DROGENKURIER magazin des jes-bundesverbands - Deutsche Aidshilfe

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DROGENKURIER magazin des jes-bundesverbands - Deutsche Aidshilfe
DROGENKURIERmagazin des jes-bundesverbands
nov. 2021
  nr. 128
DROGENKURIER magazin des jes-bundesverbands - Deutsche Aidshilfe
editorial       DROGENKURIER

                                                      Liebe Leserinnen und Leser, Förderinnen und Förderer
IMPRESSUM
                                                      des DROGENKURIER, liebe Freundinnen und Freunde
Nr. 128, November 2021
Herausgeber des DROGENKURIER:
                                                      des JES-Bundesverbands
JES*-Bundesverband e. V.                              Nach 16 Jahren wird Deutschland höchstwahrscheinlich ohne eine christdemokra­­
Wilhelmstraße 138                                     tische Regierungspartei auskommen müssen. Unser Mitleid hält sich in Grenzen,
10963 Berlin                                          denn man muss diese Zeit im Hinblick auf eine Neuorientierung unserer Drogen­
Tel.: 030/69 00 87-56                                 politik als verloren bezeichnen. Nun also versuchen Rot, Grün und Magenta (früher
Fax: 030/69 00 87-42                                  gelb) eine Regierung zu bilden. Der Klimawandel wird die Regierenden dazu
Mail: vorstand@jes-bundesverband.de                   zwingen Politik neu zu denken. Ähnliches sollte auch für eine nunmehr hoffentlich
www.jes-bundesverband.de
                                                      liberale und entideologisierte Drogenpolitik gelten.
DAH-Bestellnummer: 102128
                                                      Erste Diskussionen, die sich einzig auf eine Entkriminalisierung von Cannabis
ISSN: 2512-4609
                                                      fokussieren, greifen unserer Ansicht nach zu kurz. Denn nur wenn Produktion und
Auflage: 4.500 Exemplare
                                                      Vertrieb von Cannabis in staatliche Hände kommen und gleichsam der Erwerb und
Redaktion: JES-Bundesvorstand,                        Besitz von anderen bisher illegalen Substanzen wie Heroin, Kokain und Amphe­tamin
Dirk Schäffer                                         entkriminalisiert wird, wird man den Schwarzmarkt zurückdrängen und Millionen
Mitarbeit: C. Schieren, S. Kottsieper,                von Drogenkonsument*innen entkriminalisieren. Der Hauptbeitrag dieser Ausgabe
T. Zelgert, A. Canal, B. Peterburs                    zeigt, wo es langgehen muss. „ Seite 3

                                                        Weiter bundesweit kein Substitol erhältlich „ Zum Zeitpunkt der redaktionel­
                                                        len Bearbeitung dieser Ausgabe gab es immer noch kein retardiertes Morphin
                                                        (Substitol). Wenn das nicht schon schlimm genug wäre, zeigen sich hunderte
                                                        substituierender Ärzt*innen einmal mehr von ihrer unflexiblen Seite. Sie sind
                                                        nicht bereit die notwendige Dokumentation zu leisten um ihren Patient*innen
                                                        Com­pre­san zur Verfügung zu stellen. Stattdessen erfolgt eine Umstellung auf
                                                        jene Substanzen, die einst der Grund waren auf retardiertes Morphin zu wech­
                                                        seln – einfach unglaublich.

                                                      Patient*innenberichte „ In dieser Ausgabe stellen wir drei unterschiedliche
                                                      Patient*innen vor, die sich für die Substitution entschieden haben. Sie beschreiben
                                                      ihre individuellen Beweg­gründe und Probleme das passende Medikament für ihre
                                                      jeweilige Situation zu erhalten – lesenswert. „ Seite 8, 16 und 20

                                                      Drogenselbsthilfefreundlich zu sein macht Sinn „ Zu unserer großen Freude,
Titelfoto: monticellllo/stock.adobe.com
                                                      interessieren sich immer mehr Einrichtungen der Aids- und Drogenhilfe für das
Layout, Satz: Carmen Janiesch
                                                      Zertifikat „Drogenselbsthilfefreundliche Einrichtung“. In dieser Ausgabe stellen wir
Druck: onlineprinters.de
                                                      die Verleihungen in Viersen, Hamburg, Münster und Dortmund vor. „ Seite 22
Der DROGENKURIER wird
unterstützt durch:                                    Drug Checking in Deutschland „ Das DROGERIE-Projekt in Erfurt hat die
(Nennung in alphabetischer Reihenfolge)               rechtlichen Hürden des BfArM und des Innenministeriums genommen und das
Camurus, Deutsche Aidshilfe e. V.,                    erste Drug Checking Projekt in Deutschland eingerichtet. In dieser Ausgabe stellen
GL Pharma, Hexal, INDIVIOR,                           wir das Projekt und seine Protagonisten vor. „ Seite 10
Sanofi Aventis
                                                      Diskriminierung im Gesundheitswesen … „ ist leider weiter ein großes Thema
* Junkies, Ehemalige, Substituierte                   für Menschen mit Suchterkrankungen. In einer bisher zuvorkommenden Apotheke
Die Nennung von Produktnamen bedeutet keine           erlebte der Autor des Beitrags ein unglaubliches Maß an Diskriminierung, das nicht
Werbung                                               unwidersprochen hingenommen werden darf. „ Seite 14
                                                                                                                        Das Redaktionsteam

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DROGENKURIER magazin des jes-bundesverbands - Deutsche Aidshilfe
www.jes-bundesverband.de                          topthema
Foto: railwayfx/stock.adobe.com

                                  Götterdämmerung in
                                  Sachen Drogenpolitik?
                                  Moderne Haltungen und Angstmache aus der Mottenkiste

                                  Manche hatten die Hoffnung bereits auf-      als ich 1998 zu einem Gespräch mit dem           Rot-Grün (noch ohne Magenta)
                                  gegeben, dass es ein Deutschland ohne        damaligen Gesundheitsminister Horst              zur Jahrtausendwende
                                  eine christdemokratische Führung gibt.       Seehofer eingeladen wurde, um über das           Wichtige Schritte vorwärts wurden erst
                                  Die Sorgen waren berechtigt, denn zwi-       Thema Drogenkonsumräume zu spre-                 nach dem Regierungswechsel unter der
                                  schen 16 Jahren Helmut Kohl und 16 Jah-      chen. Es war ernüchternd, aber ich lern-         ersten Grünen Drogenbeauftragten Chris-
                                  ren Angela Merkel, gab es nur eine kurze     te Sabine Leutheusser-Schnarrenberger            ta Nickels und ihrer Nachfolgerin Marion
                                  Episode einer rot-grünen Bundesregie-        von der FDP als leidenschaftliche Kritike-       Caspers-Merk (SPD) gegangen. So wurden
                                  rung.                                        rin der damaligen Drogenpolitik kennen,          Drogenkonsumräume 2001, gegen star-
                                     Diese sieben Jahre reichten allerdings    die bereits damals unseren Argumenten            ken Druck der Office for Drugs and Crime
                                  aus, um wichtige Schritte auf dem Weg        gegenüber sehr aufgeschlossen war.               (UNODC), auf rechtlich sichere Beine ge-
                                  zum Ausbau schadensminimierender                Es gab bereits vereinzelt Drogenkon-          stellt. Der vielleicht politisch wichtigs-
                                  Angebote zu gehen. Es war selbstver-         sumräume, die aber auf Initiative der            te Schritt war die Schaffung der 4. Säule
                                  ständlich nicht alles Gold was damals        Landesregierungen und im rechtlichen             bundesdeutscher Drogenpolitik. Neben
                                  glänzte.                                     Graubereich umgesetzt wurden, da es              den Säulen Prävention, Behandlung, Re-
                                     Ich selbst erinnere mich an meine ers-    an einer einheitlichen Regelung auf der          pression gesellte sich die Säule Schadens-
                                  ten beruflichen Schritte auf Bundesebene     Bundesebene fehlte.                              minimierung gleichberechtigt hinzu.

                                                                                                                            3
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topthema                DROGENKURIER

                                                Vorfahrt für Cannabis?                        merkt sei hier, dass die von Herrn Prof.
                                                Es war erwartbar, dass die Koalitionä-        Thomasius und der Polizeigewerkschaft
                                                re in Spe als traditionelle Redner*innen      beschriebenen Phänomene unter den
                                                bei den Hanfparaden der letzten Jahre,        Bedingungen der Prohibition und hoher
                                                das Thema Cannabis in den Blickpunkt          Strafandrohung für den Erwerb und Be-
                                                rücken würden. Man muss konstatie-            sitz illegaler Substanzen sowie einem im-
                                                ren, dass die heterogene Cannabislobby        mensen Verfolgungsdruck erst entstan-
                                                bestehend aus einem Mix von Unter-            den sind.
                                                nehmen die wirtschaftliche Interessen            Allen Kritiker*innen einer Liberalisie-
                                                im Blick haben, Kon­­sument*innen die         rung ist gemein, dass sie mit den deut-
                                                endlich ohne Angst Cannabis erwer-            lich erhöhten THC-Werten der illegalen
                                                ben und konsumieren möchten und               Züchtungen argumentieren und meinen,
My brain my choice                              Strafrechtler*innen, die auf die Bürger-      dass durch eine Liberalisierung nun noch
                                                rechte fokussieren, einfach einen guten       mehr Menschen gesundheitliche Schädi-
   Es folgte das Modellprojekt zur Dia-         Job gemacht haben und jene Stärke be-         gungen erleiden.
morphinbehandlung und der konse-                sitzen, die anderen Kon­su­ment*­­innen­
quente Ausbau niedrigschwelliger Ange-          gruppen aus verschiedenen Gründen             Denkfehler werden nur selten
bote sowie der Substitutionsbehandlung.         fehlt.                                        punktgenau korrigiert
Vielleicht war die Zeit damals nicht reif          Es liegt mir fern dieses Vorgehen hier     Hier liegt unserer Ansicht nach der größ-
für den größeren Wurf in Richtung Ent-          zu kritisieren, aber es muss erlaubt sein     te Denkfehler der Kritiker*innen. Der
kriminalisierung und Legalisierung.             darüber nachzudenken, ob es ausreicht         einzige Weg um Jugendliche und Er-
   Wenn man ehrlich ist, war das The-           den Besitz von Cannabismengen zum Ei-         wachsene vor illegal gezüchtetem Can-
ma „Drogenpolitik“ bis auf ganz wenige          genbedarf für Erwachsene zu entkrimi-         nabis mit vielfach unbekanntem und
Ausnahmen in den letzten 16 Jahren kein         nalisieren und alles andere weitgehend        sehr hohem THC-Gehalt sowie vielerlei
zentrales Anliegen der Regierenden. Ich         unbeachtet zu lassen.                         Streckstoffen zu schützen, ist die Über-
will gerne eine Sternstunde sozialdemo-             Lauscht man den aktuellen Debat-          nahme von Produktion und Vertrieb
kratischer Drogenpolitik erwähnen, in-          ten, so muss einen die Angst befallen,        durch den Staat.
dem die SPD mit den Oppositionspar-             dass die Diskussionen auch der Befür­
teien gegen ihren Koalitionspartner die         worter*innen zu kurz greifen. Selbstver-
Diamorphinvergabe als Kassenleistung            ständlich ist nun wieder die Zeit von Prof.
im Jahr 2009 durchsetzte.                       Thomasius, der weiterhin die Gefahr von       „Nur durch staatlich
   Die Nutzung von Cannabis als Medi-           Psychosen bei jugendlichen Kiffern pos-       kontrollierte
zin war dann tatsächlich die letzte Ver-        tuliert und die Stimmen der Polizeige-
                                                                                              Züchtungen kann der
änderung, die hier erwähnenswert er-            werkschaft, die keine dritte Volksdroge
scheint.                                        wollen und in einer Liberalisierung die       THC-Gehalt reguliert
                                                Gefahr der Verharmlosung sehen. Ange-         und reduziert werden.“
Nun also die Ampel?
Alle die der Meinung sind, dass nach
                                                           Quelle: YouTube

vielen Jahrzehnten Prohibition ohne das                                                       Wird der Schwarzmarkt
sich erwartete Entwicklungen erfüll-                                                          verschwinden?
ten, gepaart mit Leid und der Verfolgung                                                      Um dies klar zu sagen, natürlich wird
Drogen gebrauchender Menschen, die                                                            sich die organisierte Kriminalität gegen
von Jahr zu Jahr immer neue Rekorde an           Ampeln                                       diesen Entzug von Kontrolle und Geld-
                                                      in
Strafverfahren für hunderttausende von                                                        ströme wehren und versuchen Can-
                                                   Köln,
Konsument*innen hervorbrachte, haben             Aachen                                       nabis illegal verbilligt anzubieten. Der
nun die Hoffnung das ein neuer Weg ein-             und                                       Schwarzmarkt wird bleiben, solange an-
geschlagen wird.                                Hamburg                                       dere Substanzen weiterhin nur illegal zu
   Ein Weg, der die Lehren aus Drogen-                                                        erwerben sind, aber er wird in Bezug auf
tod und Kriminalisierung zieht und der                                                        Cannabis deutlich reduziert und regu-
den Sinn hoher Anteile von Dro­gen­                                                           liert werden. Denn wenn man kontrol-
konsument*innen in Haft in Frage stellt                                                       liert, gezüchtetes Cannabis ungestreckt
und korrigiert.                                                                               und legal erwerben kann, ohne Angst vor

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DROGENKURIER magazin des jes-bundesverbands - Deutsche Aidshilfe
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                                                  www.jes-bundesverband.de                            topthema

Lizenzen zum Cannabisanbau in Deutschland sind möglich

Strafverfolgung und Gewalt, wird die al-             Einschätzung gelangen, dass dieses Phä-
lergrößte Zahl der Konsument*innen sich              nomen weite Teile der jugendlichen Kon­          „Verbote und Strafen
diesem Angebot zuwenden.                             sument*innen betrifft. Das Einstiegs­alter
   Wenn man Jugendliche und Erwach-                  bei Cannabiskonsument*innen hat sich
                                                                                                      haben den Jugendlichen
sene vor gefährlichen synthetischen                  aber nicht dramatisch verändert und              in der Klinik von Prof.
Cannabinoiden schützen will und den                  liegt bei ca. 16 Jahren. Der Anteil junger       Thomasius nicht
Produzent*innen den Markt entziehen                  Menschen mit Psychosen und anderen
will muss an Cannabis kontrolliert regu-             gesundheitlichen Schäden aufgrund des
                                                                                                      geholfen“
lieren.                                              frühen Konsums von illegalem Cannabis
                                                     lässt sich kaum prozentual fassen.               Die Sorge das der Mut für eine
Bekommen wir eine dritte                                Ohne dieses Phänomen zu verharm-              wirkliche Neuausrichtung fehlt
Volksdroge?                                          losen, müssen gerade die Kritiker*innen          Dass der Fokus auf der Substanz Cannabis
Wir sagen NEIN, denn wir HABEN BE-                   einer Liberalisierung diese unterstützen,        als meistkonsumierte illegale Substanz
REITS neben Alkohol und Tabak eine                   denn die jahrzehntelange, aufwendi-              liegen wird, war klar. Die Sorge vieler
dritte Volksdroge. Mindestens vier Millio-           ge und kostenintensive Abschreckungs-            besteht darin, dass sich die Politik mit
nen erwachsene Menschen konsumieren                  und Verbotspolitik hat in allen Bereichen        wichtigen, aber nicht grundlegewnden
Cannabis. Die Annahme erscheint nicht                versagt. Man muss sich nur fragen, war-          Korrekturen begnügt. Deutschland ver-
vermessen, dass die Dunkelziffer deutlich            um sie einem anderen Weg nicht einfach           zeichnete in den letzten Jahren einen ste-
höher liegt.                                         eine Chance einräumen.                           tigen Anstieg von Drogentodesfällen. Der
   Erfahrungen aus Ländern, die auf eine                Kann man Jugendlichen den Zugang              Bund ist rat- und tatenlos im Hinblick auf
staatlich kontrollierte Abgabe setzen zei-           zu legalem Cannabis ab 16 Jahre gewäh-           die Schaffung von Angeboten für Koka-
gen, dass die Zahl der Konsument*innen               ren? Muss man vielleicht die Mengen              in- und Amphetaminkonsument*innen.
nicht steigt, sondern teilweise sinkt.               begrenzen, die Jugendliche erwerben              Drug Checking sollte daher zwingend in
                                                     können? Eine Prognose erscheint nicht            einem Paket von Maßnahmen enthalten
Was passiert mit Jugendlichen?                       gewagt, dass ohne die Angst vor Strafver-        sein.
Selbstverständlich kann der Cannabis-                folgung viele junge Menschen deutlich               Hört man vielen Kritiker*innen der
konsum für junge Jugendliche fatale                  eher den Wunsch nach Hilfe artikulieren          jetzigen Drogenpolitik zu, so nimmt man
Folgen haben. Hört man allerdings Prof.              und dies ohne extrinsische „Motivation“          wahr, dass die Konsument*innen von ge-
Thomasius zu, dann könnte man zu der                 durch Schule, Justiz oder Eltern.                fährlichen Substanzen wie Opiaten und

                                                                                                  5
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topthema                DROGENKURIER

                                                                                             „	Die medikamentöse Behandlung der
                                                                                                Opioidabhängigkeit muss moderni-
                                                                                                siert werden. Hierzu gehört u. a. der
                                                                                                 Ausbau der Diamorphinbehandlung.
                                                                                                Es gilt zudem Anreize für neue Appli-
                                                                                                kationsformen jenseits von Injektio-
                                                                                                nen zu schaffen.
                                                                                             „	Einbeziehung von NGOs und Zivilge-
                                                                                                sellschaft
                                                                                                In der Vergangenheit arbeiteten die
                                                                                                 Drogenbeauftragten ohne eine sicht-
                                                                                                 bare externe Beratung durch Fachleu-
                                                                                                 te aller Disziplinen. Neben der Wis-
                                                                                                 senschaft, Praxis und Medizin sollte
                                                                                                 insbesondere die Sichtweise der Zivil-
                                                                                                 gesellschaft stärker als bisher einbezo-
                                                                                                 gen werden.

                                                                                             Es bleibt zu hoffen, dass die neuen poli-
                                                                                             tisch Verantwortlichen die erwünschten
                                                                                             und die tatsächlichen Effekte der bis-
                                                                                             herigen Drogenpolitik vorbehaltlos an-
Metamphetamin durch die Kriminalisie-            Wie könnte die Zukunft aussehen?            schauen und hiervon ausgehend eine
rung von Erwerb und Besitz und den il-           „	Die Produktion und der Vertrieb von      Neuausrichtung vornehmen.
legalen Markt in ganz besonderer Weise              Cannabis zum hedonistischen Ge-              Wenn man ehrlich ist, muss man sa-
geschädigt werden. Infektionserkrankun-             brauch für Erwachsene und Ju-            gen, dass es außerhalb des Themas „il-
gen, Schäden an Herz und Lunge, sowie               gendliche ab 16 Jahre sollte in die      legale psychoaktive Substanzen“ nicht
ein Voralterungsprozess, der zwischen               Verantwortung des Staates überge-        möglich gewesen wäre, trotz sichtbarer
10 und 15 Jahren liegt, machen die Fol-             hen.                                     und auch unbestrittener Fehlentwick-
gen der Prohibition deutlich. Dass die Ge-       „	Ähnlich wie die Abgabe von Canna-        lungen und der Nichterreichung aller
fängnisse durch die Entkriminalisierung             bis als Medizin könnten ausgewählte      mit der Drogenpolitik verbundenen Zie-
von Erwerb und Besitz von Mengen zum                Fachgeschäfte auch die nichtmedizini-    le, fortwährend immer mehr vom Glei-
Eigenbedarf sichtbar geleert würden und             sche Abgabe übernehmen.                  chen zu tun, anstatt sich auf Neues ein-
die psychischen Belastungen, die immer           „	Die Forschung für die medikamentöse      zulassen.
wiederkehrende jahrelange Inhaftierun-              Behandlung von Kokain- und (Met)-             Eine Neuausrichtung wird keine
gen zum Ergebnis haben dramatisch re-               Amphetamin-Konsument*innen soll-         Wunder vollbringen können. Sie wird al-
duziert würden, sei hier nur am Rande er-           te intensiviert werden. Gleichsam        lerdings dazu beitragen können die ge-
wähnt.                                              müssen praxisnahe Angebote der In-       sellschaftliche Ausgrenzung von Dro­
                                                    formation, Prävention und Schadens-      gen­ konsument*innen, und die Zahl
                                                    minderung geschaffen werden. All         drogenbedingter Todesfälle zu reduzie-
                                                    dies lässt sich in Angebote des Drug     ren.
                                                    Checking vereinigen.                         Zudem ist dies die Chance, dass gera-
                                                 „	Für Konsument*innen aller Substan-       de jugendliche Konsument*innen deut-
                                                    zen jenseits von Cannabis sollte der     lich früher als bisher ihren Hilfebedarf
                                                    Erwerb und Besitz von Mengen zum         artikulieren. Schließlich kann die Über-
                                                    Eigenbedarf entkriminalisiert werden.    nahme staatlicher Verantwortung für
                                                    Da es die Drogenbeauftragte Frau Lud-    Anbau und Vertrieb dazu beitragen den
                                                    wig in vier Jahren nicht geschafft hat   Schwarzmarkt und hiermit immense Ge-
                                                    sich vor Ort mit dem portugiesischen     winnspannen für die organisierte Krimi-
                                                    Modell zu beschäftigen, wäre dies ein    nalität etwas Wirksames entgegenzuset-
                                                    erster wichtiger Schritt für die neuen   zen. n
                                                    politisch Verantwortlichen.                                           Dirk Schäffer

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                       Wege aus der
                    Opioid-Abhängigkeit

                                                                                                                             DE-NPR-1900019 / 201908

Opioid-Abhängigkeit ist eine Krankheit, die sich gut indi-          Ausstiegs. Sowohl für Menschen mit Opioid-Abhängigkeit
viduell behandeln lässt. Der erste Schritt auf dem Weg              als auch für ihre begleitenden Angehörigen haben wir
aus der Abhängigkeit sind Informationen über die Krank-             die wichtigsten Themen übersichtlich und verständlich
heit selbst und die verschiedenen Möglichkeiten eines               aufbereitet. Machen Sie hier den ersten Schritt.

                            www.opioideundmeinleben.de
                                         Diese Website wurde von der Camurus GmbH erstellt.

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leben mit drogen             DROGENKURIER

Ich bin opioidabhängig –
und will es bleiben (Teil 1)
Einblicke in das Leben einer opioidabhängigen Akademikerin

                                       Mein Name ist Lilli* und ich bin opio-        wurde niemals aktiv Leistungsdruck auf-
Der nachfolgende Beitrag               idabhängig (Tilidin). Was vermutlich die      gebaut, aber ich hatte immer das Gefühl,
beschreibt das Leben von Lilli*.       meisten Menschen schockieren wird: Ich        nicht mithalten zu können und dass man
                                       will es auch bleiben!                         nur interessant sein kann, wenn man
Ein authentischer und emoti-               Ich würde sogar gerne ein sehr viel       Leistung bringt.
onaler Einblick in das Leben           stärkeres Medikament nehmen dürfen,              Mit Beginn der Pubertät entwickel-
einer integriert lebenden, opi-        dass meiner psychischen Grunderkran-          te ich dann eine schwere Anorexie und
oidabhängigen Wissenschaft-            kung mehr gerecht werden würde, aber          musste zum ersten Mal in die Klinik. Ich
                                       das geht leider nicht, ohne mein sehr vor-    fühlte mich verstoßen und wurde vom
lerin. Sie ist auf der Suche           bildlich geführtes, gesellschaftliches Le-    braven Mäuschen zu einem System-
nach einem Medikament, mit             ben massiv zu gefährden.                      sprenger. Kurz nach dem neuneinhalb
dem sie ihre psychische und                Mein Beweggrund diesen Artikel zu         Monate langen Aufenthalt in der Psych-
körperliche Grunderkrankung            schreiben, ist somit der Tatsache geschul-    iatrie begann ich erste Erfahrungen mit
                                       det, dass ich mich nicht ausreichend me-      Alkohol und Cannabis zu sammeln. Ich
und die hieraus entstandene            dizinisch versorgt fühle, weil mir die Hil-   war sehr unglücklich, fing an mich selbst
Opioidabhängigkeit erfolgreich         fe (Diamorphin), die ich bräuchte, gemäß      zu verletzen und versuchte mir schließ-
behandeln kann. Dies ohne              der Betäubungsmittel-Verschreibungs-          lich mit 15 das Leben zu nehmen. Zum
ihre berufliche Position mit           verordnung – BtMVV nicht zusteht.             Glück ging das schief. Allerdings landete
                                           Die Behandlung, die möglich wäre          ich wieder in der Psychiatrie, diesmal in
Leitungsfunktion aufgeben zu           (Methadon, Subutex, o.ä), wäre nur eine       einer geschlossenen Station.. Dort lernte
müssen. Es ist auch die Suche          reduzierte Variante der Behandlung und        ich ein heroinabhängiges Mädchen ken-
nach Wärme, Anerkennung                würde mein Leben, wie ich es jetzt führe      nen und sofort stand für mich fest, das
und das Ende von Stigma und            erschweren und Stress vermehren. Und          will ich auch.
                                       wenn ich eines nicht gebrauchen kann,
Vorverurteilungen.                     dann ist es noch mehr Stress. Aber fan-
                                       gen wir von vorne an:
Aufgrund des Textumfangs                                                             „Heroin, das
haben wir uns entschieden              Meine Kindheit – vom braven
                                       Mädchen zum Systemsprenger
                                                                                     schönste Gefühl
den Beitrag in leicht gekürzter
Form in zwei Teilen zu veröf-
                                       Ich wuchs mit lieben Eltern und einem         was ich jemals
                                       einige Jahre älteren Bruder, in einem
fentlichen. Den Gesamttext             Akademikerhaushalt auf.                       hatte…“
stellen wir nach der Veröffent-           Wir wurden von unseren Eltern um-
                                       sorgt und sehr geliebt und durften ohne
lichung des zweiten Teils auf          körperliche Gewalt aufwachsen. Jedoch         Das Mädchen und ich hauten bei einem
unserer Webseite zur Verfü-            war die Situation durch die Probleme          „Ausgang“ ab und ich nahm das erste
gung.                                  meiner Eltern sehr instabil. Zeitgleich       Mal Heroin. Es war das schönste Gefühl,
                                       entwickelte sich bei mir ein bis heute        das ich bis dahin jemals fühlen durfte.
                                       anhaltender Minderwertigkeitskomplex.         Ich hatte das erste Mal das Gefühl wirk-
*Name geändert                         Ich fühlte mich nie genug oder richtig. Es    lich angenommen und geborgen zu sein.

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   Nach meiner Entlassung nahm ich               Leider war ein Leben ohne Betäubung           dikamente nicht mit in den Urlaub neh-
nun regelmäßig Heroin, schwänzte die          nicht möglich und ich begann chemische           men könnte, weil ein Amtsarzt es ab-
Schule, verließ sie nach der 9. Klasse        Drogen zu nehmen, um nach einem hal-             lehnt.
schließlich ganz und haute von zuhau-         ben Jahr völlig selbstentfremdet und von             Während des Studiums war diese Pro-
se ab.                                        Angst zerfressen dazustehen.                     blematik weniger schlimm, immerhin
   Das Hassgefühl war in Wirklichkeit                                                          bekam ich mein Subutex immer für eine
die Überlagerung des schmerzenden Ge-         Substituiert zu werden half mir …                Woche mit, da man mir, zurecht vertrau-
fühls nicht geliebt und gewollt zu sein.      Es ging mir sehr schlecht und mit 18 griff       te. Ich nahm seit Jahren gar keine Drogen
Dieses Gefühl ist, wie ich heute weiß,        ich wieder zum Heroin, machte aber pa-           mehr, ich trank nicht einmal Alkohol und
chronisch und schon da seit ich denken        rallel mein Abitur. Kurz vor den Prü-            das Rauchen hatte ich auch aufgegeben.
kann. Denn es entspricht nicht der Reali-     fungen ging ich nochmal in eine Klinik           Dennoch wurde ich nach wie vor in ein
Foto: meteoritka/stock.adobe.com

tät, da mich meine Eltern sehr lieben. Le-    schaffte es aber nicht vom Heroin loszu-         System gepresst, dass mich stigmatisier-
diglich ihre eigene emotionale Instabili-     kommen. Um mein Abitur nicht zu ge-              te, denn schließlich war ich ja mal hero-
tät und Überforderung hat bei mir diese       fährden, begab ich mich mit 20 in die            inabhängig und Heroinabhängigen wird
Spuren hinterlassen.                          Substitution: Die Erlösung, vorerst. Ich         nicht vertraut und nichts zugetraut.
   Sie ließen mich nie fallen und als ich     machte das beste Abitur der Schule und               Aber zumindest konnte ich durch mein
mit 16, heroinabhängig auf der Straße,        begann danach ein naturwissenschaftli-           Substitut, das Antidepressivum und das
am echten Bahnhof Zoo in Berlin leb-          ches Studium.                                    wiedergewonnene Gewicht endlich mein
te, machten sie sich Sorgen und ließen           Die Substitution half sehr, ich nahm          Studium abschließen. Ich wog zwar im-
mich mit einer Vermisstenanzeige su-          kein Heroin mehr, aber die Magersucht            mer zu wenig, aber ich konnte mit der
chen. Im Herbst 1996 gabelte mich die         kam wieder. Es folgten sechs Jahre und           Essstörung leben. Ich begann eine Dok-
Polizei schließlich auf und brachte mich      drei Klinikaufenthalte, aber die Anore-          torarbeit im Rahmen eines multidiszip-
nach Hause und auch wenn einige Thera-        xie wollte nicht verschwinden. Erst als          linären Stipendiums. Ich hatte mit inter-
peuten meinen Eltern gesagt hatten, sie       ich mit 26 und einem, mal wieder le-             nationalen Forschern zu tun und es hätte
müssten mich fallen lassen, damit ich am      bensbedrohlich niedrigem Gewicht end-            die Möglichkeit bestanden sechs Monate
Boden liegend zur Besinnung käme, ta-         lich bereit war mal ein Antidepressivum          überall auf der Welt forschen zu können.
ten sie es nicht und nahmen mich wie-         und einen erneuten Klinikaufenthalt in           Natürlich war das nicht möglich, denn
der auf.                                      einer alternativen Klinik auszuprobieren,        mit einem Medikament, das mir gegen
   Ich machte eine Entgiftung und wollte      ging es bergauf.                                 meine psychischen Probleme half, aber
gerne wieder zur Schule gehen. Meine El-         Die Substitution begleitete mich un-          einer geächteten und stark regulierten
tern unterstützten mich, aber unsere Be-      unterbrochen. Und mit ihr die Angst.             Stoffgruppe (Opioide) angehört, war das
ziehung blieb dennoch zerrüttet.              Ständig diese Angst, dass ich meine Me-          natürlich nicht möglich … Ende Teil 1 n

                                                                                           9
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leben mit drogen                      DROGENKURIER

Drug-Checking ist endlich
auch in Deutschland
legal möglich
Die Lösung kommt aus Thüringen durch das Safer-Nightlife-Projekt Drogerie

Ein Thüringer Projekt hat es in

                                                                                                                                     Foto: https://drogerie-projekt.de
Kooperation mit der Landesre-
gierung geschafft das erste lega-
le Drug-Checking auf die Beine
zu stellen. Die Zustimmung des
Bundes und des Bundesinsti-
tuts für Arzneimittel und Me-
dizinprodukte, die bisher allen
Antragsteller*innen verweigert
wurde, wird hier nicht benötigt.
Wir und viele andere fragen sich
natürlich, wie das geht.

                                                  Das Drogenrie Team in Erfurt

Die Drogerie gibt’s seit dem Jahr 2000.              Das Drug-Checking Pilotprojekt der       sikevents fahren und es dann dort als
Startpunkt war eine Untersuchung, ob              SiT heißt SubCheck, es knüpft eng an die    Info-Point und Chill-out-Area nutzen.
und inwieweit Drogen in der Thürin-               Arbeit der Drogerie an. SubCheck gibt es    Ganz wichtig: Im Mobil gibt es keinen
ger Musikszene eine Rolle spielen. Spoi-          offiziell seit Mitte 2018 und besteht aus   Konsum, das ist ein Safe Space. Innen und
ler-Alarm: Ja, tun sie, sogar eine größere        zwei Sozialarbeitern                        davor kann man in ruhiger Atmosphäre
Rolle als vorher gedacht. Seit 2000 ar-                                                       Gespräche führen, sich entspannen oder
beiten wir daher mit Jugendlichen und             Mit dem Wohnmobil zu                        sich einfach mal zurückziehen. Und nicht
jungen Erwachsenen im Umfeld der                  Musikevents                                 zuletzt können die Mitarbeiter*innen
Musik- und Partyszene, die mit Drogen             Unser Markenzeichen ist sicher das          zum Beispiel bei Überdosierungen
in Kontakt kommen könnten oder schon              Wohnmobil, mit dem die Peer-Mitar­          schnell und sicher reagieren.
Erfahrungen haben.                                bei­ter*­innen zu verschiedensten Mu-

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   Seit 2017 etwa, da haben wir die ers-       und arbeitet seitdem im Rahmen eines              nicht angekündigt. Trotz Landesauf-
ten Konzepte zur Finanzierung geschrie-        Kooperationsvorhabens mit uns zusam-              trag wollen wir nicht riskieren, dass
ben und erste Anträge auf Landesmittel         men.                                              Partygänger*innen vielleicht mit Subs-
gestellt. Im Koalitionsvertrag von 2014                                                          tanzen auf Tasche kontrolliert werden. Es
hatten die Parteien damals festgehal-          Und warum kann das BfArM das Pro-                 geht uns allen darum, die Klient*innen
ten, ein Drug-Checking-Angebot umzu-           jekt nicht wieder blockieren?                     zu schützen und sie nicht noch zusätzli-
setzen. Und 2018 gab’s dann tatsächlich        Unser Konzept sieht keine „Teilnahme              chen Gefahren auszusetzen.
Geld vom Thüringer Gesundheitsminis-           am Betäubungsmittelverkehr“ vor. Die
terium für ein Pilotprojekt.                   reine Analyse von verdächtigen Subs-              Okay, wenn ihr das Angebot nicht be-
                                               tanzen stellt keinen erlaubnispflichtigen         werbt, wie erfahren die Leute davon?
Gab es rechtliche Bedenken? Eine Brem-         Tatbestand nach dem Betäubungsmit-                Zum Beispiel, wenn Leute in einem Ge-
se war die Frage, ob Mitarbeiter*innen,        telgesetz dar. Die in der Extraktionsflüs-        spräch sagen, sie wüsste gerne, was und
die Substanzen zur Analyse entgegen-           sigkeit gelöste Substanz wird chemisch            wie viel davon tatsächlich in ihren Sub-
nehmen, diese Substanzen „besitzen“            aufgespalten und so als Droge unbrauch-           stanzen ist. Dann erwähnen wir unser
– was nach Betäubungsmittelgesetz il-          bar gemacht. Die aufgelöste Substanz              Drug-Checking-Angebot. Und die Leute
legal ist.                                     ist also kein Betäubungsmittel. Die Vor-          kommen wirklich oft auf das Thema zu
Da hat uns das Gutachten des Straf-            bereitung der Probe wird durch unsere             sprechen, weil es sie beschäftigt.
rechtsprofessors Cornelius Nestler Auf-        Chemiker*innen angeleitet und durch
trieb gegeben, wonach Drug-Checking,           die Klient*innen eigenhändig durchge-             Gut, jetzt kann es also zum eigentli-
so wie es auch in Berlin geplant ist, legal    führt.                                            chen Testen kommen. Wie läuft das?
wäre. Nestler sagte: Bei Drug-Checking-                                                          Dann wird das Wohnmobil zum Labor.
Projekten fehlt der „Besitzwille“, weil die    Wie läuft so ein Drug-Checking-Einsatz            Die Person, die ihre Substanz testen las-
Substanzen ja analysiert und dann ver-         konkret ab?                                       sen will, bekommt eine Schutzbrille,
nichtet werden.                                Als Erstes reden wir mit den Veran­stal­          einen Laborkittel und Laborhandschu-
                                               ter*innen von Musikevents. Nur wenn               he. Dann wird das Vorgehen erklärt, die
Und warum ging es dann nicht 2018              die einverstanden sind, kommen wir                Person wiegt mit der Feinwaage die be-
schon los, auch in Berlin?                     mit unserem Drogerie-Wohnmobil und                nötigte Menge Substanz ab und gibt sie
Ein Problem bleibt: Um die Instrumente         bieten dann vor Ort unseren Safe Space            schließlich selbst in die chemische Lö-
fürs Drug-Checking zu eichen, braucht          mit Beratung an. Das wird vorher aber             sung.
man Referenzsubstanzen, und um diese
zu bekommen, braucht man wiederum
eine Sondererlaubnis des Bundesamts
für Arzneimittel und Medizinprodukte,
kurz BfArM, zur „Teilnahme am Betäu-
bungsmittelverkehr“. Diese Erlaubnis be-
kommt man aber nicht, wenn man nicht
gerade eine Forschungseinrichtung oder
Ähnliches ist.

Wie seid ihr dann zur Thüringer Lö-
sung gekommen?
Dr. Blei hat ein Verfahren zur Analyse von
Psilocybin entwickelt, dem Inhaltsstoff
bestimmter bewusstseinsverändern-
der Pilze, und dann weitergemacht mit
einer Forschungsarbeit zur Bestimmung
des MDMA-Gehalts von Substanzen. Mit
                                                                                                                                             www.saferparty.ch

einem EXIST-Gründerstipendium für sein
Projekt „miraculix“ hat er schließlich im
März 2021 mit seinen Kolleg*innen eine
eigene Firma für die Entwicklung und
den Vertrieb solcher Tests gegründet           Drug Checking Zürich

                                                                                            11
leben mit drogen                        DROGENKURIER

Das Feedback der Leute ist phänomenal,
auch von den Veranstalter*innen. Hier                Schwester von heroinabhängigem
wird klar: Niemand will sich bewusst
schädigen, die Leute haben allergröß-                Gefangenen verurteilt
tes Interesse daran, ihre Risiken so ge-
ring wie möglich zu halten.
                                                     Claudia Jaworski hatte ihrem heroinabhängigen Bruder ein Substitu­
   Nun kann jemand vom Labor von Dr.                 tionsmittel ins Gefängnis gebracht, weil ihm die Behandlung in der
Blei die Probe an sich nehmen und nach               JVA Bernau in Bayern verweigert worden war. Am 15.6.2021 wurde
allen Regeln der Kunst analysieren. Die              sie vom Amtsgericht Rosenheim zu 60 Tagessätzen verurteilt. Die
Labormitarbeiter*innen haben keinen
Kontakt mit einer psychoaktiven Subs-
                                                     Staatsanwaltschaft hatte 90 Tagessätze gefordert, die Verteidigung
tanz, außerdem werden die Reste der Pro-             hatte auf Freispruch plädiert.
ben vernichtet. Wenn die Analysen fer-
tig sind, teilen wir den Leuten mit, was

                                                                                                                                       Foto: Privat
gefunden wurde – oder auch, dass nichts
gefunden wurde.

Hochdosiertes Ecstasy gefunden!
Neulich hatten wir zum Beispiel eine
sehr hoch dosierte Ecstasypille. Die Per-
son hat dann gesagt, sie würde auf jeden
Fall nur einen kleinen Teil der Pille konsu-
mieren, falls überhaupt. In einer anderen
Probe, die eigentlich harmloses Cannabi-
diol enthalten sollte, haben wir syntheti-
sche Cannabinoide entdeckt – hier hat der
User lieber auf den Konsum verzichtet.
   Geplant ist, dass wir unsere Ergebnis-            Claudia Jaworski
se im Rahmen unserer „Pillenwarnun-
gen“ veröffentlichen. Außerdem führen                Missstände in bayerischen Gefängnissen
wir eine Statistik, die Aufschlüsse über             Laut einem Bericht des Bayerischen Rundfunks hatten Claudia Jaworski und ihr An-
Konsumverhalten, häufig konsumier-                   walt Adam Ahmed die Verhandlung genutzt, um die strukturellen Missstände in
te Substanzen und auch über Probleme                 bayerischen Gefängnissen im Hinblick auf die Substitutionsbehandlung und den Um-
mit dem Konsum geben kann.                           gang mit Drogengebraucher*innen zum Thema zu machen. Von Menschenrechtsver-
   Aber unser vorrangiges Ziel ist es,               letzungen und Folter sei die Rede gewesen.
Brücken zum Hilfesystem zu bauen, um                    Jaworskis Bruder habe vor Gericht als Zeuge ausgesagt, dass der Anstaltsarzt ihm
Freizeitdrogenkonsumierende niedrig-                 die Substitution verweigert und ihm gesagt hätte, er solle sich „das Zeug doch auf
schwellig zu erreichen, sie professionell            dem Schwarzmarkt im Hofgang besorgen“. Verteidiger Adam Ahmed habe die Staats-
zu beraten und zu begleiten. So kommen               anwaltschaft aufgefordert, diesem Vorwurf der Anstiftung zu einer Straftat straf-
unsere Adressat*innen in die Lage, ihr               rechtlich nachzugehen, heißt es im Bericht des Bayerischen Rundfunks weiter.
Konsumverhalten zu reflektieren.
                                                     Richterin zeigte sich entsetzt über Umgang mit heroinabhängigen
Wie lange läuft euer Projekt und wie                 Gefangenen
sind die Aussichten?                                 In ihrer Urteilsbegründung habe sich die Richterin entsetzt über den Umgang der JVA
Das Pilotprojekt ist bis Ende 2021 befris-           mit dem Bruder gezeigt. Sie glaube, dass die Aussagen der Angeklagten der Wahrheit
tet, aber bald laufen die Haushaltsver-              entsprächen. Dennoch habe sich Claudia Jaworski schuldig gemacht. Claudia Jawor-
handlungen für 2022, und ich hoffe sehr,             ski und ihr Anwalt wollen nun Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen und den Weg
dass wir das Projekt fortsetzen können.              durch alle Instanzen gehen – bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Der politische Diskurs ist da – und wir                 Ein Interview, das die Deutsche Aidshilfe im Vorfeld der Verhandlung mit Claudia
sind bereit. n                                       Jaworski geführt hatte, findet sich auf „ magazin.hiv. https://magazin.hiv/magazin/
           Quelle: magazin.hiv, H. Sweers            drogen-haft-substitution-claudia-jaworski/
       (redaktionell bearbeitete Fassung)                                                                           Quelle magazin.hiv CL

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   DEINE THERAPIE IST
   EINSTELLUNGSSACHE

    Sprich mit deinem
     Arzt über deine
   Dosierung, bevor der
      Suchtdruck zu
        stark wird.

Mit der richtigen Einstellung leben.
                                                     13
leben mit drogen               DROGENKURIER

NE U E S ERIE
Mit dieser neuen Serie wollen wir
Beispiele von diskriminierendem
Verhalten im Gesundheitswesen
vorstellen.

Da wir diese Serie fortsetzen
wollen, bitten wir um Beispiele
der Diskriminierung im
Gesundheitswesen bis zum
15. Februar 2022 per Mail an:
Dirk.Schaeffer@dah.aidshilfe.de

                                                                                                                            Foto: CaJa
Immer wieder erleben Menschen
mit Suchterkrankungen Diskri-
minierungen im Gesundheitswe-
                                         „Methadon
sen. Ausgrenzende Maßnahmen
und Haltungen gibt es in vieler-         machen wa
                                         hier nich“
lei Form und in verschiedenen
Settings. Mal erhält man den
letztmöglichen Termin in der
Praxis. Dann werden Schmer-
                                         Diskriminierung im Gesundheitswesen
zen z. B. in der Notaufnahme
nicht wirklich ernst genommen,
da das Personal der Meinung                                                          Es geschah in einer Apotheke
                                         Um dies gleich vorwegzusagen, es gibt       in Berlin
ist, es gehe eigentlich um den           großartige Ärzt*innen, überaus empa-        Der erste Beitrag dieser kleinen Serie be-
Erhalt starker Schmerzmittel..           thische und sensible Apotheker*innen,       schreibt eine Situation in einer Apotheke
                                         vorurteilsfreie Krankenpfleger*innen        in Berlin Lichtenberg/Hohenschönhau-
Auch Apotheken sind ein Ort
                                         und Kliniker*innen, die Menschen mit        sen.
wo Suchtpatient*innen Diskri-            Sucht­erkrankungen so behandeln wie sie        Ich, ein substituierter Mann, suchte
minierung erfahren können,               selbst behandelt werden möchten.            die Apotheke auf, da ich bisher durch die
                                            Aber es gibt eben auch das Gegenteil.    halbe Stadt fahren musste, um sein Re-
wenn sie z. B. im Beisein anderer
                                         Insbesondere für Menschen, die auf-         zept für eine Take Home-Rezeptierung
Kund*innen ihr Medikament öf-            grund ihrer Suchterkrankung bereits an      einzulösen. Ich hatte die Hoffnung, die
fentlich einnehmen müssen und            sich selbst zweifeln oder weitgehend iso-   nette Apotheke um die Ecke, in der ich
                                         liert leben, haben diese Diskriminierun-    bereits hin und wieder Kopfschmerzmit-
die Einnahme auch noch vor den           gen im Gesundheitswesen dramatische         tel erwarb oder andere Rezepte einlöste,
Augen aller kontrolliert wird.           Folgen für ihr Selbstwertgefühl.            würde mein Problem lösen können.

                                    14
www.jes-bundesverband.de                                                 leben mit drogen

„Methadon machen wa hier nich“                                                                                          hier nix anfangen da fehlt xy.“ Ich ver-
Ich betrat die Apotheke und übergab             „Ich darf und kann                                                      stand nicht genau was sie meinte und
mein Rezept einer jungen Apothekerin.                                                                                   entgegnete, dass ich doch dieses Rezept
Die erste Reaktion war, dass die junge
                                                also nicht Kunde ihrer                                                  in anderen Apotheken auch eingelöst be-
Frau ihre Augenbrauen leicht hochzog            Apotheke werden?“                                                       käme.
und ihre Chefin rief: „Frau XY schauen Sie                                                                                 Mittlerweile hatte die Chefin das Re-
mal hier.“ Die sichtbar vielbeschäftigte        ter: „außerdem bleiben wir dann auf den                                 zept wieder in die Hände ihrer jungen
Chefin rauschte heran und bereits im Ab-        angebrochenen Packungen sitzen, wenn                                    Kollegin übergeben, als sichtbares Sig-
stand von ca. 1 Meter zu ihrer Kollegin rief    Sie nicht kommen.“ Ich entgegnete, dass                                 nal, dass das Thema für sie hiermit er-
sie in meine Richtung „Methadon ma-             ich versichern könne, auch die nächsten                                 ledigt sei. Ich fragte etwas provokativ
chen wa hier nich“. Ich versuchte zu ent-       Monate und Jahre das Medikament zu                                      „Ich darf also nicht Kunde ihrer Apothe-
gegnen, dass es sich nicht um Methadon          benötigen. Ihr gingen scheinbar die Ar-                                 ke werden?“
handele, das vor Ort hergestellt werden         gumente aus und so schlug sie eine an-                                     Sie entgegnete: „Nein, Methadon ma-
müsse, sondern um ein Fertigpräparat in         dere Strategie zur Abwehr unliebsamer                                   chen wa hier nich“.
Tablettenform. Ich hatte den Satz kaum          Kunden ein. „Warum gehen Sie eigent-                                       Ich nahm mein Rezept wieder in Be-
beendet, da rief sie erneut „Nein, Metha-       lich nicht zu der Apotheke, wo Sie her-                                 sitz und ging kopfschüttelnd Richtung
don machen wa hier nich.“ Dies in einer         kommen?“ Ich erläuterte, dass ich mir                                   Ausgang. Ich überlegte kurz, ob ich die
Lautstärke, dass ihre Kolleg*innen sich zu      den Weg durch ganz Berlin ersparen wol-                                 Chance nutzen sollte um die wohlgeord-
ihr wandten und die Kundenbetreuung             le und stattdessen gern Kunde ihrer Apo-                                neten Regale abzuräumen. Ich riss mich
für einen Moment unterbrachen. Darauf-          theke sein würde.                                                       zusammen, um die hier bestehende Hal-
                                                                                                                        tung gegenüber Menschen mit Suchter-
                                                                                                                        krankungen nicht zu bestätigen – auch
                                                                                        Foto: M.Rode/Fotolia.com

                                                                                                                        wenn es mir schwerfiel.

                                                                                                                        Dass dieses Beispiel, das mir vor einigen
                                                                                                                        Monaten passierte nicht ganz ohne Fol-
                                                                                                                        gen blieb, sieht man allein daran, dass
                                                                                                                        ich es hier beschreibe. Nun, ich stehe
                                                                                                                        mitten im Leben und dieses diskriminie-
                                                                                                                        rende Verhalten wird bei mir keine blei-
                                                                                                                        benden Folgen hinterlassen. Es erscheint
                                                                                                                        aber wenig spekulativ anzunehmen, dass
                                                                                                                        solche Erlebnisse bei anderen Menschen
                                                                                                                        mit Suchterkrankungen Selbstzweifel
                                                                                                                        und Versagensängste verstärken können.

                                                                                                                        Egal was hieraus resultiert, dieser hier
hin wandten sich auch die Kund*innen            Alle Augen waren auf mich                                               geschilderte Umgang ist eine mensch-
mir zu und schließlich waren – durch die        gerichtet                                                               liche Katastrophe und wird nicht dazu
Lautstärke der Angestellten – alle Blicke       Ich sah aus dem Augenwinkel das weiter-                                 beitragen, dass Menschen mit Suchter-
auf mich gerichtet.                             hin der Betrieb in der Apotheke stillstand,                             krankungen sich in der Mitte der Ge-
   Ich entgegnete erneut, dass sie nichts       da alle Kund*innen unserer Diskussion                                   sellschaft sehen.
weiter tun müsse als meine vorherige            lauschten. Sie überlegten sicher was ich
Apotheke: Das Medikament zu bestel-             denn Schlimmes verlangte, dass die Apo-                                 Ich habe lange überlegt, ob ich hier den
len und in einen Blister zu verpacken.          thekerin so barsch reagierte. Noch ließ                                 Namen der Apotheke nennen soll, um
Ich war außerordentlich freundlich, ob-         ich mich nicht beirren und sagte, dass                                  andere Menschen zu warnen und die-
wohl ich bereits zu diesem Zeitpunkt ger-       ich gerne dieses Rezept einlösen würde                                  ses Verhalten öffentlich zu skandalisie-
ne gegen die Plexiglasscheibe geschla-          und gerne bereit sei morgen wiederzu-                                   ren. Ich habe mich letztendlich dagegen
gen hätte, um sie zur Ordnung zu rufen.         kommen, wenn sie das Medikament be-                                     entschieden. Warum? Ich weiß es nicht
Sie entgegnete „nee nee, wir dürfen kei-        stellen müsse.                                                          genau. n
ne Tabletten aus den Packungen neh-                Nun kam sie zu Teil 3 ihrer Abwim-                                                                       T. W.
men um sie zu Blistern.“ Die Dame wei-          melstrategie „Mit dem Rezept kann ich

                                                                                                                   15
leben mit drogen                     DROGENKURIER

Mit Methadon & Co
zurück ins Leben
Seit 20 Jahren ist Andreas Canal in der Substitution. Ohne Ersatzstoffe würde er
heute wahrscheinlich nicht mehr leben. Sie lösten ihn vom Heroin und ermöglichen
ihm inzwischen ein Engagement in der Selbsthilfe.

Er könnte von seiner schweren Kind-                                       Mengen getrunken und wollte das nicht
heit erzählen und damit das Abrutschen                                    mehr. Ich war schon lange neugierig, wie
in die Drogen erklären. Andreas Canal                                     Heroin wirkt, wie es sich „anfühlt“. „Ich
schmunzelt bei diesem Gedanken. Er                                        habe mir davon versprochen, dass es mir
redet nicht lange um sein persönliches                                    gelingt, durch den Konsum meine psy-
Problem herum: „Ich war nicht Beson-                                      chischen Problem in den Griff zu bekom-
ders umgänglich, wenn ich getrunken                                       men“, sagt Canal.
habe. Der Gebrauch von Heroin war eine
Möglichkeit für mich, mit meinen psychi-                                  Tatsächlich gelang dies auch, aller-
schen Problemen einigermaßen klarzu-                                      dings nur kurzzeitig. Das Gefühl des ers-
kommen Der ursächliche Grund für den                                      ten Rauschs kann Canal noch heute, 25
Konsum war damals der Versuch einer                                       Jahre später, schildern. „Das Erste Mal hat
Eigentherapie und eine Art Selbstmedi-                                    mich umgehauen. Mein Leben wechselte
kation.“                                                                  von schwarzweiß zu bunt. Plötzlich be-
   Canal ist sich bewusst, dass er ohne                                   hinderte mich die Angststörung nicht
Ersatzstoffe wie Methadon mit hoher Si-                                   mehr, stattdessen war ich glücklich.“ So
cherheit erst vor dem Richter, dann im                                    einfach glücklich sein: Das gelang ihm
Gefängnis und später möglicherweise                                       wenige Monate. Er konnte den Alkohol-
auf dem Sterbebett gelandet wäre. Maß-                                    konsum deutlich reduzieren, solange er
loser Drogenkonsum hat seinem Leben                                       Heroin nahm.
eine Richtung gegeben, die man sich                                          Erst nach ein paar Monaten realisier-
nicht aussuchen würde.                          Andreas Canal             te Canal, dass er – wie zuvor beim Alko-
                                                                          hol – in eine Abhängigkeit gerutscht war.
Drogen begleiten Canal durch sein Leben.                                  Die Intervalle wurden kürzer, die Men-
Mit sieben Jahren fing er an zu rauchen,        „Meine Erwartungen an     gen größer.
                                                                                                                        Fotos dieser Doppelseite: www.aeksh.de/aerzteblatt/2021/11

mit 13 zu trinken. Alkohol half dem Ju-                                      Irgendwann benötigte er täglich He-
gendlichen zunächst, mit dem Allein-
                                                die Substitution waren    roin, dann mehrmals täglich. Sein Geld
sein zu Recht zu kommen. Dass er unter          sehr gering. Aber ich     war aufgebraucht, er „beschaffte“ sich
Angststörungen und Depressionen litt,           hatte kein Geld mehr      die notwendigen Mittel. Die mit diesem
war niemandem bekannt oder es inter-                                      Leben verbundenen Risiken waren ihm
essiert nicht.
                                                für Heroin, wollte den    bewusst, aber egal. „Meine Alternativen
   Mit immer größeren Mengen Alkohol            Druck der Beschaffung     wären Alkoholtod oder Suizid gewesen.
verdrängte er, Anschluss in der Gesell-         loswerden und vor allem   So betrachtet hat mir Heroin zu diesem
schaft aber wurde für den verschlosse-                                    Zeitpunkt das Leben gerettet“, glaubt
nen jungen Mann immer schwerer.
                                                nicht mehr entzügig       Canal. Äußere Zwänge führten dann
   Eine Ausbildung brach er ab, eine            sein.“                    später zu einer Wende: Er hatte schlicht
Ehe scheiterte. „Ich habe jeden Tag hohe                                  kein Geld mehr, die Beschaffung wur-

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de immer problematischer für ihn: „Ich                                                                                schwankt und war unzufrieden. Ich woll-
war komplett pleite, hatte nichts mehr                    „Wir sind krank, nur                                        te abbrechen, aber ich wusste, dass ich
zu verkaufen und für den Überfall Auf                                                                                 mir die Schwarzmarktpreise nicht leisten
eine Apotheke oder eine Bank fehlte mir
                                                          mit einer anderen                                           konnte. Ich wollte auch nicht mehr, dass
schlicht der Mut.“ Canal kannte jeman-                    Problematik als andere                                      sich mein Leben nur noch um die Frage
den, der bei einem Kieler Arzt im Substi-                 Patienten“                                                  drehte, woher ich das Geld für das nächs-
tutionsprogramm war.                                                                                                  te Gramm oder den nächsten Beutel neh-
   Ohne diesen Bezug hätte er sich kei-                                                                               men sollte.“
nem Arzt geöffnet, die Hemmschwelle                                                                                      Auch seine psychischen Krisen kom-
war riesig. „Ich hatte kein Vertrauen und                    Nach der ersten Einnahme von Me-                         men immer wieder. Er zieht sich dann
keine guten Erfahrungen zu und mit Ärz-                   thadon ging es ihm sofort besser. „Das                      komplett von der Außenwelt zurück –
ten. Meine Erwartungen an die Substi-                     trat sofort ein, bevor es überhaupt wir-                    eine regelmäßige Tätigkeit in einem
tution waren sehr gering. Aber ich hat-                   ken konnte. Es war eine reine Kopfsache.“                   Beruf ist für ihn damit trotz Substituti-
te kein Geld mehr für Heroin, wollte den                  Später stellte sich dann der „Methadon-                     on unmöglich. Eine Teilhabe am gesell-
Druck der Beschaffung loswerden und                       Rausch“ ein, den Canal aber als Enttäu-                     schaftlichen Leben, wie es für viele Men-
vor allem nicht mehr entzügig sein.“                      schung wahrnahm, weil er so ganz an-                        schen normal ist, bleibt schwierig. Als die
   Er war 31 Jahre alt, als er sich zur Sub-              ders ausfiel als unter Heroin. Er blieb                     substituierende Allgemeinarztpraxis, in
stitution entschied. Es Begann mit einer                  trotzdem dabei: „In erster Linie war ich                    der er anfangs betreut wurde, an eine
Enttäuschung, er musste einen Behand-                     glücklich, weil es zumindest irgendein                      Nachfolgerin übergeben wurde, wechsel-
lungsvertrag unterschreiben in einer Si-                  Rausch war. Und Ich war endlich nicht                       te Canal aus persönlichen Gründen zur
tuation, die nach seiner Ansicht dafür                    mehr entzügig.“                                             Drogenambulanz in der Boninstraße. Er
nicht geeignet war. „Ich war auf Entzug                      Er wurde zwar auf andere Ersatzstoffe                    ist zwar froh, dass es solche Anlaufstel-
und die Aufklärung ging komplett an mir                   umgestellt, blieb aber in der Substitution.                 len gibt, hat aber kein Verständnis, dass
vorbei. Ich war nicht aufnahmefähig und                      Später spielten dann langfristige                        Patienten zum großen Teil noch immer
hätte alles getan und alles unterschrie-                  Überlegungen eine Rolle: „Ich habe mich                     nicht wie andere chronisch Erkrankte
ben, um an Methadon zu kommen. In                         gefragt, ob ich langfristig damit klarkom-                  in Praxen versorgt werden. Ärzte außer-
einer solchen Situation darf man einen                    me und was die Alternativen wären.“                         halb der Fachambulanz sucht er gar nicht
Menschen keinen Vertrag unterschrei-                      Dennoch befielen ihn im Laufe der Jahre                     mehr auf, weil er erwartet, stigmatisiert
ben lassen“, findet er auch heute noch.                   immer wieder Zweifel. „Ich habe oft ge-                     zu werden. Getrennte Wartezimmer, wie
                                                                                                                      es sie zum Teil bei substituierenden Ärz-
                                                                                                                      ten gibt, empfindet er als diskriminie-
                                                                                                                      rend. „Wir sind krank, nur mit einer an-
                                                                                                                      deren Problematik als andere Patienten“,
                                                                                                                      sagt er.
                                                                                                                         Das Thema treibt ihn so um, dass sich
                                                                                                                      Canal inzwischen in der Selbsthilfe enga-
                                                                                                                      giert. Er ist Koordinator für Norddeutsch-
                                                                                                                      land für den JES (Junkies – Ehemalige –
                                                                                                                      Substituierte) Bundesverband.
                                                                                                                         Das Netzwerk aus regionalen Selbst-
                                                                                                                      hilfegruppen und Einzelkämpfern setzt
                                                                                                                      sich für eine Regulierte Freigabe aller
                                                                                                                      Substanzen und gegen Kriminalisierung
                                                                                                                      und Stigmatisierung drogenbrauchender
                                                                                                                      Menschen ein. Die Tätigkeit empfindet er
                                                                                                                      als wichtig und erfüllend – vielleicht die
                                                                                                                      erste in seinem Leben, die er so wahr-
                                                                                                                      nimmt. 20 Jahre Substitution haben es
                                                                                                                      möglich gemacht. n

                                                                                                                          Quelle: Ärzteblatt Schleswig-Holstein,
Andreas Canal wird substituiert und ist seit Jahren Stammgast in der Kieler Drogenambulanz in der Boninstraße.                                     Dirk Schnack

                                                                                                                 17
medizin            DROGENKURIER

                              „Wer nicht kämpft,
                             hat schon verloren!“
                 Drogenberater*innen können viel dazu beitragen, dass ihre Klient*innen
                                         Zugang zur Hepatitis-C-Versorgung erhalten

Drogengebraucher*innen                       Umdenken durch den Tod des                     erin bringen dann den Stein ins Rollen.
                                             Freundes                                       „Sie hat mir damals von der Behandlung
sind häufig an Hepatitis-C                   Peter G. (53), meint, dass Hepatitis-C         erzählt, meine Vorbehalte ausgeräumt,
erkrankt – oft ohne dies                     unter Drogengebraucher*innen so ver-           mit mir einen Arzt ausgesucht und sie ist
                                             breitet ist, weil der Suchtdruck die Leute     auch mit mir das erste Mal zu ihm hin-
überhaupt zu wissen. Dabei                   unvorsichtig macht. Da heißt es dann:          gegangen.“ Heute ist Peter froh, dass er
                                             ,Gib mir mal schnell Deine Pumpe‘. Man         die Therapie gemacht hat und er merkt,
kann die Virusinfektion der                  versucht zwar, die Spritze zu säubern,         dass er wieder „mutiger, euphorischer
Leber massive Auswirkun-                     aber es reicht halt nicht. Wo er sich an-      und physisch wie psychisch belastbarer
                                             gesteckt hat, weiß Peter nicht mit Sicher-     ist“. Sein Rat an Betreuer*innen: „Sprecht
gen auf Gesundheit und                       heit. Er erfährt von seiner Hepatitis-C, als   die Leute auf das Thema an und seid aus-
Wohlbefinden haben. Zum                      er das erste Mal in die Entgiftung geht.       dauernd.“
                                             Einige Zeit später fällt ihm auf, dass er
Glück sind seit einigen Jah-                 eigentlich immer müde ist. Und auch die        Der berühmte Tritt in den Hintern
                                             Leber ist schon vergrößert, wie eine Un-       Müdigkeit und Leistungsschwäche als
ren Arzneimittel verfügbar,                  tersuchung zeigt. Aber erst als ein Freund     Folge einer Hepatitis-C, das kennt auch
die praktisch immer zu einer                 an Hepatitis-C stirbt, beginnt er sich zu      Uwe K. (63). Und auch er weiß nicht,
                                             erkundigen. Eine Info in der Drogenbe-         wie er sich infiziert hat. „Als ich die Di-
Heilung führen. Was bedeu-                   ratungsstelle und seine damalige Betreu-       agnose bekam, vor Jahrzehnten, habe
tet das für die Betroffenen?
Wir haben vier ehemalige
Hepatitis-C-Patienten ge-
fragt. Sie erzählen, wie
sie die Erkrankung erlebt
haben und was sich durch
die Heilung für sie geän-
                                                                                                                                          Alle Fotos dieser Doppelseite: B. Kessler

dert hat.

Die Interviews sind in Zusammenarbeit
mit der Gilead Sciences GmbH entstan-
den. „ Hier gibt es die Langform der
Interviews als Video: www.m-ove.info          Peter G.                                       Uwe K.

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ich gerade in Südamerika im Bergbau            antriebslos. Das hat sich spürbar gebes-             ren immer noch Ammenmärchen. Viele
gearbeitet.“ Längst zurück in Deutsch-         sert.“ Heute ist er sich sicher, dass die He-        haben auch Angst und denken, wer
land entschließt er sich zu einer Inter-       patitis-C für ihn keine Bedrohung mehr               weiß, was dann kommt. Diese Angst
feron-Behandlung, der damals einzigen          darstellt. Denn seine Betreuerin, die                sollte man ihnen nehmen.“ Und an die
Therapiemöglichkeit. Sie bleibt erfolg-        ihm schon die Behandlung ans Herz ge-                Drogengebraucher*innen selbst gerich-
los. Nochmal ein Jahr später informiert        legt hat, hat ihm auch Tipps mit auf den             tet: „Lasst Euch nicht hängen und tut was
ihn sein Arzt, dass es nun neue Arznei-        Weg gegeben, wie er eine neue Infekti-               für Euch. Wer nicht kämpft, hat schon
mittel gibt, und Uwe lässt sich erneut         on vermeidet. „Auf Hygiene achten, keine             verloren.“ n
behandeln. Dieses Mal mit Erfolg: „Ich         Rauchröhrchen teilen usw., ich weiß ei-                                      Günter Löffelmann
habe überhaupt keine Nebenwirkungen            gentlich, was zu tun ist. Und Spritzen
bemerkt und schon nach wenigen Wo-             kommt für mich ohnehin seit Jahren
chen waren die Hepatitis-C-Viren aus           nicht mehr infrage.“                                     Hepatitis-C
dem Blut verschwunden.“ Seither geht
es ihm besser, und er ist froh, dass er die    Aufklärung statt Ammenmärchen                            auf einen Blick
Therapie gemacht hat. Wie könnte man           „Ich habe mich vermutlich auf einer                   •	Hepatitis-C wird durch Blut-zu-
andere Drogengebraucher*innen mit He-          Party angesteckt“, sagt J. W. (52). „Dort                Blut-Kontakt übertragen, zum
patitis-C zur Therapie ermuntern? „Da-         haben alle den gleichen Löffel genom-                    Beispiel bei der Verwendung
durch, dass ehemalige Patienten wie ich        men.“ Die Diagnose ist dann wie ein                      von kontaminiertem Konsum­
von ihrer Erfahrung berichten, und das         Schock für J. „Ich habe nur gedacht: Hof-                utensilien, beim Tätowieren
Betreuer*innen informieren, aufklären,         fentlich habe ich meine Partnerin nicht                  unter nicht sterilen Bedingungen
und vielleicht auch mal den einen oder         angesteckt. Gott sei Dank war das nicht                  oder bei verletzungsträchtigen
anderen Tritt in den Hintern verteilen.“       der Fall.“ Nach einer Interferon-Therapie,               Sexualpraktiken.
                                               die er erfolglos abbrechen muss, erfährt              •	Eine Hepatitis-C-Virusinfekti-
Jobtauglich nach der Behandlung                J. Jahre später von einem Freund, dass                   on wird in den meisten Fällen
Eduard E. (57), macht sich keine großen        der eine neue Therapie mit Tabletten ge-                 chronisch. Die Erkrankung geht
Illusionen: „Wenn ich die Hepatitis-C          macht hat, und dass es ihm seither viel                  in der Regel nur mit unspezifi-
noch hätte, könnte ich meinen 2-Euro-Job       besser geht – für J. Motivation genug, sich              schen Symptomen einher, wie
wahrscheinlich gar nicht machen.“ Denn         ebenfalls behandeln zu lassen. „Hinter-                  Müdigkeit, Leistungsschwäche
in der Technikwerkstatt, in der er arbei-      her war ich viel leistungsfähiger“, freut                und Oberbauchbeschwerden.
tet, ist immer viel zu tun. „Das hätte ich     er sich. „Das haben auch viele Leute be-                 Langfristig drohen jedoch Leber-
vor der Behandlung alles gar nicht durch-      merkt, die mich gut kennen.“ Auch J.                     zirrhose und Leberkrebs.
gehalten. Denn ich war schon sehr nie-         empfiehlt, Drogengebraucher*innen                     •	Schnelltests, die auch in Dro-
dergeschlagen, auch mal depressiv und          bestmöglich aufzuklären. „Da kursie-                     genberatungsstellen durch-
                                                                                                        geführt werden, können eine
                                                                                                        Hepatitis-C ausschließen bezie-
                                                                                                        hungsweise Hinweise auf Anti­
                                                                                                        körper geben. Ein positiver
                                                                                                        Schnelltest muss durch einen
                                                                                                        weiteren Labortest auf virales
                                                                                                        Erbmaterial bestätigt werden.
                                                                                                     •	Die Behandlung mit Interferon
                                                                                                        ist heute obsolet. Stattdessen
                                                                                                        gibt es direkt antivirale Arznei-
                                                                                                        mittel, die sehr gut verträglich
                                                                                                        sind und in praktisch allen Fäl-
                                                                                                        len zu einer Heilung führen.
                                                                                                        Suchtmediziner*innen lehnen
                                                                                                        spezifische suchtmedizinische
                                                                                                        Voraussetzungen für eine Hepa-
                                                                                                        titis-C-Therapie ab (zum Beispiel
                                                                                                        clean sein).
 Eduard E.                                      J. W.

                                                                                               19
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