POLITIK FÜR EINE DEMOKRATISCHE KULTUR DER ARBEITSWELT - Hans-Böckler-Stiftung

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POLITIK FÜR EINE DEMOKRATISCHE KULTUR DER ARBEITSWELT - Hans-Böckler-Stiftung
DOSSIER
Nr. 3, November 2019

POLITIK FÜR EINE
DEMOKRATISCHE KULTUR
DER ARBEITSWELT
Hilmar Höhn

DEMOKRATISCHE RENAISSANCE                                gegen kennt Fort- und Rückschritte. Der sozialen
                                                         Ordnung der Weimarer Republik folgte in Nazi-­
                                                         Deutschland das Führerprinzip auch in den Betrie-
In der Diskussion über die Arbeit steht deren Ord-       ben.
nung im Zentrum. Sie erscheint als Ergebnis von Ge-         Mit der Fortschreibung des DGB-Index Gute Ar-
setzen, Verordnungen und Erlassen, von Tarifverträ-      beit wird der Output als Element des Entwicklungs-
gen, Mitbestimmung oder Richterrecht. Vermessen          standes der Kultur der Arbeit beschrieben. Es gibt
wird, ob die Systeme ausreichend flexibel für den        dazu Vorbedingungen: den Willen von Arbeitgebern,
globalen Wettbewerb sind. Oder ob sie genügend           sich als Tarifpartei zu organisieren, das Selbstver-
soziale Sicherheit für die Beschäftigten garantieren.    ständnis von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
   Die Gewerkschaften haben in dieser Debatte das        mern und den daraus folgenden Organisationsgrad
Leitbild der „Guten Arbeit“ verankert. Es schließt       in Gewerkschaften. Traditionen spielen eine Rolle,
Mitbestimmung ein, gerechte Bezahlung, einen             Werte und natürlich die sich ändernden politischen
nachhaltigen Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie        Mehrheitsverhältnisse. Grob gesagt ist eine Kultur
den Zugang von Beschäftigten zu Systemen sozialer        der Arbeit demokratisch zu nennen, wenn ihre Orga-
Sicherheit (IG Metall).                                  nisation durch möglichst viele freie Wahlen und Ver-
   Wozu bedarf es noch einer Kultur der Arbeit? Was      handlungen zwischen freien Vereinigungen für Bran-
könnte sie sein? Arbeit ist in einem doppelten Sinn      chen gelingt, um Entgelte und Arbeitsbedingungen
Kultur: Sie ist selbst ein schöpferischer Prozess, aus   dem Wettbewerb zu entziehen und den Vielen ein
ihr gehen durch (mehr oder weniger) planvolles Han-      gutes selbstbestimmtes Leben ermöglicht.
deln Werte hervor. Zudem wird Arbeit in einem sozi-         30 lange Jahre hat sich diese Kultur zurückentwi-
alen System erbracht.                                    ckelt. Heute muss der Staat vielfach Löhne garantie-
   Kultur ist immer in Entwicklung. Die Möglichkei-      ren, weil er als demokratischer und sozialer Rechts-
ten des Menschen, schöpferisch tätig zu sein, hängt      staat Armut trotz Arbeit nicht tolerieren kann. Neu-
vom Bildungsstand und zur Verfügung stehenden            erdings gibt es jedoch Anzeichen für eine
Ressourcen und Technologien ab. Dieser Aspekt der        demokratische Renaissance der Arbeitswelt. Dieses
Arbeit ist eng mit der wissenschaftlichen und tech-      Dossier handelt von der Traditionslinie demokrati-
nischen Fortschritts verknüpft.                          scher Arbeit, ihrem Entwicklungsstand und dem
Die sozialen Dimensionen der Kultur der Arbeit hin-      Aufbruch der Gewerkschaften.
POLITIK FÜR EINE DEMOKRATISCHE KULTUR DER ARBEITSWELT - Hans-Böckler-Stiftung
INHALT

                        Demokratische Renaissance                     1    Wege in eine solidarische Arbeitswelt – Die
                                                                           Gewerkschaften
                        Kulturgut Arbeit                              3    brechen in die Zukunft auf                   42
                        1.1 Grundkonturen einer demokratischen             4.1. IG Metall organisiert die Vielfalt der
                        Kultur der Arbeit                              3   Interessen in Belegschaften neu              42
                        1.2 1918: Hugo Stinnes und Carl Legien             „Wir sagen ja zu dieser Zukunft“             43
                        schließen einen historischen Pakt              6   4.2 Die Eisenbahn- und Verkehrs­gewerkschaft
                           Der Fall Wolfgang Streeck oder:                 gab den Anstoß für eine neue Arbeitszeit-
                        Das wechselvolle Verhältnis von Demokratie         und Beteiligungspolitik                      44
                         und Kapitalismus                              7   4.3 Gewerkschaft Nahrung-Genuss-
                        1.3 Das Grundgesetz greift den Pakt von            Gaststätten lernt von Foodora-Ridern und
                        1918 auf			                                   10   erzielt Erfolge im Häuserkampf               45
                        1.4 Soziale Ordnung durch Tarif- und               4.4 ver.di baut auf enge Verbindung zu
                        Sozialpartnerschaft                           10   Beschäftigten, erhöht den Druck und erzielt
                        Unsicherheit, Ungerechtigkeit, Prekarität:         außerordentliche Erfolge                     47
                        Kultur der Arbeit am Scheideweg               12   4.5 IG BCE aktiviert Vertrauensleute und
                                                                           bereitet sich systematisch auf den Umbruch
                        2.1 Tarifbindung nimmt langsam aber                in ihren Branchen vor                        47
                        stetig ab			                                  12   4.6 Die IG Metall erreicht die Trendwende
                        2.2 Sinkende Mitgliederzahlen,                     bei den Mitgliedern und sorgt sich nicht
                        wachsende Ungerechtigkeit                     13   mehr so sehr vor dem Gang der Baby-Boomer
                            Arbeit in und mit der Blockchain?         14   in die Rente		                               48
                        2.3 Elf Millionen Menschen oder die Angst              Die Generationen Y und Z oder der
                        vorm Abrutschen in die unteren Etagen des          Rückkehr des Politischen                     50
                        Arbeitsmarktes                                17
                        2.4 Mehr Betriebsräte im Jahresvergleich:          Schlussbemerkung
                        Zwischenhoch oder Trendwende?                 19   Verhandeln oder behandelt werden            52
                            Die 40.000 Stunden des Jean Fourastié     21
                          „Das Thema Arbeitszeit ist wieder auf            Bibliographie                               55
                        dem Tisch“		                                  22   Autor			                                    58

                        Gestaltung der Arbeit - eine
                        Bewusstseinsfrage                             27
                        3.1 Viele Arbeitgeber sind Gefangene des
                        Irrwegs „Neue soziale Marktwirtschaft“        27
                        3.2 Deutsche Sozial- und Tarifpartnerschaft
                        organisierte sich nach Welt-Krisen neu        28
                        3.3 Arbeitgeberfunktionäre sind von ihrer
                        Arbeit nicht überzeugt                        28
                           „Der Zeitpunkt ist jetzt“                  31
                        3.4. Ohne Alternative: die Topf-Deckel-
                        Strategie der Gewerkschaften                  36
                        3.5 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
                        zwischen Verunsicherung und
                        Widerständigkeit: Nicht normale Normalität    36
                        3.6 Drei Welten der Arbeit                    39
                            Europa und die Arbeit - Eine s
                        pannungsreiche Beziehung                      40

Dossier Nr. 3, 11.2019 · Seite 2
POLITIK FÜR EINE DEMOKRATISCHE KULTUR DER ARBEITSWELT - Hans-Böckler-Stiftung
Kapitel 1
KULTURGUT ARBEIT
Arbeit ist elementarer Bestandteil unserer Kultur. Wie die Musik, die wir hören, Bilder, die
wir betrachten oder die Feste, die wir feiern, ist Arbeit Ausdruck menschlichen Handelns.
Zwischen 18 und 65, bald wieder 67 Jahren beherrscht sie den Alltag der meisten Men-
schen. Mehr Zeit als mit Arbeit verbringt der Mensch wohl nur mit Schlafen. Wonach aber
wäre eine Kultur der Arbeit zu beschreiben? Und was macht sie demokratisch?

1.1 Grundkonturen einer demokratischen Kul-            Arbeit ist genau genommen in einem doppelten Sinn
tur der Arbeit                                         ein Ausdruck von Kultur: Als schöpferischer Pro-
                                                       zess, ausgeübt im Rahmen von (mehr oder weniger)
Vereinfacht beschrieben ist Kultur das, was Men-       planvoller Organisation. Eben diese über Generatio-
schen mit dem, was sie vorfinden und dem was sie       nen entwickelte Organisation ist selbst Ausdruck
können, unternehmen. Deswegen gibt es nicht die        von Kultur. Doch obwohl sie einen so großen Raum
eine Kultur. Es gibt eine Vielfalt von Kulturbegrif-   im Leben einnimmt, ist selten bis gar nicht von ihr
fen: Pop-Kultur, politische Kultur, Alltagskultur      die Rede.
oder Esskultur.
   In ihrem ursprünglichen Sinn, schreibt der Kul-
turwissenschaftler Ansgar Nünning, bezeichne           Arbeit ist in doppeltem Sinne Kultur
Kultur „das ‚vom Menschen Gemachte‘ bzw. das
‚gestaltend Hervorgebrachte‘ - im Gegensatz zu         Arbeit wird schließlich nicht irgendwie erbracht.
dem, was nicht vom Menschen geschaffen, son-           Sie beruht auf Verträgen, auf den Parteien, die sie
dern von Natur aus vorhanden ist“. (Nünning,           abschließen, auf Gerichten, vor denen die Leistun-
2009)                                                  gen aus den Verträgen eingefordert werden kön-
   Arbeit wird nur in seltenen Ausnahmefällen den      nen. Das Grundgesetz schafft in Artikel 9 Absatz 3
Künsten zugerechnet. In der Regel ist sie Teil der     ausdrücklich jenen Raum der Freiheit, der es Ar-
Alltagskultur, deren Bedeutung, so Nünning wei-        beitnehmerinnen und Arbeitnehmern erlaubt, sich
ter, darin bestehe, „dass z.B. Feiern, Feste und an-   in Gewerkschaften zusammenzuschließen und ihre
dere Rituale maßgeblich dazu beitragen, die kultu-     Forderungen auch durch Arbeitskämpfe zu erzwin-
rellen Werte und Normen einer Gesellschaft darzu-      gen.
stellen, sichtbar zu machen, weiterzugeben und zu         In seiner Betrachtung über die Demokratie in
erneuern“.                                             Amerika schrieb der französische Publizist Alexis de

                                                                                                     Dossier Nr. 3 , 11.2019 · Seite 3
POLITIK FÜR EINE DEMOKRATISCHE KULTUR DER ARBEITSWELT - Hans-Böckler-Stiftung
Tocqueville, an der Spitze von Neuerungen finde         einsame Entscheidungen zu treffen. Regierung
                        man „in Frankreich den Staat, in England einen          und Parlament, Bundesebene, Länder und Gerich-
                        Mann von Rang, in den Vereinigten Staaten werden        te bilden ein auf wechselseitige Balance ausgerich-
                        sie sicher einen Verband finden“. (Tocqueville, 1835)   tetes System.
                        „Amerika“, so der Politikwissenschaftler Michael        Das Grundgesetz gibt für die Sphäre der Arbeit kei-
                        Ehrke über Tocquevilles Beobachtung, „konnte            ne Organisationsgrundsätze vor. Ob und wie sie
                        sich einen schwachen Zentralstaat leisten, weil es      durch freie Vereinigungen geordnet wird, wie die
                        über eine starke Zivilgesellschaft verfügte“. (Ehrke,   Machtverhältnisse in der Arbeitswelt ausbalanciert
                        2001)                                                   werden, entscheiden letzten Endes die Menschen.
                                                                                   Von der Freiheit Gebrauch zu machen, heißt,
                                                                                Zeit und Ressourcen zu geben, sonst wird es nicht
                        Tocqueville oder der „Geschmack der Freiheit“           gelingen die „Arbeits- und Wirtschaftsbedingun-
                                                                                gen“ auf dem Verhandlungsweg, wenn nötig nach
                        Die Bürger regelten auf der lokalen Ebene ihre An-      dem Umweg eines Arbeitskampfes, zu ordnen.
                        gelegenheiten selbst. So, fasst Ehrke Tocqueville       Das Grundgesetz mutet den Bürgerinnen und Bür-
                        weiter zusammen, „lernen sie nicht nur in Praxis,       gern einiges zu. Eine demokratische Kultur der Ar-
                        wie die Demokratie funktioniert, sondern entwi-         beit gelingt nur, wenn viele wenigstens dann und
                        ckeln auch ein positives emotionales Verhältnis zur     wann die Komfortzone verlassen.
                        öffentlichen Beteiligung: Sie finden ‚Geschmack an
                        der Freiheit‘“.
                           Die Bundesrepublik Deutschland ist freilich alles    Ohne Engagement gelingt keine Demokratie
                        andere als ein schwacher Staat. Gewerkschaften
                        und Arbeitgeberverbände haben - anders als in der       Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände füllen
                        Weimarer Reichsverfassung im Grundgesetz kei-           just jene Funktion aus, die Tocqueville für die Zivil-
                        nen festen Platz. Sie erscheinen in Artikel 9.3 unse-   gesellschaft vorsah. Handlungsmächtige und hand-
                        rer Verfassung als Möglichkeit: „Das Recht, zur         lungswillige Tarifparteien halten den Staat von sen-
                        Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirt-            siblen Punkten unserer Gesellschaft fern: Den ma-
                        schaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist         teriellen Grundlagen der privaten Haushalte und
                        für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.“       der Unternehmen. Verträge zwischen beiden Par-
                        Vor diesem Hintergrund obliegt es jeder Generati-       teien entscheiden über die Möglichkeit der Vielen,
                        on in ihrer beruflich aktiven Zeit, jenen „Ge-          am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und es zu
                        schmack an der Freiheit“ zu finden. Oder nicht.         gestalten.
                           Der Staatsrechtler Hans Kelsen, einer der Vor-          Deswegen ist die Kultur der Arbeit keineswegs
                        denker des Grundgesetzes, hat sich in seiner            durch die bloße Aufzählung von Gesetzen, Verord-
                        Schrift „Was ist Gerechtigkeit?“ mit der Frage be-      nungen und Verträgen zu beschreiben. Auch ge-
                        fasst, wie denn selbige erreicht werden könne. Er       nügt es nicht, die tatsächlichen, möglicherweise
                        verwirft das „kommunistische Gerechtigkeitsprin-        abweichenden Realitäten von Arbeit abzubilden.
                        zip“ als „typische Utopie eines in die Zukunft ver-        Um den Stand der Entwicklung der Kultur der
                        legten goldenen Zeitalters“. (Kelsen, 1953)             Arbeit zu vermessen, muss zuerst die Bereitschaft
                           Er widerspricht der auf den antiken Philosophen      der Bürgerinnen und Bürger, sich zu Gewerkschaf-
                        Aristoteles zurückgehende Idee, das ideale Maß          ten und von Unternehmen, sich zu Verbänden zu-
                        könne als Mitte zwischen Extremen bestimmt wer-         sammenzuschließen, betrachtet werden.
                        den. Die Formel laufe darauf hinaus, „dass gut ist,
                        was nach der bestehenden Gesellschaftsordnung
                        gut ist.“ Kelsen resümiert, er wisse nicht und kön-     Organisationskraft ist die Grundlage für eine
                        nen nicht sagen, was Gerechtigkeit ist, die absolu-     demokratische Ordnung der Arbeit
                        te Gerechtigkeit, „dieser schöne Traum der
                        Menschheit“.                                            Organisationskraft ist – da der Staat das Feld den
                           Er begnüge sich mit der „relativen Gerechtig-        Tarifparteien überlässt – der Ausgangspunkt für
                        keit“, dies sei „die Gerechtigkeit der Freiheit, die    eine demokratische Ordnung der Arbeit. Verträge
                        Gerechtigkeit des Friedens, die Gerechtigkeit der       und Verordnungen und Gesetze ohne Anhänger
                        Demokratie, die Gerechtigkeit der Toleranz.“            sind vergänglich. Sie können leicht übergangen
                           Das Grundgesetz ist durchzogen von dieser            werden. Der Volksmund hat dafür eine Redensart
                        Grundidee. Es vertritt kein absolutes Maß. Unsere       geschaffen: „Wo kein Kläger, da kein Richter“. Zie-
                        Verfassung ist auf das Prinzip von Verhandeln und       hen die Menschen sich aus Organisationen oder
                        der Balance von Interessen ausgelegt.                   Organisationen von den Menschen zurück, dauert
                           Deutlich wird dies an der Verortung von Macht.       es nicht lange, bis Verträge wertlos werden und
                        Anders als in Präsidialdemokratien gibt es im Gefü-     Gesetze keine Anwendung mehr finden.
                        ge der Bundesrepublik keinen Ort, an dem eine In-          Kultur baut auf Traditionen. Ein Versuch, eine
                        stitution mit so viel Macht ausgestattet wäre, um       solche Tradition zu entwickeln, war die Mitte der

Dossier Nr. 3, 11.2019 · Seite 4
POLITIK FÜR EINE DEMOKRATISCHE KULTUR DER ARBEITSWELT - Hans-Böckler-Stiftung
80er Jahre unternommene Definition eines „Nor-
malarbeitsverhältnisses“. Der Arbeitsmarktexperte
Rainer Dombois fasst die Prinzipien zusammen:
– Abhängige Erwerbsarbeit ist die einzige Ein-
   kommens- und Versorgungsquelle. Sie wird in
   Vollzeit verrichtet und verschafft mindestens
   ein existenzsicherndes Einkommen. Das Ar-
   beitsverhältnis ist unbefristet, im Prinzip auf
   Dauer angelegt und in ein engmaschiges Netz
   von rechtlichen und tariflichen Normen einge-      nen Arbeits- und Ehebiographien, Massenarbeits-
   woben, die Vertragsbedingungen und soziale         losigkeit und das Wachstum des Arbeitsmarktes in
   Sicherungen regeln. Auch die zeitliche Organi-     geringer regulierten Dienstleistungssektoren ver-
   sation der Arbeit – Länge und Lage der Arbeits-    änderten die Kultur der Arbeit. Die Erneuerung ging
   zeit - wird standardisiert.                        einher mit einem geringeren Maß an Sicherheiten
                                                      für einen wachsenden Anteil der Beschäftigten.
– Das Arbeitsverhältnis bildet einen mehr oder       Die Entwicklung macht ganz praktisch deutlich,
   weniger langen Abschnitt einer kontinuierli-       was diese „Zumutung der Freiheit“ letzten Endes
   chen Erwerbsbiografie, die allenfalls durch kur-   bedeutet. Sie kann zu einem höheren oder - wie im
   ze Phasen der Arbeitslosigkeit unterbrochen ist.   Fall des Übergangs von der Industrie- zur Dienst-
   Alter, Beschäftigungsdauer, vor allem aber Be-     leistungsgesellschaft - einem niedrigeren Niveau
   triebszugehörigkeit drücken sich in zunehmen-      von demokratischer und sozialer Ordnung führen.
   den Statusrechten und -sicherungen aus. Tat-
   sächlich sind Erwerbsverläufe nicht nur durch
   den Beruf, sondern auch durch strikte Alters-      Welches gesellschaftliche Selbstverständnis
   und Senioritätsnormen strukturiert und neh-        treibt die heute aktive Generation von Arbeit-
   men die Form von ‚Normalbiografien‘ an, die        nehmerinnen und Arbeitnehmer bzw. Arbeitge-
   durch karriereförmige Muster der Stabilisierung    bern?
   oder Verbesserung des beruflichen Status
   charakterisiert werden.“                           Um den demokratischen Charakter einer Kultur der
                                                      Arbeit zu vermessen, müssen eine ganze Reihe an
Die Ironie an der Definition ist, dass sie zu einem   Parametern betrachtet werden:
Zeitpunkt vorgenommen wurde, als die Industriear-     – Werden Entgelte und Arbeitsbedingungen de-
beit als ökonomische Basis dieses Modells zu brö-        mokratisch und auf Augenhöhe verhandelt
ckeln begonnen hatte. Dombois schrieb 1999, die          oder vorgegeben? Werden sie Betrieb für Be-
gängigen Definitionen waren also keine zwanzig           trieb erstritten? Oder schaffen Verhandlungen
Jahre alt:                                               in einer Branche oder für mehrere verwandte
   „Bereits in der normativen Konstruktion wurden        Branchen soziale Gerechtigkeit, weil sie die
aber Formen der Ungleichheit festgeschrieben.            Löhne dem Wettbewerb entziehen?
Dies drückt sich etwa in Schutzfunktionen aus, die    – Wie hoch ist der Organisationsgrad auf beiden
direkt oder indirekt an die Betriebsgröße gekoppelt      Seiten der Konflikt- oder Sozialpartnerschaft?
sind und Beschäftigte in Großbetrieben mit etab-      – Welche ernst zu nehmenden Anstrengungen
lierten Mitbestimmungsorganen und kompromiss-            unternehmen die an der Kultur beteiligten Or-
förmigen Personalpolitiken privilegieren. Aber           ganisationen, um neue Mitglieder zu gewin-
auch faktisch waren große Gruppen von Personen           nen, die bereit sind, in die Auseinandersetzung
von den sozialen Stabilitäts- und Sicherungsver-         um die Bedingungen der Arbeit zu gehen?
sprechen des Normalarbeitsverhältnisses ausge-           Oder arbeiten sie an ihrer eigenen Überflüssig-
schlossen. Das Normalarbeitsverhältnis schien            keit?
zwar universalistische Maßstäbe zu setzen, unter-     – Ganz entscheidend ist, welches gesellschaftli-
stellte aber eine Normalität von Lebensverhältnis-       che Selbstverständnis treibt die heute aktive
sen, die nur für einen Teil der Bevölkerung galt.        Generation von Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
Frauen etwa waren von den materiellen und sozia-         nehmer bzw. Arbeitgebern? Drei Kategorien
len Sicherungen des Normalarbeitsverhältnisses           sind denkbar: Verstehen sie Mitgliedschaft als
weitgehend ausgeschlossen, weil sie im Rahmen            Willen, die Arbeit demokratisch und sozial zu
des herkömmlichen Geschlechterarrangements               gestalten? Sind sie nur bereit, gesellschaftlich
der ‚männlichen Versorgerehe bzw. Hausfrauene-           erwünschte Vorgaben einzulösen? Oder sind
he‘ nicht oder nicht voll und kontinuierlich er-         sie gar bereit, die Aufgabe der Ordnung der Ar-
werbstätig sein konnten oder wollten.“ (Dombois,         beit letzten Endes in die Hand des Staates zu
1999)                                                    übergeben?
   Die Emanzipation von Frauen in Gesellschaft,       Werner Widuckel, früher in der Mitbestimmung
Wirtschaft und Arbeitswelt, die brüchig geworde-      erst bei VW, dann Arbeitsdirektor von Audi und

                                                                                                   Dossier Nr. 3 , 11.2019 · Seite 5
POLITIK FÜR EINE DEMOKRATISCHE KULTUR DER ARBEITSWELT - Hans-Böckler-Stiftung
heute Professor für Personalwesen an der Fried-          Mehrheit im Paulskirchenparlament. Vieles von
                        rich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, hat        dem, was 1848 aufnotiert wurde, wurde „erst
                        den Begriff der Arbeitskultur als Amalgam von Ar-        durch das Betriebsrätegesetz v. 4. 2. 1920 in die Tat
                        beitsorganisation, Arbeitswirklichkeit, privatem Le-     umgesetzt“. (Kraushaar, 1990)
                        benshintergrund sowie politischen und gesell-               Dass dieses Gesetz verabschiedet werden konn-
                        schaftlichen Strukturen beschrieben.                     te, hat seinen Anfang im November 1918, als nach
                                                                                 der Niederlage des Deutschen Reiches im 1. Welt-
                                                                                 krieg eine Revolution drohte
                        Die Kultur der Arbeit ist reich an Spannungen               Millionen Männer waren vom Kaiser, seinen
                                                                                 Marschällen und Offizieren in den Tod geschickt
                        Das Besondere an der Kultur der Arbeit: Die Interes-     worden. Wer überlebt hatte, hatte Brüder, Freunde
                        sen der Beteiligten sind mit Blick auf die Prosperität   und Verwandte verloren. Viele waren an Körper und
                        eines Unternehmens, einer Branche oder der Ge-           Seele verletzt.
                        samtwirtschaft ähnlich gelagert. Geht es jedoch um          Deutschland war in Aufruhr. Am 9. November -
                        Themen der Verteilung oder der Wahrnehmung in-           der Kaiser war gerade ins Exil gegangen - wurde in
                        dividueller oder kollektiver Rechte im Betrieb, ste-     der Berlin gleich zwei Mal eine Republik ausgeru-
                        hen Beschäftigte, ihre Gewerkschaften und Be-            fen. Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann pro-
                        triebsräte im handfesten Widerspruch zu den Inter-       klamierte vom Balkon des Reichstages die „Deut-
                        essen der Arbeitgeber. Der kann durch einen guten        sche Republik“.
                        Kompromiss aufgelöst, jedoch niemals überwun-               Wenige hundert Meter weiter und wenige Stun-
                        den werden.                                              den später rief Karl Liebknecht im Berliner Lustgar-
                            Keine einfache Ausgangslage also, um am Ende         ten vor dem verlassenen Stadtschloss die „freie so-
                        eine gemeinsame Kultur zu erschaffen, zu erhalten        zialistische Republik Deutschlands“ aus.
                        oder besser noch: weiter zu entwickeln.                     Darauf stürmte die Menge das Schloss. Auf dem
                            Der Entwicklungsstand einer Kultur der Arbeit        Balkon ergriff Liebknecht erneut das Wort. Er rief
                        kann hoch sein oder niedrig. Gute Arbeit könnte          der Menge zu, es werde keine Knechte mehr geben
                        das Ergebnis staatlicher Gesetze und Verordnun-          und „jeder ehrliche Arbeiter“ werde „den ehrlichen
                        gen sowie einer strengen Überwachung sein.               Lohn seiner Arbeit finden“.
                            Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Be-             Die Ausrufung der Republik hatte Scheidemann
                        triebsräte sind jedoch näher an der Realität der Ar-     nicht geplant. Er wollte nur Liebknecht zuvorkom-
                        beitswelt als der Gesetzgeber. Sie kennen die in-        men. Laut der Steno-Mitschrift eines anwesenden
                        zwischen sehr voneinander verschiedenen Bedin-           Journalisten konzentrierte sich Scheidemann dar-
                        gungen in ihren Betrieben, Unternehmen und               auf, die seit der Abdankung des Kaisers gerade we-
                        Branchen. Wenn aus den Betrieben und Verwaltun-          nige Stunden alte Republik zum Garanten allgemei-
                        gen heraus gewählte Vertreter die Ordnung der Ar-        ner Sicherheit zu erklären.
                        beit selbst regeln, ist dies gegenüber einer Rege-
                        lung durch den Gesetzgeber notwendigerweise auf
                        hohem Abstraktionsniveau ein Gewinn an Demo-             Die Republik nicht gefährden
                        kratie.
                            Für eine hoch entwickelte Wirtschaft, geprägt        Der Sozialdemokrat Friedrich Ebert „ist zum Reichs-
                        durch engmaschig miteinander verwobene Wert-             kanzler ausgerufen worden“. Seiner Regierung wür-
                        schöpfungsketten, erscheint eine ebenso hoch ent-        den „alle sozialistischen Parteien angehören“. Er
                        wickelte Kultur der Arbeit als logische Konsequenz.      bat die Menge, dass „keine Störung der Sicherheit“
                        Es ist aber anders. Davon wird noch die Rede sein.       eintrete. Vertreter des Militärs seien beauftragt wor-
                                                                                 den dafür zu sorgen, „dass die neue deutsche Repu-
                                                                                 blik, die wir errichten werden, nicht durch irgendet-
                        1.2 1918: Hugo Stinnes und Carl Legien schlie-           was gefährdet werde“.
                        ßen einen historischen Pakt                                  Nach heftigen Kämpfen setzte sich die Linie von
                                                                                 Scheidemann und Ebert durch.
                        Die Geschichte des Parlamentarismus beginnt in               In dieser unruhigen Zeit, am 15. November 1918,
                        Deutschland auch mit dem Versuch, den Rahmen             schlossen stellvertretend für 21 Arbeitgeberver-
                        für eine demokratische Arbeitskultur abzustecken.        bände und sieben Gewerkschaften, der Ruhrindus-
                        Fabrikausschüsse sollten in Betrieben und auf regi-      trielle Hugo Stinnes, und der Vorsitzende der Gene-
                        onaler Ebene gebildet werden, empfahl der Aus-           ralkommission der Gewerkschaften Deutschlands,
                        schuss für Volkswirtschaft des Paulskirchenparla-        Carl Legien, den nach ihnen benannten Pakt. Die
                        mentes 1849. In ihnen sollten Arbeitgeber, Werk-         Gewerkschaften bezogen Stellung zu Gunsten der
                        meister und Vertreter der Beschäftigten vertreten        „deutschen Republik“ Scheidemanns. Sie wollten
                        sein und die Geschicke des Unternehmens und der          sie gestalten, nicht bekämpfen.
                        sozialen Belange der Beschäftigten aushandeln.
                           Die Empfehlung scheiterte an der konservativen

Dossier Nr. 3, 11.2019 · Seite 6
POLITIK FÜR EINE DEMOKRATISCHE KULTUR DER ARBEITSWELT - Hans-Böckler-Stiftung
DER FALL WOLFGANG STREECK ODER: DAS WECHSELVOLLE VERHÄLTNIS VON
DEMOKRATIE UND KAPITALISMUS
Wolfgang Streeck ist einer der führenden führenden Sozialwissenschaftler der Republik. Eine he-
rausragende Rolle spielte der inzwischen emeritierte Professor als Ratgeber der beiden Kabinet-
te Schröder-Fischer um die Jahrhundertwende. Inzwischen sieht er die Demokratie und den Ka-
pitalismus selbst durch einen Sieg des Kapitalismus in Gefahr.

Streeck, damals Direktor des Max-Planck-Instituts     zu reflektieren (Streeck, 2017). Inzwischen nennt
für Gesellschaftsforschung, formulierte mit Rolf      er diese Zeit, die auch die seine war, „Jahre der
Heinze, Professor der Ruhr Universität in Bochum,     neoliberalen Verwüstung“.
einen ersten Katalog von Reformen. Die beiden            In seinen - auch unter Gewerkschafterinnen und
hatten ihn mit einem Kreis anderer Intellektueller    Gewerkschaftern - viel diskutierten neuen Thesen
erarbeitet.                                           entwirft Streeck das Bild eines Kapitalismus, der
   Im Zentrum ihrer Argumentation stand die Aus-      über das demokratische Prinzip gesiegt habe und
sage, der Kapitalismus sei in ein Entwicklungssta-    nun - da sein Korrektiv fehle - zu seiner eigenen
dium eingetreten, in dem sich der Sozialstaat einer   Überdosis werde.
veränderten Wirklichkeit anpassen müsse.                 Hier und da könne er „‚von unten’ kommende
   Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Vorruhe-          Bemühungen um eine Wiederinbetriebnahme de-
stand galten als nicht mehr zeitgemäß, „Gerech-       mokratischer Institutionen im Dienst einer ‘Gegen-
tigkeitsvorstellungen aus der Nachkriegszeit“         bewegung’ gegen den von außen beschleunigten
müssten überdacht werden. Es brauche mehr             kapitalistischen Modernisierungsprozess” beob-
Dienstleistungen und weniger Industrie. Dienst-       achten.
leistungen, so das Papier der Wissenschaftler,           Es bleibt unklar, wen Streeck damit meint. Eine
müssten ja nicht prekär sein. Dazu gehörten           genauere Beschäftigung mit den Anstrengungen
schließlich auch Werber, Software-Entwickler          der Gewerkschaften um eine Ausbreitung des So-
oder Berater. Sie warben für eine „höhere             zialen und des Demokratischen in der Arbeitswelt
Lohnspreizung”. „Billigjobs für Geringqualifizier-    geht damit offenkundig nicht einher.
te“, unkte das Magazin Der Spiegel unter Bezug-          Streeck bleibt abstrakt. Er prophezeit. Er sagt,
nahme auf das Streeck-Heinze-Papier, gelte bei        der Kapitalismus werde an seiner Überdosis schei-
„vielen SPD-Traditionalisten noch immer als Tabu“.    tern und weiter: „Wir müssen uns von der geläufi-
Und Tabus waren zum brechen da. Es war die Zeit       gen Vorstellung lösen, dass eine Gesellschaft nur
der Grenzüberschreitungen des Sozialen. (Der          dann zu Ende gehen kann, wenn eine Nachfolge-
Spiegel, 1999)                                        gesellschaft bereitsteht“. Man müsse sich also das
   Der, der für den Abschied vom „Alten Denken“       Ende des Kapitalismus auch „als Übergang aus
warb, schrieb 2011 in der Zeitschrift Lettre plötz-   Ordnung in Unordnung vorstellen“.
lich über den drohenden Sieg des Kapitalismus            Für Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter
über die Demokratie. Insbesondere die Versuche        mag die Analyse über den Entwicklungszustand
sozialdemokratischer Regierungen in den zehn          des Kapitalismus interessant sein. Einen Nutzen
Jahren vor und nach der Jahrhundertwende be-          stellt für das tägliche Ringen um eine demokrati-
schrieb Wolfgang Streeck nun als Kapitulation vor     sche Arbeitswelt, eine soziale Gesellschaft und
einem global entfesselten Kapitalismus. Seine         eine ökologische Wirtschafts- und Lebensweise
Thesen hat er inzwischen weiterentwickelt.            nicht dar. Von ihr geht anders als in Zeiten des
   Den Hörern des Südwestrundfunks deutete er         Agenda 2010 keine Handlungsempfehlungen aus,
die Wende von den 1970er in die 2000er Jahre so:      ihr Fatalismus wirkt im schlimmsten Fall desillusio-
Bis in die 1970er Jahre hinein seien die Vertei-      nierend. Vor allem negiert die Behauptung eines
lungskonflikte „noch unmittelbar erfahrbar” ge-       mechanistischen Prinzips das Bemühen von zehn-
wesen, in den 1980er Jahren ging es nurmehr um        tausenden haupt- und ehrenamtlichen Gewerk-
die Verteidigung „sogenannter sozialer Besitzstän-    schafterinnen und Gewerkschaftern, Betriebs-
de”. Danach wurden diese „über kurz oder lang         räten, Vertrauensleuten und Aufsichtsräten, das
von allen ‘verantwortlichen’ Parteien für ‘unhalt-    Demokratische in Wirtschaft und Arbeitswelt wie-
bar’ erklärt”, sagt Streeck - ohne die eigene Rolle   der zu stärker Geltung zu verhelfen.

                                                                                                    Dossier Nr. 3 , 11.2019 · Seite 7
POLITIK FÜR EINE DEMOKRATISCHE KULTUR DER ARBEITSWELT - Hans-Böckler-Stiftung
„Unternehmer wurden durch Fürsprache von                               darin vereinbarte Zentralarbeitsgemeinschaft 1924
                         Gewerkschaften rehabilitiert“                                          scheiterte, wurde er „zu einem Meilenstein in der
                                                                                                Entwicklung kooperativer Arbeitsbeziehungen
                         Satz 1 des Abkommens lautete: „Die Gewerkschaf-                        und damit zum Vorläufer der bundesdeutschen
                         ten werden als berufene Vertreter der Arbeiter-                        Sozialpartnerschaft“, schreibt der Politikwissen-
                         schaft anerkannt.“ Vereinbart wurden die Einfüh-                       schaftler Schröder.
                         rung des 8-Stunden-Tages (mit vollem Lohnaus-                             Die Menschen hofften, dass die Gewerkschaf-
                         gleich), die Regelung der Arbeitsbedingungen                           ten ihnen soziale Sicherheit garantieren könnten.
                         durch Tarifverträge und die Gründung eines, zu                         Doch schon nach der Hyperinflation von 1923 wa-
                         gleichen Teilen von Arbeitgeber- und Arbeitneh-                        ren die Kassen der Gewerkschaften leer. Michael
                         mervertretern besetzten Zentralausschusses, der                        Kittner: „Tatsächlich war die Lage der Gewerk-
                         helfen sollte, die Demobilisierung zu organisieren.                    schaften bereits seit 1924 prekär. ‘Die Inflation hat
                         Die Interessen am Zustandekommen des Paktes                            alle Papiermarkguthaben der Gewerkschaften ver-
                         waren nicht deckungsgleich. Dazu der Politikwis-                       nichtet’“, zitiert der ehemalige Justitiar der IG Me-
                         senschaftler Wolfgang Schröder: „Was für die                           tall die „Gewerkschaftszeitung“ von Anfang des
                         Mehrheit der Unternehmer ein situatives Not- und                       Jahres 1924 (Kittner, 2005).
                         Zweckbündnis war, bedeutete für die Gewerk-                               Arbeitskämpfe konnten nicht mehr aus dem
                         schaften nicht nur die Anerkennung als gleichbe-                       Vermögen, mussten aus dem Laufenden finanziert
                         rechtigter Partner, sondern auch die Erfüllung eines                   werden. Entsprechend gering war ihre Durchset-
                         lange verfolgten Zieles.“ (Schröder, 2018)                             zungsfähigkeit in Arbeitskämpfen.
                            Der Pakt leistete zunächst, was er sollte. Die                         Der Organisationsgrad der Gewerkschaften
                         deutsche Wirtschaft fing sich und kehrte von nied-                     sackte in den Krisenjahren 1923/24 in sich zusam-
                         rigem Niveau zurück auf den Wachstumspfad. Die                         men. Das beste Jahr hatte die in Richtungsorgani-
                         Gewerkschaften sorgten dafür, dass die Arbeiter                        sationen zersplitterte Bewegung 1920 mit mehr
                         und Angestellten von diesem Wachstum profitier-                        als zehn Millionen Mitgliedern. Danach ging es
                         ten. Schröder: „Ende 1918 arbeiteten 1,1 Mio. Be-                      steil bergab. 1924 waren davon keine sechs Millio-
                         schäftigte in Betrieben mit geltenden tariflichen                      nen Mitglieder mehr übrig.
                         Vereinbarungen; vier Jahre später waren es bereits                        Heftige Streiks und Massenaussperrungen
                         14 Millionen.“                                                         wechselten einander ab. Gegen Ende der Republik
                            Der 8-Stunden-Tag überlebte die Wirtschafts-                        waren viele der Arbeitskämpfe politisch motiviert.
                         krisen der 20er Jahre allerdings nicht. Einige der                     Und eine große Zahl von Arbeitgebern bekannte
                         Unterzeichner auf Arbeitgeberseite schlossen sich                      sich nun offen als Gegner der Republik.
                         weit vor 1933 Organisationen an, welche die Re-                           Die Gewerkschaften dagegen wollten sie befes-
                         publik militant bekämpften.                                            tigen. 1928 verabschiedeten die Delegierten des
                            Auch wenn der Pakt nicht lange hielt und die                        Hamburger Gewerkschaftskongresses ein Pro-

Tarifpolitik, Arbeitskampf und staatliche Schlichtung
Gewerkschaften in der Weimarer Republik

                                                                                  Christliche                     H-Duncker-
                                Freie Arbeiter             AfA-Bund                (Arbeiter)        Gedag      sche(Arbeiter)           GDA
1918                                2.866.012                                       538.559                           113.792
1919                                7.337.477                                     1.000.770                           189.831
1920                                8.032.057                689.806              1.105.894         463.199           225.998
1921                                7.751.689                609.626              1.028.900         422.845           224.597         300.357
1922                                7.821.558                658.234              1.033.508         460.086           230.612         302.254
1923                                5.817.258                618.097                806.992         408.773           216.497         294.241
1924                                4.023.867                447.201                612.952         260.796           147.280         260.796
1930                                4.716.569                459.840                778.863         591.520           163.302         335.428
1931                                4.134.902                434.974                698.472         593.800           149.804         327.742
1932*                               3.500.000                        –                     –             –                  –              –

* Für 1932 liegen keine Zahlen mehr vor, diejenigen für den ADGB ist geschätzt.

Quelle: Schneider, Gewerkschaften

Dossier Nr. 3, 11.2019 · Seite 8
POLITIK FÜR EINE DEMOKRATISCHE KULTUR DER ARBEITSWELT - Hans-Böckler-Stiftung
gramm zur Wirtschaftsdemokratie. Das von einer          kommentierte die entsprechende Notverordnung
Gruppe von Wissenschaftlern um den Publizisten          der Reichsregierung: „Nach meiner Ansicht müs-
Fritz Naphtali für den Allgemeinen Deutschen Ge-        sen in dieser schweren Zeit die Tariffesseln fallen
werkschaftsbund (ADGB) entwickelte Programm             und muss es jedem einzelnen Unternehmer über-
zielte darauf ab, Gestaltung und Steuerung der          lassen bleiben, mit seiner Angestellten- und Arbei-
Wirtschaftsprozesse demokratisch zu organisie-          terschaft in freier Vereinbarung unter Ausschal-
ren.                                                    tung aller kollektiven, betriebsfremden Einflüsse
   Wie viele - auch bürgerliche Wissenschaftler         Gehälter, Löhne und Arbeitszeit nach Erfordernis-
und Politiker - waren die Gewerkschaften nach           sen des eigenen Unternehmens festzulegen.”
den Krisen der 20er Jahre davon überzeugt, dass            Am Ende von Weimar war nicht nur zu wenig
die kapitalistische Wirtschaftsweise in nicht allzu     Zeit geblieben, damit eine demokratische Kultur
ferner Zukunft einer höheren, intelligenteren Ord-      der Arbeit heranwachsen konnte. Die auf Verhand-
nung der Wirtschaft weichen werde. In seinem            lungen und Kompromisse aufbauende Demokratie
Referat von 1928 spricht Naphtali davon, dass der       hatte kaum mehr Anhänger, vor allem aber Feinde
Kapitalismus „bevor er gebrochen wird, auch ge-         - nicht zuletzt im Lager der Arbeitgeber und der
bogen werden“ könne. (Naphtali, 1928)                   Großindustrie.
   Solange jedoch der Kapitalismus noch nicht de-
mokratisiert und das Chaos der Märkte noch nicht
durch planvolles Handeln ersetzt war, machten           Führerprinzip statt Demokratie
sich die Gewerkschaften Sorgen, wie er nicht
schon in der Weltwirtschaftskrise 1929 vorzeitig        Am 2. Mai 1933 wurden die Gewerkschaften zer-
zu Bruch gehen würde.                                   schlagen, ihre Funktionärinnen und Funktionäre
                                                        willkürlich verhaftet und eine Arbeitsorganisation
                                                        geschaffen, in der unter dem Zwang des NS-Regi-
Der WTB-Plan: Ein proto-keynesianisches Pro-            mes Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu ei-
gramm                                                   ner nach dem Führerprinzip geordneten Betriebs-
                                                        gemeinschaft gezwungen wurden. Die Arbeitge-
Allenfalls unter der Leitung von Naphtali erarbeite-    ber ernteten die Früchte ihrer größtenteils gegen
te der Wissenschaftler Wladimir Woytinski ge-           die Republik gerichtete Politik. Im Nazi-Deutsch-
meinsam mit dem Holzarbeitergewerkschafter              land erreichte die Kultur der Arbeit einen absoluten
Fritz Tarnow und dem Wirtschaftswissenschaftler         Tiefpunkt: Der §1 des „Gesetzes zur Ordnung der
Fritz Baade ein Konzept für eine „expansive, kredit-    nationalen Arbeit“ von 1934 machte deutlich: „Im
finanzierte, kaufkraftorientierte Investitionsstrate-   Betriebe arbeiten der Unternehmer als Führer des
gie” gegen die Krise (Tenfelde, 2006). Nach den         Betriebes, die Angestellten als Gefolgschaft ge-
ersten Buchstaben ihrer Vornamen wurde das pro-         meinsam zur Förderung der Betriebszwecke und
to-keynesianische Wirtschaftsprogramm auch un-          zum gemeinsamen Nutzen von Volk und Staat.“
ter dem Namen „WTB-Plan“ bekannt. So wollten
die Gewerkschaften die Republik und die Grundla-
gen für eine demokratische Kultur der Arbeit ret-       1.3 Das Grundgesetz greift den Pakt von
ten.                                                    1918 auf
   Einige Arbeitgeberverbände dagegen verfolg-
ten einen ganz anderen Plan: Sie kündigten den          1949 war nicht nur das Gründungsjahr der Bun-
mit den Gewerkschaften geschlossenen Tarifver-          desrepublik Deutschland: Am 8. Mai nahm der
trägen die Verbindlichkeit. 1931 empfahl der Wirt-      Parlamentarische Rat das Grundgesetz mit 53 ge-
schaftsbeirat der Reichsregierung: „Im Rahmen           gen 12 Stimmen an. Am 13. Oktober 1949 gründe-
eines ausreichenden Gesamtprogramms erscheint           ten die Delegierten von 16 Branchengewerkschaf-
eine entsprechende Senkung von Löhnen und Ge-           ten in München den Deutschen Gewerkschafts-
hältern unvermeidlich.“ Der Inhalt von Tarifverträ-     bund (DGB). Die Bundesvereinigung der Deutschen
gen müsse sich „mehr als bisher der wirtschaftli-       Arbeitgeberverbände entstand im gleichen Jahr
chen Entwicklung anpassen“. Am 8. Dezember              wenn auch in Etappen.
1931 setzte die Regierung Brüning diese Empfeh-            Die Satzungen beider Organisationen wurden -
lungen um.                                              wenn man so will - zu einer Art von Nebenverfas-
                                                        sungen der Bundesrepublik. Auch wenn das
                                                        Grundgesetz Gewerkschaften und Arbeitgeber-
„Tariffesseln müssen fallen“                            verbände institutionell nicht verankerte, fanden
                                                        Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter ausrei-
„Inzwischen hatte sich die Haltung der Schwerin-        chend Ansatzpunkte, um zu der jungen Republik
dustrie weiter radikalisiert“, schreibt Michael Kitt-   zu stehen und sie zu prägen. Das waren vor allem:
ner. Der Sprecher der Branche und damit so etwas        – Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen
wie ein Nachfolger von Hugo Stinnes, Paul Reusch,          (Artikel 1)

                                                                                                      Dossier Nr. 3 , 11.2019 · Seite 9
POLITIK FÜR EINE DEMOKRATISCHE KULTUR DER ARBEITSWELT - Hans-Böckler-Stiftung
– Die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9.3)              dass es Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter
                        – Die Bindung des Privateigentums an das Ge-          waren, die bei den Alliierten als Fürsprecher für die
                           meinwohl (Artikel 14)                               vielen Unternehmer und Manager auftraten. Denn
                        – Die Möglichkeit zur Sozialisierung (Artikel 15)     in Folge ihres Arrangements mit dem nationalsozia-
                        – Die Festlegung der BRD als demokratischer           listischen Verbrecherregime war vielen Spitzen der
                           und sozialer Rechtsstaat (Artikel 20)               deutschen Wirtschaft zunächst die Rückkehr zu
                        – Die Beachtung sozialer Rechtsgrundsätze (Arti-      Ansehen und gesellschaftlicher Macht verwehrt:
                           kel 28)                                             „Es waren die deutschen Unternehmer, die durch
                        – Die Zuständigkeit des Bundes für die Sozialge-      die Fürsprache der Gewerkschaften schneller als
                           setzgebung (Artikel 47)                             erwartet wieder zu tragenden Säulen der bundes-
                                                                               deutschen Gesellschaft wurden.“ (Schröder 2003)
                        Die ersten Bundestagswahlen hatten jedoch nicht            Anders als sie es sich erhofft hatten, wurden die
                        die der Mehrheit der Gewerkschafterinnen und Ge-       Gewerkschaften dann „zu einem exponierten Ak-
                        werkschaftern nahestehende SPD mit einem Re-           teur des ‚Modells Deutschland‘“, schreibt Wolf-
                        gierungsauftrag versehen, sondern die CDU.             gang Schröder. Nachdem sie sich zunächst von
                           Im Bündnis mit der damals weitgehend autori-        dem Ziel einer tiefen Mitgestaltung der wirtschaftli-
                        tär-konservativen FDP und der deutschnationalen        chen Prozesse und der unternehmerischen Ent-
                        Deutschen Partei formte Konrad Adenauer eine           scheidungen verabschieden mussten, setzten sie
                        Koalition. Man wollte keinen demokratischen und        ihre ganze Kraft auf das Instrument der Tarifpolitik.
                        sozialen Fortschritt. Die konservativ bis reaktionä-   Teils heftige Arbeitskämpfe waren die Folge, wie
                        re Parlamentsmehrheit nutzte die noch offene Situ-     um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Schrö-
                        ation und drückte der noch jungen Republik ihren       der bilanziert die Jahre so: „Die Fähigkeit der Ge-
                        Stempel auf.                                           werkschaften, wirtschaftliche Leistungssteige-
                           Es gelang den Gewerkschaften noch, dem res-         rung, soziale und demokratische Teilhabe sowie so-
                        taurativen Kabinett Adenauer die Montanmitbe-          zialen Frieden zu verbinden”, machte sie zu einem
                        stimmung in der Eisen- und Stahlindustrie sowie        Schlüsselakteur der Wirtschaftswunderjahre.
                        im Bergbau abzuringen. Viele Gewerkschafterin-
                        nen und Gewerkschafter jubelten. So schrieb etwa
                        der Redakteur der Gewerkschaftlichen Monatshef-        1.4 Soziale Ordnung durch Tarif- und Sozialpart-
                        te, Walter Pahl, nach der Verabschiedung des Ge-       nerschaft
                        setzes, „ein Tor zu einer neuen Sozialordnung sei
                        aufgestoßen worden“ (Pahl, 1951).                      Zunehmend prägten Tarifverträge und Betriebsräte
                           Doch das Tor wurde ganz schnell wieder ver-         die Arbeitsbedingungen in dem von der Industrie
                        schlossen. Als die Gewerkschaften diese weitge-        geprägten Nachkriegsdeutschland. In den 1960er
                        hende Mitbestimmung auf alle Großunternehmen           Jahren waren nahezu die Hälfte der Arbeitneh-
                        ausdehnen wollten, scheiterten sie an Adenauers        merinnen und Arbeitnehmer im verarbeitenden Ge-
                        Mehrheit.                                              werbe beschäftigt. Damals erreichte der Deckungs-
                           Das 1952 verabschiedete Betriebsverfassungs-        grad der Flächentarifverträge in der IG Metall noch
                        gesetz reichte nicht im Ansatz an die Vorstellungen    die Marke von knapp über 80 Prozent (IG Metall,
                        der Gewerkschaften heran. Das Kabinett Adenau-         2016).
                        er gestand der organisierten Arbeitnehmerschaft           2016 waren nurmehr ein Viertel der Arbeitneh-
                        nur eine sehr eingeschränkte Mitbestimmung in          merinnen und Arbeitnehmer direkt in der Industrie
                        den Betrieben und einen Platz am Katzentisch in        beschäftigt. Der Deckungsgrad der Flächentarif-
                        den Aufsichtsräten großer Kapitalgesellschaften        verträge ist mittlerweile auf rund 50 Prozent abge-
                        zu.                                                    sunken - im Westen etwas darüber, in Ostdeutsch-
                           Was in den Jahren danach folgte, war ein zähes      land weit darunter.
                        Ringen mit den erstarkten Arbeitgeberverbänden            In den Dienstleistungsbranchen, in denen inzwi-
                        um Lohn- und Gehaltssteigerungen, um kürzere           schen drei von vier Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
                        Arbeitszeiten und eine bessere soziale Sicherung.      nehmer beschäftigt sind, lag die Sicherung durch
                        Die frühe Bundesrepublik war eine ausgeprägte          Flächentarifverträge 2014 deutlich unter dem Mit-
                        Klassengesellschaft - Arbeiter hatten nicht den        tel. Im Gesundheitsbereich erreichte sie etwa 32
                        gleichen Zugang zu sozialen Sicherheiten wie An-       Prozent der Beschäftigten, im Bereich Verkehr und
                        gestellte.                                             Lagerei 21 Prozent oder im KfZ-Handwerk bei 24
                           Der Wohlstand war höchst ungerecht verteilt.        Prozent. (Statistisches Bundesamt, 2016).
                        Kinder von Arbeitern und einfachen Angestellten           Der Unterschied zwischen den 1960er Jahren
                        waren weit davon entfernt, gleiche Chancen auf         und heute ist erheblich. Und zwar nicht nur wegen
                        Wohlstand und Karriere zu haben, wie Kinder aus        der direkten Wirkung der Flächentarifverträge der
                        Arbeitgeberhaushalten.                                 Industrie, sondern auch wegen ihrer Ausstrahlung
                           Schnell hatten viele Unternehmer vergessen,         auf andere Branchen.

Dossier Nr. 3, 11.2019 · Seite 10
Arbeitgeber im Handwerk oder Dienstleistungen
konnten es sich bis in die 1970er Jahren nicht leis-
ten, geringere Löhne als für an- und ungelernte Be-
schäftigte in der Industrie zu bezahlen, wollten sie
nicht ihre ausgebildeten Gesellinnen und Gesellen
verlieren. Das befestigte das Lohnniveau insge-
samt.
   Die drei sozialen Ordnungsfunktionen von Flä-
chentarifen: Verteilungsgerechtigkeit, Teilhabe,
Leistungsgerechtigkeit
   Tarifverträge entfalten ihre sichernde Wirkung
auf drei Ebenen:
1. Sie sorgen für ein gerechtes Maß von Vertei-
lung zwischen den Entgelten der Beschäftigten
und den Gewinnen der Unternehmen.
2. Unabhängig von ihrer Stellung auf dem Ar-
beitsmarkt profitieren Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer von einer „solidarischen Lohnpolitik“.
3. Weil Tarife regeln, dass für die gleiche Arbeit
der gleiche Lohn zu zahlen ist, sorgen sie dafür,
dass Entgelte nicht nach Wohlverhalten oder Ge-
schlecht gezahlt werden sondern nach der Leis-
tung.

Während Gewerkschaften Tarifverträge abschlie-
ßen, sind es Betriebsräte, die darüber wachen, dass
ihre Arbeitgeber sich an diese Verträge halten. Da-
bei sind „Gewerkschaften“ nicht die häufig von Ar-
beitgebern karikierten „Fremdkörper“ im Wirt-
schaftsgefüge. Vielmehr setzen sich die Tarifkom-
missionen der Gewerkschaften vornehmlich aus
Betriebsräten zusammen.
    Gelingt dieses Zusammenspiel zwischen Be-
triebsräten und handlungsfähigen Gewerkschaften
und orientiert sich die Politik am Grundsatz des de-
mokratischen und sozialen Rechtsstaates, dann
kann es gelingen, den Kapitalismus zu demokrati-
sieren.

                                                       Dossier Nr. 3 , 11.2019 · Seite 11
Kapitel 2
                        UNSICHERHEIT, UNGERECHTIGKEIT, PREKARITÄT:
                        KULTUR DER ARBEIT AM SCHEIDEWEG
                        Seit 30 Jahren entwickeln sich fast alle Indizees einer demokratischen Kultur der Arbeit
                        rückwärts. Das Ergebnis: Das Lohnniveau ist im unteren Bereich ins Rutschen gekommen,
                        der Wohlstand der Arbeitnehmermitte stagniert. Aber es gibt auch gute Nachrichten, etwa
                        von der Mitbestimmung.

                        2.1 Tarifbindung nimmt langsam aber stetig ab             senkonsum basierenden Wirtschaftsmodells Ende
                                                                                  der 70er Jahre, die erste große Welle der technolo-
                        Der Sozialwissenschaftler Wolfgang Streeck                gischen Rationalisierung in der nicht mehr ganz so
                        schrieb über die - aus Industrie- und Fabrikarbeiter-     jungen BRD, die Massenarbeitslosigkeit und der
                        sicht - goldenen 60er und 70er Jahre im Jahre             Rückgang industrieller Arbeit hatten für das Lohn-
                        2003: Die Gewerkschaften in Westeuropa „spielten          gefüge und die Kultur der Arbeit weitreichende
                        eine wichtige Rolle bei der Steigerung der Massen-        Folgen.
                        kaufkraft und der Stabilisierung des Wirtschafts-            Die Ausstrahlung der Industrielöhne auf andere
                        wachstums. Zugleich ließen sie dem Management             Branchen ließ nach. Aber der Organisationsgrad
                        dadurch, dass sie sich ganz auf makro-ökonomi-            hielt sich bis 1990 bei etwa 30 Prozent aller Arbeit-
                        sche Lohnverhandlungen und umverteilende Sozi-            nehmerinnen (Zahlen nach Schröder 2003).
                        alpolitiken (..) konzentrierten, viel Raum bei der Ein-      Um auf die Veränderungen Einfluss nehmen zu
                        führung neuer Technologien und Produktivitätszu-          können, verstärkten die Gewerkschaften den
                        wachs- und profitorientierter Rationalisierung“           Druck auf die Regierungen von Bund und Ländern.
                        (Streeck 2003).                                           Und sie wurden eingebunden: Programme zur Hu-
                            Das ging zwei Jahrzehnte gut. Die Entwicklung         manisierung der Arbeitswelt wurden aufgelegt, die
                        der Mitgliederzahlen gaben den Gewerkschaften             paritätische Mitbestimmung in Betrieben und Un-
                        recht. Auch wenn sie nach Branchen sehr unter-            ternehmen durchgesetzt - gegen erbitterten Wi-
                        schiedlich lagen, schon 1950 erreichte der Organi-        derstand der Arbeitgeber jedoch um den Preis des
                        sationsgrad 36 Prozent der Beschäftigten. Die Ta-         doppelten Stimmrechts des Aufsichtsratsvorsit-
                        riflöhne der Industrie setzten Maßstäbe auch in           zenden.
                        Dienstleistungen und Handwerk.                               Der Konflikt um das Gesetz von 1976 konnte
                            Über Jahrzehnet verlor die Industrie an Bedeu-        erst 1979 durch eine Entscheidung des Bundesver-
                        tung und damit die Tarifverträge der Industrie.           fassungsgerichtes „vorläufig“ befriedet werden.
                            Die Krise des auf Massenproduktion und Mas-           Die Richter stellten entgegen der Klage der Arbeit-

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geber fest: „Die erweiterte Mitbestimmung der Ar-                         zurück - oder finden nicht in diese hinein. Die Zahl
beitnehmer nach dem Mitbestimmungsgesetz                                  der Frauen und Männer, die von ihrem Grundrecht,
vom 4. Mai 1976 ist mit den Grundrechten der von                          Gewerkschaften beizutreten, Gebrauch machen, ist
dem Gesetz erfaßten Gesellschaften, der Anteils-                          seit Jahrzehnten rückläufig.
eigner und der Koalitionen der Arbeitgeber verein-                           1990 waren allein in Westdeutschland 7,9 Millio-
bar.”                                                                     nen Menschen Mitglied in einer Gewerkschaft un-
   In den 1980er Jahren setzten die Gewerkschaf-                          ter dem Dach des DGB. Im vereinten Deutschland
ten Arbeitszeitverkürzungen mit vollem Lohnaus-                           waren es sogar 11,8 Millionen. 28 Jahre später un-
gleich durch - am bekanntesten war die Auseinan-                          terschritt die Gesamtzahl der Mitglieder in DGB-Ge-
dersetzung in der Metall- und Elektroindustrie um                         werkschaften die schwelle von sechs Millionen.
die Einführung der 35-Stunden-Woche. Es ging um
ein Stück Befreiung der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer von der Arbeit und die Sicherung                             2.2 Sinkende Mitgliederzahlen, wachsende
von Arbeitsplätzen in einem neuen Rationalisie-                           Ungerechtigkeit
rungszyklus.
   Die „Mikroelektronik“, wie Streeck die herauf-                         In den 1970er Jahren, als die Arbeitnehmerschaft
ziehende Digitalisierung 2003 noch nannte, verän-                         anfing, „Abschied von der Proletarität“ zu nehmen
derte das Produktionsregime wieder einmal. An                             (Mooser 1983), der Lohnabstand aber - wie Streeck
die Stelle von Massengütern trat die Verwirkli-                           darstellt - noch „stark gestaucht“ war, schien dies
chung individueller Kundenwünsche durch die In-                           noch keine Auswirkungen auf die Kultur der Arbeit
dustrie.                                                                  zu haben.
   Der Beitrag der Industrie zum gesamtwirtschaft-                           1980 erreichte die Bruttolohnquote, also der An-
lichen Wohlstand blieb hoch. Am Arbeitsmarkt je-                          teil der Verdienste der Arbeitnehmerinnen und Ar-
doch nahmen Dienstleistungs-Jobs die erste Stelle                         beitnehmer an den Gesamteinkommen ein Niveau
von industrieller Arbeit ein. Der Shift zog schlech-                      von 75,2 Prozent (Schäfer 2008) - 2018 war der An-
tere Entgelte und Arbeitsbedingungen nach sich.                           teil auf 69 Prozent gesunken.
Von einigen großen Konzernen, häufig ehemaligen                              1980 verteilte sich das Stück der Arbeitneh-
Staatsbetrieben und dem öffentlichen Dienst wa-                           merinnen und Arbeitnehmer am Kuchen über
ren Gewerkschaften nicht wie in der Industrie in                          knapp 20 Millionen sozial versicherte Erwerbstäti-
den Belegschaften verankert und entsprechend                              ge. 2018 - nach der Vereinigung und dem Boom
weniger durchsetzungsstark.                                               der McJobs - sind es mehr als 32 Millionen Frauen
                                                                          und Männer die den kleiner gewordenen Anteil am
                                                                          Bruttoinlandsprodukt teilen müssen.
Abschied von der Proletarität                                                Auch wenn man die Zahl der Haushalte zum
                                                                          Schlüssel der Verteilung macht, ändert sich nichts
Seither ziehen sich mehr Beschäftigte aus der                             Wesentliches an der Dramatik der Entwicklung.
durch Gewerkschaften geprägten Kultur der Arbeit                          Denn auch ihre Zahl hat drastisch zugenommen.

Ungleichheit der Einkommen in Deutschland
Gini-Koeffizient der verfügbaren Haushaltseinkommen

                                                                                                                        WEST
                                                                                                                                             0,297
                                                                                                                                             0,295
     0,28
                                                                                                                      GESAMT
     0,26                                                                                                                                    0,264
0,247
0,245
                                                                                                                         OST
     0,22

0,205
            1991                                                                                                                  2016

Je höher der Koeffizient, desto größer die Ungleichverteilung der Einkommen.

Daten: WSI-Report 53, 2019, Daten: SOEP

                                                                                                                       Dossier Nr. 3 , 11.2019 · Seite 13
ARBEIT IN UND MIT DER BLOCKCHAIN?
                        Wenn man Tarifverträge auf eine Ordnung der Arbeit in einem regelgebundenen System redu-
                        ziert, wenn man also das Verhandeln, das Diskutieren und Demonstrieren, das Mobilisieren, die
                        Begegnungen und die Auseinandersetzungen um und über die Ordnung der Arbeit abzieht, dann
                        ließe sich wohl auch die Arbeit samt ihrer Organisation selbst als Algorithmus in die digitale Welt
                        transportieren.

                           Die Digitalisierung könnte bald schon zumin-       über die neue Technologie abgewickelt werden.
                        dest das Rückgrat der Personalarbeit werden. Und      Das Szenario von R.W. Bons zu Ende gedacht wäre
                        das nicht nur, weil viele Verwaltungsprozesse mit-    es freilich möglich, alle Bedingungen der Arbeit in
                        tels künstlicher Intelligenz zunehmend von der rea-   einer Blockchain zu organisieren: Die zu erbringen-
                        len in die virtuelle Welt verschoben werden kön-      de Leistung, die Gehaltszahlungen, die Abführung
                        nen.                                                  an und die Organisation einer Betriebsrentenversi-
                           Das Zauberwort ist die „Blockchain“, eine Tech-    cherung, den Ort der Leistungserbringung, die Vor-
                        nologie, die gemeinhin auf ihre Funktion als Zah-     gabe und den Nachweis von Arbeitszeiten. Was
                        lungsmittel reduziert wird. Die bekannteste Varian-   heute einen komplexen Mechanismus erfordert,
                        te einer Blockchain-Währung ist wohl der umstrit-     ließe sich über die kommende Technologie zum In-
                        tene Bitcoin.                                         formationsmanagement einfach realisieren. Auch
                           Die Blockchain kann jedoch mehr. Sie kann zu-      Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen könnten
                        gleich Informationen speichern und Ansprüche          in diesem Informationskontext eingebaut werden.
                        von Vertragspartnern verifizieren. Und so können          Das Wesen der Technologie folgt einem weite-
                        Verwaltungsvorgänge und komplexe Prozesse ver-        ren Prinzip: Dritte Parteien werden beim Zustande-
                        einfacht und geräuschlos abgewickelt werden.          kommen und der Abwicklung von Verträgen, bei
                           Die Seite blockchainwelt.de versucht es mit ei-    Handelsverträgen etwa Banken, schlicht überflüs-
                        ner Definition so:                                    sig - oder in ihrer Bedeutung erheblich reduziert.
                           „Die Blockchain bezeichnet eine Technologie,           Dass sich die Blockchain dritte Parteien wie Ge-
                        durch welche es möglich wird, jegliche Art von In-    werkschaften und Betriebsräte aus dem Verhältnis
                        formation in einer öffentlich einsehbaren Daten-      zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmerinnen und
                        bank zu speichern, zu verarbeiten, zu teilen und zu   Arbeitnehmer zurückdrängen könnte, ist zwar
                        verwalten. In einer kontinuierlichen Liste von Da-    nicht Gegenstand von Bons Überlegungen - aber
                        tensätzen (genannt Blocks) werden diese mittels       ihre logische Konsequenz.
                        der Kryptographie verkettet.” (Blockchainwelt)            Bons beschreibt die Veränderung von Dienst-
                           Ausgangspunkt der Technologie sind also die        leistungen durch die kommende Technologie.
                        Verschiebung der Kontrolle monetärer Werte            Etwa die einer Schadensabwicklung durch eine
                        (bspw. Bitcoins) und bzw. oder von Informationen.     Versicherung. Bons illustriert die Verkürzung der
                        Nur sind an dieser Verschiebung nicht nur zwei        Verwaltungsstrecke bis zur Auszahlung der Versi-
                        Personen oder Institutionen beteiligt, sondern die    cherungssumme am Beispiel eines Laptops. „Da-
                        gesamte, an der Blockchain teilnehmende Welt.         mit der Versicherer den Schaden bezahlt, muss der
                        Jeder kann jede Transaktion, jedes Guthaben se-       Eigentümer nachweisen, dass er auch der Eigentü-
                        hen - jedoch sind die Daten so verschlüsselt, dass    mer ist, klassischer Weise durch Rechnung. Zum
                        sie keiner Person, keinem Unternehmen zugeord-        anderen, dass die Wohnung verschlossen war, ide-
                        net werden können.                                    alerweise durch eine Bescheinigung der Polizei.”
                           Der niederländische Wirtschaftsinformatiker        Anhand von GPS-Daten könnte nachgewiesen
                        Roger W.H. Bons beschäftigt sich sein Wissen-         werden, dass der Laptop tatsächlich zum Zeit-
                        schaftsleben mit Sicherheitsfragen in der digitalen   punkt des Diebstahls in der Wohnung war. Die
                        Welt. Er hat sich Gedanken gemacht, wie das Ge-       Nachweise müssen dem Versicherer vorgelegt
                        rüst der Arbeit, ihre Organisation aus Personalbü-    werden, häufig per Post.“
                        ros in die Blockchain verlegt werden könnte.              Über die Blockchain könnten alle Daten organi-
                           Wenn Handelskontrakte über die Blockchain          siert werden. Der Bestohlene meldet den Diebstahl
                        abgewickelt werden können - also die Informatio-      via App, die Information des Händlers über den Er-
                        nen über eine Bestellung, ihre Lieferung und die      werb liegt seit Kauf des Gerätes digital vor, die re-
                        Zahlung in einem Block gebündelt werden, warum        gelmäßige Zahlung der Versicherungsprämie ist
                        dann nicht auch Verträge über Arbeit mit Hilfe die-   ebenfalls nachgewiesen und die Polizei bestätigt
                        ser Technologie organisieren. Eine Aufgabe wird       den Diebstahl. Schließlich und endlich wird der
                        ausgeschrieben, jemand erledigt sie, meldet dies      Vorgang abgeschlossen, weil die Blockchain regis-
                        und nach Bestätigung der Leistung wird gezahlt.       triert, dass die Versicherung via Bitcoin den Scha-
                           Genauso könnten komplexere Arbeitsverträge         den reguliert hat.

Dossier Nr. 3, 11.2019 · Seite 14
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