Drei Kinder und mehr-Familien aus der Mitte der Gesellschaft Martin Bujard, Detlev Lück, Jasmin Passet-Wittig und Linda Lux

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Drei Kinder und mehr-Familien aus der Mitte der Gesellschaft Martin Bujard, Detlev Lück, Jasmin Passet-Wittig und Linda Lux
Drei Kinder und mehr –
  Familien aus der Mitte
der Gesellschaft

Martin Bujard, Detlev Lück, Jasmin Passet-Wittig und Linda Lux

                                                                 www.kas.de
Drei Kinder und mehr –
   Familien aus der Mitte
der Gesellschaft

Martin Bujard, Detlev Lück, Jasmin Passet-Wittig und Linda Lux
Inhaltsverzeichnis

    Vorwort                                                                                 5

    1. Kinderreiche Familien in Deutschland                                                 6

    2. Demografische und gesellschaftliche Bedeutung                                        8

      2.1 Langfristiger Geburtenrückgang und dessen gravierende Folgen                      9
      2.2 Trendwende bei den Geburten­zahlen auf niedrigem Niveau                           9
      2.3 Die unterschätzte Bedeutung der kinderreichen Familie                            11
      2.4 Generationen-Paradox bei Kinderreichtum                                          13

    3. Wer hat drei oder mehr Kinder in Deutschland?                                       14

      3.1 Vielfalt kinderreicher Familien                                                  15
      3.2 Die Bedeutung von Bildung und Migrationshintergrund                              16
      3.3 Perspektivenwechsel: Zwei Drittel der kinderreichen Frauen
          haben mittlere oder hohe Bildung                                                 17
      3.4 Unterschiede zwischen Frauen und Männern                                         20

    4. Warum bekommen die meisten Eltern nur zwei Kinder?                                  23

      4.1 Die Zwei-Kind-Norm                                                               24
      4.2 Verantwortete Elternschaft                                                       27
      4.3 Der „Wert“ von Kindern für ihre Eltern                                           28
      4.4 Kinderreichtum im Lebensverlauf: Aufschub von Geburten und biologische Uhr       29
      4.5 Ökonomische Gründe für und gegen ein drittes oder weiteres Kind                  30

    5. Die Lebenssituation von Mehrkind­familien                                           31

      5.1 Die ökonomische Situation von Mehrkindfamilien                                   32
      5.2 Wohnsituation                                                                    33
      5.3 Vereinbarkeit von Familie und Beruf und geschlechtsspezifische Aufgabenteilung   34
      5.4 Kinderreiche Familien in der Familienpolitik                                     35

2
6. Einstellungen gegenüber kinder­reichen Familien                                           37

  6.1 Gesellschaftliche Wahrnehmung                                                          38
  6.2 Persönliche Einstellungen junger Erwachsener                                           39

7. Fazit                                                                                     41

  7.1 Die unterschätzte Bedeutung kinderreicher Familien für die demografische Entwicklung   42
  7.2 Die meisten kinderreichen Familien kommen aus der Mitte der Gesellschaft               42
  7.3 Bei muslimischen Migrantinnen ist Kinderreichtum besonders verbreitet                  42
  7.4 Kulturelle Gründe sind entscheidend für den niedrigen Anteil kinderreicher Familien    43
  7.5 Späte Familiengründung bei Akademikerinnen                                             43
  7.6 Fast jede fünfte Mehrkindfamilie ist armutsgefährdet                                   43

8. Politische Implikationen                                                                  44

  8.1 Image der kinderreichen Familien verbessern                                            45
  8.2 Teilhabe an Familie und Beruf für alle Bildungsgruppen
       stärken und so bildungsspezifischer „Arbeitsteilung“ entgegenwirken                   45
  8.3 Vereinbarkeit für kinderreiche Familien im flexiblen Zweiverdienermodell               45
  8.4 Kinderreiche Familien bei Wohnraum und Einkommen unterstützen                          46

9. Herausforderungen und Bedarfe großer Familien – zehn Eltern berichten                     47

  Elternstatement 1                                                                          49
  Elternstatement 2                                                                          51
  Elternstatement 3                                                                          53
  Elternstatement 4                                                                          55
  Elternstatement 5                                                                          57
  Elternstatement 6                                                                          58
  Elternstatement 7                                                                          59
  Elternstatement 8                                                                          60
  Elternstatement 9                                                                          62
  Elternstatement 10                                                                         63

Literaturverzeichnis                                                                         68

Autorinnen und Autoren                                                                       73

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Vorwort

Das Familienleitbild in Deutschland wird in der         Umso interessanter ist die Expertise des Bundes-
Regel von Mutter, Vater und ein bis zwei Kindern        institut für Bevölkerungsforschung, die in ihrer
bestimmt. Familien mit mehr als zwei Kindern            wissenschaftlichen Untersuchung zu dem Ergeb-
sind heute seltener im Blick. Noch 1975 hatte           nis kommt, dass die Mehrheit der jüngeren
etwa jede vierte Familie drei oder mehr Kinder.         Mütter mit drei Kindern über einen mittleren
Das hat sich seitdem verändert. Als kinderreich         bis hohen Bildungsabschluss verfügt und der
gelten daher heute bereits Familien ab dem drit-        gesellschaftlichen Mitte zuzurechnen ist. Das
ten Kind.                                               Leben mit mehr als zwei Kindern ist somit in den
                                                        Familien der Mittelschicht verbreiteter als bisher
Auch wenn sich Paare in den letzten Jahren wie-         angenommen. Wie aktuelle Studien zeigen, ist der
der ein bisschen häufiger für ein, zwei oder drei       Wunsch nach einer größeren Familie bei Akade-
Kinder entscheiden, so hat sich der Anteil der-         mikerinnen sogar stärker ausgeprägt als in den
jenigen, die kinderreich sind, also drei oder mehr      übrigen Bevölkerungsgruppen. Dieser Wandel in
Kinder haben, in den letzten Jahrzehnten auf            den Einstellungen zeigt sich bereits zaghaft in der
etwa 16 Prozent eingependelt. Dabei bildet die          zunehmenden Attraktivität der Drei-Kind-­Familie
Familie mit drei Kindern die größte Gruppe. In          in der Mittelschicht, so dass manche Zeitungen
Deutschland leben derzeit 893.000 Familien mit          bereits von „3 als die neue 2“ sprechen.
drei und mehr minderjährigen Kindern im Haus-
halt. Mit 697.000 Familien hat der überwiegende         Die folgende Expertise von Dr. Martin Bujard,
Teil dieser Familien drei Kinder. Der Anteil der        Dr. Detlev Lück, Dr. Jasmin Passet-Wittig und Linda
Familien mit vier minderjährigen Kindern beträgt        Lux setzt sich auf der Grundlage aktueller Daten
mit 126.000 Familien nur 2 Prozent an allen             ausführlich mit der Vielfalt kinderreicher Fami-
Familien. Familien mit fünf und mehr Kindern            lien, ihrer gesellschaftlichen und demografischen
sind selten in Deutschland und werden oft kri-          Bedeutung sowie ihrer konkreten Lebenssituation
tisch beäugt. Viele kinderreiche Familien vor           auseinander. Dabei weist sie darauf hin, dass
allem in großen Familien mit vier und mehr Kin-         der überwiegende Teil der Drei-Kind-Familien
dern haben eine Zuwanderungsgeschichte.                 der gesellschaftlichen Mitte zuzurechnen ist
                                                        und spezifischer politischer Angebote und Maß-
Tatsächlich gibt es „die“ kinderreiche Familie nicht.   nahmen bedarf.
Vielmehr ist ihre Lebenssituation ähnlich vielfältig
wie die von Familien mit ein oder zwei Kindern.         Christine Henry-Huthmacher
Dennoch unterliegen kinderreiche Familien einer-
seits dem Stereotyp bildungsferner Familien mit
einem hohen Grad an Stigmatisierung, anderer-
seits dem Bild erfolgreicher Eltern, die sich viele
Kinder leisten können, ohne auf Wohlstand ver-
zichten zu müssen. Die Mitte der Gesellschaft wird
dabei weniger mit kinderreichen Familien in Ver-
bindung gebracht.

                                                                                                              5
Kinderreiche
		Familien
in Deutschland
Das Wissen über kinderreiche Familien, über ihre        Bedeutung. Es ist wissenschaftliche Konvention,
Lebensrealität, die Wege in den Kinderreichtum          dass Kinderreichtum mit drei Kindern beginnt.
und darüber, warum die meisten Eltern nur ein           Vor einem halben Jahrhundert wurde erst ab dem
oder zwei Kinder haben, ist noch sehr begrenzt.         vierten Kind von Kinderreichtum gesprochen.
Zudem sind kinderreiche Familien sehr vielfältig        Kinderreichtum bezieht sich auf die Zahl der eige-
und weisen erhebliche Unterschiede hinsichtlich         nen Kinder einer Frau oder eines Mannes. Mehr-
ihrer Motivation, ihrer Bedarfe und politischen         kindfamilien dagegen beziehen sich auf die Zahl
Unterstützungsmöglichkeiten auf. Ein bisher eben-       der Kinder, die mit den Eltern in einem Haushalt
falls wenig beleuchtetes Forschungsthema betrifft       zusammen leben (z. B. auch in Patchworkfamilien).
die Einstellungen gegenüber Kinderreichen in der        Zwischen kinderreichen Familien und Mehrkindfa-
Gesellschaft.                                           milien gibt es große Schnittmengen, jedoch auch
                                                        Unterschiede.
Die vorliegende Expertise analysiert die Vielfalt der
kinderreichen Familien in Deutschland und kommt         Der Geburtenrückgang der letzten Jahrzehnte geht
zu dem Schluss, dass die Mehrheit der jüngeren          zu großen Teilen darauf zurück, dass sich heute
kinderreichen Frauen der gesellschaftlichen Mitte       deutlich weniger Elternpaare für drei und wei-
zuzurechnen ist. In der Mittelschicht leben somit       tere Kinder entscheiden. Der Rückgang der Zahl
mehr kinderreiche Familien, vor allem mit drei Kin-     kinderreicher Familien erklärt nach Berechnung
dern, als bisher angenommen. Der Wunsch nach            von Bujard und Sulak (2016) rund 68 Prozent des
einer größeren Familie ist bei Akademikerinnen          Geburtenrückgangs, wohingegen nur 26 Prozent
sogar noch stärker ausgeprägt als in den übrigen        auf den deutlichen Anstieg der Kinderlosigkeit
Bevölkerungsgruppen. Vor allem die jüngere Gene-        zurückzuführen sind. Darüber hinaus haben kinder-
ration hat eine veränderte Einstellung zu kinder-       reiche Familien eine zentrale Bedeutung für die
reichen Familien. Während kinderreiche Familien         demografische Entwicklung und für die Weitergabe
in Deutschland eher mit einem schlechten Image          von Werten, Kultur und Bildungschancen, wovon
zu kämpfen haben, erfahren sie in der jüngeren          die gesamte Gesellschaft profitiert. Bisher jedoch
Generation eine deutlich positivere Einstellung.        hat die Verbesserung der Lebenssituation kinder-
                                                        reicher Familien noch nicht den politischen Stellen-
Die partnerschaftlichen Lebenskonzepte der jün-         wert, der ihrer großen gesellschaftlichen Bedeutung
geren Generation, die eine aktive Rolle in Familie      angemessen wäre. Die deutsche Familien- und
und Beruf für beide Partner vorsieht, sind auch für     Sozialpolitik, aber auch der Wohnungsbau sind
viele Paare maßgeblich, die sich drei oder mehr         bisher auf die Zwei-Kind-Familie angelegt.
Kinder wünschen. Die heutige Frauengeneration ist
besser ausgebildet als frühere und eine adäquate        Diese Expertise analysiert die Verbreitung, die
berufliche Teilhabe ist für die meisten wichtig –       Lebenslagen und die Einstellungen von kinder-
was keinesfalls in Widerspruch zu einem Wunsch          reichen Familien basierend auf einem breitem und
nach einer höheren Kinderzahl steht. Daher ist es       aktuellen Datenfundament. Dabei macht sie nicht
auch eine gesellschaftspolitische Herausforderung,      nur die Schwierigkeiten deutlich, die ein Familien-
Modelle zu ermöglichen, mit denen Berufstätigkeit       leben mit mehreren Kindern in einer Gesellschaft
oder auch Karriere mit mehreren Kindern verein-         mit sich bringt, die vorwiegend auf zwei Kinder aus-
bar sind. Allerdings ist die Entscheidung für eine      gerichtet ist. Vielmehr weist sie nach, dass Kinder-
größere Familie für jüngere Frauen vor allem in         reichtum für viele jüngere Paare der Mittelschicht
der Mittelschicht durch längere Ausbildungszeiten,      attraktiv sein kann und dass der Wunsch, Fami-
verzögerte Berufseinstiege und befristete Arbeits-      lie und Beruf zu verbinden, in unterschiedlichen
verträge erschwert. Der Übergang zu dritten und         Varianten gelebt wird. Sie verdeutlicht, dass sich
weiteren Kindern findet dann aufgrund der späten        eine Politik für kinderreiche Familien weitaus stär-
Familiengründung immer seltener statt.                  ker an den Bedürfnissen der Mittelschicht orientie-
                                                        ren sollte und benennt Handlungsfelder der Politik.
Kinderreiche Familien haben vor allem für die
demografische Entwicklung eine besondere

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Demografische und
  gesellschaftliche
Bedeutung
2.1 Langfristiger Geburtenrückgang                     und bei der Pflege zu erwarten. Darüber hinaus
und dessen gravierende Folgen                          führt der Geburtenrückgang zu einem Fach-
                                                       kräftemangel und einem Bevölkerungsrückgang,
Trotz eines leichten Anstiegs in den letzten Jahren    was letztlich auch zu einem historisch großen
sind die Geburtenraten in Deutschland seit mehr        Bedarf an Zuwanderung führt, der aber auch die
als vier Jahrzehnten sehr niedrig. Die zusammen-       Finanzierungsprobleme der Sozialversicherungen
gefasste Geburtenziffer (TFR)1 lag im Jahr 1975        kaum lösen kann. Wie stark die Bewältigung des
erstmals unter 1,5 Kindern pro Frau, was Demo-         demografischen Wandels von höheren Geburten-
grafen als Niedrig-Fertilität-Schwelle bezeichnen      raten in Deutschland abhängt, zeigt eine diffe-
(Kohler et al. 2002), und blieb bis zum Jahr 2014      renzierte Analyse der Folgen des demografischen
unter dieser Schwelle, meist mit einer Geburten-       Wandels (Bujard 2015).
rate zwischen 1,3 und 1,4. Kein anderes Land
der Welt hatte über solch einen langen Zeitraum
derart niedrige Geburtenraten. Um eine Eltern-         2.2 Trendwende bei den Geburten­
generation in Deutschland zahlenmäßig durch            zahlen auf niedrigem Niveau
ihre Kinder zu ersetzen, sind Werte von 2,1 not-
wendig. Die gegenwärtige Elterngeneration ist          Die demografische Entwicklung in Deutschland
bereits kleiner als die vorherige Generation (die      ist durch eine in den letzten Jahrzehnten sinkende
der Großeltern). Allein dadurch werden heute –         Geburtenrate gekennzeichnet. Die kohortenspezi-
selbst bei steigenden Geburtenraten – absolut          fische Geburtenrate (CTFR) bildet die endgültige
betrachtet weniger Kinder geboren, da Frauen,          und tatsächliche Kinderzahl von Frauen eines
die vor 30 Jahren nicht geboren wurden, heute          bestimmten Jahrgangs ab und ermöglicht weiter-
keine Kinder bekommen können. Durch dieses             gehende Analysen zu Trends und auch zum Ein-
„Erbe“ des Geburtenrückgangs der 1960er und            fluss kinderreicher Familien auf die Geburtenent-
1970er Jahre verstärkt sich heute der Rückgang         wicklung. Ihr höchster Wert im 20. Jahrhun­dert
der absoluten Geburtenzahlen, denn Deutschland         lag für die Frauen des Jahrgangs 1933 bei 2,22.
hat inzwischen eine Altersstruktur mit vielen über     Danach ist die Geburtenrate lange kontinuierlich
50-Jährigen und relativ wenigen unter 30-Jährigen.     gesunken; bei Frauen des Jahrgang 1968 – Frauen,
                                                       die zum Zeitpunkt dieser Publikation 50 Jahre alt
Die Folgen dieser Entwicklung sind weitreichend        sind – wurde der Tiefpunkt mit durchschnittlich
und langfristig. Sie betreffen Wirtschaft, Politik     1,49 Kindern erreicht (siehe Abb. 1). Für Frauen,
und Gesellschaft in vielfacher Weise und spiegeln      die zwischen 35 und 49 Jahre alt sind – die vom
sich in zahlreichen Maßnahmen und Strategien           Alter her noch Kinder bekommen könnten – lässt
der Bundesregierung wider. Bundeskanzlerin             sich deren endgültige Kinderzahl anhand von
Angela Merkel bezeichnete den demografischen           Extrapolationstechniken gut berechnen. Frauen,
Wandel neben der Globalisierung als „die größte        die Ende der 1970er Jahre und Anfang der 1980er
Veränderung unseres gesellschaftlichen Lebens,         Jahre geboren sind, werden im Durchschnitt auf
aber auch des persönlichen Lebens jedes Einzel-        etwa 1,6 Kinder kommen.
nen in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts“
(Merkel 2012). Insbesondere für die Sozial-
systeme sind die Folgen gravierend, da sich der
Anteil der Rentner bezogen auf 100 Erwerbstätige
aufgrund des langanhaltenden Geburtentiefs
zwischen 2000 und 2035 verdoppeln wird. Trotz
Produktivitätszuwächsen, Anhebungen des Renten­
eintrittsalters, Steigerung der Erwerbstätigkeit von
Frauen und Steuerzuschüssen werden die Renten-
beiträge steigen und das Rentenniveau sinken.
Ähnliche Probleme sind im Gesundheitssystem

                                                                                                            9
Drei Kinder und mehr – Familien aus der Mitte der Gesellschaft

       Abbildung 1: Endgültige Kinderzahl von Frauen der Jahrgänge 1930–1985 (ab 1966 extrapoliert)

        Endgültige Kinderzahl pro Frau
        2,5

        2,0

                        Höhepunkt
                        Jg. 1933: 2,22
        1,5
                                                                        Tiefpunkt
                                                                        Jg. 1968: 1,49

        1,0

        0,5
              1930     1935      1940     1945      1950    1955     1960      1965      1970   1975   1980    1985
                                                       Geburtsjahrgang der Frau

              Endgültige Kinderzahl (CTFR) mit 49 Jahren
              Statische Extrapolation (Freeze)
              Dynamische Extrapolation (5-Jahres-Trend)
              bisherige Kinderzahl

       Quelle: Jahrgänge1967–85: eigene Berechnungen (Extrapolationen) auf Basis altersspezifischer Fertilitätsraten
       (ASFR), Jahrgänge 1930–66 und ASFR: Statistisches Bundesamt (2017).

       Der Wiederanstieg der Geburtenrate ist eine                 Allerdings ist auch bei den einheimischen Frauen
       deutliche Trendwende. Diese Trendwende hat                  eine positive Entwicklung festzustellen. Wäh-
       vor allem zwei Gründe. Zum einen ist der Anteil             rend die zusammengefasste Geburtenrate in
       von Frauen mit Migrationshintergrund erheb-                 Deutschland insgesamt in den zwölf Jahren von
       lich angestiegen: bei den Frauen im gebärfähigen            1,34 Kindern pro Frau in 2005 auf 1,57 in 2017
       Alter (15–44 Jahre) von 22 Prozent im Jahr 2005             angestiegen ist (also um 23 Kinder bezogen auf
       auf 29 Prozent in 2016. Diese Frauen haben im               100 Frauen), ist die zusammengefasste Geburten-
       Durchschnitt eine höhere Geburtenrate als ein-              rate der deutschen Frauen im selben Zeitraum
       heimische Frauen, sie liegt etwa bei zwei Kin-              von 1,29 auf 1,45 angestiegen (16 Kinder bezogen
       dern pro Frau. Die Geburtenrate von Migran-                 auf 100 Frauen). Dieser Anstieg lässt sich auch auf
       tinnen schwankt dabei erheblich im Zeitverlauf              familienpolitische Reformen zurückführen, die die
       und zwischen verschiedenen Herkunftsländern,                Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtert
       insbesondere Frauen aus Herkunftsländern im                 haben und die insbesondere das Verhalten und
       Nahen Osten und Afrika weisen höhere Kinder-                die Lebensoptionen von Müttern verändert haben.
       zahlen auf. Wenn der Anteil von Migrantinnen an             Internationale Vergleiche zeigen, dass der Ausbau
       der weiblichen Bevölkerung im gebärfähigen Alter            der Kinderbetreuung mit einer gewissen Zeitver-
       steigt, steigt auch die Geburtenrate insgesamt              zögerung einen positiven Effekt auf die Geburten-
       an. So hat unter anderem die Zuwanderung aus                entwicklung hat (Bujard 2011; Luci-Greulich und
       Syrien in den letzten Jahren zum Geburtenanstieg            Thévenon 2013). Die Einführung des Elterngeldes
       in Deutschland beigetragen.                                 hat zu einem Anstieg der Geburten bei über

10
2. Demografische und gesellschaftliche Bedeutung

35-jährigen Akademikerinnen beigetragen (Bujard         Um diese Frage zu beantworten, wurden erstmals
und Passet 2013) und zudem bei Akademikerinnen          für Deutschland die Effekte von Veränderungen
zu einem Rückgang der endgültigen Kinderlosig-          der unterschiedlichen Kinderzahlen auf die
keit von 29 Prozent bei den Ende der 1960er Jahre       Geburtenrate mit Dekompositionsanalysen
geborenen Frauen auf 25 Prozent bei den etwas           berechnet (Bujard und Sulak 2016). Dies ist nur
jüngeren Frauen geführt.                                mit der kohortenspezifischen Geburtenrate (CTFR)
                                                        sinnvoll. Die Berechnung wurde für den Rückgang
                                                        der endgültigen Kinderzahl zwischen den Frauen
2.3 Die unterschätzte Bedeutung                         der Jahrgänge 1933 (Höchstwert) bis 1968 (Tiefst-
der kinderreichen Familie                               wert, vgl. Abbildung 1) durchgeführt, was dem
                                                        kompletten Zeitraum des in den 1960er Jahren
Trotz des leichten Anstiegs liegt die Geburtenrate      einsetzenden Geburtenrückgangs entspricht.
weiterhin auf niedrigem Niveau – deutlich unter-        Bei der Dekomposition wird zunächst berechnet,
halb der Ausgleichsrate von 2,1. Häufig wird in         wie hoch die endgültige Kinderzahl der 1968
den Medien die hohe Kinderlosigkeit in Deutsch-         geborenen (und heute 50-jährigen) Frauen wäre,
land thematisiert, die vor allem eine Folge von         wenn der Anteil an Kinderlosen seit dem Geburts-
Individualisierung, Problemen bei der Partner-          jahrgang 1933 gleich geblieben wäre. Dann läge
findung und Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit       die Geburtenrate der 1968 geborenen Frauen um
von Familie und Beruf sei. Dagegen wird die Frage       0,15 höher. Wenn jedoch stattdessen der Anteil
nach dem Rückgang kinderreicher Familien kaum           der Kinderreichen gleich geblieben wäre, läge
thematisiert. Insofern lohnt es sich, einen Blick auf   die Geburtenrate heute deutlich höher. Letztlich
die Frage zu werfen, inwieweit der Geburtenrück-        ist der Geburtenrückgang in der Bundesrepublik
gang in Deutschland eher durch den Anstieg von          Deutschland zu 26 Prozent auf den Anstieg der
Kinderlosigkeit, die Zunahme von Einkindfamilien        Kinderlosigkeit und zu 68 Prozent auf den Rück-
oder den Rückgang Kinderreicher verursacht ist.         gang kinderreicher Familien zurückzuführen
                                                        (siehe Abbildung 2).

                                                                                                            11
Drei Kinder und mehr – Familien aus der Mitte der Gesellschaft

       Abbildung 2: Dekomposition der Anteile von steigender Kinderlosigkeit und abnehmendem
       Kinderreichtum am Geburtenrückgang

       Veränderung zur Kohertenfertilität des Jahrgangs 1933

        0,1

        0,0

        -0,1

        -0,2

        -0,3

        -0,4

        -0,5

        -0,6
               1933         1938           1943           1948          1953        1958         1963         1968
                                                     Geburtsjahrgang der Frau

           Effekt Kinderlosigkeit
           Effekt Relation der Paritäten 1 und 2
           Interaktionseffekt
           Effekt der Paritäten 3+

       Quelle: Bujard und Sulak (2016), Seite 506.

       Um in Deutschland Geburtenraten in der Nähe                hochentwickelten Ländern mit Geburtenraten
       der Ausgleichsrate von knapp über Zwei zu                  um die Zwei – wie Frankreich, USA oder Island –
       erreichen, reicht es nicht aus, Kinderlosen die            weitaus mehr kinderreiche Familien leben als in
       Familiengründung zu ermöglichen. Vielmehr                  Deutschland. Für einen deutlicheren Anstieg der
       müsste sich der Anteil der Familien erhöhen,               Geburtenrate sind die kinderreichen Familien
       die sich für ein drittes oder weiteres Kind ent-           daher von entscheidender Bedeutung.
       scheiden. Dies sieht man auch daran, dass in den

12
2. Demografische und gesellschaftliche Bedeutung

2.4 Generationen-Paradox bei                                         Haushalt. Da ältere Geschwister der Zehnjährigen
Kinderreichtum                                                       häufig bereits ausgezogen sind, liegt der Anteil
                                                                     von Kindern aus kinderreichen Familien an allen
Kinderreichen Familien kommt für die Erziehung,                      Kindern sogar noch höher. Mehr als jedes dritte
Bildung und Sozialisation von Kindern und die                        Kind in Deutschland kommt also aus einer kinder-
Vermittlung von Kultur und Werten eine heraus-                       reichen Familie (Statistisches Bundesamt 2018a).
ragende Bedeutung zu. Das mag zunächst wider-
sprüchlich klingen, da zuvor der geringe Anteil                      Das bedeutet, dass trotz der vergleichsweise
betont wurde, den kinderreiche Familien heute an                     geringen Zahl kinderreicher Eltern, kinder-
allen Familien ausmachen. Der Bedeutung kinder-                      reiche Familien vergleichsweise viele Kinder
reicher Familien liegt das Generationen-Paradox                      erziehen und somit einen enormen und über-
zugrunde. Betrachtet man die Elterngeneration,                       proportionalen Beitrag für die Erziehung der
dann sind Frauen zwischen 40 und 49 Jahren, laut                     nächsten Generation leisten. Kinderreiche
Mikrozensus, nur zu etwa 17 Prozent kinderreich.                     Familien haben Verdienste für die Gesellschaft,
Aus der Perspektive der Kindergeneration sieht                       da sie Humankapital (Kaufmann 1995) für den
das anders aus: 33 Prozent der zehnjährigen Kin-                     zukünftigen Wohlstand generieren und gleich-
der in Deutschland leben im Jahr 2016 mit zwei                       zeitig Werte, Sprache und Kultur für die Nach-
oder mehr Geschwistern zusammen in einem                             haltigkeit unserer Gesellschaft weitergeben.

1   Die zusammengefasste Geburtenziffer (TFR) berechnet die
    durchschnittliche Kinderzahl von Frauen innerhalb eines
    Jahres, indem sie die altersspezifischen Geburtenziffern
    verschiedener Frauenjahrgänge innerhalb eines Jahres
    addiert. Sie ist ein künstlicher Indikator, der durch den Auf-
    schub des Geburtsalters etwas verzerrt ist, aber den Vorteil
    hat, immer aktuell berechnet werden zu können.

                                                                                                                         13
Wer hat drei oder
  mehr Kinder in
Deutschland?
3.1 Vielfalt kinderreicher Familien                   Für Deutschland wurden unterschiedliche Grup-
                                                      pen von kinderreichen Familien beschrieben,
Kinderreichtum ist insbesondere hinsichtlich          die bildungsarme Eltern und Migranten ebenso
Bildung und Migrationshintergrund sehr unter-         umfassen wie ressourcenstarke Eltern oder
schiedlich verteilt (ausführliche Daten siehe 3.2).   Patchworkfamilien (Eggen und Rupp 2006; Keddi
Es zeichnet sich daher ein vielfältiges Bild von      et al. 2010). Auf diese und internationale Litera-
kinderreichen Familien ab. Zwar zeigen einige         tur sowie unsere Analysen aufbauend lassen sich
internationale Studien überproportional viele         folgende Typen kinderreicher Familien unter-
Kinderreiche bei niedrig Gebildeten (Callens und      scheiden:
Croux 2005) bzw. bei Migranten (Berrington und
Stone 2017; Baykara-Krumme und Milewski 2017),        1.   kinderreiche Familien mit geringer Bildung
doch verschleiert ein zu enger Fokus auf diese             der Eltern und prekären wirtschaftlichen
Gruppen, dass es sehr unterschiedliche Typen               Verhältnissen,
kinderreicher Familien gibt. In religiösen Milieus
sowohl katholischer als auch konservativ-protes-      2.   kinderreiche Familien der Mittelschicht mit gut
tantischer Prägung ist Kinderreichtum stärker ver-         gebildeten Eltern, die für ihre Ansprüche an
breitet (Adserà 2006; Philipov und Berghammer              Beruf und Familie oft improvisieren müssen,
2007). Ein anderer Typus ist die Patchwork-­
Familie. Zunehmend entscheiden sich wieder­           3.   kinderreiche Familien der Elite mit hohen
verheiratete Frauen für ein drittes Kind mit ihrem         ökonomischen Ressourcen und intensiver
neuen Partner (Berrington und Stone 2017). Letzt-          Nutzung von Dienstleistungen in Haushalt
lich spielt auch die Region eine wichtige Rolle, da        und für Kinderbetreuung,
in Kreisen mit einem besseren Wohnungsangebot
mit fünf oder mehr Räumen die durchschnittliche       4.   kinderreiche Familien mit Migrationshinter-
Kinderzahl von Frauen höher ist.                           grund, niedrigem Bildungsabschluss und star-
                                                           ker religiöser, muslimischer Orientierung,

                                                      5.   kinderreiche Familien in ländlichen Regionen
                                                           (oft mit religiöser Prägung) mit viel Wohnraum,

                                                      6.   Alleinerziehende Frauen mit drei oder mehr
                                                           Kindern sowie

                                                      7.   Patchwork-Familien.

                                                      Diese Aufzählung erhebt weder Anspruch auf
                                                      Vollständigkeit noch darauf, dass ihr jede kinder-
                                                      reiche Familie eindeutig zuzuordnen wäre. Viel-
                                                      mehr soll veranschaulicht werden, wie vielfältig
                                                      kinderreiche Familien sind. Jeder dieser Typen
                                                      hat spezifische Ressourcen und unterschiedliche
                                                      Bedarfe. Dies ist politisch nicht unwichtig.

                                                                                                             15
Drei Kinder und mehr – Familien aus der Mitte der Gesellschaft

       3.2 Die Bedeutung von Bildung und                          mit 28 Prozent. Dabei ist nicht der Migrations-
       Migrationshintergrund                                      hintergrund per se ausschlaggebend, sondern die
                                                                  Herkunft: Bei Frauen aus muslimisch geprägten
       Im Folgenden wird der Anteil von kinderrei­-               Ländern sind mit 47 Prozent weit mehr als dop-
       chen Frauen in Deutschland für die Jahrgänge               pelt so viele kinderreich wie Frauen aus anderen
       1947–1969 für verschiedene Bildungsgruppen,                Herkunftsländern der 28 EU-Staaten mit 20 Pro-
       Regionen und Migrationshintergrund darge­                  zent oder anderen Ländern mit 22 Prozent.
       stellt.1 Insgesamt sind 18 Prozent der Frauen
       kinder­reich, in Westdeutschland etwas mehr                Dabei sind Anpassungseffekte der Migranten-
       als in Ostdeutschland (siehe Abb. 3). Bei Frauen           generationen festzustellen. Während Migrantin-
       mit niedrigem Bildungsabschluss, bspw. ohne                nen der ersten Generation, die in ihrem Herkunfts-
       Abschluss oder mit Hauptschulabschluss, sind               land geboren und selbst (mit) ausgewandert sind,
       mit rund 30 Prozent etwa doppelt so viele kinder-          zu einem höheren Anteil kinderreich sind, passen
       reich wie bei der mittleren Bildungsgruppe (u. a.          sich Migrantinnen der zweiten Generation an das
       mittlere Reife, Lehre, Abitur ohne Studium) oder           Geburtenverhalten der Mehrheitsgesellschaft an.
       den Frauen mit hoher Bildung (u. a. Hochschul-             So ist in der ersten Migrationsgeneration aus mus-
       abschluss).2                                               limischen Herkunftsländern mehr als jede zweite
                                                                  Frau kinderreich, in der zweiten Generation sind es
       Abbildung 3: Anteil kinderreicher Frauen der               nur noch 37 Prozent (siehe Abb. 4). Allerdings ist
       Jahrgänge 1947–69 nach Region und Bildungs-                dieser Wert immer noch mehr als doppelt so hoch
       abschluss                                                  wie bei den Einheimischen.

       Anteil kinderreicher Frauen (in Prozent)                   Abbildung 4: Anteil kinderreicher Frauen der
                                             29,8                 Jahrgänge 1947–69 nach Migrationshintergrund
       30

       25                                                         Anteil kinderreicher Frauen (in Prozent)
                                                                                                 50,7
       20               18,7                                      50
             17,8
                                                    16,0
       15                          14,4                    14,1
                                                                  40                                    37,5

       10                                                                               28,2
                                                                  30

         5                                                                                                     21,4
                                                                  20                                                  18,1
                                                                            15,9
         0
                                                                  10
              e

                        nd

                                   d

                                                        ch iger

                                                       ch er
                                                        ch rer
             All

                                  lan

                                                              s

                                                              s

                                                              s
                                                     bs oh
                                                          lus

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                                                          lus
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                                                                   0
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                                               ng
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                                                                                                          tio e

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                                                                                                          tio e
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                                                                                                       ra e
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                                            du

                                                                                                     ne lim

                                                                                                     ne lim
                                                                                                     ne lim
                                                                                                              n

                                                                                                              n
                                                                                                             n

                                                                                                             n
                                                                                                     ne slim
                                                                        isc

                                                                                       n

                                                                                                          tio
                                      Bil

                                        Bil

                                        Bil

                                                                                   tin

                                                                                                  Ge Mus

                                                                                                  Ge us
                                                                                                  Ge us
                                                                       im

                                                                                                       ra

                                                                                                       ra
                                                                                                       ra
                                                                                                      Mu
                                                                                   an

                                                                                               2. t-M
                                                                                               1. t-M
                                                                    he

                                                                                 gr

                                                                                                   ch
                                                                                               Ge

                                                                                                  ch
                                                                  Ein

       Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von
                                                                              Mi

                                                                                                Ni
                                                                                                Ni
                                                                                               2.
                                                                                           1.

       Mikrozensus 2012.
                                                                  Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Mikro-
       Erhebliche Unterschiede existieren zwischen ein-           zensus 2012. Da Religionszugehörigkeit nicht im Mikro-
       heimischen Frauen, bei denen 16 Prozent kinder-            zensus erfragt wird, bezieht sich „Muslime“ auf Frauen
       reich sind und Frauen mit Migrationshintergrund            aus Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit.

16
3. Wer hat drei oder mehr Kinder in Deutschland?

Einen großen Einfluss auf die Geburtenzahl haben           Frauen ab. Dieses Phänomen ist besonders bei
Bildung und Herkunft (Abb. 5). Mit zunehmender             Muslimen ausgeprägt, bei einheimischen Frauen
Bildung, sowohl bei Einheimischen in West- und             in Westdeutschland weniger. Hier haben die
Ostdeutschland, als auch bei muslimischen und              Akademikerinnen sogar etwas häufiger drei oder
EU-Migrantinnen, nimmt der Anteil kinderreicher            mehr Kinder als die mittleren Bildungsgruppen.

Abbildung 5: Anteil kinderreicher Frauen der Jahrgänge 1947–69 nach Herkunft und Bildung

Anteil kinderreicher Frauen (in Prozent)

60                                                            57,7

50

40
                                                                     33,8
                                                                                       30,6
30
                                      24,8
              22,7                                                          22,0
20                                                                                            16,7
                     15,4 15,8               14,6                                                    12,7
                                                    10,7
10

 0
              Einheimische            Einheimische            Muslimische             EU-Migrantinnen
              West                    Ost                     Migrantinnen
     niedrige Bildung
     mittlere Bildung
     hohe Bildung

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Mikrozensus 2012.

3.3 Perspektivenwechsel: Zwei Drittel                      reichen Frauen in den verschiedenen Bildungs-
der kinderreichen Frauen haben mitt-                       gruppen. Zum anderen geht es um die Anteile
lere oder hohe Bildung                                     unterschiedlicher Bildungsabschlüsse unter den
                                                           kinderreichen Frauen.
Eine genauere Betrachtung kinderreicher Familien
erfordert es, mindestens zwei unterschiedliche             Hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Bil-
Perspektiven einzunehmen:                                  dung und Kinderreichtum sind beide Perspekti-
                                                           ven wichtig. Die Befunde und Implikationen sind
1.    In welchen Bevölkerungsgruppen ist Kinder-           jedoch sehr unterschiedlich, wie die folgenden
      reichtum mehr bzw. weniger verbreitet?               Abbildungen verdeutlichen. Abbildung 6 nimmt
                                                           die Perspektive 1 ein. Sie zeigt den Bildungs-
2.    Wie setzt sich die Gruppe der Kinderreichen          gradienten von Kinderreichtum, den Umstand,
      in Deutschland sozialstrukturell zusammen?           dass unter den niedrig gebildeten Frauen der
                                                           Anteil an Kinderreichen deutlich höher ist als
Am Beispiel von Bildung konkretisiert heißt das:           unter den hochgebildeten Frauen. Dies gilt für
Zum einen geht es um den Anteil der kinder-                die beiden verglichenen Jahrgänge gleichermaßen.

                                                                                                                  17
Drei Kinder und mehr – Familien aus der Mitte der Gesellschaft

       Abbildung 6: Anteil kinderreicher Frauen            dem der hochgebildeten mit 13 Prozent (Werte
       innerhalb jeder Bildungsgruppe: Jahrgänge           nicht in Abb. dargestellt). Betrachtet man also
       1933–37 und 1965–69 im Vergleich                    die Bildungsunterschiede bei kinderreichen
                                                           Frauen nur für die Einheimischen, so sind sie im
       Anteil kinderreicher Frauen (in Prozent)
                                                           Laufe der letzten Jahrzehnte zurückgegangen.
                  38,9                                     Dies zeigt, dass es notwendig ist, zwischen lang-
       40
                                                           fristigen strukturellen Entwicklungen und den
                                                           Effekten von neuen Bevölkerungsgruppen mit
                                        29,7
       30                27,2                              Migrationshintergrund zu unterscheiden.
                                23,2

       20                                                  Bei dem Blick auf die Ausprägung von Kinder-
                                               13,6 13,6   reichtum in bestimmten Bildungsgruppen ist
                                                           jedoch zu berücksichtigen, dass Frauen mit nied-
       10
                                                           riger Bildung heute nur einen geringen Teil der
                                                           Bevölkerung ausmachen und die überwiegende
        0                                                  Mehrheit der jüngeren Frauen einen mittleren
                 Frauenjahrgänge        Frauenjahrgänge    oder hohen Bildungsabschluss aufweist. So haben
                 1933–37                1965–69
                                                           bei den Frauen der Jahrgänge 1965–69, die heute
            niedrige Bildung                               um die 50 Jahre alt sind, nur knapp 15 Prozent
            mittlere Bildung                               einen niedrigen Bildungsabschluss, während über
            hohe Bildung                                   60 Prozent der Gruppe mit mittlerer und 23 Pro-
                                                           zent der mit hoher Bildung angehören.
       Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Mikro-
       zensus 2008 und 2016.                               In der Abbildung 7 wird der Perspektivenwechsel
                                                           deutlich. Sie zeigt gleichzeitig den Anteil kinder-
       Lesebeispiel: Die 38,9 Prozent bedeuten, dass von
                                                           reicher Frauen pro Bildungsgruppe, wie in der
       100 Frauen die zwischen 1933 und 1937 geboren
                                                           vorigen Abbildung, und durch die Breite der Bal-
       wurden und einen niedrigen Bildungsabschluss auf-
                                                           ken die Größe dieser Bildungsgruppen. Die Fläche,
       weisen, etwa 39 drei oder mehr Kinder bekommen
                                                           die jeder Balken insgesamt einnimmt, entspricht
       haben.
                                                           der Zahl der kinderreichen Frauen mit dem ent-
                                                           sprechenden Bildungsniveau. So sind bei den
       Diese Unterschiede innerhalb der Bildungs-          Frauenjahrgängen 1933–37 rund 424.000 niedrig
       gruppen haben sogar zugenommen, wenn                gebildet und kinderreich, 285.000 haben mitt-
       man Frauen mit und ohne Migrationshinter­-          lere Bildung und nur 44.000 sind hochgebildet
       grund gemeinsam betrachtet: Während bei den         und kinderreich. Insgesamt sind 753.000 Frauen
       1933–37er Jahrgängen noch 39 Prozent der            dieser Jahrgänge kinderreich. Die Hochgebildeten
       niedrig gebildeten und 23 Prozent der hoch-         machen bei diesen Frauenjahrgängen demnach
       gebildeten Frauen kinderreich waren, liegt bei      nur 6 Prozent (gelbe Fläche) der kinderreichen
       den 1965–69er Jahrgängen der Anteil der Kinder-     Frauen aus. Dies sieht man optisch an der Flä-
       reichen bei den niedrig gebildeten mit 30 Prozent   che oder kann es errechnen. Maßgeblich ist dabei
       mehr als doppelt so hoch wie bei den hoch-          nicht nur der jeweilige Anteil der Kinderreichen,
       gebildeten Frauen mit 14 Prozent. Diese Ver-        sondern auch der geringe Anteil von Frauen mit
       schärfung des negativen Bildungsgradienten          hohem Bildungsabschluss überhaupt. Dagegen
       liegt allerdings ausschließlich an dem Einfluss     zeigt sich bei Frauen der 1965–69er Jahrgänge
       der gestiegenen Zahl von Migrantinnen, die zu       ein anderes Bild. Da nur ein geringer Teil dieser
       einem hohen Anteil kinderreich sind. Bei den        Frauen niedrig gebildet ist, ist die Gesamtzahl der
       einheimischen Frauen der Jahrgänge 1965–69          Kinderreichen mit niedriger Bildung mit 143.700
       liegt der Anteil der Kinderreichen bei den nied-    nur etwa halb so groß wie die Zahl der Kinder-
       rig gebildeten mit 19 Prozent nur leicht über       reichen mit mittlerem Bildungsabschluss.

18
3. Wer hat drei oder mehr Kinder in Deutschland?

Abbildung 7: Anteile und Zahl kinderreicher Frauen nach Bildungsabschluss:
Jahrgänge 1933–37 und 1965–69 im Vergleich

Anteil kinderreicher Frauen (in Prozent)

                              Frauenjahrgänge 1933–37                                     Frauenjahrgänge 1965–69
40                                                          40

            424.000
35                                                          35

                                                                 143.700
30                                                          30

25                             285.000                      25

20                                              44.000      20

15                                                          15
                                                                                    287.000           103.100
10                                                          10

 5                                                           5

 0                                                           0
             0

                         00

                               00

                                           00

                                                     00

                                                                     0

                                                                             00

                                                                                    00

                                                                                          00

                                                                                                 00

                                                                                                       00

                                                                                                                00
           50

                                                                    50
                        1.0

                              1.5

                                         2.0

                                                    2.5

                                                                            1.0

                                                                                  1.5

                                                                                         2.0

                                                                                               2.5

                                                                                                      3.0

                                                                                                            3.5
                                                Bevölkerung (in 1.000)
     niedrige Bildung
     mittlere Bildung
     hohe Bildung

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Mikrozensus 2008 und 2016.

Lesebeispiel: Die Zahl 424.000 bedeutet, dass es insgesamt 424.000 kinderreiche Frauen gibt, die zwischen
1933 und 1937 geboren sind und einen niedrigen Bildungsabschluss aufweisen. Die Fläche veranschaulicht
diese Zahl. Die Breite des Balkens verdeutlicht, dass es knapp 1,087 Mio. Frauen dieser Jahrgänge mit nied-
rigem Bildungsabschluss gibt. Die Höhe des Balkens zeigt, dass rund 39 Prozent von diesen Frauen drei oder
mehr Kinder bekommen haben (1.087.000 multipliziert mit 39 Prozent ≈ 424.000).

Mit diesen Erkenntnissen lässt sich gut beant­
worten, wie sich die Gruppe der Kinderreichen in
Deutschland zusammensetzt. Dazu müssen ledig-
lich die in Abbildung 7 ausgewiesenen und durch
die Fläche der Balken veranschaulichten absoluten
Zahlen in Prozentwerte umgerechnet werden.
Abbildung 8 verdeutlicht einen fundamentalen
Wandel: Während in den 1933–37er Jahrgängen
noch mehr als die Hälfte der kinderreichen Frauen
eine niedrige Bildung hatte und nur sechs Prozent
hochgebildet waren, so ist in der jüngeren Genera-
tion nur ein gutes Viertel der Kinderreichen niedrig
gebildet. Von den kinderreichen Frauen der 1965–
69er Jahrgänge haben 54 Prozent einen mittleren
und 19 Prozent einen hohen Bildungsabschluss.

                                                                                                                      19
Drei Kinder und mehr – Familien aus der Mitte der Gesellschaft

       Abbildung 8: Anteil der Bildungsgruppen an             3.4 Unterschiede zwischen Frauen und
       allen kinderreichen Frauen: Jahrgänge 1933–37          Männern
       und 1965–69 im Vergleich
                                                              Die meisten Veröffentlichungen beschränken
       Anteil der jeweiligen Bildungsgruppe an                sich bei der Kinderzahl auf Frauen, da der Mikro-
       allen kinderreichen Frauen (in Prozent)
                                                              zensus die Frage nach der Zahl der eigenen Kin-
                                                              der nur an Frauen stellt und auch die Geburten-
       60         57,2
                                              54,0            statistik keine Daten zur Geburtenfolge von
       50                                                     Männern erhebt. Allerdings ist es wichtig, auch
                                                              die Kinderzahl der Männer zu betrachten. Die
       40                37,1                                 wenigen Analysen zur Kinderzahl von Männern
                                                              weisen darauf hin, dass das Alter bei der Geburt
       30                              27,0
                                                              und die Kinderzahlen bei Männern stärker vari-
                                                     19,4
       20                                                     ieren als bei den Frauen. Die Kinderlosigkeit
                                                              ist bei Männern ebenso höher (Schmitt 2004)
       10                       5,9                           wie das durchschnittliche Alter der Männer bei
                                                              Geburt der Kinder (Dudel und Klüsener 2016).
        0
                  Frauenjahrgänge      Frauenjahrgänge        Umfassende Analysen zu kinderreichen Männern
                  1933–37              1965–69                liegen für Deutschland allerdings noch nicht vor.
            niedrige Bildung
            mittlere Bildung                                  Im Folgenden wird die Gruppe kinderreicher Män-
            hohe Bildung                                      ner bezogen auf Bildung, Migrationshintergrund,
                                                              Lebensform und Erwerbsstatus mit Daten des
       Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Mikro-       Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) betrachtet.
       zensus 2008 und 2016.                                  Analysiert werden Frauen und Männer der
                                                              Geburts­kohorten 1963 bis 1972, die mindestens
       Kinderreiche Frauen mit mittlerer oder hoher           drei biologische Kinder haben. Die Befragten sind
       Bildung sind eine wachsende Gruppe, die häu-           zum Erhebungszeitpunkt 2016 somit zwischen
       fig übersehen wird. Mit 73 Prozent hat sogar der       44 und 53 Jahre alt.3 Bei den Männern verfügt
       Großteil der kinderreichen Frauen der 1965–69er        fast jeder dritte kinderreiche über einen hohen
       Jahrgänge einen mittleren oder hohen Bildungs-         Bildungsabschluss (Universität, Fachhochschule
       abschluss. Dies mag viele überraschen, da in der       oder Meister), während es bei den Frauen nur
       Wahrnehmung die Perspektive der Anteile inner-         etwa jede Sechste ist (Abb. 9). Dagegen findet man
       halb der Bildungsgruppen dominierend ist und           mehr Frauen als Männer im unteren Bildungs-
       häufig auf die niedrig gebildeten Kinderreichen        bereich (27 gegenüber 21 Prozent).4
       hingewiesen wird. Wenn es aber darum geht,
       Politik für die kinderreichen Familien zu gestalten,
       ist es entscheidend, sich diese Gruppe insgesamt
       anzuschauen. Dann ist eine Politik gefragt, deren
       Hauptadressat die Mittelschicht ist.

20
3. Wer hat drei oder mehr Kinder in Deutschland?

Abbildung 9: Männer und Frauen mit drei oder           Abbildung 10: Männer und Frauen mit drei
mehr Kindern nach Bildung 2016 (in Prozent)            oder mehr Kindern nach Lebensform 2016
                                                       (in Prozent)
                      20,6      17,2            27,1                                       15,1
31,0                                                   10,6*

                                                                                    16,3

48,4                         55,7                      82,7                           68,6

           Männer                      Frauen                     Männer                          Frauen

   niedrige Bildung                                       Verheiratet
   mittlere Bildung                                       in Partnerschaft lebend
   hohe Bildung                                           Single

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis des SOEP v31,    Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis des SOEP v31,
gewichtet.                                             gewichtet.5

Nach ihrem Migra­tionshintergrund zeigen sich          Die deutlichsten Unterschiede zwischen kinder-
zwischen den Geschlechtern keine gravierenden          reichen Männern und Frauen findet man in der
Unterschiede: Kinderreiche Männer haben mit            Erwerbstätigkeit (Abb. 11). Während lediglich
35 Prozent etwas häufiger einen Migrationshinter-      jede fünfte Frau mit drei oder mehr biologischen
grund als kinderreiche Frauen mit 32 Prozent.          Kindern Vollzeit erwerbstätig ist, sind es mehr als
                                                       drei Viertel der Männer. Die Frauen sind deutlich
Bemerkenswert sind die geschlechtsspezifischen         häufiger in Teilzeit bzw. geringfügig beschäftigt
Unterschiede in der Lebensform von Kinder-             (49 Prozent) oder gar nicht erwerbstätig. Trotz
reichen: Während die Mehrzahl der Männer mit           dieser geschlechtsspezifischen Unterschiede zeigt
drei oder mehr biologischen Kindern in einer Ehe       sich, dass auch kinderreiche Frauen mit 70 Pro-
lebt, sind es bei den Frauen 14 Prozentpunkte          zent zum überwiegenden Teil erwerbstätig sind.
weniger (siehe Abb. 10). Frauen mit drei oder mehr
biologischen Kindern leben etwa doppelt so häufig
als Single, also alleinerziehend, wie Männer.

                                                                                                             21
Drei Kinder und mehr – Familien aus der Mitte der Gesellschaft

       Abbildung 11: Männer und Frauen mit drei                              Der hohe Anteil kinderreicher Männer in Voll-
       oder mehr Kindern nach Erwerbsstatus 2016                             zeit-Erwerbstätigkeit kann mit den größeren Res-
       (in Prozent)                                                          sourcen zusammenhängen, die Kinderreichtum
                                                                             ermöglichen, aber auch darauf hinweisen, dass
           15,7                                                       20,4
                                                                             Kinderreichtum bei Männern ein Statussymbol ist.
                                        30,2
                                                                             Die großen Unterschiede des Zusammenhangs
       7,9*
                                                                             von Erwerbssituation und Kinderreichtum zwi-
                                                                             schen den Geschlechtern lassen sich gut anhand
                                                                             der Vereinbarkeit von Beruf und Familie inter-
                                                                             pretieren: Männer treten nur selten beruflich kür-
                                                                             zer, wenn sie mehrere Kinder haben, während bei
                                                                             Frauen eine hohe Kinderzahl oft mit beruflichen
       76,4                                49,1
                                                                             Einschränkungen verbunden ist.
                       Männer                             Frauen

           Vollzeit
           Teilzeit
           nicht erwerbstätig

       Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis des SOEP v31,
       gewichtet.

       1      Hierbei handelt es sich um endgültige Kinderzahlen, diese          Männern können in den späteren Jahren zwar noch Kinder
              sind für jüngere Frauen nicht verfügbar, da eine 38-jährige        folgen, jedoch ist dies relativ selten (vgl. Dudel und Klüse-
              Frau mit zwei Kindern noch ein weiteres Kind bekommen              ner 2016).
              könnte.
                                                                             4   Die Werte für Frauen mit hoher Bildung liegen mit 17 Pro-
       2      In dieser Expertise werden die Bildungsgruppen gemäß               zent leicht unter dem Wert von 19 Prozent aus Abbildung 8,
              der ISCED-Definition definiert. Niedrige Bildung entspricht        was an der etwas jüngeren Altersgruppe der Mikrozensus-
              ISCED 1 und 2, mittlere ISCED 3 und 4 sowie hohe ISCED 5           analysen im Vergleich zu den SOEP-Auswertungen liegt.
              und 6.
                                                                             5   In Abbildungen 9 bis 11: Fallzahlen mindestens über 100
       3      In diesem Alter ist die fertile Phase der Frauen weitest-          pro Ausprägung; Fallzahlen zwischen 50 und 100 pro
              gehend abgeschlossen und man kann davon ausgehen,                  Gruppe sind mit * gekennzeichnet; Fallzahlen unter 50 sind
              dass die aktuelle Kinderzahl die endgültige darstellt. Bei         ohne Angabe.

22
Warum bekommen
 die meisten Eltern
nur zwei Kinder?
Drei Kinder und mehr – Familien aus der Mitte der Gesellschaft

       Die Entscheidungsgründe für oder gegen (viele)       Aussagen wie „Meine Eltern finden, dass ich ein
       Kinder sind vielschichtig. Bereits für jeden         (weiteres) Kind bekommen sollte“ und der Absicht,
       einzelnen spielen bei der Frage nach der ange-       ein (weiteres) Kind zu bekommen.
       strebten Kinderzahl verschiedene Beweggründe
       ineinander. Häufig bleiben Menschen in dieser        Dieser Einfluss ist relevant, um zu verstehen,
       Frage auch unentschlossen oder indifferent.          warum sich die meisten Paare in Deutschland
       Darüber hinaus müssen die Vorstellungen              heute nicht für ein drittes Kind entscheiden.
       zweier Partner in Einklang gebracht werden.          Denn die kulturell verankerten normativen
       Ungeachtet dessen sorgen die Umstände häufig         Vorstellungen der Deutschen sehen zwei Kin-
       dafür, dass die anvisierte Kinderzahl gar nicht      der vor. Eine deutliche Mehrheit der jungen
       erreicht wird. Im Folgenden wird ein Überblick       Erwachsenen hält eine Familie mit zwei Kindern
       über die wichtigsten Gründe dafür gegeben,           für ideal. Ein noch größerer Anteil hat den Ein-
       dass nur wenige Menschen sich für ein drittes        druck, dass kinderreiche Familien in Deutschland
       Kind entscheiden.                                    stigmatisiert werden (vgl. Kap. 6.1). Diese kultu-
                                                            rellen Vorgaben haben Einfluss auf die persön-
                                                            liche Familienplanung und letztlich auch auf das
       4.1 Die Zwei-Kind-Norm                               Geburtenverhalten.

       Die Gründe dafür, dass sich junge Paare selten für   Einen Einblick in die Familienplanung junger
       mehr als zwei Kinder entscheiden, müssen nicht       Erwachsener in Deutschland bietet die BiB-Studie
       in einer bewussten Entscheidung oder rationalen      „Familienleitbilder“ (FLB), die 2012 eine Erhebung
       Erwägungen zu suchen sein. Kulturell etablierte      und 2016 eine Wiederholungsbefragung der glei-
       Verhaltensmuster oder normative Erwartungs-          chen Stichprobe durchgeführt hat (Schneider et
       haltungen des sozialen Umfeldes spielen eine         al. 2015). Darin geben 40 Prozent der Kinderlosen
       nicht zu unterschätzende Rolle. In der Familien-     im Alter von 24 bis 35 Jahren an, dass zwei Kin-
       planung greifen Menschen gerne auf Verhaltens-       der ihre ideale Familie ausmachen (Abb.12). Die
       muster zurück, die ihnen vertraut sind und die       gesellschaftliche Norm zeichnet sich also auch in
       sie für bewährt und erprobt halten. Sie orientie-    der persönlichen Familienplanung sehr deutlich
       ren sich an den Beispielen und mutmaßlichen          ab. Diese Norm wird noch deutlicher, wenn man
       Erwartungen ihrer Eltern, Geschwister, Freunde       junge Menschen bittet, eine typische Familie zu
       und Kollegen, die auf allgemeine Akzeptanz sto-      malen. So unterschiedlich die Motive dabei sind,
       ßen. Solche Einflüsse sind belegt: So lassen sich    besteht die typische Familien zu rund zwei Drit-
       mit verschiedenen Umfragedaten positive sta-         teln aus Mutter, Vater und zwei Kindern (Lück et
       tistische Zusammenhänge nachweisen zwischen          al. 2018).

24
4. Warum bekommen die meisten Eltern nur zwei Kinder?

Abbildung 12: Persönlicher Kinderwunsch junger kinderloser Erwachsener in Deutschland

Angaben (in Prozent)

50

                                                   40,1
40

30

20
        16,4
                                                                   13,9
                                                                                  11,0
10
                                     5,9
                         4,7                                                                     3,9

 0
           0 Kinder         1 Kind   1–2 Kinder        2 Kinder     2–3 Kinder      3 Kinder     4+ Kinder

     Deutschland (gesamt)
     Westdeutschland
     Ostdeutschland (inkl. Berlin)

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von FLB 2016, 24- bis 35-Jährige ohne eigene Kinder, gewichtet.
Antworten auf die Fragen „Möchten Sie Kinder?“ und „Wie viele Kinder möchten Sie?“ (Es konnten konkrete
Zahlen oder Spannen angegeben werden). Zu 100 Prozent fehlende Prozent entfallen auf sonstige Antworten
(wie „1 bis 3 Kinder“, „2 bis 4 Kinder“ etc.).

Daneben zeigt sich für die Vorstellung, „drei“ bzw.       dauerhaft weniger als zwei Kinder zu haben, wird
„zwei bis drei“ Kinder zu haben, auch eine gewisse        im Osten öfter geäußert. Dabei zeigen sich nach
Zustimmung. Immerhin fast jeder vierte junge              Geschlecht oder Bildung nur geringe Unterschiede.
Kinderlose kann sich eine Drei-Kind-Familie gut vor-
stellen. Trotz aller empfundenen Stigmatisierung          Zu sehr ähnlichen Befunden gelangt man mit Ana-
von Kinderreichtum (vgl. Kap. 6.1) ist das dritte         lysen der deutschen Beziehungs- und Familien-
Kind also keineswegs aus der Familienplanung              panel-Studie pairfam („Panel Analysis of Intimate
der Deutschen verbannt. Möglicherweise ist das            Relationships and Family Dynamics“). Danach
ein Anzeichen dafür, dass die Deutschen durch-            halten deutlich mehr als die Hälfte der Befragten
aus eine gewisse Sympathie für viele Kinder haben         zwischen 21 und 45 Jahren (57 Prozent) zwei Kin-
(vgl. Kap. 6.2), auch wenn sie verunsichert sind,         der für ideal (Abb. 13). Für 23 Prozent sind es drei
inwieweit das dritte Kind wirklich eine vernünftige       Kinder und für 8 Prozent sogar vier oder mehr
Entscheidung und eine im Hinblick auf Geld und            Kinder. Dass in Deutschland eine Zwei-Kind-Norm
Zeit bewältigbare Herausforderung wäre (ebd.).            vorherrscht, bestätigt auch die Eurobarometer-­
                                                          Befragung; hier fällt der Anteil derer, die sich
Das Zwei-Kind-Ideal und auch die Neigung zu               mehr als zwei Kinder wünschen, noch einmal
einem dritten Kind zeigen sich im Westen stärker          geringer aus (Testa 2012).
als im Osten Deutschlands (Abb. 12). Der Wunsch,

                                                                                                                 25
Drei Kinder und mehr – Familien aus der Mitte der Gesellschaft

       Abbildung 13: Ideale Kinderzahl Erwachsener in Deutschland nach Bildung

        Anteil (in Prozent)

       60                                                        59,3
                                                                        54,5
                                                          50,4
       50

       40

       30                                                                                  26,0
                                                                               19,9 19,6
       20

                                      9,8                                                          11,1
                  8,8
       10               6,5     5,7
                                             8,0
                                                    5,5                                                   6,7 8,3

         0
                     0 Kinder               1Kind            2 Kinder             3 Kinder            4+ Kinder

             niedrige Bildung
             mittlere Bildung
             hohe Bildung

       Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von pairfam, Welle 8 (2016/2017), gewichtet. Antworten auf die Fragen
       „Wenn Sie einmal alle Hindernisse außer Acht lassen: Wie viele Kinder würden Sie im Idealfall insgesamt gerne
       haben?“.

       Auch in der pairfam-Studie finden sich wenige              Die Zwei-Kind-Norm ist auch unter den Men-
       Unterschiede nach sozialen Gruppen. So ähneln              schen mit Migrationshintergrund etabliert: Mit
       sich die Bildungsgruppen in ihren Kinder-                  52 Prozent sehen, den pairfam-Daten zufolge,
       wünschen sehr. Dennoch fällt auf, dass Akade-              fast genauso viele zwei Kinder als ideal an wie
       mikerinnen und Akademiker etwas häufiger als               in der einheimischen Bevölkerung. Das ist nicht
       andere Gruppen drei Kinder als ideal ansehen.              allein auf eine Integration in die deutsche Gesell-
       Zählt man jene hinzu, die gerne vier oder mehr             schaft zurück zu führen, denn die Zwei-Kind-
       Kinder hätten, erhält man einen Anteil von mehr            Norm ist kein rein deutsches Phänomen. Die als
       als einem Drittel. 34 Prozent der jungen Men-              ideal bewertete Kinderzahl lag in Europa im Mittel
       schen mit hoher Bildung sehen eine kinderreiche            schon mindestens seit den 1980er Jahren zwi-
       Familie als ideal an. Dies entspricht in etwa dem          schen zwei und drei; doch über die letzten Jahr-
       realen Anteil kinderreicher Männer unter den               zehnte hinweg haben Befragte in Studien immer
       Akademikern. Allerdings steht der Wert im ekla-            häufiger und einvernehmlicher die Zahl Zwei
       tanten Widerspruch zu der realen Verbreitung von           angegeben (Sobotka und Beaujouan 2014). Aller-
       Kinderreichtum unter den Frauen mit Studien-               dings ist die Zwei-Kind-Norm in Deutschland noch
       abschluss (vgl. Kap. 3.2). Offenbar schaffen es            stärker verankert als in vielen anderen europäi-
       viele Akademikerinnen nicht, ihren Wunsch nach             schen Ländern (Testa 2012).
       drei oder mehr Kindern umzusetzen.

26
4. Warum bekommen die meisten Eltern nur zwei Kinder?

4.2 Verantwortete Elternschaft                       Abbildung 14: Einstellungen zur
                                                     Verantwortung von Eltern
Neben den Vorstellungen hinsichtlich einer
                                                     Aussage 1: Kinder werden sowieso groß, da muss man
erstrebenswerten oder gar idealen Familien-          sich nicht so viele Gedanken machen.
größe gibt es auch kulturelle Vorstellungen, die
                                                     Aussage 2: Eltern können bei der Erziehung vieles falsch
sich indirekt auf das Geburtenverhalten aus-         machen, daher müssen sie sich gut informieren.
wirken. So sind die Ansprüche und Erwartungen        Aussage 3: Eltern sollten ihre eigenen Bedürfnisse für
an Elternschaft, im historischen Vergleich, heute    ihre Kinder komplett zurückstellen.
außerordentlich hoch und seit Mitte des 20.
                                                     Zustimmung (in Prozent)
Jahrhunderts deutlich gestiegen (Kaelble 2007;
Schneider 2012).
                                                     100
                                                                             84,4          88,2
                                                                                    78,7
Elternschaft ist heute voraussetzungsreicher          80
geworden. Franz-Xaver Kaufmann (1990) prägte
dafür den Begriff der „verantworteten Eltern-         60
schaft“. Dazu gehören unter anderem die mate-
rielle Versorgung des Kindes, die zeitliche Ver-      40
                                                                                                  26,2 22,8 28,4
fügbarkeit zur Betreuung und Erziehung, die
Kompetenz, in Erziehungsfragen die richtigen
                                                      20   10,6 11,5 10,0
Entscheidungen zu treffen und die charakterliche
                                                       0
Eignung. Kerstin Ruckdeschel (2015) weist nach,              Aussage 1         Aussage 2            Aussage 3
dass die Norm der verantworteten Elternschaft
                                                        gesamt
auch heute in Deutschland etabliert ist (Abb. 14).
                                                        Eltern
Die Überzeugung, dass Kinder beim Aufwachsen
                                                        Kinderlose
intensiv begleitet werden müssen und nicht „von
alleine“ groß werden, ist sehr verbreitet. Die       Quelle: Eigene Darstellung basierend auf:
hohen Ansprüche an Elternschaft können dazu          Ruckdeschel (2015), Seite 196.
führen, dass sich Eltern für eine geringe Anzahl
von Kindern entscheiden und auf Kinderreichtum       Der Verantwortungsdruck für ein Kind beginnt
verzichten.                                          bereits vor der Geburt. Die Norm der ver-
                                                     antworteten Elternschaft impliziert, dass die
                                                     Familiengründung an eine Reihe von Voraus-
                                                     setzungen gebunden ist. Dazu zählt vor allem
                                                     die finanzielle Sicherheit, die Eltern erst eine
                                                     Familiengründung ermöglichen soll. So finden vor
                                                     allem zwei Aussagen zu den materiellen Voraus-
                                                     setzungen für eine Geburt hohe Zustimmungs-
                                                     werte: „Es muss genügend Geld da sein“ (79 Pro-
                                                     zent); und „die Frau muss im Beruf Fuß gefasst
                                                     haben, unabhängig davon, ob ihr Partner arbeiten
                                                     geht“ (60 Prozent) (Abb. 15). Es existiert ein Leit-
                                                     bild der materiell gesicherten Familiengründung
                                                     und finanzieller Unabhängigkeit der Mutter. Es ist
                                                     anzunehmen, dass solche kulturell verankerten
                                                     Vorstellungen von der Verantwortung für Kinder
                                                     nicht nur eine Ursache für dauerhafte Kinder-
                                                     losigkeit sind, sondern auch Einfluss auf die
                                                     Erweiterung der Familie haben.

                                                                                                                   27
Drei Kinder und mehr – Familien aus der Mitte der Gesellschaft

       Abbildung 15: Voraussetzungen für die Geburt                    die keinen direkten monetären Gegenwert haben.
       von Kindern                                                     Dazu zählt auch der Verlust an Autonomie.

        Aussage 1: Das Paar muss verheiratet sein.                     Die verschiedenen Motive für eine Familien-
        Aussage 2: Es muss genügend Geld da sein.                      gründung und für weitere Kinder haben amerika-
        Aussage 3: Die Frau muss im Beruf Fuß gefasst haben,           nische Wissenschaftler systematisiert (Hoffman
        unabhängig davon, ob ihr Partner arbeiten geht.                und Hoffman 1973; Hoffman und Manis 1979).

        Zustimmung (in Prozent)
                                                                       Danach lassen sich insgesamt neun Kategorien
        100                                                            von Motiven für Kinder differenzieren:
                                             85,3
                               78,8
         80                                                            1.   Erwachsenenstatus und soziale Identität;
                                      69,2
                                                    60,4 57,7   62,3
         60                                                            2.   Fortleben der eigenen Person in den Kindern;

         40
                                                                       3.   Religiöse, ethische und soziale Normen;

         20   16,3 16,2 16,4
                                                                       4.   Familiäre Bindung;
          0
                Aussage 1         Aussage 2           Aussage 3        5.   Suche nach neuen Erfahrungen;
           gesamt
           Eltern
                                                                       6.   Kreativität und Leistung;
           Kinderlose
                                                                       7.   Macht und Einfluss;
       Quelle: Eigene Darstellung basierend auf: Dorbritz
       und Ruckdeschel (2015), Seite 148.                              8.   Sozialer Vergleich und Wettbewerb;

                                                                       9.   Ökonomischer Nutzen ( Hoffman und Hoff-
       4.3 Der „Wert“ von Kindern für ihre                                  man 1973; Übersetzung nach Nauck 2001).
       Eltern
                                                                       Der ökonomische Nutzen von Kindern ist vor
       Den vielfältigen Motiven für eine (weitere) Eltern-             allem in ihrem Versicherungsnutzen zu sehen.
       schaft stehen Kosten von Kindern gegenüber.                     Damit ist gemeint, dass Kinder für Eltern eine Art
       Kinder großzuziehen ist mit hohem finanziellen                  Versicherung darstellen, indem sie in Notfällen
       Aufwand verbunden. Wie das Statistische Bundes-                 und im Alter für ihre Eltern sorgen. Es ist davon
       amt ermittelte, liegen die Konsumausgaben pro                   auszugehen, dass dieses Motiv bis zur Einführung
       Kind im Durchschnitt bei 666 Euro im Monat                      von Kranken-, Pflege- und Rentenversicherungen
       (Statistisches Bundesamt 2018b). Dabei sind die                 in Deutschland eine bedeutende Rolle bei der Ent-
       Ausgaben für Versicherungen und Vorsorge noch                   scheidung für Kinder spielte. In Ländern, in denen
       gar nicht berücksichtigt. Warum entscheiden                     die sozialen Sicherungssysteme wenig ausgeprägt
       sich Menschen vor diesem Hintergrund für eine                   sind, ist das Motiv auch heute noch relevant. Man
       Familiengründung oder gar für eine kinderreiche                 spricht in diesem Zusammenhang auch von einem
       Familie?                                                        impliziten Generationenvertrag (Nauck 1995).

       Neben diesen direkten finanziellen Kosten für das               Wenn man nun die Motive von Eltern mit unter-
       Aufziehen von Kindern zählen auch indirekte Kos-                schiedlicher Kinderzahl vergleicht, kann man
       ten, wie sie durch Erwerbsausfälle eines Partners               feststellen, dass Eltern von drei oder vier Kindern
       entstehen, zu den finanziellen Aufwendungen.                    in diesen häufiger einen ökonomischen Nutzen
       Darüber hinaus gibt es noch subjektive Kosten,                  sehen als Kinderlose oder Eltern mit weniger Kin-

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