EDITORIAL - BIG Business Crime
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EDITORIAL Liebe Leserinnen und Leser, Schwerpunkt dieser Beilage ist der Fall Wirecard. Der Schock in der Öffentlich- keit war groß, als sich mit Wirecard ein in den deutschen Aktienindex DAX auf- genommenes international aufstreben- des Unternehmen als das erwies, was es von Anfang an war: eine trotz aller beim Aufstieg zugelegten glatten Fas- sade im innersten Zirkel unseriöse Ein- richtung zum Abkassieren. Dass dies so lange verdeckt bleiben konnte – da- ran sind ganz ohne Zweifel die mangel- hafte Aufsicht durch die zuständigen Behörden, die Freundschaftsdienste der testierenden Wirtschaftsprüfungs- firma, die Zuneigung aus bestimmten Kreisen der Politik und noch einiges an- dere mehr schuld. Auch Kontakte ins halbkriminelle und geheimdienstliche Milieu waren dem Unternehmen sicher- lich von nicht geringem Nutzen. Der Fall Wirecard Jürgen Roth, langjähriger Mitheraus- geber unserer Zeitschrift BIG Business Crime, hat in seinem letzten, im Jahr Banden und Komplizen 2017 erschienenen Buch: „Die neuen Paten – Trump, Putin, Erdogan, Orbán im digitalen Kapitalismus & Co. – Wie die autoritären Herrscher und ihre mafiosen Clans uns bedro- hen“ beschrieben, wie Verbindungen zwischen krimineller Ökonomie und von Joachim Maiworm staatlichen Apparaten, wie Verflech- tungen zwischen Ober- und Unterwelt D er Fall Wirecard bietet genügend chen I erst im Sommer 2020, fünf Jahre funktionieren. Und wie sie bei schwä- Stoff für nicht nur einen Krimi. Die nachdem die Londoner Financial Times be- cher werdenden oder fehlenden demo- meisten Medienberichte fokussie- reits Betrugsvorwürfe gegen Wirecard vor- kratischen Strukturen immer dichter ren sich deshalb auf das betrügerische Ver- gebracht hatte, im Vorstandsvorsitzenden werden. In der Bundesrepublik kann halten der beiden Spitzenmanager Markus Markus Braun den „Kopf einer hierarchisch man anhand der Skandale der letzten Braun und Jan Marsalek. Der eine sitzt seit organisierten Bande“ erkannte, dem inzwi- Jahre – vom Dieselgate über Cum/Ex Monaten in Untersuchungshaft, der andere schen „gewerbsmäßiger Betrug“ zur Last bis zu Wirecard – beobachten, wie die- steht als einer der meistgesuchten Ver- gelegt wird? (FAZ vom 13. Dezember 2020) se Verflechtungen auch in einer noch brecher Europas auf internationalen Fahn- intakten Demokratie gefährlich vor- „Wir haben es mit einem klaren Fall von dungslisten. anschreiten können. Gegen das Fort- Markt- und Staatsversagen zu tun.“ So lautet Diese dominierende individualisierende eine beliebte Antwort auf diese Frage. Das schreiten solcher Tendenzen hat Jür- Perspektive lenkt jedoch von strukturellen „Versagen“ eines Staates muss sich aber an gen Roth am Schluss seines Buches Faktoren ab, die überhaupt erst die Voraus- dem messen lassen, was als „normal“ oder einen „breiten zivilgesellschaftlichen setzungen dafür schufen, dass der Konzern „erfolgreich“ gilt. Nach der statistischen Aufstand“ gefordert. mutmaßlich über viele Jahre seine Bilanzen Norm sind illegale Aktionen aufseiten von An dieser Stelle möchten wir noch in gigantischem Ausmaß frisieren konnte, Unternehmen durchaus an der Tagesord- einmal auf unsere Internet-Ausgabe um sich gegenüber Banken und Investoren nung. [1] Wann also beginnt das „Staatsver- mit weiteren Artikeln, Nachrichten und finanzstärker und attraktiver präsentieren sagen“? Offensichtlich erst dann, wenn der Rezensionen und einem Archiv der zu können, als er es jemals war. Öffentlichkeit klar wird, welch gigantischen bisherigen Beiträge hinweisen. Die Es muss aber vor allem das gesellschaft- Ausmaß der Betrug eines Unternehmens Internet-Ausgabe finden Sie auf der liche und politische Umfeld untersucht wer- angenommen hat. Bis dahin verläuft alles Webseite des Vereins Business Crime den, um kriminelles Verhalten in der Wirt- ganz „normal“ unterhalb der Aufmerksam- Control, der 1991 zur Aufklärung über schaft analysieren zu können. Wie verhalten keitsschwelle. Wesentliche Faktoren dieser Wirtschaftskriminalität gegründet wor- sich Staat, Politik, Kapital und gesellschaftli- die Wirtschaftskriminalität ermöglichende den ist. che Gruppen zueinander? Wie ist es letztlich oder begünstigende Normalität lassen sich Mit den besten Grüßen möglich, dass die Staatsanwaltschaft Mün- am Beispiel Wirecard benennen. Redaktion BIG Business Crime Beilage zu Nr. 2/2021 von STICHWORT BAYER
Fehlende externe die Behörde ein förmliches Verfahren desselben Jahres kommentierte die FAZ und interne Kontrollen gegen die Wirtschaftsprüfergesellschaft ehrfurchtsvoll die positive Geschäfts- EY ein, lange nachdem EY selbst im öf- entwicklung unter dem Titel „Wirecard – Auf rein legalem Weg wäre der Wachs- fentlichen Kreuzfeuer der Kritik stand. eine Ermutigung“ (FAZ vom 31. August tumskurs von Wirecard nicht möglich ge- Das Wirtschaftsprüferunternehmen 2018). Eine Ausnahme im medialen wesen. Bereits als Start-up setzte das EY, einer der „Big Four“ der Branche, Mainstream bildete die Redaktion des Unternehmen ab den 2000er Jahren prüfte von 2009 bis 2020 die Jahresab- Magazins WirtschaftsWoche, welches auf die Zahlungsabwicklung im Pornoge- schlüsse und Bilanzen. Es bestand also sich, nachdem die Londoner Financial schäft und beim Online-Glücksspiel, be- eine große Nähe zum Konzern. Dass die Times bereits umfängliche Aufklärung wegte sich damit schon früh im Umfeld Prüfer selbst 2019, als die kritischen betrieben hatte, ebenfalls mit kritischen krimineller Milieus. Dennoch schauten Stimmen zu Unregelmäßigkeiten bei Wi- Beiträgen profilieren konnte. „Das ist die staatlichen Behörden in den folgen- den Jahren weitgehend weg. Dem zu- recard nicht mehr zu überhören waren, definitiv ein Image-GAU für die deutsche nehmend global agierenden deutschen das gewünschte Testat ohne Bedenken Wirtschaftspresse“, stellte Beat Balzli, FinTech-Unternehmen sollten offensicht- ausstellten, wundert daher nicht. Die Chefredakteur der Zeitschrift, gegen- lich auf seiner Erfolgsspur keine Steine Wirtschaftsprüfung ist zudem „oft nur über ZDF-Redakteuren gelassen fest. in den Weg gelegt werden. Mit wichtigen die Eintrittskarte zu den lukrativen Ge- Er erkannte „eine Art Paktieren der Wirt- Kontrollmaßnahmen betraute öffentliche schäftsfeldern: Managementberatung, schaftspresse mit der Wirecard“, denn Institutionen spielten darum im Fall Wi- Steuerstrategien, Anlagemöglichkeiten“, einen Börsenstar „runterzuschreiben“ sei recard eine schlicht erbärmliche Rolle: wie es in einer ZDF-Reportage heißt. Der offenbar vielen zu riskant gewesen. [2] vor allem die Bundesanstalt für Finanz- Beratungsanteil habe sich bei den gro- Unternehmenskultur dienstleistungsaufsicht (BaFin) und die ßen Wirtschaftsprüfungs-Gesellschaften Abschlussprüferaufsichtsstelle (APAS). in den letzten zehn Jahren stetig erhöht. Nach Aussagen von Mitarbeitenden Da bislang eine strikte Trennung von Be- wurde das Unternehmen von Markus So soll etwa die dem Bundesfinanz- Braun, seit 2002 Boss von Wirecard, minister unterstehende BaFin überwa- ratung und Prüfung fehlt und die Unter- nehmen die privaten Prüfungsunterneh- sowie den drei anderen Vorständen chen, ob sich Unternehmen gesetzes- men als Auftraggeber bezahlen, scheint streng hierarchisch geführt. Corpsgeist konform verhalten, damit Geldwäsche, wegen der Interessenkollision eine objek- und Treueschwüre gegenüber ihm als Anlagebetrug, Insiderhandel und Markt- tive Prüfung der Bilanzen kaum möglich. Führungsperson seien offenbar wichtig manipulation verhindert werden können. gewesen, wie die Münchner Staatsan- Die Behörde war auch für Wirecard zu- Der Aufsichtsrat bildete ebenfalls ei- waltschaft feststellte. Nach Recherchen ständig, allerdings nur für die hauseige- nen Teil des „Kontrollversagens“. Für die des Handelsblatts wussten im Unterneh- ne Bank. Sie versagte nach einhelliger Überwachung des operativen Geschäfts men offensichtlich viele Angestellte von Meinung der meisten Analysten vollstän- des Dax-Unternehmens war er mit sechs den betrügerischen Machenschaften dig. Denn zum einen blieb der weitaus Personen zu klein und der Vorsitzende oder ahnten zumindest davon. Kaum größte Teil des Unternehmens außer- Wulf Matthias viel zu lang im Amt, um un- überraschend – es gab weder einen Be- halb des Radars der externen Prüfer. abhängig sein zu können. Er leitete das triebsrat noch eine Mitbestimmung auf Zum anderen sprach die BaFin Anfang Kontrollgremium von 2008 bis Januar Unternehmensebene. 2019 ein Verbot für alle Leerverkäufe 2020. Kritische Stimmen verweisen auf von Wirecard-Aktien aus. Sie stoppte die engen freundschaftlichen Verbindun- Auch Aktionäre wandten sich auf damit Wetten auf Kursverluste – was gen aller Mitglieder des Aufsichtsrats Hauptversammlungen zumeist vehe- von „den Märkten“ als Vertrauensbe- mit dem Management. Einige verfügten ment gegen kritische Stimmen. Sie stör- weis für den Konzern gewertet wurde offensichtlich über keinerlei Erfahrung ten sich weniger an der fehlenden Trans- – und täuschte so potenzielle Anleger. mit der Beaufsichtigung eines großen parenz des Geschäftsmodells, sondern Zudem stellte sich die BaFin vor den Unternehmens. Einen im Rahmen des ließen sich von der Bilderbuchgeschich- Skandal-Konzern, indem sie Strafanzei- Aufsichtsrats arbeitenden Prüfungsaus- te des kometenhaften Aufstiegs eines gen gegen kritische Journalisten stellte schuss, in Dax-Konzernen eigentlich ehemaligen Start-up-Unternehmens und damit den Eindruck erweckte, de- Standard, gab es nicht. Ein solcher blenden. Kritiker galten dagegen als ren Enthüllungen seien haltlos. Als be- hätte, mit Bilanzexpertise ausgestattet, Nestbeschmutzer. Die Vizepräsidentin sonders pikant erwies sich die Meldung, eng mit den Wirtschaftsprüfern zusam- der Deutschen Schutzvereinigung für dass BaFin-Mitarbeiter, die mit der Prü- menarbeiten müssen. Wertpapierbesitz, Daniela Bergdolt, hat- fung des Dax-Unternehmens betraut wa- te etwa im Mai 2019 auf der Hauptver- ren, offenbar ihr Insiderwissen nutzten, Opportunistische sammlung des Konzerns ihre Skepsis um privat mit deren Aktien zu handeln. Wirtschaftspresse am Geschäftsmodell (nicht nachvollzieh- Besonders fatal war, dass auch der bare hohe Gewinne) geäußert – und als Auch die Wirtschaftsprüferaufsicht größte Teil der deutschen Wirtschafts- Reaktion wütende Aktionäre erlebt, die APAS geriet in die Kritik, weil ihr Leiter im Frühjahr 2020, als die APAS bereits presse darauf verzichtete, den von bri- ihr vorwarfen, das angeblich tolle Unter- im Fall Wirecard ermittelte, privat mit tischen Reportern und Börsenprofis auf- nehmen schlechtzureden. [3] Wirecard-Aktien spekuliert hatte. Dies gedeckten Betrügereien nachzugehen. Anleger investierten bei Wirecard musste er später vor dem Untersu- So wurde Wirecard-Chef Braun noch noch bis kurz vor dessen Absturz. Der chungsausschuss des Bundestages ein- Ende 2018 vom Handelsblatt als „Auf- US-amerikanische Finanzinvestor Apollo räumen. Erst im Sommer 2020 leitete steiger des Jahres“ gefeiert. Im Herbst bot Wirecard noch am 17. Juni 2020 an,
bis zu einer Milliarde Euro zu investieren Geheimdienste interessant: Laufen doch ...und zur organisierten – nur acht Tage vor dessen Insolvenz über Zahlungsabwickler Geldströme in Kriminalität (Der Spiegel vom 23. Januar 2021). alle Teile der Welt: Israelis wollen wissen, Missliebige Kritiker wurden zum Teil Auch der sportlich ruhmreiche FC Bay- wohin der Iran seine Gelder lenkt. Ame- mit Mafia-Methoden unter Druck ge- ern München entging nach einer Recher- rikaner wollen wissen, wohin die Russen setzt. Der britische Börsenexperte und che von Süddeutscher Zeitung, WDR und und die Chinesen Geld überweisen.“ [4] Shortseller Fraser Perring hatte bereits NDR offenbar nur knapp einem Debakel. Fabio de Masi, für die Partei Die Linke im Jahr 2016 betrügerische Machen- Im vergangenen Jahr stand das Manage- Mitglied des Wirecard-Untersuchungs- schaften von Wirecard enthüllt. Er warf ment des Vereins kurz davor, eine Part- auschusses, kann sich sogar vorstellen, deshalb Marsalek vor, kriminelle Akti- nerschaft mit Wirecard einzugehen. Das dass Geheimdienste Marsalek frühzeitig onen gegen ihn und andere gesteuert Unternehmen sollte ab Juli 2020 jährlich in das Unternehmen gesetzt haben könn- zu haben. Bei Perring wurde beispiels- einen Sponsoringbetrag von sieben Milli- ten, um an „spannende Informationen“ zu weise eingebrochen, seine Krankenak- onen Euro an den Münchener Klub zah- kommen und Aktivitäten der Nachrich- te gehackt und ins Internet gestellt. Er len. Noch am 10. Juni 2020 schrieb das tendienste zu verschleiern. Im Gegenzug fühlte sich massiv verfolgt und bedroht. verantwortliche Vorstandsmitglied des hätte sich das Unternehmen „die Taschen [6] Ähnlich erging es dem Reporter von Fußballklubs per E-Mail an die Firmenzen- vollmachen“ können. [5] Financial Times, Dan McCrum. Wirecard trale des Finanzdienstleisters, dass sich warf kritischen Journalisten regelmäßig Geheimdienste, so berichteten Medi- der Verein auf die „Partnerschaft mit Wi- Betrug und Lüge vor. Sie würden ge- en, hätten sicher Interesse an Informa- recard“ freue (Die Welt vom 9. Februar meinsame Sache mit Shortsellern ma- tionen des Finanzdienstleisters gehabt, 2021). Dabei hatten die Wirtschaftsprü- um personalisierte Geldbewegungen chen, mit ihren kritischen Berichten den fer der Firma KPMG bereits Ende April zur Aufdeckung von Geldwäsche-Akti- Börsenwert des Unternehmens „nach 2020 in einem Sondergutachten eine vitäten krimineller Gruppierungen oder unten schreiben“ und damit den Aktien- vernichtende Bewertung der Geschäfts- Einzelpersonen auswerten zu können. preis manipulieren. politik von Wirecard vorgelegt. Wirecard – selber als Dienstleister ent- Erhärten sich die derzeit von der sprechender Milieus agierend und direkt Staatsanwaltschaft vorgebrachten An- Nähe zur an deren Aktivitäten beteiligt – könnte schuldigungen gegen die Manager von geheimdienstlichen Halbwelt... demnach staatlichen Behörden bei der Wirecard, kann das Unternehmen ohne Nach ZDF-Informationen könnte Mar- Bekämpfung von Geldwäsche geholfen weiteres als Teil der organisierten Kri- salek als Zahlungskurier für verschiede- haben. Paradox ist dabei, dass das Un- minalität betrachtet werden. Denn ne Geheimdienste im Einsatz gewesen ternehmen im Zuge seiner Geschäfte nach der offiziellen deutschen Definiti- sein und ihnen Kreditkarten zur Verfü- in der Porno- und Glücksspielbranche on handelt sich bei organisierter Krimi- gung gestellt haben. Auch geostrate- verbotene Zahlungen abwickelte, die nalität (oK) um „die von Gewinn- oder gische Aspekte spielen eine Rolle: „In vermutlich selbst dem Delikt der Geld- Machtstreben bestimmte planmäßige der Tat ist eine Firma wie Wirecard für wäsche entsprechen. Begehung von Straftaten, (...) wenn Foto: commons.org
mehr als zwei Beteiligte auf längere gern als „privilegierte Komplizenschaft“ und US-amerikanischer Shortseller das oder unbestimmte Zeit arbeitsteilig a) (Theodor W. Adorno) bezeichnet. kriminelle Vorgehen von Wirecard erst unter Verwendung gewerblicher oder publik machten. In Deutschland sind die geschäftsähnlicher Strukturen, b) unter Fehlende Unterscheidbarkeit Shortseller, die auf sinkende Aktienkur- Anwendung von Gewalt oder anderer zur Der Fall Wirecard zeigt anschau- se wetten, dennoch weithin verrufen. Einschüchterung geeigneter Mittel oder lich, wie die Grenzen zwischen legalen So wurden sie auch von der staatlichen c) unter Einflussnahme auf Politik, Medi- und illegalen Praktiken – vor allem bei Aufsichtsbehörde BaFin unter Beschuss en, öffentlicher Verwaltung, Justiz oder global tätigen Konzernen – zerfließen. genommen, um den digitalen Champion Wirtschaft zusammenwirken“. [7] Dauerhaft kriminell agierende Wirt- aus Aschheim bei München zu schützen. schaftsunternehmen lassen sich von „Privilegierte Komplizenschaft“ – Mafia-Organisationen kaum mehr unter- Fazit das politische Netzwerk scheiden. Wirecard verfolgte ein nach Der Rechts- und Staatswissenschaft- Tatsächlich verfügten die beiden Spit- außen sichtbares legales Kerngeschäft ler Wolfgang Hetzer stellte schon vor zenleute von Wirecard, Markus Braun und kombinierte es mit illegalen bzw. einigen Jahren die Frage, ob sich die und Jan Marsalek, über ausgezeichnete rein erfundenen Geschäften. [9] Auch Organisierte Kriminalität nicht als „Wirt- informelle und formelle Kontakte in die Mafia-Gruppen verknüpfen illegale und schaftsform“ und „politisches Prinzip“ Politik Österreichs und Deutschlands. legale Geschäftsaktivitäten, indem sie längst etabliert habe. [10] Das Konst- Es wurden von Beginn an aber auch kriminell erwirtschaftete Gewinne in den rukt Wirecard spricht dafür. Es hielt so intensive Beziehungen zur „Halbwelt“, legalen Wirtschaftskreislauf einschleu- lange, wie unterschiedliche Interessen- gepflegt. Durch seinen Sitz im Beirat sen (Geldwäsche). Gewinn und Beute gruppen glaubten, davon profitieren zu der „Denkfabrik“ des Bundeskanzlers werden so ununterscheidbar. Eine Iro- können. Die ehemalige Konzernspitze Sebastian Kurz (ÖVP) hatte CEO Braun nie der Geschichte ist, dass neben der konnte sich deshalb als Gangsterban- einen unmittelbaren Zugang zur öster- Berichterstattung der Financial Times de aufführen, setzte sich offensichtlich reichischen Regierung. Auch Marsalek ausgerechnet die Analysen britischer ohne große Widerstände und über viele stammt aus Wien, gilt als undurchsich- tige Figur mit guten Kontakten in die rechte Szene Österreichs (z. B. zur FPÖ) Der Fall Wirecard – Infos und stand mutmaßlich mit mehreren Ge- heimdiensten in Verbindung. [8] • Geschäftsmodell: Abwicklung des elektronischen Zahlungsverkehrs Im August 2019 setzte sich der ehe- • Gründung 1999, Firmensitz: Aschheim bei München malige deutsche Verteidigungsminis- ter und heutige Unternehmensberater • globale Ausrichtung über eine Vielzahl von Tochtergesellschaften Karl-Theodor zu Guttenberg bei Bundes- kanzlerin Angela Merkel dafür ein, das • Mitarbeiter*innen: Mitte 2020 weltweit über 5.000, in Deutschland etwa China-Geschäft des Unternehmens zu 1.300 unterstützen. Merkel warb tatsächlich • Markus Braun: Vorstandsvorsitzender von 2002 bis Juni 2020 bei einer Chinareise für Wirecard, beton- te später aber, dass sie damals keine • seit 2005 börsennotiert, 2006 Aufnahme in den TecDax, 2018 Aufstieg in Kenntnis von möglichen Betrügereien den Dax des Unternehmens gehabt habe. Zu die- sem Zeitpunkt waren die Vorwürfe ge- • in Spitzenzeiten Börsenwert von 24 Milliarden Euro gen den Konzern allerdings bereits seit vielen Monaten öffentlich bekannt. • Betrugsvorwürfe seit 2015: Börsenreport „Zatarra“ und Berichte der Financial Times Einen persönlichen Kontakt gab es auch zu Staatssekretär Jörg Kukies, Lei- • Nach dem Bilanzskandal Insolvenz seit 25. Juni 2020 ter des Verwaltungsrats der BaFin und enger Mitarbeiter von Finanzminister • Unternehmen laut Insolvenzverwalter mindestens seit 2017 defizitär Scholz. Am 5. November 2019 trafen • Vorwurf der Staatsanwaltschaft München I gegen mehrere früheren Füh- sich Kukies und Markus Braun zu einem rungskräfte: gewerbsmäßiger Bandenbetrug, Untreue, Marktmanipulation, Gespräch am Firmensitz von Wirecard, „ohne Zeugen, ohne Protokoll. In einer Bilanzfälschung. Aufblähung der Bilanzsumme (um fast zwei Milliarden Phase, in der Prüfer der KPMG bereits Euro) und des Umsatzvolumens des Unternehmens durch das Vortäuschen Unregelmäßigkeiten festgestellt haben“, von Einnahmen. Täuschung von Banken und anderer Investoren durch wie es in der ZDF-Doku vom 14. Januar falsche Jahresabschlüsse. 2021 hieß. • Berichte über Kooperationen mit Mafia-Organisationen: Seit Jahren viele Formelle und informelle Verbindungen von Großunternehmen und herrschender Verdachtsmeldungen über mögliche Geldwäsche, u. a. wegen der Abwick- Politik und die intensive Verflechtung von lung verbotener Zahlungen im Rahmen der Geschäfte in der Porno- und staatlichen, wirtschaftlichen, legalen Glückspielbranche. Wirecard wurde deshalb nie zur Rechenschaft gezogen. und illegalen Strukturen werden deshalb
Jahre gegen alle rechtsstaatlichen Me- chanismen durch und steht unter Ver- Trotz Wirecard: dacht, sogar Gewalt gegen ihre Kritiker eingesetzt zu haben. Die Hoffnung, dass die Politik dem Zahlungsdienstleister Bandenwesen im digitalen Kapitalismus entschieden entgegentritt, ist dagegen hoch im Kurs gering. Aus industriepolitischen Grün- D den stellten sich die zuständigen Be- er Boom im milliardenschweren lungsabwicklung. Denn die Geschäfts- hörden vor das Unternehmen. Denn das Online-Zahlungsverkehr geht trotz zahlen von Adyen und Co* belegen, Bekanntwerden des „bandenmäßigen des Skandals um Wirecard mun- dass sich das anlagesuchende Kapital Betrugs“ hätte schon frühzeitig einen ter weiter. Die Coronakrise beschleunigt nicht von einzelnen Bilanzskandalen Vertrauensverlust für den Finanzplatz dabei den Trend zu mehr bargeldlosen und Firmenpleiten abschrecken lässt. Deutschland bedeutet. Und von poli- Zahlungen weltweit. Und potenzielle In- Gespannt darf deshalb beobachtet wer- tischen Vertretern wie Finanzminister vestoren sind permanent auf der Suche den, ob Investigativjournalisten oder Scholz, Kanzlerkandidat der SPD, sollte nach lukrativen Anlagemöglichkeiten. So auf fallende Kurse setzende Shortseller ohnehin nicht allzu viel erwartet werden. „pumpen“ die Investoren viele Millionen auch nach Wirecard den hart umkämpf- Schließlich spielte er selber als Erster „in den nächsten Hoffnungsträger“, wie ten Payment-Markt weiter unter die Lupe Bürgermeister Hamburgs im Cum-Ex- das Handelsblatt anmerkt (Handelsblatt nehmen – und einen weiteren Skandal Skandal eine unrühmliche Rolle. Kritiker Online, 8. September 2020) Wer sich offenlegen. werfen ihm vor, mitverantwortlich dafür aber die Erfolgszahlen der Marktführer * Andere derzeit aufstrebende Zahlungsdienst- zu sein, dass sich eine stadtbekannte in der hart umkämpften Payment-Bran- leiter sind Klarna (Schweden), Stripe (USA), Bank Millionenbeträge auf Kosten der che etwas genauer anschaut, wird an die Paypal (USA) oder Checkout (Großbritannien). Steuerzahler erschleichen konnte. Wachstumsstory von Wirecard erinnert. Es handelt sich bei ihnen um Kandidaten für baldige Börsengänge. Teilweise wird eine ra- Zu den besonders schnell expandieren- sante Steigerung der Marktkapitalisierungen Anmerkungen: den Zahlungsdienstleistern gehört der erwartet. So wird laut Handelsblatt Stripe ak- weltweit agierende niederländische Kon- tuell mit 36 Milliarden Dollar bewertet, könnte [1] So wurden zum Beispiel Schmiergeldzah- aber bald 100 Milliarden Dollar wert sein. lungen an Entscheidungsträger im Ausland zern Adyen, gegründet 2006, seit Som- mer 2018 an der Börse notiert. Seitdem (Handelsblatt vom 22. Februar 2021) bis 1999 vom deutschen Staat gedeckt. Da ihnen ein volkswirtschaftlicher Nutzen scheint dessen Aktienkurs regelrecht zu zugesprochen wurde, konnten sie von der explodieren. Der Börsenwert beträgt Quellen: Steuer abgesetzt werden. (vgl. BIG-Beilage aktuell mehr als 65 Milliarden Euro und Elisabeth Atzler/Katharina Schneider: „Inves- in „Stichwort Bayer“ 1/2021) liegt damit höher als die Marktkapita- toren stürzen sich auf Zahlungsdienstleister“, [2] ZDFinfo Doku: „Wirecard – Game Over, Handelsblatt Online vom 8. September 2020 lisierung mancher DAX-Werte. Das so- Geldgier, Größenwahn und dunkle Geheim- nisse“ von Volker Wasmuth und Patrick genannte Transaktionsvolumen stieg im Elisabeth Atzler/Felix Holtermann: „Adyen-Chef vergangenen Jahr um fast 30 Prozent zur Pleite des Konkurrenten: ‚Der Wirecard-Un- Zeilhofer, 14. Januar 2021 tergang ist ein Desaster für die Branche‘“, Han- [3] Podcast Handelsblatt Crime: „Der Fall auf 300 Milliarden Euro. In den kommen- delblatt Online vom 21. September 2019 Wirecard – Folge 4: Kritik wurde im Keim den Jahren will der Konzern seinen Um- Elisabeth Atzler: „Profiteur der Coronakrise: erstickt“ von Ina Karabasz und Felix Holter- satz durchschnittlich um mindestens 25 Hoher Gewinnsprung bei Adyen“, Handelsblatt mann, 16. September 2020 Prozent steigern. (Handelsblatt Online Online vom 10. Februar 2021 [4] Volker ter Haseborg/Melanie Bergermann: vom 10. und 22. Februar 2021) Zahlen, Dies.: „Das Milliarden-Fintech Stripe heuert frü- Die Wirecard-Story. Die Geschichte einer die von den offiziellen Wirecard-Kennzif- heren britischen Notenbankchef an“, Handels- Milliarden-Lüge, München, 2021, Seite 185 fern nicht um Welten entfernt liegen. blatt Online vom 22. Februar 2021 [5] ZDFinfo Doku, 14. Januar 2021 Im Interview mit dem Handelsblatt ver- [6] Ebd. neint Adyen-Vorstandschef Pieter van [7] Bundeslagebild Organisierte Kriminalität der Does jedoch die Frage, ob seine 2019, hrsg. vom Bundeskriminalamt Kunden wegen des Wirecard-Skandals (BKA), Seite 11 vermehrt nachfragen, wie Adyen genau [8] Podcast Handelsblatt Crime: „Der Fall arbeitet. „Die meisten, die mit unserer Wirecard – Folge 2: Die Männer hinter Wi- recard – Markus Braun und Jan Marsalek“ Branche zu tun haben, betrachten es von Ina Karabasz und Felix Holtermann, 2. wie den Enron- oder den Parmalat-Skan- September 2020 dal – als Problem, das alle zehn bis 15 [9] So betrug der Teil des Umsatzes, der auf Jahre in der Finanzwelt auftritt, aber fiktiven Kundenbeziehungen basierte, im nicht als systemisches Problem der Zah- Jahr 2019 etwa 1,07 Milliarden Euro – der lungsdienstleister.“ (Handelsblatt vom offizielle Gesamtumsatz lag bei rund 2,77 21. September 2020) Milliarden Euro. (vgl. Handelsblatt vom 2. Dezember 2020) Die Betrugsmasche des deutschen Zah- [10] Wolfgang Hetzer: „Finanzindustrie oder lungsdienstleisters führte tatsächlich Organisierte Kriminalität?“, ApuZ, 38-39/ zu keinem Dämpfer für das globale Ge- 2013, Seite 27 schäftsmodell der elektronischen Zah-
Kapital und Verbrechen nicht darüber im Klaren sind, wie sehr sie bereits heute unter der Kontrolle der Finanzmärkte stehen und sogar von die- sen beherrscht werden.“ [2] von Reiner Diederich Inzwischen kommt im Finanzbereich noch die Digitalisierung hinzu, die alle M an kann heute kaum mehr eine rung“ oder „finanzmarktgetriebener Prozesse beschleunigt, zum Beispiel die Tageszeitung aufschlagen, ohne Kapitalismus“ wird diese Entwicklung Spekulation im „Sekundentrading“. Sie nicht wenigstens im Wirtschafts- zu erfassen versucht. Scheinbar ist die erleichtert auch den Betrug – siehe den teil einen Artikel oder eine Nachricht über Finanzsphäre inzwischen von der Pro- Fall Wirecard. Die mit der Digitalisierung einen Fall von Wirtschaftskriminalität zu duktionssphäre abgekoppelt. In ihr wird verbundene weitergehende Abstraktion finden. Ab einer gewissen Skandalgröße Kapital nicht mehr in erster Linie durch vom Konkreten bringt es mit sich, dass schaffen sie es auf die vorderen Seiten, die Ausbeutung von Arbeitskraft und das ein fingiertes Milliarden-Guthaben auf und wenn es um Verstrickungen mit po- Herstellen realer Produkte verwertet, einem philippinischen Konto bei laxer litischen oder staatlichen Sphären geht, sondern durch Geldverleih gegen Zinsen, Überprüfung jahrelang als existent durch- auch schon mal auf die Titelseite. Woran Aktienkäufe, bestimmte Dienstleistungen zugehen vermag. liegt es, dass die Zahl und Schwere der und spekulative Geschäfte aller Art. Von Auch wenn es immer um das reale Han- Fälle von Wirtschaftskriminalität – national jeher ist damit ein Odium des unehrlich deln realer Menschen geht, die dafür ver- wie international gesehen – zuzunehmen bloß „Raffenden“ gegenüber dem ehr- antwortlich gemacht werden können und scheint? Oder ist das nur ein Ergebnis der lich „Schaffenden“ verbunden. Hier setzt müssen: Stark bestimmt wird ihr Handeln wachsenden Berichtsdichte in Zeiten von die Lehre von „zweierlei Kapital“ an, die durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, Internet und globaler Vernetzung? Unterscheidung des guten Produktivka- die Erwartungen ihres Umfelds, den Ver- pitals vom bösen Finanzkapital, auf die wertungsdrang und Wachstumszwang Psychologische Erklärungen wie etwa sich auch Verschwörungslegenden wie des Kapitals, dem sie als Unternehmer die in der „Finanzkrise“ 2008ff. beliebt die antisemitische beziehen. gerecht werden müssen, wenn sie erfolg- gewordene These, die unersättliche Gier der Unternehmer und Banker sei schuld Es ist dies die Sphäre, in der nach Marx reich sein wollen. Statt den „absoluten an allem – neuerdings zum Beispiel an die „Kapitalmystifikation in ihrer grells- Bereicherungstrieb“ von Unternehmern den betrügerischen Cum/Ex-Geschäften ten Form“ erscheint, weil Geld sich hier zur Erklärung von Normverstößen her- – tragen nicht sehr weit. Denn was ist mit scheinbar aus sich selbst bzw. wie von anzuziehen, den er einfach voraussetzt, der Psyche der Betreffenden passiert, selbst generiert und vermehrt. Eine gute spricht Marx lieber vom „Trieb der ka- dass sie jetzt plötzlich mehr hinter dem Gelegenheit also für das Vorspiegeln fal- pitalistischen Produktion“, alle Grenzen Geld her sein sollen als früher, und dabei scher Tatsachen, für das Täuschen und zu überschreiten, wenn sie ihr nicht mit zu unlauteren Praktiken greifen? Realisti- Zocken, das Übervorteilen und Betrü- genügend Macht und Nachdruck aufge- scher erscheint da schon die alte Spruch- gen. Marx beschreibt das wie folgt: Es herrscht werden. Im „Kapital“ bringt er weisheit: Gelegenheit macht Diebe. entstehe „eine neue Finanzaristokratie, dazu – in griffiger Übersetzung – eine eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von Passage aus einem Buch des englischen Um welche Gelegenheiten geht es dabei? Gewerkschaftsfunktionärs J.T. Dunning Projektemachern, Gründern und bloß no- Da ist einmal die seit der Dominanz des von 1860, der sich seinerseits auf eine minellen Direktoren; ein ganzes System Neoliberalismus schwächer gewordene Zeitschrift bezieht, in der die noch heute des Schwindels und Betrugs mit Bezug staatliche Regulierung des Wirtschafts- gern angeführte These vertreten wird, auf Gründungen, Aktienausgabe und Ak- lebens samt ihren juristischen Normen. das Kapital sei ein scheues Reh, das tienhandel“ [1]. Wenn der Markt es richten soll, wird man nicht verschrecken solle: „Kapital, nicht nur, meist vergeblich, auf dessen Wie ausgedehnt und mächtig die Finanz- sagt der Quarterly Reviewer, flieht Tumult vielbeschworene „Selbstheilungskräfte“ wirtschaft inzwischen geworden ist, und Streit und ist ängstlicher Natur. Das vertraut, sondern es kann auch veritab- hätte sich Marx allerdings nicht denken ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze ler Wildwuchs entstehen. Im Dschungel können oder träumen lassen. Eine Vor- Wahrheit. Das Kapital hat einen Horror der härter werdenden Konkurrenz aller aussetzung dafür ist die Überakkumula- vor Abwesenheit von Profit oder sehr gegen alle gedeiht dann das, was „Raub- tion von Kapital, das keine produktiven kleinem Profit, wie die Natur vor der Lee- tierkapitalismus“ genannt wird, um vom Anlagemöglichkeiten mehr findet und re. Mit entsprechendem Profit wird Kapi- Kapitalismus als System nicht sprechen auch nicht mittels höherer Besteuerung tal kühn. Zehn Prozent sicher, und man zu müssen. Das Darwinsche Prinzip des einer sinnvollen Verwendung für das Ge- kann es überall anwenden; 20 Prozent, „survival of the fittest“ wird nun als Über- meinwohl zugeführt wird. es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv wag- leben des Brutalsten verstanden, der Warum geschieht letzteres nicht oder halsig; für 100 Prozent stampft es alle sich an möglichst wenig Regeln hält, um warum wäre das so schwer zu machen? menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; siegen zu können. Dazu hat der ehemalige Bundesbank- 300 Prozent, und es existiert kein Ver- Eine andere Bedingung für das Aufblü- präsident Hans Tietmeyer 1996 vor brechen, das es nicht riskiert, selbst auf hen krimineller Ökonomie ist die immer Staatsmännern aus aller Welt auf dem Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und größere Rolle, welche die Finanzwirt- Weltwirtschaftsforum in Davos gesagt: Streit Profit bringen, wird es sie beide schaft gegenüber der Realwirtschaft „Ich habe bisweilen den Eindruck, dass encouragieren. Beweis: Schmuggel und spielt. Mit Begriffen wie „Finanzialisie- sich die meisten Politiker immer noch Sklavenhandel.“ [3]
Diese oft zitierte Stelle bedeutet einer- Wirtschaftskriminalität als gesondertes seits, dass die Kapitalverwertung, die Delikt zu skandalisieren und zu verfol- Zur Bertelsmann-Stiftung Profitmacherei zunächst nicht per se kri- gen ist deshalb möglich und notwendig. minell ist. Sie folgt dem Prinzip des glei- Wenn dabei jedoch nicht über ihre sys- - eine Ergänzung chen und zugleich ungleichen Tauschs temischen Hintergründe aufgeklärt wird, Zu dem Artikel „Die Bertelsmann-Stif- Arbeitskraft gegen Lohn, aus dem sich bleibt es beim nicht sehr nachhaltigen tung und der Lobbyismus im Gesund- der Mehrwert als Differenz zwischen Personalisieren und Moralisieren von heitswesen“ von Verena Herzberger in dem Wert der Arbeitsleistung und dem Schuld oder bei der Suche nach Sün- der BIG-Beilage Nr. 1/2021 schreibt Wert der Arbeitskraft (= Lohn) ergibt. Bei denböcken und Bauernopfern. Der Fall Herbert Storn: Wirecard und seine Verarbeitung in den Der Artikel hat mich schon deshalb ge- der Aneignung des Mehrwerts oder Ge- Medien als spannende Kriminalstory und freut, weil wir uns in der GEW in den winns durch Unternehmer und Aktionäre „größter Bilanzskandal in der Geschichte ersten Jahren des neuen Jahrtausends handelt es sich also nicht um einen Be- der Bundesrepublik“ bietet dafür wieder immer wieder sehr ausführlich mit dieser trug, sondern um eine Folge der struktu- einmal Anschauungsmaterial. Aber eins operativen Stiftung befassen mussten, rellen Ungleichheit von Kapital und Arbeit sollte klar sein: Wer „bandenmäßigen u.a. deshalb, weil sehr viele Studien raffi- und des Widerspruchs zwischen beiden. Betrug“ begangen hat, wie laut Staatsan- nierterweise sich mit bildungspolitischen Die weiteren Mechanismen der Kapitalver- waltschaft die Chefs von Wirecard, wer Vorstellungen deckten. Deshalb dach- wertung, das Streben nach Höchstprofit damit „eine moderne Version der Mafia“ ten einige unserer Vorstandsmitglieder, „bei Strafe des Untergangs“ [4], das begründet hat, wie der „Spiegel“ [5] titel- dass sie in Bertelsmann einen Verbünde- Verdrängen anderer aus dem Markt und te, hat das Gefängnis verdient. ten hätten, den man gern zitiert... ihre feindliche Übernahme, bringen eine Arvato (ein international tätiges Dienst- heftigere Versuchung mit sich, sich da- Anmerkungen: leistungsunternehmen des Bertels- mann-Konzerns – die Red.) ist etwas bei auch illegaler Methoden zu bedienen, [1] Karl Marx: Das Kapital, Bd. 3, MEW Bd. 25, Seite 454 mehr als im Artikel beschrieben. In wenn nicht hingeschaut wird. Die Abgas- England ist es schon seit 2005 in der manipulationen der deutschen Automobil- [2] Zit. nach Heinz-J. Bontrup: „Wirtschafts- Verwaltung des District East Riding (so industrie sind dafür das beste Beispiel. Macht“, in Ossietzky Nr. 3/2021, Seite 80 groß wie das Saarland) tätig, in NRW in Von Machenschaften, die im ethischen [3] Das Kapital, Bd. 1, MEW Bd. 23, Seite 788 der Landesverwaltung. In Würzburg wur- oder moralischen Sinn illegitim, also ver- [4] Das Kapital, Bd. 3, MEW Bd. 25, Seite 255 de 2007 ein Projekt E-Commerce mit werflich sind, aber (noch) nicht gesetzlich [5] „Inside Wirecard – ‚Eine moderne Version der der Stadtverwaltung begonnen, inzwi- verboten, ganz zu schweigen. Mafia‘“. Titelblatt des „Spiegel“ Nr. 6/2021 schen abgebrochen. Der Versuch des Unternehmens, in der staatlichen und kommunalen Verwaltung Fuß zu fassen, ist noch nicht aufgegeben. Von daher muss an den Ausspruch von Reinhard Mohn (Gründer der Bertels- mann-Stiftung – die Red.) erinnert wer- den, dass es ein Segen sei, wenn dem Staat das Geld ausgeht. Dann können die Privaten sich an seine Stelle setzen. Was jetzt den Bertelsmann-Plan der Schließung von einem Drittel der Kran- kenhäuser angeht, so ist er keineswegs „auf Eis gelegt“ (wie im Editorial ge- schrieben), sondern wird ungebremst, allerdings fast unbemerkt von der Öf- fentlichkeit, umgesetzt. Durch Veröffentlichungen und die Kam- pagne von Gemeingut in BürgerInnen- hand wird dies so nach und nach be- kannt, zuletzt in dem schönen Beitrag von PlusMinus vom 17. Februar 2021. Foto: commons.org Federführend sind neben Gesundheits- minister Spahn die „Gesundheitsökono- men“ Busse und Augurzky (Busse war in dem PlusMinus-Beitrag sehr zynisch). Eigentlich müsste der Bertelsmann-Stif- tung längst die Gemeinnützigkeit aber- kannt worden sein. Aber unsere Eliten verteidigen ihre Bastionen mit Zähnen und Klauen.
Der Kaiser ist nackt! Bei anderen Gegnern von Wirecard han- delte es sich allerdings um dubiose Hedgefonds, die gewerbsmäßig auf den oder: Ein Versuch der Aufarbeitung des Wirecard-Skandals Börsenabsturz dieser und anderer Unter- nehmensgruppen wetteten. Deren Aktivi- täten machten es dem Management von von Gerd Bedszent Wirecard leicht, jeden Kritiker erst einmal als angeblich betrügerischen Manipulator F von Börsenkursen zu verklagen – manch- irmenzusammenbrüche sind im Autor*innen einen der Hauptaktionäre aus mal sogar mit Erfolg. Kapitalismus durchaus nichts Be- der Frühphase des Unternehmens: „Erotik sonderes. Und dass in diesem Zu- und Glücksspiel waren nun mal die Berei- Die Schlusskapitel des Buches sind sammenhang ausgesprochen kriminelle che, wo es die höchsten Margen gab, mit eine Beschreibung des Unterganges im Aktivitäten von ins Schleudern geratenen 3,4 Prozent von der Abrechnungssumme Stundentakt. Zitiert wird schließlich der Unternehmen ans Licht der Öffentlich- (…) Nein, das hat uns überhaupt nicht Insolvenzverwalter Michael Jaffé: „Mit ei- keit kommen, geschieht auch nicht ge- gestört. Irgendeiner macht das eben. Wir nem normalen DAX-Konzern hat Wirecard rade selten. Der plötzliche Absturz und haben die Zahlen gesehen und gesagt: nicht viel gemeinsam. Die Strukturen der die nachfolgende Insolvenz des Finanz- ‚Boah, toll, passt.‘“ (Seite 42) Firma? ‚Völlig intransparent‘“ (Seite 249). dienstleisters Wirecard gestaltete sich Das Buch endet mit den Worten „Game Auch enthält das Buch eine ausführliche aber doch schon ungewöhnlich. Hatte over“. Dem muss man allerdings wider- Chronologie der Entwicklung des Unter- das aus der halbkriminellen Schmuddel- sprechen. Das nächste kriminelle Buben- nehmens Wirecard AG sowie biographi- branche stammende Unternehmen doch stück kommt ganz bestimmt. Die Frage ist sche Angaben leitender Mitarbeiter*in- gerade zwei Jahre vorher den Aufstieg in nur, wann es passiert und welche Größen- nen. Und man findet nicht wenige Fakten, die obersten Gefilde der börsennotierten ordnung es annimmt. die in der medialen Berichterstattung Großunternehmen geschafft. kaum vorkommen. So zum Beispiel, dass Es ist daher verdienstlich, dass zwei Jour- Wirecard schon sehr früh begonnen hat- nalist*innen die bisher bekannten Fakten te, besonders brisante Geschäftszweige zu einem der bekanntesten Betrugs- aus dem Unternehmen auszugliedern und skandale der jüngeren Vergangenheit in in dubiose Steuerparadiese mit laxer Ge- Buchform herausgebracht haben – Teile setzgebung zu verlagern. Schon im Jahre des Buches sind allerdings zuvor schon in 2017 wurde laut offizieller Bilanz des Un- verschiedenen Ausgaben der Wirtschafts- ternehmens der größte Teil der Gewinne Woche erschienen. Dass die Darstellung – im Ausland erzielt. vor endgültigem Abschluss der Ermittlun- Faktisch wurde bei der geschilderten Aus- gen und juristischer Aufarbeitung – nicht lagerung von Unternehmensteilen die juris- vollständig sein kann, liegt in der Natur tische Verantwortlichkeit zur Handelsware. der Sache und kann den Autor*innen nicht Nicht wenige Leute, die gegen Bezahlung angelastet werden. Eher schon, dass die ihren Namen als Firmeninhaber eintragen systemischen Ursachen, die diesen Skan- ließen, hatten mit den in ihrem Namen dal überhaupt erst ermöglichten, im Buch getätigten Geschäften dann gar nichts eher flüchtig Erwähnung finden. zu tun. Oder sie behaupteten wenigstens Der Fall „Wirecard“ erscheint bei ober- hinterher, von nichts gewusst zu haben. flächlicher Lektüre des Werkes lediglich Über solche in Dubai, Singapur und auf Volker ter Haseborg und als ungewöhnlich dreistes Bubenstück, den Philippinen ansässige Ausgründungen Melanie Bergermann: begünstigt durch ein permanentes Weg- und deren bilanziertes, aber nicht vorhan- Die Wirecard Story. Die Geschichte schauen von Institutionen, die dem krimi- denes Milliardenvermögen sollte Wirecard einer Milliarden-Lüge nellen Unternehmensmanagement schon schließlich ins Stolpern geraten. FinanzBuch Verlag, München 2020 in der Anfangsphase das Handwerk hät- 272 Seiten, 19,99 Euro Aber wer stand in dem stellenweise recht ISBN 978-3-95972-415-9 ten legen müssen. Und durch die Verant- spannend geschriebenen Wirtschafts- wortungslosigkeit von Mitarbeitern, die krimi eigentlich auf der Gegenseite? Die angesichts der vielen Merkwürdigkeiten Autor*innen nennen einen einsamen Ana- Impressum: des Unternehmens ihre Augen schlossen, lysten und Wirtschaftsprüfer, der schon Herausgeber: Vorstand von solange jeden Monat regelmäßig das früh auf die Unstimmigkeit des von der Business Crime Control e.V. Geld aufs Konto kam. Firma Wircard offiziell angegebenen Zah- Redaktion: Aber schon diese angebliche Verantwor- lenwerkes stieß, einfach, indem er die tungslosigkeit war strukturell bedingt, wie Angaben des Bilanzprogramms in eine Gerd Bedszent, Reiner Diederich, man verschiedenen Kapiteln entnehmen simple Excel-Tabelle übertrug. Der gute Victoria Knopp, Joachim Maiworm kann: „Einen Betriebsrat? Braucht Wi- Mann erntete dann Hohn und nicht wenige Redaktionskontakt: recard nicht. Tarifverträge? Gibt es nicht. Anfeindungen. Kaum jemand konnte sich big-redaktion@businesscrime.de Wirecard zahlt gut. Alle sind Gewinner.“ damals vorstellen, dass der allseits gefei- Layout: Fabio Biasio (Seite 155) An anderer Stelle zitieren die erte Kaiser in Wirklichkeit nackt war.
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