EDITORIAL - BIG Business Crime

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EDITORIAL
                                                                                                  Liebe Leserinnen und Leser,
                                                                                                  Schwerpunkt dieser Beilage ist der Fall
                                                                                                  Wirecard. Der Schock in der Öffentlich-
                                                                                                  keit war groß, als sich mit Wirecard ein
                                                                                                  in den deutschen Aktienindex DAX auf-
                                                                                                  genommenes international aufstreben-
                                                                                                  des Unternehmen als das erwies, was
                                                                                                  es von Anfang an war: eine trotz aller
                                                                                                  beim Aufstieg zugelegten glatten Fas-
                                                                                                  sade im innersten Zirkel unseriöse Ein-
                                                                                                  richtung zum Abkassieren. Dass dies
                                                                                                  so lange verdeckt bleiben konnte – da-
                                                                                                  ran sind ganz ohne Zweifel die mangel-
                                                                                                  hafte Aufsicht durch die zuständigen
                                                                                                  Behörden, die Freundschaftsdienste
                                                                                                  der testierenden Wirtschaftsprüfungs-
                                                                                                  firma, die Zuneigung aus bestimmten
                                                                                                  Kreisen der Politik und noch einiges an-
                                                                                                  dere mehr schuld. Auch Kontakte ins
                                                                                                  halbkriminelle und geheimdienstliche
                                                                                                  Milieu waren dem Unternehmen sicher-
                                                                                                  lich von nicht geringem Nutzen.

                Der Fall Wirecard                                                                 Jürgen Roth, langjähriger Mitheraus-
                                                                                                  geber unserer Zeitschrift BIG Business
                                                                                                  Crime, hat in seinem letzten, im Jahr
            Banden und Komplizen                                                                  2017 erschienenen Buch: „Die neuen
                                                                                                  Paten – Trump, Putin, Erdogan, Orbán

           im digitalen Kapitalismus
                                                                                                  & Co. – Wie die autoritären Herrscher
                                                                                                  und ihre mafiosen Clans uns bedro-
                                                                                                  hen“ beschrieben, wie Verbindungen
                                                                                                  zwischen krimineller Ökonomie und
                                 von Joachim Maiworm                                              staatlichen Apparaten, wie Verflech-
                                                                                                  tungen zwischen Ober- und Unterwelt

  D
         er Fall Wirecard bietet genügend          chen I erst im Sommer 2020, fünf Jahre         funktionieren. Und wie sie bei schwä-
         Stoff für nicht nur einen Krimi. Die      nachdem die Londoner Financial Times be-       cher werdenden oder fehlenden demo-
         meisten Medienberichte fokussie-          reits Betrugsvorwürfe gegen Wirecard vor-      kratischen Strukturen immer dichter
ren sich deshalb auf das betrügerische Ver-        gebracht hatte, im Vorstandsvorsitzenden       werden. In der Bundesrepublik kann
halten der beiden Spitzenmanager Markus            Markus Braun den „Kopf einer hierarchisch      man anhand der Skandale der letzten
Braun und Jan Marsalek. Der eine sitzt seit        organisierten Bande“ erkannte, dem inzwi-      Jahre – vom Dieselgate über Cum/Ex
Monaten in Untersuchungshaft, der andere           schen „gewerbsmäßiger Betrug“ zur Last         bis zu Wirecard – beobachten, wie die-
steht als einer der meistgesuchten Ver-            gelegt wird? (FAZ vom 13. Dezember 2020)       se Verflechtungen auch in einer noch
brecher Europas auf internationalen Fahn-                                                         intakten Demokratie gefährlich vor-
                                                      „Wir haben es mit einem klaren Fall von
dungslisten.                                                                                      anschreiten können. Gegen das Fort-
                                                   Markt- und Staatsversagen zu tun.“ So lautet
   Diese dominierende individualisierende          eine beliebte Antwort auf diese Frage. Das     schreiten solcher Tendenzen hat Jür-
Perspektive lenkt jedoch von strukturellen         „Versagen“ eines Staates muss sich aber an     gen Roth am Schluss seines Buches
Faktoren ab, die überhaupt erst die Voraus-        dem messen lassen, was als „normal“ oder       einen „breiten zivilgesellschaftlichen
setzungen dafür schufen, dass der Konzern          „erfolgreich“ gilt. Nach der statistischen     Aufstand“ gefordert.
mutmaßlich über viele Jahre seine Bilanzen         Norm sind illegale Aktionen aufseiten von      An dieser Stelle möchten wir noch
in gigantischem Ausmaß frisieren konnte,           Unternehmen durchaus an der Tagesord-          einmal auf unsere Internet-Ausgabe
um sich gegenüber Banken und Investoren            nung. [1] Wann also beginnt das „Staatsver-    mit weiteren Artikeln, Nachrichten und
finanzstärker und attraktiver präsentieren         sagen“? Offensichtlich erst dann, wenn der     Rezensionen und einem Archiv der
zu können, als er es jemals war.                   Öffentlichkeit klar wird, welch gigantischen   bisherigen Beiträge hinweisen. Die
    Es muss aber vor allem das gesellschaft-       Ausmaß der Betrug eines Unternehmens           Internet-Ausgabe finden Sie auf der
liche und politische Umfeld untersucht wer-        angenommen hat. Bis dahin verläuft alles       Webseite des Vereins Business Crime
den, um kriminelles Verhalten in der Wirt-         ganz „normal“ unterhalb der Aufmerksam-        Control, der 1991 zur Aufklärung über
schaft analysieren zu können. Wie verhalten        keitsschwelle. Wesentliche Faktoren dieser     Wirtschaftskriminalität gegründet wor-
sich Staat, Politik, Kapital und gesellschaftli-   die Wirtschaftskriminalität ermöglichende      den ist.
che Gruppen zueinander? Wie ist es letztlich       oder begünstigende Normalität lassen sich
                                                                                                  Mit den besten Grüßen
möglich, dass die Staatsanwaltschaft Mün-          am Beispiel Wirecard benennen.
                                                                                                  Redaktion BIG Business Crime
Beilage zu Nr. 2/2021 von      STICHWORT BAYER
Fehlende externe                    die Behörde ein förmliches Verfahren        desselben Jahres kommentierte die FAZ
       und interne Kontrollen                gegen die Wirtschaftsprüfergesellschaft     ehrfurchtsvoll die positive Geschäfts-
                                             EY ein, lange nachdem EY selbst im öf-      entwicklung unter dem Titel „Wirecard –
    Auf rein legalem Weg wäre der Wachs-
                                             fentlichen Kreuzfeuer der Kritik stand.     eine Ermutigung“ (FAZ vom 31. August
tumskurs von Wirecard nicht möglich ge-
                                                Das Wirtschaftsprüferunternehmen         2018). Eine Ausnahme im medialen
wesen. Bereits als Start-up setzte das
                                             EY, einer der „Big Four“ der Branche,       Mainstream bildete die Redaktion des
Unternehmen ab den 2000er Jahren
                                             prüfte von 2009 bis 2020 die Jahresab-      Magazins WirtschaftsWoche, welches
auf die Zahlungsabwicklung im Pornoge-
                                             schlüsse und Bilanzen. Es bestand also      sich, nachdem die Londoner Financial
schäft und beim Online-Glücksspiel, be-
                                             eine große Nähe zum Konzern. Dass die       Times bereits umfängliche Aufklärung
wegte sich damit schon früh im Umfeld
                                             Prüfer selbst 2019, als die kritischen      betrieben hatte, ebenfalls mit kritischen
krimineller Milieus. Dennoch schauten
                                             Stimmen zu Unregelmäßigkeiten bei Wi-       Beiträgen profilieren konnte. „Das ist
die staatlichen Behörden in den folgen-
den Jahren weitgehend weg. Dem zu-           recard nicht mehr zu überhören waren,       definitiv ein Image-GAU für die deutsche
nehmend global agierenden deutschen          das gewünschte Testat ohne Bedenken         Wirtschaftspresse“, stellte Beat Balzli,
FinTech-Unternehmen sollten offensicht-      ausstellten, wundert daher nicht. Die       Chefredakteur der Zeitschrift, gegen-
lich auf seiner Erfolgsspur keine Steine     Wirtschaftsprüfung ist zudem „oft nur       über ZDF-Redakteuren gelassen fest.
in den Weg gelegt werden. Mit wichtigen      die Eintrittskarte zu den lukrativen Ge-    Er erkannte „eine Art Paktieren der Wirt-
Kontrollmaßnahmen betraute öffentliche       schäftsfeldern: Managementberatung,         schaftspresse mit der Wirecard“, denn
Institutionen spielten darum im Fall Wi-     Steuerstrategien, Anlagemöglichkeiten“,     einen Börsenstar „runterzuschreiben“ sei
recard eine schlicht erbärmliche Rolle:      wie es in einer ZDF-Reportage heißt. Der    offenbar vielen zu riskant gewesen. [2]
vor allem die Bundesanstalt für Finanz-      Beratungsanteil habe sich bei den gro-              Unternehmenskultur
dienstleistungsaufsicht (BaFin) und die      ßen Wirtschaftsprüfungs-Gesellschaften
Abschlussprüferaufsichtsstelle (APAS).       in den letzten zehn Jahren stetig erhöht.       Nach Aussagen von Mitarbeitenden
                                             Da bislang eine strikte Trennung von Be-    wurde das Unternehmen von Markus
   So soll etwa die dem Bundesfinanz-                                                    Braun, seit 2002 Boss von Wirecard,
minister unterstehende BaFin überwa-         ratung und Prüfung fehlt und die Unter-
                                             nehmen die privaten Prüfungsunterneh-       sowie den drei anderen Vorständen
chen, ob sich Unternehmen gesetzes-
                                             men als Auftraggeber bezahlen, scheint      streng hierarchisch geführt. Corpsgeist
konform verhalten, damit Geldwäsche,
                                             wegen der Interessenkollision eine objek-   und Treueschwüre gegenüber ihm als
Anlagebetrug, Insiderhandel und Markt-
                                             tive Prüfung der Bilanzen kaum möglich.     Führungsperson seien offenbar wichtig
manipulation verhindert werden können.
                                                                                         gewesen, wie die Münchner Staatsan-
Die Behörde war auch für Wirecard zu-           Der Aufsichtsrat bildete ebenfalls ei-   waltschaft feststellte. Nach Recherchen
ständig, allerdings nur für die hauseige-    nen Teil des „Kontrollversagens“. Für die
                                                                                         des Handelsblatts wussten im Unterneh-
ne Bank. Sie versagte nach einhelliger       Überwachung des operativen Geschäfts
                                                                                         men offensichtlich viele Angestellte von
Meinung der meisten Analysten vollstän-      des Dax-Unternehmens war er mit sechs
                                                                                         den betrügerischen Machenschaften
dig. Denn zum einen blieb der weitaus        Personen zu klein und der Vorsitzende
                                                                                         oder ahnten zumindest davon. Kaum
größte Teil des Unternehmens außer-          Wulf Matthias viel zu lang im Amt, um un-
                                                                                         überraschend – es gab weder einen Be-
halb des Radars der externen Prüfer.         abhängig sein zu können. Er leitete das
                                                                                         triebsrat noch eine Mitbestimmung auf
Zum anderen sprach die BaFin Anfang          Kontrollgremium von 2008 bis Januar
                                                                                         Unternehmensebene.
2019 ein Verbot für alle Leerverkäufe        2020. Kritische Stimmen verweisen auf
von Wirecard-Aktien aus. Sie stoppte         die engen freundschaftlichen Verbindun-         Auch Aktionäre wandten sich auf
damit Wetten auf Kursverluste – was          gen aller Mitglieder des Aufsichtsrats      Hauptversammlungen zumeist vehe-
von „den Märkten“ als Vertrauensbe-          mit dem Management. Einige verfügten        ment gegen kritische Stimmen. Sie stör-
weis für den Konzern gewertet wurde          offensichtlich über keinerlei Erfahrung     ten sich weniger an der fehlenden Trans-
– und täuschte so potenzielle Anleger.       mit der Beaufsichtigung eines großen        parenz des Geschäftsmodells, sondern
Zudem stellte sich die BaFin vor den         Unternehmens. Einen im Rahmen des           ließen sich von der Bilderbuchgeschich-
Skandal-Konzern, indem sie Strafanzei-       Aufsichtsrats arbeitenden Prüfungsaus-      te des kometenhaften Aufstiegs eines
gen gegen kritische Journalisten stellte     schuss, in Dax-Konzernen eigentlich         ehemaligen       Start-up-Unternehmens
und damit den Eindruck erweckte, de-         Standard, gab es nicht. Ein solcher         blenden. Kritiker galten dagegen als
ren Enthüllungen seien haltlos. Als be-      hätte, mit Bilanzexpertise ausgestattet,    Nestbeschmutzer. Die Vizepräsidentin
sonders pikant erwies sich die Meldung,      eng mit den Wirtschaftsprüfern zusam-       der Deutschen Schutzvereinigung für
dass BaFin-Mitarbeiter, die mit der Prü-     menarbeiten müssen.                         Wertpapierbesitz, Daniela Bergdolt, hat-
fung des Dax-Unternehmens betraut wa-                                                    te etwa im Mai 2019 auf der Hauptver-
ren, offenbar ihr Insiderwissen nutzten,              Opportunistische                   sammlung des Konzerns ihre Skepsis
um privat mit deren Aktien zu handeln.                Wirtschaftspresse                  am Geschäftsmodell (nicht nachvollzieh-
                                                Besonders fatal war, dass auch der       bare hohe Gewinne) geäußert – und als
   Auch die Wirtschaftsprüferaufsicht
                                             größte Teil der deutschen Wirtschafts-      Reaktion wütende Aktionäre erlebt, die
APAS geriet in die Kritik, weil ihr Leiter
im Frühjahr 2020, als die APAS bereits       presse darauf verzichtete, den von bri-     ihr vorwarfen, das angeblich tolle Unter-
im Fall Wirecard ermittelte, privat mit      tischen Reportern und Börsenprofis auf-     nehmen schlechtzureden. [3]
Wirecard-Aktien spekuliert hatte. Dies       gedeckten Betrügereien nachzugehen.           Anleger investierten bei Wirecard
musste er später vor dem Untersu-            So wurde Wirecard-Chef Braun noch           noch bis kurz vor dessen Absturz. Der
chungsausschuss des Bundestages ein-         Ende 2018 vom Handelsblatt als „Auf-        US-amerikanische Finanzinvestor Apollo
räumen. Erst im Sommer 2020 leitete          steiger des Jahres“ gefeiert. Im Herbst     bot Wirecard noch am 17. Juni 2020 an,
bis zu einer Milliarde Euro zu investieren   Geheimdienste interessant: Laufen doch               ...und zur organisierten
– nur acht Tage vor dessen Insolvenz         über Zahlungsabwickler Geldströme in                       Kriminalität
(Der Spiegel vom 23. Januar 2021).           alle Teile der Welt: Israelis wollen wissen,
                                                                                               Missliebige Kritiker wurden zum Teil
Auch der sportlich ruhmreiche FC Bay-        wohin der Iran seine Gelder lenkt. Ame-
                                                                                            mit Mafia-Methoden unter Druck ge-
ern München entging nach einer Recher-       rikaner wollen wissen, wohin die Russen
                                                                                            setzt. Der britische Börsenexperte und
che von Süddeutscher Zeitung, WDR und        und die Chinesen Geld überweisen.“ [4]
                                                                                            Shortseller Fraser Perring hatte bereits
NDR offenbar nur knapp einem Debakel.           Fabio de Masi, für die Partei Die Linke     im Jahr 2016 betrügerische Machen-
Im vergangenen Jahr stand das Manage-        Mitglied des Wirecard-Untersuchungs-           schaften von Wirecard enthüllt. Er warf
ment des Vereins kurz davor, eine Part-      auschusses, kann sich sogar vorstellen,        deshalb Marsalek vor, kriminelle Akti-
nerschaft mit Wirecard einzugehen. Das       dass Geheimdienste Marsalek frühzeitig         onen gegen ihn und andere gesteuert
Unternehmen sollte ab Juli 2020 jährlich     in das Unternehmen gesetzt haben könn-         zu haben. Bei Perring wurde beispiels-
einen Sponsoringbetrag von sieben Milli-     ten, um an „spannende Informationen“ zu        weise eingebrochen, seine Krankenak-
onen Euro an den Münchener Klub zah-         kommen und Aktivitäten der Nachrich-           te gehackt und ins Internet gestellt. Er
len. Noch am 10. Juni 2020 schrieb das       tendienste zu verschleiern. Im Gegenzug        fühlte sich massiv verfolgt und bedroht.
verantwortliche Vorstandsmitglied des        hätte sich das Unternehmen „die Taschen        [6] Ähnlich erging es dem Reporter von
Fußballklubs per E-Mail an die Firmenzen-    vollmachen“ können. [5]                        Financial Times, Dan McCrum. Wirecard
trale des Finanzdienstleisters, dass sich                                                   warf kritischen Journalisten regelmäßig
                                                Geheimdienste, so berichteten Medi-
der Verein auf die „Partnerschaft mit Wi-                                                   Betrug und Lüge vor. Sie würden ge-
                                             en, hätten sicher Interesse an Informa-
recard“ freue (Die Welt vom 9. Februar                                                      meinsame Sache mit Shortsellern ma-
                                             tionen des Finanzdienstleisters gehabt,
2021). Dabei hatten die Wirtschaftsprü-      um personalisierte Geldbewegungen              chen, mit ihren kritischen Berichten den
fer der Firma KPMG bereits Ende April        zur Aufdeckung von Geldwäsche-Akti-            Börsenwert des Unternehmens „nach
2020 in einem Sondergutachten eine           vitäten krimineller Gruppierungen oder         unten schreiben“ und damit den Aktien-
vernichtende Bewertung der Geschäfts-        Einzelpersonen auswerten zu können.            preis manipulieren.
politik von Wirecard vorgelegt.              Wirecard – selber als Dienstleister ent-          Erhärten sich die derzeit von der
                                             sprechender Milieus agierend und direkt        Staatsanwaltschaft vorgebrachten An-
           Nähe zur
                                             an deren Aktivitäten beteiligt – könnte        schuldigungen gegen die Manager von
  geheimdienstlichen Halbwelt...
                                             demnach staatlichen Behörden bei der           Wirecard, kann das Unternehmen ohne
   Nach ZDF-Informationen könnte Mar-        Bekämpfung von Geldwäsche geholfen             weiteres als Teil der organisierten Kri-
salek als Zahlungskurier für verschiede-     haben. Paradox ist dabei, dass das Un-         minalität    betrachtet werden. Denn
ne Geheimdienste im Einsatz gewesen          ternehmen im Zuge seiner Geschäfte             nach der offiziellen deutschen Definiti-
sein und ihnen Kreditkarten zur Verfü-       in der Porno- und Glücksspielbranche           on handelt sich bei organisierter Krimi-
gung gestellt haben. Auch geostrate-         verbotene Zahlungen abwickelte, die            nalität (oK) um „die von Gewinn- oder
gische Aspekte spielen eine Rolle: „In       vermutlich selbst dem Delikt der Geld-         Machtstreben bestimmte planmäßige
der Tat ist eine Firma wie Wirecard für      wäsche entsprechen.                            Begehung von Straftaten, (...) wenn

                                                                                                                                Foto: commons.org
mehr als zwei Beteiligte auf längere         gern als „privilegierte Komplizenschaft“   und US-amerikanischer Shortseller das
oder unbestimmte Zeit arbeitsteilig a)       (Theodor W. Adorno) bezeichnet.            kriminelle Vorgehen von Wirecard erst
unter Verwendung gewerblicher oder                                                      publik machten. In Deutschland sind die
geschäftsähnlicher Strukturen, b) unter         Fehlende Unterscheidbarkeit             Shortseller, die auf sinkende Aktienkur-
Anwendung von Gewalt oder anderer zur            Der Fall Wirecard zeigt anschau-       se wetten, dennoch weithin verrufen.
Einschüchterung geeigneter Mittel oder       lich, wie die Grenzen zwischen legalen     So wurden sie auch von der staatlichen
c) unter Einflussnahme auf Politik, Medi-    und illegalen Praktiken – vor allem bei    Aufsichtsbehörde BaFin unter Beschuss
en, öffentlicher Verwaltung, Justiz oder     global tätigen Konzernen – zerfließen.     genommen, um den digitalen Champion
Wirtschaft zusammenwirken“. [7]              Dauerhaft kriminell agierende Wirt-        aus Aschheim bei München zu schützen.
                                             schaftsunternehmen lassen sich von
„Privilegierte Komplizenschaft“ –            Mafia-Organisationen kaum mehr unter-                        Fazit
     das politische Netzwerk                 scheiden. Wirecard verfolgte ein nach         Der Rechts- und Staatswissenschaft-
   Tatsächlich verfügten die beiden Spit-    außen sichtbares legales Kerngeschäft      ler Wolfgang Hetzer stellte schon vor
zenleute von Wirecard, Markus Braun          und kombinierte es mit illegalen bzw.      einigen Jahren die Frage, ob sich die
und Jan Marsalek, über ausgezeichnete        rein erfundenen Geschäften. [9] Auch       Organisierte Kriminalität nicht als „Wirt-
informelle und formelle Kontakte in die      Mafia-Gruppen verknüpfen illegale und      schaftsform“ und „politisches Prinzip“
Politik Österreichs und Deutschlands.        legale Geschäftsaktivitäten, indem sie     längst etabliert habe. [10] Das Konst-
Es wurden von Beginn an aber auch            kriminell erwirtschaftete Gewinne in den   rukt Wirecard spricht dafür. Es hielt so
intensive Beziehungen zur „Halbwelt“,        legalen Wirtschaftskreislauf einschleu-    lange, wie unterschiedliche Interessen-
gepflegt. Durch seinen Sitz im Beirat        sen (Geldwäsche). Gewinn und Beute         gruppen glaubten, davon profitieren zu
der „Denkfabrik“ des Bundeskanzlers          werden so ununterscheidbar. Eine Iro-      können. Die ehemalige Konzernspitze
Sebastian Kurz (ÖVP) hatte CEO Braun         nie der Geschichte ist, dass neben der     konnte sich deshalb als Gangsterban-
einen unmittelbaren Zugang zur öster-        Berichterstattung der Financial Times      de aufführen, setzte sich offensichtlich
reichischen Regierung. Auch Marsalek         ausgerechnet die Analysen britischer       ohne große Widerstände und über viele
stammt aus Wien, gilt als undurchsich-
tige Figur mit guten Kontakten in die
rechte Szene Österreichs (z. B. zur FPÖ)        Der Fall Wirecard – Infos
und stand mutmaßlich mit mehreren Ge-
heimdiensten in Verbindung. [8]               • Geschäftsmodell: Abwicklung des elektronischen Zahlungsverkehrs
   Im August 2019 setzte sich der ehe-
                                              • Gründung 1999, Firmensitz: Aschheim bei München
malige deutsche Verteidigungsminis-
ter und heutige Unternehmensberater           • globale Ausrichtung über eine Vielzahl von Tochtergesellschaften
Karl-Theodor zu Guttenberg bei Bundes-
kanzlerin Angela Merkel dafür ein, das        • Mitarbeiter*innen: Mitte 2020 weltweit über 5.000, in Deutschland etwa
China-Geschäft des Unternehmens zu              1.300
unterstützen. Merkel warb tatsächlich
                                              • Markus Braun: Vorstandsvorsitzender von 2002 bis Juni 2020
bei einer Chinareise für Wirecard, beton-
te später aber, dass sie damals keine         • seit 2005 börsennotiert, 2006 Aufnahme in den TecDax, 2018 Aufstieg in
Kenntnis von möglichen Betrügereien             den Dax
des Unternehmens gehabt habe. Zu die-
sem Zeitpunkt waren die Vorwürfe ge-          • in Spitzenzeiten Börsenwert von 24 Milliarden Euro
gen den Konzern allerdings bereits seit
vielen Monaten öffentlich bekannt.            • Betrugsvorwürfe seit 2015: Börsenreport „Zatarra“ und Berichte der
                                                Financial Times
   Einen persönlichen Kontakt gab es
auch zu Staatssekretär Jörg Kukies, Lei-      • Nach dem Bilanzskandal Insolvenz seit 25. Juni 2020
ter des Verwaltungsrats der BaFin und
enger Mitarbeiter von Finanzminister          • Unternehmen laut Insolvenzverwalter mindestens seit 2017 defizitär
Scholz. Am 5. November 2019 trafen            • Vorwurf der Staatsanwaltschaft München I gegen mehrere früheren Füh-
sich Kukies und Markus Braun zu einem
                                                rungskräfte: gewerbsmäßiger Bandenbetrug, Untreue, Marktmanipulation,
Gespräch am Firmensitz von Wirecard,
„ohne Zeugen, ohne Protokoll. In einer          Bilanzfälschung. Aufblähung der Bilanzsumme (um fast zwei Milliarden
Phase, in der Prüfer der KPMG bereits           Euro) und des Umsatzvolumens des Unternehmens durch das Vortäuschen
Unregelmäßigkeiten festgestellt haben“,         von Einnahmen. Täuschung von Banken und anderer Investoren durch
wie es in der ZDF-Doku vom 14. Januar           falsche Jahresabschlüsse.
2021 hieß.
                                              • Berichte über Kooperationen mit Mafia-Organisationen: Seit Jahren viele
   Formelle und informelle Verbindungen
von Großunternehmen und herrschender            Verdachtsmeldungen über mögliche Geldwäsche, u. a. wegen der Abwick-
Politik und die intensive Verflechtung von      lung verbotener Zahlungen im Rahmen der Geschäfte in der Porno- und
staatlichen, wirtschaftlichen, legalen          Glückspielbranche. Wirecard wurde deshalb nie zur Rechenschaft gezogen.
und illegalen Strukturen werden deshalb
Jahre gegen alle rechtsstaatlichen Me-
chanismen durch und steht unter Ver-                               Trotz Wirecard:
dacht, sogar Gewalt gegen ihre Kritiker
eingesetzt zu haben.
   Die Hoffnung, dass die Politik dem
                                                                 Zahlungsdienstleister
Bandenwesen im digitalen Kapitalismus
entschieden entgegentritt, ist dagegen
                                                                     hoch im Kurs
gering. Aus industriepolitischen Grün-

                                                     D
den stellten sich die zuständigen Be-                      er Boom im milliardenschweren         lungsabwicklung. Denn die Geschäfts-
hörden vor das Unternehmen. Denn das                       Online-Zahlungsverkehr geht trotz     zahlen von Adyen und Co* belegen,
Bekanntwerden des „bandenmäßigen                           des Skandals um Wirecard mun-         dass sich das anlagesuchende Kapital
Betrugs“ hätte schon frühzeitig einen                ter weiter. Die Coronakrise beschleunigt    nicht von einzelnen Bilanzskandalen
Vertrauensverlust für den Finanzplatz                dabei den Trend zu mehr bargeldlosen        und Firmenpleiten abschrecken lässt.
Deutschland bedeutet. Und von poli-                  Zahlungen weltweit. Und potenzielle In-     Gespannt darf deshalb beobachtet wer-
tischen Vertretern wie Finanzminister                vestoren sind permanent auf der Suche       den, ob Investigativjournalisten oder
Scholz, Kanzlerkandidat der SPD, sollte              nach lukrativen Anlagemöglichkeiten. So     auf fallende Kurse setzende Shortseller
ohnehin nicht allzu viel erwartet werden.            „pumpen“ die Investoren viele Millionen     auch nach Wirecard den hart umkämpf-
Schließlich spielte er selber als Erster             „in den nächsten Hoffnungsträger“, wie      ten Payment-Markt weiter unter die Lupe
Bürgermeister Hamburgs im Cum-Ex-                    das Handelsblatt anmerkt (Handelsblatt      nehmen – und einen weiteren Skandal
Skandal eine unrühmliche Rolle. Kritiker             Online, 8. September 2020) Wer sich         offenlegen.
werfen ihm vor, mitverantwortlich dafür              aber die Erfolgszahlen der Marktführer
                                                                                                 * Andere derzeit aufstrebende Zahlungsdienst-
zu sein, dass sich eine stadtbekannte                in der hart umkämpften Payment-Bran-         leiter sind Klarna (Schweden), Stripe (USA),
Bank Millionenbeträge auf Kosten der                 che etwas genauer anschaut, wird an die      Paypal (USA) oder Checkout (Großbritannien).
Steuerzahler erschleichen konnte.                    Wachstumsstory von Wirecard erinnert.        Es handelt sich bei ihnen um Kandidaten für
                                                                                                  baldige Börsengänge. Teilweise wird eine ra-
                                                     Zu den besonders schnell expandieren-        sante Steigerung der Marktkapitalisierungen
      Anmerkungen:                                   den Zahlungsdienstleistern gehört der        erwartet. So wird laut Handelsblatt Stripe ak-
                                                     weltweit agierende niederländische Kon-      tuell mit 36 Milliarden Dollar bewertet, könnte
[1]   So wurden zum Beispiel Schmiergeldzah-                                                      aber bald 100 Milliarden Dollar wert sein.
      lungen an Entscheidungsträger im Ausland       zern Adyen, gegründet 2006, seit Som-
                                                     mer 2018 an der Börse notiert. Seitdem                 (Handelsblatt vom 22. Februar 2021)
      bis 1999 vom deutschen Staat gedeckt.
      Da ihnen ein volkswirtschaftlicher Nutzen      scheint dessen Aktienkurs regelrecht zu
      zugesprochen wurde, konnten sie von der        explodieren. Der Börsenwert beträgt         Quellen:
      Steuer abgesetzt werden. (vgl. BIG-Beilage
                                                     aktuell mehr als 65 Milliarden Euro und     Elisabeth Atzler/Katharina Schneider: „Inves-
      in „Stichwort Bayer“ 1/2021)
                                                     liegt damit höher als die Marktkapita-      toren stürzen sich auf Zahlungsdienstleister“,
[2]   ZDFinfo Doku: „Wirecard – Game Over,                                                       Handelsblatt Online vom 8. September 2020
                                                     lisierung mancher DAX-Werte. Das so-
      Geldgier, Größenwahn und dunkle Geheim-
      nisse“ von Volker Wasmuth und Patrick          genannte Transaktionsvolumen stieg im       Elisabeth Atzler/Felix Holtermann: „Adyen-Chef
                                                     vergangenen Jahr um fast 30 Prozent         zur Pleite des Konkurrenten: ‚Der Wirecard-Un-
      Zeilhofer, 14. Januar 2021
                                                                                                 tergang ist ein Desaster für die Branche‘“, Han-
[3]   Podcast Handelsblatt Crime: „Der Fall          auf 300 Milliarden Euro. In den kommen-     delblatt Online vom 21. September 2019
      Wirecard – Folge 4: Kritik wurde im Keim       den Jahren will der Konzern seinen Um-
                                                                                                 Elisabeth Atzler: „Profiteur der Coronakrise:
      erstickt“ von Ina Karabasz und Felix Holter-   satz durchschnittlich um mindestens 25      Hoher Gewinnsprung bei Adyen“, Handelsblatt
      mann, 16. September 2020                       Prozent steigern. (Handelsblatt Online      Online vom 10. Februar 2021
[4]   Volker ter Haseborg/Melanie Bergermann:        vom 10. und 22. Februar 2021) Zahlen,       Dies.: „Das Milliarden-Fintech Stripe heuert frü-
      Die Wirecard-Story. Die Geschichte einer       die von den offiziellen Wirecard-Kennzif-   heren britischen Notenbankchef an“, Handels-
      Milliarden-Lüge, München, 2021, Seite 185
                                                     fern nicht um Welten entfernt liegen.       blatt Online vom 22. Februar 2021
[5]   ZDFinfo Doku, 14. Januar 2021
                                                     Im Interview mit dem Handelsblatt ver-
[6]   Ebd.
                                                     neint Adyen-Vorstandschef Pieter van
[7] Bundeslagebild Organisierte Kriminalität         der Does jedoch die Frage, ob seine
    2019, hrsg. vom Bundeskriminalamt                Kunden wegen des Wirecard-Skandals
    (BKA), Seite 11
                                                     vermehrt nachfragen, wie Adyen genau
[8]   Podcast Handelsblatt Crime: „Der Fall          arbeitet. „Die meisten, die mit unserer
      Wirecard – Folge 2: Die Männer hinter Wi-
      recard – Markus Braun und Jan Marsalek“
                                                     Branche zu tun haben, betrachten es
      von Ina Karabasz und Felix Holtermann, 2.      wie den Enron- oder den Parmalat-Skan-
      September 2020                                 dal – als Problem, das alle zehn bis 15
[9]   So betrug der Teil des Umsatzes, der auf       Jahre in der Finanzwelt auftritt, aber
      fiktiven Kundenbeziehungen basierte, im        nicht als systemisches Problem der Zah-
      Jahr 2019 etwa 1,07 Milliarden Euro – der      lungsdienstleister.“ (Handelsblatt vom
      offizielle Gesamtumsatz lag bei rund 2,77      21. September 2020)
      Milliarden Euro. (vgl. Handelsblatt vom 2.
      Dezember 2020)                                 Die Betrugsmasche des deutschen Zah-
[10] Wolfgang Hetzer: „Finanzindustrie oder          lungsdienstleisters führte tatsächlich
     Organisierte Kriminalität?“, ApuZ, 38-39/       zu keinem Dämpfer für das globale Ge-
      2013, Seite 27                                 schäftsmodell der elektronischen Zah-
Kapital und Verbrechen
                                                                                            nicht darüber im Klaren sind, wie sehr
                                                                                            sie bereits heute unter der Kontrolle der
                                                                                            Finanzmärkte stehen und sogar von die-
                                                                                            sen beherrscht werden.“ [2]
                              von Reiner Diederich
                                                                                            Inzwischen kommt im Finanzbereich
                                                                                            noch die Digitalisierung hinzu, die alle

M
        an kann heute kaum mehr eine           rung“ oder „finanzmarktgetriebener           Prozesse beschleunigt, zum Beispiel die
        Tageszeitung aufschlagen, ohne         Kapitalismus“ wird diese Entwicklung         Spekulation im „Sekundentrading“. Sie
        nicht wenigstens im Wirtschafts-       zu erfassen versucht. Scheinbar ist die      erleichtert auch den Betrug – siehe den
teil einen Artikel oder eine Nachricht über    Finanzsphäre inzwischen von der Pro-         Fall Wirecard. Die mit der Digitalisierung
einen Fall von Wirtschaftskriminalität zu      duktionssphäre abgekoppelt. In ihr wird      verbundene weitergehende Abstraktion
finden. Ab einer gewissen Skandalgröße         Kapital nicht mehr in erster Linie durch     vom Konkreten bringt es mit sich, dass
schaffen sie es auf die vorderen Seiten,       die Ausbeutung von Arbeitskraft und das      ein fingiertes Milliarden-Guthaben auf
und wenn es um Verstrickungen mit po-          Herstellen realer Produkte verwertet,        einem philippinischen Konto bei laxer
litischen oder staatlichen Sphären geht,       sondern durch Geldverleih gegen Zinsen,      Überprüfung jahrelang als existent durch-
auch schon mal auf die Titelseite. Woran       Aktienkäufe, bestimmte Dienstleistungen      zugehen vermag.
liegt es, dass die Zahl und Schwere der        und spekulative Geschäfte aller Art. Von     Auch wenn es immer um das reale Han-
Fälle von Wirtschaftskriminalität – national   jeher ist damit ein Odium des unehrlich      deln realer Menschen geht, die dafür ver-
wie international gesehen – zuzunehmen         bloß „Raffenden“ gegenüber dem ehr-          antwortlich gemacht werden können und
scheint? Oder ist das nur ein Ergebnis der     lich „Schaffenden“ verbunden. Hier setzt     müssen: Stark bestimmt wird ihr Handeln
wachsenden Berichtsdichte in Zeiten von        die Lehre von „zweierlei Kapital“ an, die    durch die gesellschaftlichen Verhältnisse,
Internet und globaler Vernetzung?              Unterscheidung des guten Produktivka-        die Erwartungen ihres Umfelds, den Ver-
                                               pitals vom bösen Finanzkapital, auf die      wertungsdrang und Wachstumszwang
Psychologische Erklärungen wie etwa
                                               sich auch Verschwörungslegenden wie          des Kapitals, dem sie als Unternehmer
die in der „Finanzkrise“ 2008ff. beliebt
                                               die antisemitische beziehen.                 gerecht werden müssen, wenn sie erfolg-
gewordene These, die unersättliche Gier
der Unternehmer und Banker sei schuld          Es ist dies die Sphäre, in der nach Marx     reich sein wollen. Statt den „absoluten
an allem – neuerdings zum Beispiel an          die „Kapitalmystifikation in ihrer grells-   Bereicherungstrieb“ von Unternehmern
den betrügerischen Cum/Ex-Geschäften           ten Form“ erscheint, weil Geld sich hier     zur Erklärung von Normverstößen her-
– tragen nicht sehr weit. Denn was ist mit     scheinbar aus sich selbst bzw. wie von       anzuziehen, den er einfach voraussetzt,
der Psyche der Betreffenden passiert,          selbst generiert und vermehrt. Eine gute     spricht Marx lieber vom „Trieb der ka-
dass sie jetzt plötzlich mehr hinter dem       Gelegenheit also für das Vorspiegeln fal-    pitalistischen Produktion“, alle Grenzen
Geld her sein sollen als früher, und dabei     scher Tatsachen, für das Täuschen und        zu überschreiten, wenn sie ihr nicht mit
zu unlauteren Praktiken greifen? Realisti-     Zocken, das Übervorteilen und Betrü-         genügend Macht und Nachdruck aufge-
scher erscheint da schon die alte Spruch-      gen. Marx beschreibt das wie folgt: Es       herrscht werden. Im „Kapital“ bringt er
weisheit: Gelegenheit macht Diebe.             entstehe „eine neue Finanzaristokratie,      dazu – in griffiger Übersetzung – eine
                                               eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von     Passage aus einem Buch des englischen
Um welche Gelegenheiten geht es dabei?                                                      Gewerkschaftsfunktionärs J.T. Dunning
                                               Projektemachern, Gründern und bloß no-
Da ist einmal die seit der Dominanz des                                                     von 1860, der sich seinerseits auf eine
                                               minellen Direktoren; ein ganzes System
Neoliberalismus schwächer gewordene                                                         Zeitschrift bezieht, in der die noch heute
                                               des Schwindels und Betrugs mit Bezug
staatliche Regulierung des Wirtschafts-                                                     gern angeführte These vertreten wird,
                                               auf Gründungen, Aktienausgabe und Ak-
lebens samt ihren juristischen Normen.                                                      das Kapital sei ein scheues Reh, das
                                               tienhandel“ [1].
Wenn der Markt es richten soll, wird
                                                                                            man nicht verschrecken solle: „Kapital,
nicht nur, meist vergeblich, auf dessen        Wie ausgedehnt und mächtig die Finanz-
                                                                                            sagt der Quarterly Reviewer, flieht Tumult
vielbeschworene „Selbstheilungskräfte“         wirtschaft inzwischen geworden ist,
                                                                                            und Streit und ist ängstlicher Natur. Das
vertraut, sondern es kann auch veritab-        hätte sich Marx allerdings nicht denken
                                                                                            ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze
ler Wildwuchs entstehen. Im Dschungel          können oder träumen lassen. Eine Vor-
                                                                                            Wahrheit. Das Kapital hat einen Horror
der härter werdenden Konkurrenz aller          aussetzung dafür ist die Überakkumula-
                                                                                            vor Abwesenheit von Profit oder sehr
gegen alle gedeiht dann das, was „Raub-        tion von Kapital, das keine produktiven
                                                                                            kleinem Profit, wie die Natur vor der Lee-
tierkapitalismus“ genannt wird, um vom         Anlagemöglichkeiten mehr findet und
                                                                                            re. Mit entsprechendem Profit wird Kapi-
Kapitalismus als System nicht sprechen         auch nicht mittels höherer Besteuerung
                                                                                            tal kühn. Zehn Prozent sicher, und man
zu müssen. Das Darwinsche Prinzip des          einer sinnvollen Verwendung für das Ge-
                                                                                            kann es überall anwenden; 20 Prozent,
„survival of the fittest“ wird nun als Über-   meinwohl zugeführt wird.
                                                                                            es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv wag-
leben des Brutalsten verstanden, der
                                               Warum geschieht letzteres nicht oder         halsig; für 100 Prozent stampft es alle
sich an möglichst wenig Regeln hält, um
                                               warum wäre das so schwer zu machen?          menschlichen Gesetze unter seinen Fuß;
siegen zu können.
                                               Dazu hat der ehemalige Bundesbank-           300 Prozent, und es existiert kein Ver-
Eine andere Bedingung für das Aufblü-          präsident Hans Tietmeyer 1996 vor            brechen, das es nicht riskiert, selbst auf
hen krimineller Ökonomie ist die immer         Staatsmännern aus aller Welt auf dem         Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und
größere Rolle, welche die Finanzwirt-          Weltwirtschaftsforum in Davos gesagt:        Streit Profit bringen, wird es sie beide
schaft gegenüber der Realwirtschaft            „Ich habe bisweilen den Eindruck, dass       encouragieren. Beweis: Schmuggel und
spielt. Mit Begriffen wie „Finanzialisie-      sich die meisten Politiker immer noch        Sklavenhandel.“ [3]
Diese oft zitierte Stelle bedeutet einer-     Wirtschaftskriminalität als gesondertes
seits, dass die Kapitalverwertung, die        Delikt zu skandalisieren und zu verfol-                        Zur Bertelsmann-Stiftung
Profitmacherei zunächst nicht per se kri-     gen ist deshalb möglich und notwendig.
minell ist. Sie folgt dem Prinzip des glei-   Wenn dabei jedoch nicht über ihre sys-                             - eine Ergänzung
chen und zugleich ungleichen Tauschs          temischen Hintergründe aufgeklärt wird,                        Zu dem Artikel „Die Bertelsmann-Stif-
Arbeitskraft gegen Lohn, aus dem sich         bleibt es beim nicht sehr nachhaltigen                         tung und der Lobbyismus im Gesund-
der Mehrwert als Differenz zwischen           Personalisieren und Moralisieren von                           heitswesen“ von Verena Herzberger in
dem Wert der Arbeitsleistung und dem          Schuld oder bei der Suche nach Sün-                            der BIG-Beilage Nr. 1/2021 schreibt
Wert der Arbeitskraft (= Lohn) ergibt. Bei    denböcken und Bauernopfern. Der Fall                           Herbert Storn:
                                              Wirecard und seine Verarbeitung in den                         Der Artikel hat mich schon deshalb ge-
der Aneignung des Mehrwerts oder Ge-
                                              Medien als spannende Kriminalstory und                         freut, weil wir uns in der GEW in den
winns durch Unternehmer und Aktionäre
                                              „größter Bilanzskandal in der Geschichte                       ersten Jahren des neuen Jahrtausends
handelt es sich also nicht um einen Be-
                                              der Bundesrepublik“ bietet dafür wieder                        immer wieder sehr ausführlich mit dieser
trug, sondern um eine Folge der struktu-
                                              einmal Anschauungsmaterial. Aber eins                          operativen Stiftung befassen mussten,
rellen Ungleichheit von Kapital und Arbeit    sollte klar sein: Wer „bandenmäßigen                           u.a. deshalb, weil sehr viele Studien raffi-
und des Widerspruchs zwischen beiden.         Betrug“ begangen hat, wie laut Staatsan-                       nierterweise sich mit bildungspolitischen
Die weiteren Mechanismen der Kapitalver-      waltschaft die Chefs von Wirecard, wer                         Vorstellungen deckten. Deshalb dach-
wertung, das Streben nach Höchstprofit        damit „eine moderne Version der Mafia“                         ten einige unserer Vorstandsmitglieder,
„bei Strafe des Untergangs“ [4], das          begründet hat, wie der „Spiegel“ [5] titel-                    dass sie in Bertelsmann einen Verbünde-
Verdrängen anderer aus dem Markt und          te, hat das Gefängnis verdient.                                ten hätten, den man gern zitiert...
ihre feindliche Übernahme, bringen eine                                                                      Arvato (ein international tätiges Dienst-
heftigere Versuchung mit sich, sich da-       Anmerkungen:                                                   leistungsunternehmen des Bertels-
                                                                                                             mann-Konzerns – die Red.) ist etwas
bei auch illegaler Methoden zu bedienen,      [1] Karl Marx: Das Kapital, Bd. 3, MEW Bd. 25,
                                                  Seite 454
                                                                                                             mehr als im Artikel beschrieben. In
wenn nicht hingeschaut wird. Die Abgas-
                                                                                                             England ist es schon seit 2005 in der
manipulationen der deutschen Automobil-       [2] Zit. nach Heinz-J. Bontrup: „Wirtschafts-
                                                                                                             Verwaltung des District East Riding (so
industrie sind dafür das beste Beispiel.          Macht“, in Ossietzky Nr. 3/2021, Seite 80
                                                                                                             groß wie das Saarland) tätig, in NRW in
Von Machenschaften, die im ethischen          [3] Das Kapital, Bd. 1, MEW Bd. 23, Seite 788                  der Landesverwaltung. In Würzburg wur-
oder moralischen Sinn illegitim, also ver-    [4] Das Kapital, Bd. 3, MEW Bd. 25, Seite 255                  de 2007 ein Projekt E-Commerce mit
werflich sind, aber (noch) nicht gesetzlich   [5] „Inside Wirecard – ‚Eine moderne Version der               der Stadtverwaltung begonnen, inzwi-
verboten, ganz zu schweigen.                      Mafia‘“. Titelblatt des „Spiegel“ Nr. 6/2021               schen abgebrochen. Der Versuch des
                                                                                                             Unternehmens, in der staatlichen und
                                                                                                             kommunalen Verwaltung Fuß zu fassen,
                                                                                                             ist noch nicht aufgegeben.
                                                                                                             Von daher muss an den Ausspruch von
                                                                                                             Reinhard Mohn (Gründer der Bertels-
                                                                                                             mann-Stiftung – die Red.) erinnert wer-
                                                                                                             den, dass es ein Segen sei, wenn dem
                                                                                                             Staat das Geld ausgeht. Dann können
                                                                                                             die Privaten sich an seine Stelle setzen.
                                                                                                             Was jetzt den Bertelsmann-Plan der
                                                                                                             Schließung von einem Drittel der Kran-
                                                                                                             kenhäuser angeht, so ist er keineswegs
                                                                                                             „auf Eis gelegt“ (wie im Editorial ge-
                                                                                                             schrieben), sondern wird ungebremst,
                                                                                                             allerdings fast unbemerkt von der Öf-
                                                                                                             fentlichkeit, umgesetzt.
                                                                                                             Durch Veröffentlichungen und die Kam-
                                                                                                             pagne von Gemeingut in BürgerInnen-
                                                                                                             hand wird dies so nach und nach be-
                                                                                                             kannt, zuletzt in dem schönen Beitrag
                                                                                                             von PlusMinus vom 17. Februar 2021.
                                                                                         Foto: commons.org

                                                                                                             Federführend sind neben Gesundheits-
                                                                                                             minister Spahn die „Gesundheitsökono-
                                                                                                             men“ Busse und Augurzky (Busse war
                                                                                                             in dem PlusMinus-Beitrag sehr zynisch).
                                                                                                             Eigentlich müsste der Bertelsmann-Stif-
                                                                                                             tung längst die Gemeinnützigkeit aber-
                                                                                                             kannt worden sein. Aber unsere Eliten
                                                                                                             verteidigen ihre Bastionen mit Zähnen
                                                                                                             und Klauen.
Der Kaiser ist nackt!
                                                                                            Bei anderen Gegnern von Wirecard han-
                                                                                            delte es sich allerdings um dubiose
                                                                                            Hedgefonds, die gewerbsmäßig auf den
 oder: Ein Versuch der Aufarbeitung des Wirecard-Skandals                                   Börsenabsturz dieser und anderer Unter-
                                                                                            nehmensgruppen wetteten. Deren Aktivi-
                                                                                            täten machten es dem Management von
                              von Gerd Bedszent                                             Wirecard leicht, jeden Kritiker erst einmal
                                                                                            als angeblich betrügerischen Manipulator

F
                                                                                            von Börsenkursen zu verklagen – manch-
     irmenzusammenbrüche sind im              Autor*innen einen der Hauptaktionäre aus
                                                                                            mal sogar mit Erfolg.
     Kapitalismus durchaus nichts Be-         der Frühphase des Unternehmens: „Erotik
     sonderes. Und dass in diesem Zu-         und Glücksspiel waren nun mal die Berei-      Die Schlusskapitel des Buches sind
sammenhang ausgesprochen kriminelle           che, wo es die höchsten Margen gab, mit       eine Beschreibung des Unterganges im
Aktivitäten von ins Schleudern geratenen      3,4 Prozent von der Abrechnungssumme          Stundentakt. Zitiert wird schließlich der
Unternehmen ans Licht der Öffentlich-         (…) Nein, das hat uns überhaupt nicht         Insolvenzverwalter Michael Jaffé: „Mit ei-
keit kommen, geschieht auch nicht ge-         gestört. Irgendeiner macht das eben. Wir      nem normalen DAX-Konzern hat Wirecard
rade selten. Der plötzliche Absturz und       haben die Zahlen gesehen und gesagt:          nicht viel gemeinsam. Die Strukturen der
die nachfolgende Insolvenz des Finanz-        ‚Boah, toll, passt.‘“ (Seite 42)              Firma? ‚Völlig intransparent‘“ (Seite 249).
dienstleisters Wirecard gestaltete sich                                                     Das Buch endet mit den Worten „Game
                                              Auch enthält das Buch eine ausführliche
aber doch schon ungewöhnlich. Hatte                                                         over“. Dem muss man allerdings wider-
                                              Chronologie der Entwicklung des Unter-
das aus der halbkriminellen Schmuddel-                                                      sprechen. Das nächste kriminelle Buben-
                                              nehmens Wirecard AG sowie biographi-
branche stammende Unternehmen doch                                                          stück kommt ganz bestimmt. Die Frage ist
                                              sche Angaben leitender Mitarbeiter*in-
gerade zwei Jahre vorher den Aufstieg in                                                    nur, wann es passiert und welche Größen-
                                              nen. Und man findet nicht wenige Fakten,
die obersten Gefilde der börsennotierten                                                    ordnung es annimmt.
                                              die in der medialen Berichterstattung
Großunternehmen geschafft.
                                              kaum vorkommen. So zum Beispiel, dass
Es ist daher verdienstlich, dass zwei Jour-   Wirecard schon sehr früh begonnen hat-
nalist*innen die bisher bekannten Fakten      te, besonders brisante Geschäftszweige
zu einem der bekanntesten Betrugs-            aus dem Unternehmen auszugliedern und
skandale der jüngeren Vergangenheit in        in dubiose Steuerparadiese mit laxer Ge-
Buchform herausgebracht haben – Teile         setzgebung zu verlagern. Schon im Jahre
des Buches sind allerdings zuvor schon in     2017 wurde laut offizieller Bilanz des Un-
verschiedenen Ausgaben der Wirtschafts-       ternehmens der größte Teil der Gewinne
Woche erschienen. Dass die Darstellung –      im Ausland erzielt.
vor endgültigem Abschluss der Ermittlun-
                                              Faktisch wurde bei der geschilderten Aus-
gen und juristischer Aufarbeitung – nicht
                                              lagerung von Unternehmensteilen die juris-
vollständig sein kann, liegt in der Natur
                                              tische Verantwortlichkeit zur Handelsware.
der Sache und kann den Autor*innen nicht
                                              Nicht wenige Leute, die gegen Bezahlung
angelastet werden. Eher schon, dass die
                                              ihren Namen als Firmeninhaber eintragen
systemischen Ursachen, die diesen Skan-
                                              ließen, hatten mit den in ihrem Namen
dal überhaupt erst ermöglichten, im Buch
                                              getätigten Geschäften dann gar nichts
eher flüchtig Erwähnung finden.
                                              zu tun. Oder sie behaupteten wenigstens
Der Fall „Wirecard“ erscheint bei ober-       hinterher, von nichts gewusst zu haben.
flächlicher Lektüre des Werkes lediglich      Über solche in Dubai, Singapur und auf        Volker ter Haseborg und
als ungewöhnlich dreistes Bubenstück,         den Philippinen ansässige Ausgründungen       Melanie Bergermann:
begünstigt durch ein permanentes Weg-         und deren bilanziertes, aber nicht vorhan-    Die Wirecard Story. Die Geschichte
schauen von Institutionen, die dem krimi-     denes Milliardenvermögen sollte Wirecard      einer Milliarden-Lüge
nellen Unternehmensmanagement schon           schließlich ins Stolpern geraten.             FinanzBuch Verlag, München 2020
in der Anfangsphase das Handwerk hät-                                                       272 Seiten, 19,99 Euro
                                              Aber wer stand in dem stellenweise recht      ISBN 978-3-95972-415-9
ten legen müssen. Und durch die Verant-
                                              spannend geschriebenen Wirtschafts-
wortungslosigkeit von Mitarbeitern, die
                                              krimi eigentlich auf der Gegenseite? Die
angesichts der vielen Merkwürdigkeiten
                                              Autor*innen nennen einen einsamen Ana-            Impressum:
des Unternehmens ihre Augen schlossen,
                                              lysten und Wirtschaftsprüfer, der schon        Herausgeber: Vorstand von
solange jeden Monat regelmäßig das
                                              früh auf die Unstimmigkeit des von der         Business Crime Control e.V.
Geld aufs Konto kam.
                                              Firma Wircard offiziell angegebenen Zah-
                                                                                             Redaktion:
Aber schon diese angebliche Verantwor-        lenwerkes stieß, einfach, indem er die
tungslosigkeit war strukturell bedingt, wie   Angaben des Bilanzprogramms in eine            Gerd Bedszent, Reiner Diederich,
man verschiedenen Kapiteln entnehmen          simple Excel-Tabelle übertrug. Der gute        Victoria Knopp, Joachim Maiworm
kann: „Einen Betriebsrat? Braucht Wi-         Mann erntete dann Hohn und nicht wenige        Redaktionskontakt:
recard nicht. Tarifverträge? Gibt es nicht.   Anfeindungen. Kaum jemand konnte sich          big-redaktion@businesscrime.de
Wirecard zahlt gut. Alle sind Gewinner.“      damals vorstellen, dass der allseits gefei-
                                                                                             Layout: Fabio Biasio
(Seite 155) An anderer Stelle zitieren die    erte Kaiser in Wirklichkeit nackt war.
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