triebsräte sind jedoch näher an der Realität der Ar- nicht geplant. Er wollte nur Liebknecht zuvorkom- beitswelt als der Gesetzgeber. Sie kennen die in- men. Laut der Steno-Mitschrift eines anwesenden zwischen sehr voneinander verschiedenen Bedin- Journalisten konzentrierte sich Scheidemann dar- gungen in ihren Betrieben, Unternehmen und auf, die seit der Abdankung des Kaisers gerade we- Branchen. Wenn aus den Betrieben und Verwaltun- nige Stunden alte Republik zum Garanten allgemei- gen heraus gewählte Vertreter die Ordnung der Ar- ner Sicherheit zu erklären. beit selbst regeln, ist dies gegenüber einer Rege- lung durch den Gesetzgeber notwendigerweise auf hohem Abstraktionsniveau ein Gewinn an Demo- Die Republik nicht gefährden kratie. Für eine hoch entwickelte Wirtschaft, geprägt Der Sozialdemokrat Friedrich Ebert „ist zum Reichs- durch engmaschig miteinander verwobene Wert- kanzler ausgerufen worden“. Seiner Regierung wür- schöpfungsketten, erscheint eine ebenso hoch ent- den „alle sozialistischen Parteien angehören“. Er wickelte Kultur der Arbeit als logische Konsequenz. bat die Menge, dass „keine Störung der Sicherheit“ Es ist aber anders. Davon wird noch die Rede sein. eintrete. Vertreter des Militärs seien beauftragt wor- den dafür zu sorgen, „dass die neue deutsche Repu- blik, die wir errichten werden, nicht durch irgendet- 1.2 1918: Hugo Stinnes und Carl Legien schlie- was gefährdet werde“. ßen einen historischen Pakt Nach heftigen Kämpfen setzte sich die Linie von Scheidemann und Ebert durch. Die Geschichte des Parlamentarismus beginnt in In dieser unruhigen Zeit, am 15. November 1918, Deutschland auch mit dem Versuch, den Rahmen schlossen stellvertretend für 21 Arbeitgeberver- für eine demokratische Arbeitskultur abzustecken. bände und sieben Gewerkschaften, der Ruhrindus- Fabrikausschüsse sollten in Betrieben und auf regi- trielle Hugo Stinnes, und der Vorsitzende der Gene- onaler Ebene gebildet werden, empfahl der Aus- ralkommission der Gewerkschaften Deutschlands, schuss für Volkswirtschaft des Paulskirchenparla- Carl Legien, den nach ihnen benannten Pakt. Die mentes 1849. In ihnen sollten Arbeitgeber, Werk- Gewerkschaften bezogen Stellung zu Gunsten der meister und Vertreter der Beschäftigten vertreten „deutschen Republik“ Scheidemanns. Sie wollten sein und die Geschicke des Unternehmens und der sie gestalten, nicht bekämpfen. sozialen Belange der Beschäftigten aushandeln. Die Empfehlung scheiterte an der konservativen Dossier Nr. 3, 11.2019 · Seite 6
DER FALL WOLFGANG STREECK ODER: DAS WECHSELVOLLE VERHÄLTNIS VON DEMOKRATIE UND KAPITALISMUS Wolfgang Streeck ist einer der führenden führenden Sozialwissenschaftler der Republik. Eine he- rausragende Rolle spielte der inzwischen emeritierte Professor als Ratgeber der beiden Kabinet- te Schröder-Fischer um die Jahrhundertwende. Inzwischen sieht er die Demokratie und den Ka- pitalismus selbst durch einen Sieg des Kapitalismus in Gefahr. Streeck, damals Direktor des Max-Planck-Instituts zu reflektieren (Streeck, 2017). Inzwischen nennt für Gesellschaftsforschung, formulierte mit Rolf er diese Zeit, die auch die seine war, „Jahre der Heinze, Professor der Ruhr Universität in Bochum, neoliberalen Verwüstung“. einen ersten Katalog von Reformen. Die beiden In seinen - auch unter Gewerkschafterinnen und hatten ihn mit einem Kreis anderer Intellektueller Gewerkschaftern - viel diskutierten neuen Thesen erarbeitet. entwirft Streeck das Bild eines Kapitalismus, der Im Zentrum ihrer Argumentation stand die Aus- über das demokratische Prinzip gesiegt habe und sage, der Kapitalismus sei in ein Entwicklungssta- nun - da sein Korrektiv fehle - zu seiner eigenen dium eingetreten, in dem sich der Sozialstaat einer Überdosis werde. veränderten Wirklichkeit anpassen müsse. Hier und da könne er „‚von unten’ kommende Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Vorruhe- Bemühungen um eine Wiederinbetriebnahme de- stand galten als nicht mehr zeitgemäß, „Gerech- mokratischer Institutionen im Dienst einer ‘Gegen- tigkeitsvorstellungen aus der Nachkriegszeit“ bewegung’ gegen den von außen beschleunigten müssten überdacht werden. Es brauche mehr kapitalistischen Modernisierungsprozess” beob- Dienstleistungen und weniger Industrie. Dienst- achten. leistungen, so das Papier der Wissenschaftler, Es bleibt unklar, wen Streeck damit meint. Eine müssten ja nicht prekär sein. Dazu gehörten genauere Beschäftigung mit den Anstrengungen schließlich auch Werber, Software-Entwickler der Gewerkschaften um eine Ausbreitung des So- oder Berater. Sie warben für eine „höhere zialen und des Demokratischen in der Arbeitswelt Lohnspreizung”. „Billigjobs für Geringqualifizier- geht damit offenkundig nicht einher. te“, unkte das Magazin Der Spiegel unter Bezug- Streeck bleibt abstrakt. Er prophezeit. Er sagt, nahme auf das Streeck-Heinze-Papier, gelte bei der Kapitalismus werde an seiner Überdosis schei- „vielen SPD-Traditionalisten noch immer als Tabu“. tern und weiter: „Wir müssen uns von der geläufi- Und Tabus waren zum brechen da. Es war die Zeit gen Vorstellung lösen, dass eine Gesellschaft nur der Grenzüberschreitungen des Sozialen. (Der dann zu Ende gehen kann, wenn eine Nachfolge- Spiegel, 1999) gesellschaft bereitsteht“. Man müsse sich also das Der, der für den Abschied vom „Alten Denken“ Ende des Kapitalismus auch „als Übergang aus warb, schrieb 2011 in der Zeitschrift Lettre plötz- Ordnung in Unordnung vorstellen“. lich über den drohenden Sieg des Kapitalismus Für Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter über die Demokratie. Insbesondere die Versuche mag die Analyse über den Entwicklungszustand sozialdemokratischer Regierungen in den zehn des Kapitalismus interessant sein. Einen Nutzen Jahren vor und nach der Jahrhundertwende be- stellt für das tägliche Ringen um eine demokrati- schrieb Wolfgang Streeck nun als Kapitulation vor sche Arbeitswelt, eine soziale Gesellschaft und einem global entfesselten Kapitalismus. Seine eine ökologische Wirtschafts- und Lebensweise Thesen hat er inzwischen weiterentwickelt. nicht dar. Von ihr geht anders als in Zeiten des Den Hörern des Südwestrundfunks deutete er Agenda 2010 keine Handlungsempfehlungen aus, die Wende von den 1970er in die 2000er Jahre so: ihr Fatalismus wirkt im schlimmsten Fall desillusio- Bis in die 1970er Jahre hinein seien die Vertei- nierend. Vor allem negiert die Behauptung eines lungskonflikte „noch unmittelbar erfahrbar” ge- mechanistischen Prinzips das Bemühen von zehn- wesen, in den 1980er Jahren ging es nurmehr um tausenden haupt- und ehrenamtlichen Gewerk- die Verteidigung „sogenannter sozialer Besitzstän- schafterinnen und Gewerkschaftern, Betriebs- de”. Danach wurden diese „über kurz oder lang räten, Vertrauensleuten und Aufsichtsräten, das von allen ‘verantwortlichen’ Parteien für ‘unhalt- Demokratische in Wirtschaft und Arbeitswelt wie- bar’ erklärt”, sagt Streeck - ohne die eigene Rolle der zu stärker Geltung zu verhelfen. Dossier Nr. 3 , 11.2019 · Seite 7
„Unternehmer wurden durch Fürsprache von darin vereinbarte Zentralarbeitsgemeinschaft 1924 Gewerkschaften rehabilitiert“ scheiterte, wurde er „zu einem Meilenstein in der Entwicklung kooperativer Arbeitsbeziehungen Satz 1 des Abkommens lautete: „Die Gewerkschaf- und damit zum Vorläufer der bundesdeutschen ten werden als berufene Vertreter der Arbeiter- Sozialpartnerschaft“, schreibt der Politikwissen- schaft anerkannt.“ Vereinbart wurden die Einfüh- schaftler Schröder. rung des 8-Stunden-Tages (mit vollem Lohnaus- Die Menschen hofften, dass die Gewerkschaf- gleich), die Regelung der Arbeitsbedingungen ten ihnen soziale Sicherheit garantieren könnten. durch Tarifverträge und die Gründung eines, zu Doch schon nach der Hyperinflation von 1923 wa- gleichen Teilen von Arbeitgeber- und Arbeitneh- ren die Kassen der Gewerkschaften leer. Michael mervertretern besetzten Zentralausschusses, der Kittner: „Tatsächlich war die Lage der Gewerk- helfen sollte, die Demobilisierung zu organisieren. schaften bereits seit 1924 prekär. ‘Die Inflation hat Die Interessen am Zustandekommen des Paktes alle Papiermarkguthaben der Gewerkschaften ver- waren nicht deckungsgleich. Dazu der Politikwis- nichtet’“, zitiert der ehemalige Justitiar der IG Me- senschaftler Wolfgang Schröder: „Was für die tall die „Gewerkschaftszeitung“ von Anfang des Mehrheit der Unternehmer ein situatives Not- und Jahres 1924 (Kittner, 2005). Zweckbündnis war, bedeutete für die Gewerk- Arbeitskämpfe konnten nicht mehr aus dem schaften nicht nur die Anerkennung als gleichbe- Vermögen, mussten aus dem Laufenden finanziert rechtigter Partner, sondern auch die Erfüllung eines werden. Entsprechend gering war ihre Durchset- lange verfolgten Zieles.“ (Schröder, 2018) zungsfähigkeit in Arbeitskämpfen. Der Pakt leistete zunächst, was er sollte. Die Der Organisationsgrad der Gewerkschaften deutsche Wirtschaft fing sich und kehrte von nied- sackte in den Krisenjahren 1923/24 in sich zusam- rigem Niveau zurück auf den Wachstumspfad. Die men. Das beste Jahr hatte die in Richtungsorgani- Gewerkschaften sorgten dafür, dass die Arbeiter sationen zersplitterte Bewegung 1920 mit mehr und Angestellten von diesem Wachstum profitier- als zehn Millionen Mitgliedern. Danach ging es ten. Schröder: „Ende 1918 arbeiteten 1,1 Mio. Be- steil bergab. 1924 waren davon keine sechs Millio- schäftigte in Betrieben mit geltenden tariflichen nen Mitglieder mehr übrig. Vereinbarungen; vier Jahre später waren es bereits Heftige Streiks und Massenaussperrungen 14 Millionen.“ wechselten einander ab. Gegen Ende der Republik Der 8-Stunden-Tag überlebte die Wirtschafts- waren viele der Arbeitskämpfe politisch motiviert. krisen der 20er Jahre allerdings nicht. Einige der Und eine große Zahl von Arbeitgebern bekannte Unterzeichner auf Arbeitgeberseite schlossen sich sich nun offen als Gegner der Republik. weit vor 1933 Organisationen an, welche die Re- Die Gewerkschaften dagegen wollten sie befes- publik militant bekämpften. tigen. 1928 verabschiedeten die Delegierten des Auch wenn der Pakt nicht lange hielt und die Hamburger Gewerkschaftskongresses ein Pro- Tarifpolitik, Arbeitskampf und staatliche Schlichtung Gewerkschaften in der Weimarer Republik Christliche H-Duncker- Freie Arbeiter AfA-Bund (Arbeiter) Gedag sche(Arbeiter) GDA 1918 2.866.012 538.559 113.792 1919 7.337.477 1.000.770 189.831 1920 8.032.057 689.806 1.105.894 463.199 225.998 1921 7.751.689 609.626 1.028.900 422.845 224.597 300.357 1922 7.821.558 658.234 1.033.508 460.086 230.612 302.254 1923 5.817.258 618.097 806.992 408.773 216.497 294.241 1924 4.023.867 447.201 612.952 260.796 147.280 260.796 1930 4.716.569 459.840 778.863 591.520 163.302 335.428 1931 4.134.902 434.974 698.472 593.800 149.804 327.742 1932* 3.500.000 – – – – – * Für 1932 liegen keine Zahlen mehr vor, diejenigen für den ADGB ist geschätzt. Quelle: Schneider, Gewerkschaften Dossier Nr. 3, 11.2019 · Seite 8
gramm zur Wirtschaftsdemokratie. Das von einer kommentierte die entsprechende Notverordnung Gruppe von Wissenschaftlern um den Publizisten der Reichsregierung: „Nach meiner Ansicht müs- Fritz Naphtali für den Allgemeinen Deutschen Ge- sen in dieser schweren Zeit die Tariffesseln fallen werkschaftsbund (ADGB) entwickelte Programm und muss es jedem einzelnen Unternehmer über- zielte darauf ab, Gestaltung und Steuerung der lassen bleiben, mit seiner Angestellten- und Arbei- Wirtschaftsprozesse demokratisch zu organisie- terschaft in freier Vereinbarung unter Ausschal- ren. tung aller kollektiven, betriebsfremden Einflüsse Wie viele - auch bürgerliche Wissenschaftler Gehälter, Löhne und Arbeitszeit nach Erfordernis- und Politiker - waren die Gewerkschaften nach sen des eigenen Unternehmens festzulegen.” den Krisen der 20er Jahre davon überzeugt, dass Am Ende von Weimar war nicht nur zu wenig die kapitalistische Wirtschaftsweise in nicht allzu Zeit geblieben, damit eine demokratische Kultur ferner Zukunft einer höheren, intelligenteren Ord- der Arbeit heranwachsen konnte. Die auf Verhand- nung der Wirtschaft weichen werde. In seinem lungen und Kompromisse aufbauende Demokratie Referat von 1928 spricht Naphtali davon, dass der hatte kaum mehr Anhänger, vor allem aber Feinde Kapitalismus „bevor er gebrochen wird, auch ge- - nicht zuletzt im Lager der Arbeitgeber und der bogen werden“ könne. (Naphtali, 1928) Großindustrie. Solange jedoch der Kapitalismus noch nicht de- mokratisiert und das Chaos der Märkte noch nicht durch planvolles Handeln ersetzt war, machten Führerprinzip statt Demokratie sich die Gewerkschaften Sorgen, wie er nicht schon in der Weltwirtschaftskrise 1929 vorzeitig Am 2. Mai 1933 wurden die Gewerkschaften zer- zu Bruch gehen würde. schlagen, ihre Funktionärinnen und Funktionäre willkürlich verhaftet und eine Arbeitsorganisation geschaffen, in der unter dem Zwang des NS-Regi- Der WTB-Plan: Ein proto-keynesianisches Pro- mes Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu ei- gramm ner nach dem Führerprinzip geordneten Betriebs- gemeinschaft gezwungen wurden. Die Arbeitge- Allenfalls unter der Leitung von Naphtali erarbeite- ber ernteten die Früchte ihrer größtenteils gegen te der Wissenschaftler Wladimir Woytinski ge- die Republik gerichtete Politik. Im Nazi-Deutsch- meinsam mit dem Holzarbeitergewerkschafter land erreichte die Kultur der Arbeit einen absoluten Fritz Tarnow und dem Wirtschaftswissenschaftler Tiefpunkt: Der §1 des „Gesetzes zur Ordnung der Fritz Baade ein Konzept für eine „expansive, kredit- nationalen Arbeit“ von 1934 machte deutlich: „Im finanzierte, kaufkraftorientierte Investitionsstrate- Betriebe arbeiten der Unternehmer als Führer des gie” gegen die Krise (Tenfelde, 2006). Nach den Betriebes, die Angestellten als Gefolgschaft ge- ersten Buchstaben ihrer Vornamen wurde das pro- meinsam zur Förderung der Betriebszwecke und to-keynesianische Wirtschaftsprogramm auch un- zum gemeinsamen Nutzen von Volk und Staat.“ ter dem Namen „WTB-Plan“ bekannt. So wollten die Gewerkschaften die Republik und die Grundla- gen für eine demokratische Kultur der Arbeit ret- 1.3 Das Grundgesetz greift den Pakt von ten. 1918 auf Einige Arbeitgeberverbände dagegen verfolg- ten einen ganz anderen Plan: Sie kündigten den 1949 war nicht nur das Gründungsjahr der Bun- mit den Gewerkschaften geschlossenen Tarifver- desrepublik Deutschland: Am 8. Mai nahm der trägen die Verbindlichkeit. 1931 empfahl der Wirt- Parlamentarische Rat das Grundgesetz mit 53 ge- schaftsbeirat der Reichsregierung: „Im Rahmen gen 12 Stimmen an. Am 13. Oktober 1949 gründe- eines ausreichenden Gesamtprogramms erscheint ten die Delegierten von 16 Branchengewerkschaf- eine entsprechende Senkung von Löhnen und Ge- ten in München den Deutschen Gewerkschafts- hältern unvermeidlich.“ Der Inhalt von Tarifverträ- bund (DGB). Die Bundesvereinigung der Deutschen gen müsse sich „mehr als bisher der wirtschaftli- Arbeitgeberverbände entstand im gleichen Jahr chen Entwicklung anpassen“. Am 8. Dezember wenn auch in Etappen. 1931 setzte die Regierung Brüning diese Empfeh- Die Satzungen beider Organisationen wurden - lungen um. wenn man so will - zu einer Art von Nebenverfas- sungen der Bundesrepublik. Auch wenn das Grundgesetz Gewerkschaften und Arbeitgeber- „Tariffesseln müssen fallen“ verbände institutionell nicht verankerte, fanden Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter ausrei- „Inzwischen hatte sich die Haltung der Schwerin- chend Ansatzpunkte, um zu der jungen Republik dustrie weiter radikalisiert“, schreibt Michael Kitt- zu stehen und sie zu prägen. Das waren vor allem: ner. Der Sprecher der Branche und damit so etwas – Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen wie ein Nachfolger von Hugo Stinnes, Paul Reusch, (Artikel 1) Dossier Nr. 3 , 11.2019 · Seite 9
– Die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9.3) dass es Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter – Die Bindung des Privateigentums an das Ge- waren, die bei den Alliierten als Fürsprecher für die meinwohl (Artikel 14) vielen Unternehmer und Manager auftraten. Denn – Die Möglichkeit zur Sozialisierung (Artikel 15) in Folge ihres Arrangements mit dem nationalsozia- – Die Festlegung der BRD als demokratischer listischen Verbrecherregime war vielen Spitzen der und sozialer Rechtsstaat (Artikel 20) deutschen Wirtschaft zunächst die Rückkehr zu – Die Beachtung sozialer Rechtsgrundsätze (Arti- Ansehen und gesellschaftlicher Macht verwehrt: kel 28) „Es waren die deutschen Unternehmer, die durch – Die Zuständigkeit des Bundes für die Sozialge- die Fürsprache der Gewerkschaften schneller als setzgebung (Artikel 47) erwartet wieder zu tragenden Säulen der bundes- deutschen Gesellschaft wurden.“ (Schröder 2003) Die ersten Bundestagswahlen hatten jedoch nicht Anders als sie es sich erhofft hatten, wurden die die der Mehrheit der Gewerkschafterinnen und Ge- Gewerkschaften dann „zu einem exponierten Ak- werkschaftern nahestehende SPD mit einem Re- teur des ‚Modells Deutschland‘“, schreibt Wolf- gierungsauftrag versehen, sondern die CDU. gang Schröder. Nachdem sie sich zunächst von Im Bündnis mit der damals weitgehend autori- dem Ziel einer tiefen Mitgestaltung der wirtschaftli- tär-konservativen FDP und der deutschnationalen chen Prozesse und der unternehmerischen Ent- Deutschen Partei formte Konrad Adenauer eine scheidungen verabschieden mussten, setzten sie Koalition. Man wollte keinen demokratischen und ihre ganze Kraft auf das Instrument der Tarifpolitik. sozialen Fortschritt. Die konservativ bis reaktionä- Teils heftige Arbeitskämpfe waren die Folge, wie re Parlamentsmehrheit nutzte die noch offene Situ- um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Schrö- ation und drückte der noch jungen Republik ihren der bilanziert die Jahre so: „Die Fähigkeit der Ge- Stempel auf. werkschaften, wirtschaftliche Leistungssteige- Es gelang den Gewerkschaften noch, dem res- rung, soziale und demokratische Teilhabe sowie so- taurativen Kabinett Adenauer die Montanmitbe- zialen Frieden zu verbinden”, machte sie zu einem stimmung in der Eisen- und Stahlindustrie sowie Schlüsselakteur der Wirtschaftswunderjahre. im Bergbau abzuringen. Viele Gewerkschafterin- nen und Gewerkschafter jubelten. So schrieb etwa der Redakteur der Gewerkschaftlichen Monatshef- 1.4 Soziale Ordnung durch Tarif- und Sozialpart- te, Walter Pahl, nach der Verabschiedung des Ge- nerschaft setzes, „ein Tor zu einer neuen Sozialordnung sei aufgestoßen worden“ (Pahl, 1951). Zunehmend prägten Tarifverträge und Betriebsräte Doch das Tor wurde ganz schnell wieder ver- die Arbeitsbedingungen in dem von der Industrie schlossen. Als die Gewerkschaften diese weitge- geprägten Nachkriegsdeutschland. In den 1960er hende Mitbestimmung auf alle Großunternehmen Jahren waren nahezu die Hälfte der Arbeitneh- ausdehnen wollten, scheiterten sie an Adenauers merinnen und Arbeitnehmer im verarbeitenden Ge- Mehrheit. werbe beschäftigt. Damals erreichte der Deckungs- Das 1952 verabschiedete Betriebsverfassungs- grad der Flächentarifverträge in der IG Metall noch gesetz reichte nicht im Ansatz an die Vorstellungen die Marke von knapp über 80 Prozent (IG Metall, der Gewerkschaften heran. Das Kabinett Adenau- 2016). er gestand der organisierten Arbeitnehmerschaft 2016 waren nurmehr ein Viertel der Arbeitneh- nur eine sehr eingeschränkte Mitbestimmung in merinnen und Arbeitnehmer direkt in der Industrie den Betrieben und einen Platz am Katzentisch in beschäftigt. Der Deckungsgrad der Flächentarif- den Aufsichtsräten großer Kapitalgesellschaften verträge ist mittlerweile auf rund 50 Prozent abge- zu. sunken - im Westen etwas darüber, in Ostdeutsch- Was in den Jahren danach folgte, war ein zähes land weit darunter. Ringen mit den erstarkten Arbeitgeberverbänden In den Dienstleistungsbranchen, in denen inzwi- um Lohn- und Gehaltssteigerungen, um kürzere schen drei von vier Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Arbeitszeiten und eine bessere soziale Sicherung. nehmer beschäftigt sind, lag die Sicherung durch Die frühe Bundesrepublik war eine ausgeprägte Flächentarifverträge 2014 deutlich unter dem Mit- Klassengesellschaft - Arbeiter hatten nicht den tel. Im Gesundheitsbereich erreichte sie etwa 32 gleichen Zugang zu sozialen Sicherheiten wie An- Prozent der Beschäftigten, im Bereich Verkehr und gestellte. Lagerei 21 Prozent oder im KfZ-Handwerk bei 24 Der Wohlstand war höchst ungerecht verteilt. Prozent. (Statistisches Bundesamt, 2016). Kinder von Arbeitern und einfachen Angestellten Der Unterschied zwischen den 1960er Jahren waren weit davon entfernt, gleiche Chancen auf und heute ist erheblich. Und zwar nicht nur wegen Wohlstand und Karriere zu haben, wie Kinder aus der direkten Wirkung der Flächentarifverträge der Arbeitgeberhaushalten. Industrie, sondern auch wegen ihrer Ausstrahlung Schnell hatten viele Unternehmer vergessen, auf andere Branchen. Dossier Nr. 3, 11.2019 · Seite 10
Arbeitgeber im Handwerk oder Dienstleistungen konnten es sich bis in die 1970er Jahren nicht leis- ten, geringere Löhne als für an- und ungelernte Be- schäftigte in der Industrie zu bezahlen, wollten sie nicht ihre ausgebildeten Gesellinnen und Gesellen verlieren. Das befestigte das Lohnniveau insge- samt. Die drei sozialen Ordnungsfunktionen von Flä- chentarifen: Verteilungsgerechtigkeit, Teilhabe, Leistungsgerechtigkeit Tarifverträge entfalten ihre sichernde Wirkung auf drei Ebenen: 1. Sie sorgen für ein gerechtes Maß von Vertei- lung zwischen den Entgelten der Beschäftigten und den Gewinnen der Unternehmen. 2. Unabhängig von ihrer Stellung auf dem Ar- beitsmarkt profitieren Arbeitnehmerinnen und Ar- beitnehmer von einer „solidarischen Lohnpolitik“. 3. Weil Tarife regeln, dass für die gleiche Arbeit der gleiche Lohn zu zahlen ist, sorgen sie dafür, dass Entgelte nicht nach Wohlverhalten oder Ge- schlecht gezahlt werden sondern nach der Leis- tung. Während Gewerkschaften Tarifverträge abschlie- ßen, sind es Betriebsräte, die darüber wachen, dass ihre Arbeitgeber sich an diese Verträge halten. Da- bei sind „Gewerkschaften“ nicht die häufig von Ar- beitgebern karikierten „Fremdkörper“ im Wirt- schaftsgefüge. Vielmehr setzen sich die Tarifkom- missionen der Gewerkschaften vornehmlich aus Betriebsräten zusammen. Gelingt dieses Zusammenspiel zwischen Be- triebsräten und handlungsfähigen Gewerkschaften und orientiert sich die Politik am Grundsatz des de- mokratischen und sozialen Rechtsstaates, dann kann es gelingen, den Kapitalismus zu demokrati- sieren. Dossier Nr. 3 , 11.2019 · Seite 11
Kapitel 2 UNSICHERHEIT, UNGERECHTIGKEIT, PREKARITÄT: KULTUR DER ARBEIT AM SCHEIDEWEG Seit 30 Jahren entwickeln sich fast alle Indizees einer demokratischen Kultur der Arbeit rückwärts. Das Ergebnis: Das Lohnniveau ist im unteren Bereich ins Rutschen gekommen, der Wohlstand der Arbeitnehmermitte stagniert. Aber es gibt auch gute Nachrichten, etwa von der Mitbestimmung. 2.1 Tarifbindung nimmt langsam aber stetig ab senkonsum basierenden Wirtschaftsmodells Ende der 70er Jahre, die erste große Welle der technolo- Der Sozialwissenschaftler Wolfgang Streeck gischen Rationalisierung in der nicht mehr ganz so schrieb über die - aus Industrie- und Fabrikarbeiter- jungen BRD, die Massenarbeitslosigkeit und der sicht - goldenen 60er und 70er Jahre im Jahre Rückgang industrieller Arbeit hatten für das Lohn- 2003: Die Gewerkschaften in Westeuropa „spielten gefüge und die Kultur der Arbeit weitreichende eine wichtige Rolle bei der Steigerung der Massen- Folgen. kaufkraft und der Stabilisierung des Wirtschafts- Die Ausstrahlung der Industrielöhne auf andere wachstums. Zugleich ließen sie dem Management Branchen ließ nach. Aber der Organisationsgrad dadurch, dass sie sich ganz auf makro-ökonomi- hielt sich bis 1990 bei etwa 30 Prozent aller Arbeit- sche Lohnverhandlungen und umverteilende Sozi- nehmerinnen (Zahlen nach Schröder 2003). alpolitiken (..) konzentrierten, viel Raum bei der Ein- Um auf die Veränderungen Einfluss nehmen zu führung neuer Technologien und Produktivitätszu- können, verstärkten die Gewerkschaften den wachs- und profitorientierter Rationalisierung“ Druck auf die Regierungen von Bund und Ländern. (Streeck 2003). Und sie wurden eingebunden: Programme zur Hu- Das ging zwei Jahrzehnte gut. Die Entwicklung manisierung der Arbeitswelt wurden aufgelegt, die der Mitgliederzahlen gaben den Gewerkschaften paritätische Mitbestimmung in Betrieben und Un- recht. Auch wenn sie nach Branchen sehr unter- ternehmen durchgesetzt - gegen erbitterten Wi- schiedlich lagen, schon 1950 erreichte der Organi- derstand der Arbeitgeber jedoch um den Preis des sationsgrad 36 Prozent der Beschäftigten. Die Ta- doppelten Stimmrechts des Aufsichtsratsvorsit- riflöhne der Industrie setzten Maßstäbe auch in zenden. Dienstleistungen und Handwerk. Der Konflikt um das Gesetz von 1976 konnte Über Jahrzehnet verlor die Industrie an Bedeu- erst 1979 durch eine Entscheidung des Bundesver- tung und damit die Tarifverträge der Industrie. fassungsgerichtes „vorläufig“ befriedet werden. Die Krise des auf Massenproduktion und Mas- Die Richter stellten entgegen der Klage der Arbeit- Dossier Nr. 3, 11.2019 · Seite 12
geber fest: „Die erweiterte Mitbestimmung der Ar- zurück - oder finden nicht in diese hinein. Die Zahl beitnehmer nach dem Mitbestimmungsgesetz der Frauen und Männer, die von ihrem Grundrecht, vom 4. Mai 1976 ist mit den Grundrechten der von Gewerkschaften beizutreten, Gebrauch machen, ist dem Gesetz erfaßten Gesellschaften, der Anteils- seit Jahrzehnten rückläufig. eigner und der Koalitionen der Arbeitgeber verein- 1990 waren allein in Westdeutschland 7,9 Millio- bar.” nen Menschen Mitglied in einer Gewerkschaft un- In den 1980er Jahren setzten die Gewerkschaf- ter dem Dach des DGB. Im vereinten Deutschland ten Arbeitszeitverkürzungen mit vollem Lohnaus- waren es sogar 11,8 Millionen. 28 Jahre später un- gleich durch - am bekanntesten war die Auseinan- terschritt die Gesamtzahl der Mitglieder in DGB-Ge- dersetzung in der Metall- und Elektroindustrie um werkschaften die schwelle von sechs Millionen. die Einführung der 35-Stunden-Woche. Es ging um ein Stück Befreiung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von der Arbeit und die Sicherung 2.2 Sinkende Mitgliederzahlen, wachsende von Arbeitsplätzen in einem neuen Rationalisie- Ungerechtigkeit rungszyklus. Die „Mikroelektronik“, wie Streeck die herauf- In den 1970er Jahren, als die Arbeitnehmerschaft ziehende Digitalisierung 2003 noch nannte, verän- anfing, „Abschied von der Proletarität“ zu nehmen derte das Produktionsregime wieder einmal. An (Mooser 1983), der Lohnabstand aber - wie Streeck die Stelle von Massengütern trat die Verwirkli- darstellt - noch „stark gestaucht“ war, schien dies chung individueller Kundenwünsche durch die In- noch keine Auswirkungen auf die Kultur der Arbeit dustrie. zu haben. Der Beitrag der Industrie zum gesamtwirtschaft- 1980 erreichte die Bruttolohnquote, also der An- lichen Wohlstand blieb hoch. Am Arbeitsmarkt je- teil der Verdienste der Arbeitnehmerinnen und Ar- doch nahmen Dienstleistungs-Jobs die erste Stelle beitnehmer an den Gesamteinkommen ein Niveau von industrieller Arbeit ein. Der Shift zog schlech- von 75,2 Prozent (Schäfer 2008) - 2018 war der An- tere Entgelte und Arbeitsbedingungen nach sich. teil auf 69 Prozent gesunken. Von einigen großen Konzernen, häufig ehemaligen 1980 verteilte sich das Stück der Arbeitneh- Staatsbetrieben und dem öffentlichen Dienst wa- merinnen und Arbeitnehmer am Kuchen über ren Gewerkschaften nicht wie in der Industrie in knapp 20 Millionen sozial versicherte Erwerbstäti- den Belegschaften verankert und entsprechend ge. 2018 - nach der Vereinigung und dem Boom weniger durchsetzungsstark. der McJobs - sind es mehr als 32 Millionen Frauen und Männer die den kleiner gewordenen Anteil am Bruttoinlandsprodukt teilen müssen. Abschied von der Proletarität Auch wenn man die Zahl der Haushalte zum Schlüssel der Verteilung macht, ändert sich nichts Seither ziehen sich mehr Beschäftigte aus der Wesentliches an der Dramatik der Entwicklung. durch Gewerkschaften geprägten Kultur der Arbeit Denn auch ihre Zahl hat drastisch zugenommen. Ungleichheit der Einkommen in Deutschland Gini-Koeffizient der verfügbaren Haushaltseinkommen WEST 0,297 0,295 0,28 GESAMT 0,26 0,264 0,247 0,245 OST 0,22 0,205 1991 2016 Je höher der Koeffizient, desto größer die Ungleichverteilung der Einkommen. Daten: WSI-Report 53, 2019, Daten: SOEP Dossier Nr. 3 , 11.2019 · Seite 13
ARBEIT IN UND MIT DER BLOCKCHAIN? Wenn man Tarifverträge auf eine Ordnung der Arbeit in einem regelgebundenen System redu- ziert, wenn man also das Verhandeln, das Diskutieren und Demonstrieren, das Mobilisieren, die Begegnungen und die Auseinandersetzungen um und über die Ordnung der Arbeit abzieht, dann ließe sich wohl auch die Arbeit samt ihrer Organisation selbst als Algorithmus in die digitale Welt transportieren. Die Digitalisierung könnte bald schon zumin- über die neue Technologie abgewickelt werden. dest das Rückgrat der Personalarbeit werden. Und Das Szenario von R.W. Bons zu Ende gedacht wäre das nicht nur, weil viele Verwaltungsprozesse mit- es freilich möglich, alle Bedingungen der Arbeit in tels künstlicher Intelligenz zunehmend von der rea- einer Blockchain zu organisieren: Die zu erbringen- len in die virtuelle Welt verschoben werden kön- de Leistung, die Gehaltszahlungen, die Abführung nen. an und die Organisation einer Betriebsrentenversi- Das Zauberwort ist die „Blockchain“, eine Tech- cherung, den Ort der Leistungserbringung, die Vor- nologie, die gemeinhin auf ihre Funktion als Zah- gabe und den Nachweis von Arbeitszeiten. Was lungsmittel reduziert wird. Die bekannteste Varian- heute einen komplexen Mechanismus erfordert, te einer Blockchain-Währung ist wohl der umstrit- ließe sich über die kommende Technologie zum In- tene Bitcoin. formationsmanagement einfach realisieren. Auch Die Blockchain kann jedoch mehr. Sie kann zu- Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen könnten gleich Informationen speichern und Ansprüche in diesem Informationskontext eingebaut werden. von Vertragspartnern verifizieren. Und so können Das Wesen der Technologie folgt einem weite- Verwaltungsvorgänge und komplexe Prozesse ver- ren Prinzip: Dritte Parteien werden beim Zustande- einfacht und geräuschlos abgewickelt werden. kommen und der Abwicklung von Verträgen, bei Die Seite blockchainwelt.de versucht es mit ei- Handelsverträgen etwa Banken, schlicht überflüs- ner Definition so: sig - oder in ihrer Bedeutung erheblich reduziert. „Die Blockchain bezeichnet eine Technologie, Dass sich die Blockchain dritte Parteien wie Ge- durch welche es möglich wird, jegliche Art von In- werkschaften und Betriebsräte aus dem Verhältnis formation in einer öffentlich einsehbaren Daten- zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmerinnen und bank zu speichern, zu verarbeiten, zu teilen und zu Arbeitnehmer zurückdrängen könnte, ist zwar verwalten. In einer kontinuierlichen Liste von Da- nicht Gegenstand von Bons Überlegungen - aber tensätzen (genannt Blocks) werden diese mittels ihre logische Konsequenz. der Kryptographie verkettet.” (Blockchainwelt) Bons beschreibt die Veränderung von Dienst- Ausgangspunkt der Technologie sind also die leistungen durch die kommende Technologie. Verschiebung der Kontrolle monetärer Werte Etwa die einer Schadensabwicklung durch eine (bspw. Bitcoins) und bzw. oder von Informationen. Versicherung. Bons illustriert die Verkürzung der Nur sind an dieser Verschiebung nicht nur zwei Verwaltungsstrecke bis zur Auszahlung der Versi- Personen oder Institutionen beteiligt, sondern die cherungssumme am Beispiel eines Laptops. „Da- gesamte, an der Blockchain teilnehmende Welt. mit der Versicherer den Schaden bezahlt, muss der Jeder kann jede Transaktion, jedes Guthaben se- Eigentümer nachweisen, dass er auch der Eigentü- hen - jedoch sind die Daten so verschlüsselt, dass mer ist, klassischer Weise durch Rechnung. Zum sie keiner Person, keinem Unternehmen zugeord- anderen, dass die Wohnung verschlossen war, ide- net werden können. alerweise durch eine Bescheinigung der Polizei.” Der niederländische Wirtschaftsinformatiker Anhand von GPS-Daten könnte nachgewiesen Roger W.H. Bons beschäftigt sich sein Wissen- werden, dass der Laptop tatsächlich zum Zeit- schaftsleben mit Sicherheitsfragen in der digitalen punkt des Diebstahls in der Wohnung war. Die Welt. Er hat sich Gedanken gemacht, wie das Ge- Nachweise müssen dem Versicherer vorgelegt rüst der Arbeit, ihre Organisation aus Personalbü- werden, häufig per Post.“ ros in die Blockchain verlegt werden könnte. Über die Blockchain könnten alle Daten organi- Wenn Handelskontrakte über die Blockchain siert werden. Der Bestohlene meldet den Diebstahl abgewickelt werden können - also die Informatio- via App, die Information des Händlers über den Er- nen über eine Bestellung, ihre Lieferung und die werb liegt seit Kauf des Gerätes digital vor, die re- Zahlung in einem Block gebündelt werden, warum gelmäßige Zahlung der Versicherungsprämie ist dann nicht auch Verträge über Arbeit mit Hilfe die- ebenfalls nachgewiesen und die Polizei bestätigt ser Technologie organisieren. Eine Aufgabe wird den Diebstahl. Schließlich und endlich wird der ausgeschrieben, jemand erledigt sie, meldet dies Vorgang abgeschlossen, weil die Blockchain regis- und nach Bestätigung der Leistung wird gezahlt. triert, dass die Versicherung via Bitcoin den Scha- Genauso könnten komplexere Arbeitsverträge den reguliert hat. Dossier Nr. 3, 11.2019 · Seite 14
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