Ein Jahr Gewässerforschung - Jahresforschungsbericht 2020 - IGB Berlin

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Ein Jahr Gewässerforschung - Jahresforschungsbericht 2020 - IGB Berlin
Leibniz-Institut für
                                                             Gewässerökologie
                                                             und Binnenfischerei

Ein Jahr
Gewässerforschung
Jahresforschungsbericht 2020

                               Ökosystem-
                                leistungen
                             Wie wir Gewässer
                            besser schützen und
                                 nachhaltig
                              bewirtschaften
        Biodiversität              können
     Wie Arten überleben
         und was die
      aquatische Vielfalt
           fördert

                                        Globaler Wandel
                                         Wie Ökosysteme
                                           und Lebens-
                                         gemeinschaften
                                        widerstandsfähiger
                                             werden
Ein Jahr Gewässerforschung - Jahresforschungsbericht 2020 - IGB Berlin
Ein Jahr Gewässerforschung - Jahresforschungsbericht 2020 - IGB Berlin
Angelfischerei

               Aquakultur und Aquaponik

                             Biodiversität

                      Dialog und Transfer

                    Gewässerökosysteme

                                             Forschen für die Zukunft
               Nutzung und Management        unserer Gewässer
                                             Das IGB ist das größte deutsche und eines der international
                                             führenden Zentren für die Binnengewässerforschung. Unsere
                                             Vision ist es, aquatische Systeme in all ihrer Komplexität
                                             zu verstehen und mit diesem Forschungswissen den nach-
             Schadstoffe und Belastungen     haltigen Umgang mit gewässerbasierten Ressourcen und
                                             Ökosystemen zu unterstützen. Wir denken: Wissenschaftliche
                                             Erkenntnisse, die auf exzellenter Forschung beruhen, sind eine
                                             zentrale Grundlage für kluge Entscheidungen. Ein besseres
                                             Verständnis der Gewässer und all ihrer ökologischen Aspekte
                                             unterstützt Politik und Gesellschaft dabei, globalen Herausfor-
                          Umweltwandel       derungen zu begegnen und Gewässer zum Wohl von Mensch
                                             und Natur zu nutzen und zu erhalten.

                                             Auf den folgenden Seiten stellen wir Ihnen ausgewählte
                                             Forschungsergebnisse und Aktivitäten aus dem Jahr 2020 vor.
                                             Sie sind zehn Themenbereichen zugeordnet, in denen wir alles
Verhaltensbiologie und Schwarmintelligenz
                                             bündeln, was für Sie rund um unsere Forschungsarbeit inte-
                                             ressant sein könnte. Zu den einzelnen Themen finden Sie auf
                                             unserer Website weitere Informationen, Materialien, Fachleute
                                             sowie Hintergründe und aktuelle Meldungen.

               Wasser- und Stoffkreisläufe   Wir wünschen viel Freude beim Lesen und Entdecken!
Ein Jahr Gewässerforschung - Jahresforschungsbericht 2020 - IGB Berlin
Inhalt

                                                           9
                                                       Forschung

                                           9   Ökosystemleistungen
                                               Mehr als eine Millionen Barrieren
                                               zerschneiden Europas Flüsse – nur
                                               ein Beispiel dafür, wie intensiv
                                               wasserbasierte Ressourcen und
                                               Ökosysteme vom Menschen genutzt
                 4                             und beeinflusst werden. Forschende
              Vorwort                          am IGB wollen genau wissen, welche
                                               Ökosystemleistungen Seen, Flüsse
                                               und ihre Auen erbringen, wie sie auf
IGB-Direktor Luc De Meester blickt auf
                                               verschiedene Nutzungsarten reagie-
sein erstes Jahr am Institut zurück. Es
                                               ren und wie wir sie besser ­schützen
waren in vielerlei Hinsicht besondere 12
                                               können. Unsere Erkennt­nisse
Monate, in denen die globalen Heraus-
                                               sollen dazu beitragen, natür­liche
forderungen unserer Zeit noch deutlicher
                                               ­Ressourcen künftig nachhaltiger zu
geworden sind. Trotz aller bekannten
                                                bewirtschaften – in Fischerei und
Einschränkungen haben Forscher*innen
                                                Aquakultur, bei der Binnenschifffahrt
am IGB auch 2020 Experimente durch­
                                                und Energiegewinnung oder bei
geführt, Daten gesammelt sowie aus­
                                                F­reizeitaktivitäten.
gewertet, unzählige Video­konferenzen
geführt und gemeinsam neues Wissen
gewonnen – all das, um Umwelt­
veränderungen nachhaltig zu begegnen
und Gewässer und ihre Lebensge­                                                         19   Biodiversität
meinschaften besser zu schützen.                                                             Binnengewässer beherbergen eine
                                                                                             einzigartige Vielfalt an Lebewesen,
               6                                                                             die komplexe Gemeinschaften
           Nachrichten                                                                       ­bilden. Doch sie sind bedroht: Gene,
                                                                                              Populationen, ganze Arten und
                                                                                              Lebensräume verschwinden im
Gute Neuigkeiten aus unserer Forschung.
                                                                                              Süßwasser deutlich schneller als an
                                                                                              Land oder im Meer. Dieser Verlust
                                                                                              gefährdet auch das menschliche
                                                                                              Wohlergehen und bleibt dennoch
                                                                                              zu häufig unbemerkt. Um die
                                                                                              biologische Vielfalt zu schützen
                                                                                              und zu erhalten, entschlüsseln
                                                                                              IGB-Wissenschaftler*innen die
                                                                                              Rätsel und Anpassungsstrategien
                                                                                              unterschiedlichster Süßwasser­
                                                                                              organismen – vom aquatischen
                                                                                              Bakterium Achromatium oxaliferum
                                                                                              über den Stör bis hin zu ganzen
                                                                                              Fischschwärmen. Sie erkunden,
                                                                                              was deren Vielfalt ermöglicht oder
                                                                                              ­gefährdet; wie es etwa invasiven
                                                                                               Arten gelingt, sich zu etablieren oder
                                                                                               wie sich die Corona-Pandemie auf
                                                                                               die globalen Fischbestände auswirkt.

2                                                                                                  Jahresforschungsbericht 2020
Ein Jahr Gewässerforschung - Jahresforschungsbericht 2020 - IGB Berlin
Inhalt

                                                                                                                                                                                                  36 Extra:
                                                                                                                                                                                                     Datenschatz Internet
                                                                                                                                                                                                       Um wissenschaftliche
                                                                                                                                                                                                       ­Erkenntnisse zu generieren, brau-
                                                                                                                                                                                                        chen Forscherinnen und ­Forscher
                                                                                                                                                                                                       Daten. Zwei neue F­ orschungszweige,
                                                                                                                                                                                                       Culturomics und iEcology, nutzen
                                                                                                                                                                                                       dafür das Internet. Das bietet viele
                                                                                                                                                                                                       Chancen, insbesondere auch für die
                                                                                                                                                                                                       Erforschung aquatischer Lebens­
                                                                                                                                                                                                       räume.
Fotos: Porträt De Meester u. Biodiversität © David Ausserhofer; Nachrichten © Solvin Zankl;  Ökosystemleistungen © Francisco Kemeny/unsplash;
Globaler Wandel © Lukas Kleine/IGB;  Social Media © Dmytrenko Vlad/Shutterstock; Jahresrückblick/Aquacosm © Frederico Cheda

                                                                                                                                                                                                                                                                46
                                                                                                                                                27   Globaler Wandel                                                                                          Über uns
                                                                                                                                                     Gewässer reagieren sensibel auf
                                                                                                                                                     Klima- und Umweltveränderungen,                                                          46 2020 in Zahlen
                                                                                                                                                     z.B. auf steigende Temperaturen                                                          48 Köpfe
                                                                                                                                                     und extreme Wetterereignisse,                                                            52   Publikationen
                                                                                                                                                     aber auch auf zu viele Nähr- und
                                                                                                                                                                                                                                              53   Finanzen
                                                                                                                                                     Schadstoffe, die in Flüsse und
                                                                                                                                                     Seen ­gelangen. Manche Gewässer                                                          54 Struktur
                                                                                                                                                     trocknen ­temporär aus, schrumpfen                                                       56 Impressum
                                                                                                                                                     oder ­verschwinden dauerhaft. Einige                           39
                                                                                                                                                     leiden unter Überdüngung und                            Jahresrückblick
                                                                                                                                                     entwickeln intensive Algenblüten.
                                                                                                                                                     Aus anderen entweichen Treibhaus-              Zwölf Monate am IGB, prall gefüllt mit
                                                                                                                                                     gase, die die globale Erwärmung                 gestarteten Projekten und Initiativen
                                                                                                                                                     zusätzlich beschleunigen. Wir wollen            sowie zumeist virtuellem Austausch.
                                                                                                                                                     verstehen, was die Widerstandskraft
                                                                                                                                                     von Ökosystemen und Lebens­
                                                                                                                                                     gemeinschaften fördert und wie
                                                                                                                                                     die Anpassung an den Klimawandel
                                                                                                                                                     gelingen kann. Forschende am IGB
                                                                                                                                                     analysieren, wie sich z.B. das wenige
                                                                                                                                                     Niederschlagswasser während
                                                                                                                                                     Dürren verteilt oder was gegen die
                                                                                                                                                     Eutrophierung von Seen und die
                                                                                                                                                     Massenentwicklung von Cyano­
                                                                                                                                                     bakterien helfen könnte.

                                                                                                                                                Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei                                                                    3
Ein Jahr Gewässerforschung - Jahresforschungsbericht 2020 - IGB Berlin
Vo r w o r t d e s D i r e k t o r s | Luc De Meester

           Liebe Leserin, lieber Leser,
           ich habe lange mit mir gerungen:              sionalität und das Engagement ­aller Mit-   ginnen und Kollegen – mehr als früher –
           Corona­virus oder kein Coronavirus in         arbeitenden wider. Dennoch hätte ich        mit Arbeit und Betreuungspflichten
           diesem Vorwort? Muss ich Ihnen wirklich       mir zu Beginn meines ersten Jahres viel     ­jonglieren.
           erzählen, dass 2020 das (erste) Jahr mit      mehr Möglichkeiten für persönliche Be-
           dem Virus war, und dass auch das IGB be-      sprechungen und engagierte Diskussio­       Die weltweite Pandemie hat vielen Men-
           troffen ist? Dass viele Abläufe und Rou-      nen in größeren Gruppen gewünscht –         schen bewusst gemacht, wie wichtig
           tinen plötzlich hinfällig waren? Dass ich     Aspekte unserer Arbeit, die unter unserer   verlässliche wissenschaftliche Erkennt-
           mir mein erstes Jahr am Institut etwas        virtuellen Arbeitsweise gelitten haben.     nisse und Empfehlungen sind. Zugleich
           anders vorgestellt hatte? Nun, ich bin zu     Ich hatte nur wenige Gelegenheiten,         sind zwei zentrale Herausforderungen,
           dem Schluss gekommen, dass ich nicht          mich zum Mittagessen in einen der So-       vor denen die Welt steht, vorübergehend
           drum herum komme, denn das Corona-            zialräume des Instituts zu setzen, bevor    etwas vom Radar verschwunden, obwohl
           virus hat und wird unsere Forschung und       es auf den Fluren des IGB sehr leer und     sie drohender denn je sind: der Klima-
           unser Denken über Krisen beeinflussen.        still wurde. Und obwohl viele die Gele-     wandel und die tiefe Biodiversitäts- und
                                                         genheit nutzten, um sich in die Daten-      Naturkrise. Für mich fühlten sich 2019
                                                                                                                                                Foto: Porträt De Meester © David Ausserhofer

           Zwei Worte fassen für mich die Zeit der       analyse und das Schreiben zu vertiefen,     und 2020 wie zwei Jahre an, in denen
           Pandemie ganz gut zusammen: Hoff-             hat COVID-19 unsere Forschung doch          der Klimawandel mehr denn je außer
           nung und Verzweiflung. Hoffnung, weil         massiv beeinflusst. Als ökologisches In-    Kontrolle geriet – mit den immer größer
           sich die Arbeitsweise des IGB in Zeiten       stitut sind wir stark auf Feldarbeit und    werdenden Bränden in Kalifornien, Aus-
           des Coronavirus als sehr widerstands-         Experimente angewiesen, auch auf groß       tralien und dem Amazonas, den Hitze-
           fähig erwiesen hat – wir haben unsere         angelegte Versuche mit internationa-        wellen und anhaltenden Dürren, einem
           Arbeit flexibel reorganisiert, Protokolle     len Gastwissenschaftler*innen. Und ge-      Temperaturrekord nach dem anderen. Es
           für den Umgang mit der Pandemie ent-          rade neue Doktorierende und Post­           war verheerend zu sehen, wie das Pan-
           wickelt, Kolleginnen und Kollegen unter-      doktorand*innen, die empirische Daten       tanal, das größte Feuchtgebiet der Welt
           stützt, die von zu Hause aus arbeiten, und    sammeln mussten, haben sehr gelitten.       und eines der artenreichsten Systeme
           alle wesentlichen Funktionen aufrechter-      Das werden wir in den nächsten Jahren       weltweit, brannte. Süßwassersysteme
           halten. Ich hoffe, das spiegelt die Profes-   spüren. Und sicher mussten viele Kolle-     gehören zu den am stärksten bedrohten

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Ein Jahr Gewässerforschung - Jahresforschungsbericht 2020 - IGB Berlin
Vo r w o r t d e s D i r e k t o r s

Lebensräumen der Erde. Daten belegen           unter Druck? Was kann man tun, um            und uns hilft, unser Forschungswissen in
einen rasanten Rückgang der Artenviel-         sie zu erhalten und nachhaltig zu be-        die Praxis zu übertragen.
falt im Süßwasser in den letzten Jahr-         wirtschaften? Nur ein Beispiel: Europas
zehnten. Kein schönes Bild! Diese Krisen       Flüsse sind durch nicht weniger als eine     Apropos Praxis: Es war eine Freude, mit
dürften schädlicher als COVID-19 sein,         Million Barrieren fragmentiert, was, wie     so vielen engagierten Partnern und Sta-
wirken sich aber weniger akut auf uns          man sich vorstellen kann, enorme Aus-        keholdern zusammenzuarbeiten, die un-
Menschen aus und machen die Welt               wirkungen auf ihre Struktur und Funk-        sere Forschungs-, Lehr- und Transferakti-
dennoch allmählich zu einem viel weni-         tion hat und viele Arten in Gefahr bringt.   vitäten unterstützt und inspiriert haben
ger angenehmen Ort zum Leben. Dieser           Unsere Erkenntnisse sind wichtig, um         und die das von uns gewonnene Wissen
schleichende Prozess dürfte es erschwe-        den Zielkonflikt zwischen Binnenschiff-      nutzen. Was mich zu einer weiteren Aner-
ren, die zahlreichen gesellschaftlichen        fahrt, Energieerzeugung und Nahrungs-        kennung führt: Nur dank der finanziellen
Reformen durchzusetzen, die notwendig          mittelproduktion einerseits und dem          und praktischen Unterstützung der Ber-
sind, um zum Beispiel unsere Energiever-       Schutz der Umwelt und der Erhaltung          liner Senatskanzlei für Wissenschaft und
sorgung neu zu organisieren, und den           von Natur und Biodiversität andererseits     Forschung und des Bundesministeriums
Druck massiv zu reduzieren, den wir auf        in Einklang zu bringen.                      für Bildung und Forschung (BMBF) kann
die natürlichen Systeme ausüben.                                                            das IGB überhaupt arbeiten. Nach einem
                                               Auf p Seite 19 widmen wir uns den            Jahr, meist vor dem Computerbildschirm,
Aber es gibt Hoffnung. Erstens dürfte          Treibern und Folgen der aquatischen          bin ich noch recht neu im deutschen und
die Pandemie zu einem gesteigerten             Biodiversität. Forschende am IGB ent-        Berliner Forschungssystem. Allerdings
Bewusstsein dafür geführt haben, dass          schlüsseln die Geheimnisse und Anpas-        habe ich bereits die große Unterstützung
die globalisierte Welt ein fragiler Ort ist,   sungsstrategien ganz unterschiedlicher       des Wissenschaftlichen Beirats des Insti-
und sie hat gezeigt, dass es tatsächlich       Süßwasserorganismen – von Riesen-            tuts erfahren, mit dem wir schon einige
möglich ist, Veränderungen umzusetzen,         bakterien wie Achromatium oxaliferum         sehr inspirierende Diskussionen geführt
die man vorher für unmöglich gehalten          bis hin zur aquatischen Megafauna wie        haben. Ich habe auch den starken Mehr-
hätte. Zweitens gibt es zumindest die          Störe. Was fördert oder bedroht ihre Viel-   wert der Verbünde und Netzwerke erlebt,
Absicht, unsere Wirtschaft bei ihrem           falt? Unsere Arbeit trägt dazu bei, eine     in die wir eingebettet sind, vor allem die
Neustart in Richtung Nachhaltigkeit            wissenschaftliche Grundlage für die          professionelle gemeinsame Verwaltung
zu lenken. Es bleibt zu hoffen, dass dies      stärkere Berücksichtigung der Süßwas-        des Forschungsverbundes Berlin und die
mehr als nur ein kleiner Anstoß ist, ein       ser-Biodiversität in nationalen und inter-   Leibniz-Gemeinschaft.
echter Vorstoß für ein Gleichgewicht mit       nationalen Regelwerken zu entwickeln.
unseren globalen natürlichen Ressour-                                                       Wir am IGB sind stolz auf das, was wir
cen und den Ökosystemen der Welt. Da-          Der globale Wandel und dessen Auswir-        tun. Gerade in diesem Jahr kann nicht
bei wird es sehr wichtig sein, sich nicht      kungen auf Ökosysteme und Lebensge-          oft genug betont werden, dass alle am
allein auf technische Lösungen zu ver-         meinschaften ist ein weiterer wichtiger      IGB einen hervorragenden Job gemacht
lassen, sondern auch die regulierenden         Forschungsschwerpunkt am IGB. Wo             haben. Sie haben sich um ihre Kollegin-
Ökosystemleistungen zu verbessern und          bleibt das Wasser bei einer Dürre? Haben     nen und Kollegen gekümmert, sie bei
damit die Resilienz zu fördern. Süßge-         wir die CO2-Emissionen aus trockenen         Laune gehalten, mich in meinem ersten
wässer spielen bei diesen regulierenden        Binnengewässern unterschätzt? Können         Jahr unterstützt, andere neue Mitglieder
Ökosystemleistungen eine Schlüsselrol-         Pilzparasiten helfen, Cyanobakterien         bestmöglich willkommen geheißen und
le. Das IGB ist gerne bereit, diesen Wan-      in zunehmend wärmeren Seen einzu-            „einfach“ ihren Job gemacht, obwohl wir
del mit seiner Expertise zu unterstützen.      dämmen? Und wie kann Phosphor in             alle die täglichen sozialen Interaktionen
Auf den folgenden Seiten skizzieren wir        Gewässern zurückgehalten werden, um          – vom Plaudern bis zum Brainstorming –
einige unserer Ergebnisse, die die zent-       Eutrophierung zu vermeiden? Unsere           vermissen, die diesen Job so viel lohnen-
ralen Themen unserer Mission auf den           neuesten Erkenntnisse zu Themen wie          der machen.
Punkt bringen. Sie zeigen einige der           diesen stellen wir ab p Seite 27 vor.
wichtigsten wissenschaftlichen Erkennt-                                                     In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine
nisse, die wir darüber gewonnen haben,         Forschung am IGB beruht auf dem Ver-         angenehme und inspirierende Lektüre
wie natürliche Systeme funktionieren           ständnis, dass die Ergebnisse wissen-        dieses jährlichen Forschungsberichts,
und wie sie auf Stressoren und Manage-         schaftlicher Projekte grundsätzlich allen    entweder als gedrucktes Exemplar oder
mentmaßnahmen reagieren. Die Beiträ-           Interessierten zur Verfügung stehen          als elektronische Version.
ge verdeutlichen auch, wie wichtig diese       sollen. Dieser jährliche Forschungsbe-
Erkenntnisse und Aktivitäten sind, um          richt ist ein Versuch – neben vielen ande-   Ihr
die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.         ren –, dies zu erreichen. Wir freuen uns,
                                               wenn er eine gewisse Resonanz in der
Ab p Seite 9 konzentrieren wir uns auf         wissenschaftlichen Gemeinschaft und
die Ökosystemleistungen unserer Flüs-          bei anderen gesellschaftlichen Akteuren
se, Auen und gewässerbasierten Res-            erzeugt. Und wir freuen uns noch mehr,       Luc De Meester
sourcen. Welche Phänomene setzen sie           wenn er zu neuen Partnerschaften führt       Direktor

Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei                                                                                          5
Ein Jahr Gewässerforschung - Jahresforschungsbericht 2020 - IGB Berlin
Nachrichten

       Außeruniversitäre                                                          IUCN EICAT-
       Forschung in und für Berlin                                                Standard eingeführt
                                                                                               Invasive gebietsfremde
                                                                                               Arten gelten weltweit
                                     Im Februar 2020 schlossen
                                                                                  als eine der Hauptursachen für den
                                     sich fast alle außeruniver­                  Verlust der biologischen Vielfalt.
                                   sitären Institute und Zentren                  Will man Managementmaßnahmen
                                     im Berliner Raum zur Initiati-               zum Schutz der einheimischen Bio-
                                      ve BR50 (Berlin Research 50)                diversität ergreifen, muss man diese
                                      zusammen. Sie soll vor Ort                  Auswirkungen zunächst besser ver-
                                                                                  stehen. Sind zum Beispiel die Res-
                                      die Zusammenarbeit mit
                                                                                  sourcen knapp, ist es sinnvoll, dem
                                      den Universitäten und den                   Management jener gebietsfremder
                                      Austausch mit Gesellschaft                  Arten Priorität einzuräumen, die die
                                    und Politik fördern und dar-                  schädlichsten Auswirkungen haben.
                                  über hinaus eine Dialogplatt-
                                form für die beteiligten Instituti-               Aus diesem Grund hat die Weltna-
                                                                                  turschutzunion (IUCN) die Environ-
                             onen bereitstellen. Das Interesse an
                                                                                  mental Impact Classification for
                    dieser Vernetzung ist groß – insbesondere                     Alien Taxa (EICAT) entwickelt. EICAT
       um bei übergeordneten Themen gemeinsam auftreten                           ist ein einfaches und objektives In-
       zu können. Von dieser Kooperation sollen aber nicht nur                    strument, das gebietsfremde Arten
       die Forschungseinrichtungen selbst profitieren, sondern                    nach Schwere und Art ihrer bekann-
       auch die Politik, die Hochschulen und die Öffentlichkeit.                  ten Umweltauswirkungen klassifi-
                                                                                  ziert. Für die Entwicklung und Um-
       BR50 ist Ansprechpartner, Multiplikator und Katalysator

                                                                                                                             Fotos: Berlin © Werner März/Pixabay; ZALF © suze/photocase; IUCN © IUCN YouTube Channel/Animation Riccardo Scalera;
                                                                                  setzung des neuen Standards ist die
       für aktuelle wissenschaftliche und auch gesellschaftli-

                                                                                                                             Grundstein © Glass Kramer Loebbert BDA Gesellschaft von architekten; Invasionsbiologie © Webseite hi-knowledge.org
                                                                                  EICAT-Authority verantwortlich. Sie
       che Fragen. Als Mitgliedsinstitution mit von der Partie:                   besteht derzeit aus zehn interna-
       das IGB.                                                                   tionalen Expert*innen für biologi-
                                                                                  sche Invasionen, darunter die IGB-
       Mehr erfahren p www.br50.org                                               Wissenschaftler Thomas Evans und
                                                                                  ­Jonathan Jeschke.
       Prof. Dr. Luc De Meester, luc.demeester@igb-berlin.de
                                                                                  In einem Video stellt die IUCN den
                                                                                  neuen EICAT-Standard vor
                                                                                  p https://youtu.be/7GAax3xakJs

                                                                                  Dr. Thomas Evans, evans@igb-berlin.de

                                                                                  Prof. Dr. Jonathan Jeschke,
       querFELDein                                                                jeschke@igb-berlin.de

                     Die Online-Wissensthek querFELDein der Leibniz-Gemein-
                     schaft bündelt Fakten, News und Ideen rund um die Land-
       wirtschaft der Zukunft. Wie sehen nachhaltige Anbausysteme aus? Was
       leistet die Digitalisierung auf dem Acker, was der Ökolandbau? Wie wird
       die Aquakultur der Zukunft aussehen? Welche Auswirkungen hat die
       Lichtverschmutzung auf die Landwirtschaft? Sie ahnen es: Das IGB ist
       ebenfalls mit Themen vertreten. Initiiert wurde das Projekt vom Leibniz-
       Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF).

       Wissen finden p https://quer-feld-ein.blog/

6                                                                                            Jahresforschungsbericht 2020
Ein Jahr Gewässerforschung - Jahresforschungsbericht 2020 - IGB Berlin
Nachrichten

Grundstein für
gemeinsames
Gebäude von IGB
und FU

Im Dezember 2020 wur-
de der Grundstein für das
Gemeinsame Wissenschafts-
gebäude Biodiversität auf
dem Forschungscampus
Berlin-Dahlem gelegt. Das
Kooperationsprojekt von IGB
und Freier Universität Berlin
soll Forschung und Lehre zum
Zukunftsthema Biodiversität
vernetzen und stärken. Bislang
sind es vor allem die gemeinsa-

                                            Navigationshilfe
                                            für den Hypothesendschungel
                                                  Wie und warum werden manche gebietsfremde Arten invasiv,
                                                  andere jedoch nicht? Zu dieser und anderen Fragen hat das
                                            Fachgebiet der Invasionsbiologie viele Hypothesen und Konzepte
                                            parat – einige davon überlappen sich, manche sind sogar wider­
                                            sprüchlich. Ein internationales Team unter der Leitung von IGB und
men Professuren, über die der               der Freien Universität Berlin bietet Orientierungshilfe.
spontane Fachaustausch vor
Ort stattfindet. Das neue, fünf-            Die Forschenden definierten 39 Invasionshypothesen und grup-
eckige Gebäude soll diesem                  pierten sie in Cluster, die jeweils eine bestimmte Perspektive auf
Austausch im Wortsinne mehr                 biologische Invasionen einnehmen. So vereint zum Beispiel der
Raum geben und über 100                     Trait cluster Hypothesen, die einen Schwerpunkt auf die biologi-
Biodiversitätsforscher*innen                schen Eigenschaften invasiver Arten legen, wohingegen der Propa­
und Studierende zusammen-                   gule cluster Hypothesen enthält, die sich auf den Faktor Mensch be-
bringen. Wenn es 2023 fertig                ziehen, insbesondere wie häufig und in welcher Anzahl Individuen
ist, wird es nicht nur der Um-              oder Populationen gebietsfremder Arten durch Menschen einge-
weltforschung dienen, sondern               führt werden. Daraus entstand eine interaktive Übersichtskarte für
auch strengen Umweltstan-                   die Invasionsbiologie, die seit Juni 2020 online frei zur Verfügung
dards folgen. Derweil geht                  steht. Nutzer*innen können in die wichtigsten Konzepte und Hy-
die Biodiversitätsforschung                 pothesen hineinzoomen sowie Studien und Meta-Daten auffinden.
an den bisherigen Standorten                Im September 2021 startet das Team ein neues Projekt, aus dem das
weiter. Wir freuen uns auf die              Wissensportal enKORE (EvolviNg Knowledge REsource) entstehen
gemeinsame, interdisziplinäre               soll. EnKORE wird modernste Visualisierungstechniken, künstliche
Zukunft.                                    Intelligenz und neuartige Methoden zur Wissenssynthese anwen-
                                            den. Navigationshilfen für verwandte Disziplinen wie die Stadt-
Prof. Dr. Luc De Meester,                   ökologie, die Renaturierungsökologie oder andere Teilbereiche der
luc.demeester@igb-berlin.de                 Biodiversitätsforschung sind ebenfalls denkbar.

                                            Hi Knowledge 2.0 finden Sie online unter
                                            p www.hi-knowledge.org

                                            Prof. Dr. Jonathan Jeschke, jeschke@igb-berlin.de

                                            Enders, M., et al. (2020). A conceptual map of invasion biology: integrating
                                            hypotheses into a consensus network. Global Ecology and Biogeography,
                                            29(6), 978-991. https://doi.org/10.1111/geb.13082

Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei                                                                           7
Ein Jahr Gewässerforschung - Jahresforschungsbericht 2020 - IGB Berlin
Nachrichten

        Citizen Science Projekt
        ausgezeichnet

                     Das Projekt „Artenschutz durch
                     umweltverträgliche Beleuchtung“
        (AuBe) wurde im Oktober 2020 als offizielles
        Projekt der UN-Dekade Biologische Vielfalt aus-
        gezeichnet.

        „Lieber ein atemberaubender Sternenhimmel
        als artenberaubende Straßenleuchten“, das ist
        das Credo des AuBe-Teams, zu dem Forschen-
        de und Bürgerwissenschaftler*innen gleicher-
        maßen zählen. In den Kommunen Neuglob-
        sow und Gülpe (beide BB), Krakow am See
        (MV) und Fulda (HS) untersuchen sie, welche
        Insektenarten durch Straßenbeleuchtung be-
        einträchtigt werden und wie umweltgerechte        Praxisleitfaden zum Streuabbau
                                                          in Gewässern
        Beleuchtungslösungen aussehen könnten.
        Gemeinsam werden Fallen aufgestellt und
        geleert, Insekten bestimmt und die Nacht-
        himmelshelligkeit gemessen. In Interviews                      Nichts als welke Blätter? Der Abbau von Pflanzenstreu
        wird erhoben, wie die Anwohnerschaft und                       ist nach der Produktion von Biomasse durch Pflanzen
        Besuchende das Straßenbeleuchtungsdesign          der bedeutendste Ökosystemprozess der Biosphäre. Mark Gess-
        empfinden. Die Forschenden gehen davon            ner und Kolleg*innen aus Kanada und Portugal haben eine neue
        aus, dass weniger Licht dem Wohlbefinden          Auflage ihres umfassenden Methodenbuchs zum Streuabbau in
        aller dient – dem der Insekten und dem der        Gewässern herausgegeben. Der Praxisleitfaden Methods to Study
        Menschen.                                         Litter Decomposition richtet sich an Studierende ebenso wie an
                                                          Forscherinnen und Forscher, die ihren methodischen Werkzeugkas-
        Mehr Informationen unter                          ten erweitern wollen. Einen besonderen Schwerpunkt legt die stark
        p www.tatort-strassenbeleuchtung.de               erweiterte und überarbeitete 2. Ausgabe auf die Fließgewässer. In
        Twitter p @AubeNews                               63 Kapiteln auf 600 Seiten widmen sich die Autor*innen dem Um-
        Facebook p @AubeProjekt                           satz der Pflanzenstreu in Ökosystemen, chemischen und physika-
        Instagram p @aubenews                             lischen Streueigenschaften, der Bestimmung, Quantifizierung und
                                                          Aktivität von Mikroorganismen (Pilze und Bakterien) und streukon-
        Dr. Sibylle Schroer,                              sumierender wirbelloser Tiere sowie der Datenanalyse.
        schroer@igb-berlin.de
                                                          Prof. Dr. Mark Gessner, gessner@igb-berlin.de
        PD Dr. Franz Hölker,
        hoelker@igb-berlin.de                             Bärlocher, F., et al. (Eds.). (2020). Methods to study litter decomposition. A
                                                          practical guide (2nd ed.). Springer International Publishing.
        Projekt: AuBe – Artenschutz durch umwelt-
        verträgliche Beleuchtung, Laufzeit: 06/2019-
                                                                                                                                           Fotos: AuBe © David Ausserhofer; Streuabbau © Solvin Zankl

        05/2025, Gefördert durch: BfN und BMU

Im Rahmen der Auftaktveranstaltung des Projekts
nahm das Team die Auszeichnung in                            GEWÄSSER-NEWS
Neuglobsow entgegen.
                                                                      Sie interessieren sich für Gewässerforschung und möchten
                                                                      ­wissen, welche neuen Aktivitäten es am IGB gibt? Dann
                                                             ­abonnieren Sie unseren Newsletter,
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                                                              Informationen rund ums IGB und
                                                              unsere Themen ins Postfach liefert.

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Zerschnittene
                                       Flüsse
                                     p Seite 10
                                                            Risiko
                                                          Wasserkraft
                                                            p Seite 14

                                                                                  Empfehlungen
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                                       Ausbau                                     Angelfischerei
                                     an der Oder
                                                                                    p Seite 16
                                       p Seite 16                                                         Nachhaltige
                                                                                                        Therapien für die
                                                                                                          Aquakultur
                                                                                                            p Seite 17

                                                                                          Neues über
                                                                                             Licht-
                                                                                        verschmutzung
                                                                                           p Seite 18

                               Ökosystemleistungen
                               Gewässer schützen und nachhaltig nutzen

                               Mehr als eine Millionen Barrieren zerschneiden Europas Flüsse. Das hat
                               enorme Auswirkungen auf die natürlichen Lebensräume, aber auch
                               auf die Funktionen der Gewässer. Und es ist nur ein Beispiel ­dafür, wie
                                ­intensiv wasserbasierte Ressourcen und Ökosysteme vom Menschen
                                 ­genutzt und beeinflusst werden. Forschende am IGB ­wollen g­enau
                               ­wissen, welche Ökosystemleistungen Seen, Flüsse und ihre Auen
                                  ­­erbringen, wie sie auf verschiedene Nutzungsarten reagieren und
                                  wir wir sie besser schützen können. Unsere Erkenntnisse sollen dazu
                                  ­beitragen, natürliche Ressourcen nachhaltiger zu bewirtschaften  – in
                                   Fischerei und Aquakultur, bei der Binnenschifffahrt oder Energiegewin-
                                   nung sowie bei Freizeit­aktivitäten.
Foto: Frank Masese

                     Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei                                             9
Fo r s c h u n g | Im Zeichen des Klimawandels

             Verstopfte Lebensadern:
             zu viele Barrieren in Europas Flüssen

Im Fluss Lim
(Bosnien und
Herzegowina)
verhindert ein
Seil mit Kanistern,
dass Müll in die
Turbinen eines
flussabwärts
gelegenen
Wasserkraftwerks
gelangt.

                    Das EU-Forschungsvorhaben AMBER deckte               zahlreiche kleine selbstgebaute Barrieren, etwa einen
                    2020 auf, wie zerstückelt unsere Flüsse sind:        Meter hoch, die einst errichtet wurden, um im Fluss
             1,2 Millionen Querbauwerke zerschneiden Europas             besser fischen oder schwimmen zu können. Niemand
             Fließgewässer, davon etwa 225.000 in Deutsch-               wusste, dass diese Barrieren existieren.
             land. Helena Huđek und Martin Pusch überprüf-
             ten in 15 Ländern vor Ort, inwieweit behördliche            Welche Auswirkungen haben Barrieren auf die Fließge-
             Angaben mit der tatsächlichen Zahl an Barrieren             wässer?
             übereinstimmen. Die Doktorandin und der sie be-
             treuende Gewässerforscher berichten über den                Helena Huđek: Sie zerschneiden den Fluss, das heißt, Fi-
             Zustand der Flüsse, und wie man sie wieder zum              sche können die Barrieren nicht überwinden. Wandern-
             Fließen bringt.                                             de Fischarten müssen zum Ablaichen stromaufwärts
                                                                         schwimmen, gelangen aber nicht mehr dorthin…
             Frau Huđek, Herr Pusch, Sie haben für AMBER Querbau-        Martin Pusch: … und die vorhandenen Fischtreppen
             werke in Flussläufen in Deutschland und 14 weiteren         funktionieren meist nicht. Sie führen oft zu wenig

                                                                                                                                      Fotos: Müllbarriere © Helena Huđek; Porträt Pusch © David Ausserhofer; Porträt Huđek © privat
             europäischen Ländern gezählt. Warum?                        Wasser, sind außerdem oft zu steil, und die Fische
                                                                         können ihren Eingang nur schlecht finden. Dämme und
             Martin Pusch: Das Projekt hatte sich zum Ziel gesetzt,      Wehre haben außerdem zur Folge, dass der Sediment-
             einen europäischen Atlas bestehender Querbauwerke           transport unterbrochen wird. Dadurch bilden sich keine
             in Flüssen zu erstellen. Aus den EU-Mitgliedsländern        frischen Kiesbänke im Flussbett, die für eine erfolgreiche
             wurde hierzu eine offizielle Zahl von insgesamt 630.000     Fortpflanzung etwa von Forellen notwendig sind, und
             Barrieren gemeldet. Weil die Statistiken der Behörden       außerdem für die natürliche Selbstreinigungsfunktion
             erfahrungsgemäß unvollständig sind, haben wir in 15         der Flüsse.
             Ländern durch Fahrten entlang der Flüsse erfasst, wie
             hoch die tatsächliche Zahl der Bauwerke ist. Daraus         Warum wurden in Europas Flüssen so viele Barrieren
             wurde dann eine realistischere, aber immer noch kon-        gebaut?
             servative Zahl errechnet: 1,2 Millionen Barrieren in Eu-
             ropas Flüssen, davon in Deutschland 225.000 Barrieren,      Martin Pusch: Die ältesten Querbauwerke stammen
             von denen 179.000 den Behörden bekannt waren.               aus dem Mittelalter und dienten dazu, Mühlen zu
             Helena Huđek: Ich habe die Barrieren in insgesamt 25        betreiben, die ab dem 20. Jahrhundert oft in kleine
             Flüssen in Deutschland, Tschechien und Ungarn sowie                 Wasserkraftwerke umgebaut wurden. Viele
             sechs Balkan-Ländern jeweils auf einer Länge von 20                       andere Barrieren wurden gebaut, um die
             Kilometern dokumentiert. Wir haben alle Barrieren                            Auswirkungen von Flussbegradigungen
             erfasst, das heißt ihren Typ, ihre Nutzung, und ob in den                      zu kompensieren, die oft im Zuge
             Flüssen noch ausreichend Wasser fließt.                                         landwirtschaftlicher Bodenverbes-
                                                                                             serungsmaßnahmen durchgeführt
             Was haben Sie bei Ihren Erkundungen vorgefunden?                                wurden. Die Begradigung eines
                                                                                             Baches oder Flusses führt ja wegen
             Helena Huđek: Wir haben viel mehr Barrieren entdeckt                          des erhöhten Gefälles unweigerlich zur
             als erwartet. Insbesondere in Tschechien fanden wir                        Tiefenerosion, das heißt, das Sediment

10                                                                                                 Jahresforschungsbericht 2020
Ökosystemleistungen | Fo r s c h u n g

wird vom fließenden Wasser mitgeführt. Dadurch wird          aufkaufen, das Gewässer verbreitern und in Kurven
das Fließgewässer tiefer, und Ufer und Brückenfunda-         legen. Das bedeutendste Beispiel in Deutschland für
mente werden instabil. Um das zu vermeiden, verlegte         eine solche Renaturierung ist die Lippe in Nordrhein-
man viele Sohlschwellen, brachte also weitere Barrieren      Westfalen, wo man mittlerweile auf langen Strecken
in den Fluss.                                                wieder einen schönen Fischbestand und eine sehr
                                                             interessante dynamische Flussaue vorfindet.
Welche aktuellen Entwicklungen sind
besonders problematisch?                                     Die Ergebnisse dieser Fluss-Bestandsaufnahme flossen
                                                             direkt in die EU-Biodiversitätsstrategie 2030 ein: Bis
Helena Huđek: Auf dem Balkan gab es 2015                     dahin sollen europaweit 25.000 Kilometer Flussläufe
noch 590 Wehre für kleine Wasserkraft-                       von Querbauwerken befreit werden. Ist das realis-
werke, inzwischen sind es über 1.300, die                    tisch?
Zahl hat sich also binnen fünf Jahren mehr als
verdoppelt. In den kommenden Jahren will man                 Martin Pusch: Das Ziel ist ambitioniert, weil viele
weitere 3.000 Wasserkraftwerke bauen. Die geplanten          Flüsse dazu ja auch renaturiert werden müssen, aber
Wasserkraftwerke sind mit einer Kapazität bis zu zehn        unserer Einschätzung nach machbar! Wir haben für
Megawatt meist klein, sie erzeugen also wenig Strom.         Europa bereits 27 Flüsse mit einer Gesamtlänge von
Dennoch haben sie schlimme Auswirkungen, weil sie            5.500 Kilometern identifiziert, wo sich Querbauwer-
oft das gesamte Bachwasser über lange Kanäle zu den          ke mit eher geringem Aufwand abreißen lassen.
Turbinen leiten, so dass weite Fließstrecken komplett
trocken fallen, mit verheerenden Auswirkungen für            Über welche Kosten sprechen wir dabei?
das Leben darin. Der Bau kleiner Kraftwerke wird leider
durch staatliche Subventionen gefördert, übrigens auch       Martin Pusch: Die Renaturierung der genannten 27
in Deutschland.                                              Flüsse wird etwa 315 Mio. € kosten, was umgerech-
                                                             net auf die Einwohnerzahl der EU einen Betrag von
Frau Huđek, wie würden Sie insgesamt das Bild beschrei-      70 Cent pro Bürger*in ergibt. Zum Vergleich: Die
ben, das Sie vorgefunden haben?                              Landwirtschaft wird durch jede/n EU-Bürger*in mit
                                                             etwa 100€ pro Jahr finanziell unterstützt. Dennoch
Helena Huđek: Im Vergleich zu den Flüssen in Mitteleu-       erscheinen die Kosten für Flussrenaturierungen
ropa gibt es auf dem Balkan noch mehr naturbelassene         zunächst einmal hoch. In einem neuen EU-Projekt-
Flüsse, aber diese werden dort derzeit durch eine „Wel-      antrag machen wir deswegen Vorschläge, wie man
le“ von Wasserkraftwerken sehr schnell zerstört. Wir         die Akzeptanz von Renaturierungsmaßnahmen bei
haben gesehen, wie Flusswälder abgeholzt, natürliche         der Bevölkerung erhöhen kann. Die Idee: den Leuten
Flussbetten begradigt, neue Barrieren gebaut, Flüsse         zu vermitteln, welche Vorteile sie davon haben, wenn
kanalisiert wurden, wie Wasser verschmutzt und Müll in       „ihr“ Fluss für viel Geld renaturiert wird. Diese so
Flüssen abgelagert wurde, und standen vor ausgetrock-        genannten Ökosystemleistungen sind beispielsweise
neten Flussbetten. Diese Probleme verbreiten sich in         der Rückhalt von Hochwasserwellen, die Stabilisie-
der Balkanregion wie eine Krankheit, unberührte Flüsse       rung des Grundwasserstands in Trockenperioden,
verschwinden dort vor unseren Augen.                         bessere Selbstreinigung und ein größerer Erholungs-
                                                             wert beim Spazierengehen, Angeln oder Baden.
Sie und Ihre Kolleg*innen schlagen vor, möglichst viele      Ein Positivbeispiel: ein renaturierter Abschnitt des
vor allem kleinere Querbauwerke rückzubauen. Wo              Flusses Ruhr in Arnsberg (NRW) hat sich zu einem
lassen sich Barrieren am effektivsten entfernen?             beliebten Fotohintergrund für frisch vermählte Paare
                                                             entwickelt!
Martin Pusch: Viele Querbauwerke werden tatsächlich
nicht mehr genutzt, so dass man diese systematisch           Das Gespräch führte Wiebke Peters.
zurückbauen könnte. Auch viele der etwa 72.000
Verrohrungen hierzulande könnte man relativ einfach          PD Dr. Martin Pusch, pusch@igb-berlin.de
durch größere Unterführungsprofile ersetzen oder die         Helena Huđek, hudek@igb-berlin.de
Bäche wieder ans Tageslicht holen. Solche Verrohrun-
gen finden sich überall, wo Straßen über Bäche geführt
werden oder die Bäche bei anderen Nutzungen störten.
Sie schrecken durch ihre glatte Oberfläche Fische, aber      Belletti, B., et al. (2020). More than one million barriers
auch andere Tiere wie den Fischotter ab. Wenn größere        fragment Europe’s rivers. Nature, 588, 436–441.
Querbauwerke abgerissen werden, ist es allerdings oft        https://doi.org/10.1038/s41586-020-3005-2
auch notwendig, frühere Flussbegradigungen wieder
rückgängig zu machen. Somit steht dann eine komplet-         Projekt: Adaptive Management of Barriers in Euro-
te Renaturierung an, damit der Bach oder Fluss wieder        pean Rivers (AMBER), Laufzeit: 06/2016-09/2020,
länger und flacher wird. Dafür muss man Ufergelände          Gefördert durch: EU Horizon 2020

Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei                                                                  11
Fo r s c h u n g | Ökosystemleistungen

                                         Weltweit werden Wildtiere durch Viehzucht verdrängt, so zum Beispiel
                                         Flusspferde durch Rinderherden in Kenia. | Foto: Frank Masese/
                                         Clara Romero González-Quijano
Alles Mist?
              In Savannen gelangen über den Dung großer Weidegänger – wie zum
              Beispiel Flusspferde – terrestrische Nährstoffe und organischer Kohlen-
stoff in Gewässer. Werden Flusspferde von großen Rinderherden verdrängt, verändert
sich die Art und Menge dieses eingetragenen Dungs. Wie ein Team vom IGB und der
Universitäten Innsbruck (Österreich) und Eldoret (Kenia) herausfand, hat das Konse-
quenzen für die Ökosystemfunktionen in Flüssen. Zwar bringt ein einzelnes Rind we-
niger Dung ins Gewässer als ein Flusspferd, viele Rinder erhöhen jedoch den Einfluss
dieser Tiergruppe. Experimente am Mara-Fluss in Kenia zeigten außerdem: Mit dem
Rinderdung gelangen mehr Nährstoffe ins Gewässer, was zu mehr Algenwachstum
führt. Der Eintrag von Flusspferden dient eher dem Wachstum von Bakterien und för-
dert Algen nur indirekt und zeitverzögert.

Prof. Dr. Gabriel A. Singer, gabriel.singer@igb-berlin.de
Clara Romero González-Quijano, romero@igb-berlin.de

Masese, F. O., et al. (2020). Hippopotamus are distinct from domestic livestock in
their resource subsidies to and effects on aquatic ecosystems. Proceedings of the
Royal Society of London: Ser. B, Biological Sciences, 287(1926), Article 20193000.
https://doi.org/10.1098/rspb.2019.3000
Fo r s c h u n g | Ökosystemleistungen

          Erneuerbare Energien und Barrieren
          gefährden Fischvielfalt
                 Wasserkraftanlagen, Staudämme und Wehre zerstückeln aquatische Lebensräume. Wie sich das auf die dort le-
                 benden und wandernden Fische auswirkt, haben IGB-Forschende in mehreren Vorhaben untersucht. Die zent-
          ralen Ergebnisse: Insbesondere kleine Wasserkraftanlagen sind ökologisch problematisch und wären oft unrentabel,
          würden sie mit dem notwendigen Fischschutz ausgerüstet. Wehre und Staudämme tragen dazu bei, dass einheimi-
          sche Fischarten zurückgehen und invasive Fischarten sich leichter ausbreiten, wie eine Untersuchung im Ebro in Spa-
          nien zeigt. Forschende unter Leitung des IGB entwickelten ein Verfahren für die Bewertung der Fischsterblichkeit an
          Wasserkraftanlagen und den Europäischen Fischgefährdungsindex (European Fish Hazard Index, EFHI). Beides hilft,
          die Risiken von Wasserkraftwerken einzuordnen.

          Wasserkraft ist zwar eine erneuerbare Energiequelle, aber nicht    Das Tötungsrisiko an Wasserkraftanlagen kann gemäß der Studie
          unbedingt umweltfreundlich: Wasserkraftanlagen haben starke        nur dann verringert werden, wenn ein effektiver Fischschutz ins-
          Auswirkungen auf die Fluss-Ökosysteme, in denen sie errichtet      talliert ist. Dazu gehören beispielsweise mechanische Barrieren
          werden. Insbesondere der Turbinenbetrieb ist eine Gefahr für       (z.B. Rechen) und Fischaufstiegs- und -abstiegshilfen, deren Funk-
          viele Fischarten. In Planungs- und Genehmigungsverfahren birgt     tionalität zudem geprüft und laufend sichergestellt werden muss.
          diese Sterblichkeit Konfliktpotenzial, denn bislang gab es keine   Das lohnt oft nicht bei kleinen Wasserkraftanlagen mit einer ins-
          standardisierten objektiven Verfahren, um Mortalitätsrisiken zu    tallierten Leistung von weniger als einem Megawatt, von denen es
          bewerten.                                                          in Deutschland rund 7.000 gibt. Mit etwa 14 Prozent des Gesamt-
                                                                             stroms aus Wasserkraft, der etwa drei Prozent der gesamten Strom-
          Gefahr Turbine: Neuer Index bewertet Sterberisiko für Fische       produktion ausmacht, ist ihr Beitrag zur Energiewende gering. Die
                                                                             von den Anlagen verursachten Schäden in Gewässerökosystemen
          Das Team von Christian Wolter hat im Auftrag des Bundesamts        und an den Fischbeständen sind aber vergleichsweise hoch.
          für Naturschutz einen Bewertungsindex zum Sterberisiko von
          Fischen durch Wasserkraftanlagen entwickelt. Im ersten Schritt     Im Rahmen eines internationalen, EU-geförderten Vorhabens
          definierten die Forschenden das allgemeine Sterberisiko für        (FIThydro, Koordination TU München) wurde, ebenfalls unter Fe-
          alle im Süßwasser vorkommenden, einheimischen Fisch- und           derführung des Teams von Christian Wolter, ein Index entwickelt,
          Neunaugenarten, im zweiten Schritt bewertete das Team, wie         der dabei hilft, die Umweltauswirkungen einzelner Wasserkraftan-
          groß das Tötungsrisiko verschiedener Fischarten je nach Art der    lagen objektiv zu prüfen. Eine solche Bewertungshilfe ist dringend
          Wasserkraftanlage ist. Bei der Turbinenpassage nimmt etwa die      nötig: Bald muss ein beträchtlicher Teil aller Wasserkraftwerke
          Wahrscheinlichkeit einer tödlichen Verletzung abwandernder         weltweit umgerüstet oder modernisiert werden, denn etwa 65
          Fischarten mit der Körpergröße zu. Mortalitätsraten sind aber      Prozent der Kleinwasserkraftwerke in Westeuropa und 50 Prozent
          auch abhängig vom Turbinentyp oder der Fallhöhe.                   in Osteuropa sind über 40 Jahre alt.

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Ökosystemleistungen | Fo r s c h u n g

                                                                                                                                                           sächlich können sich gebietsfremde Fische durch die veränderten
                                                                                                                                                           Strömungs- und Lebensraumbedingungen, die sich durch das Auf-
                                                                                                                                                           stauen von Flüssen ergeben, sogar leichter ansiedeln. Fischgemein-
                                                                                                                                                           schaften in stark fragmentierten und vom Klimawandel betroffe-
                                                                                                                                                           nen Flüssen sind besonders vom Artenverlust bedroht.

                                                                                                                                                           Dr. Christian Wolter, wolter@igb-berlin.de
                                                                                                                                                           Dr. Johannes Radinger, jradinger@igb-berlin.de
                                                                                                                                                           Ruben van Treeck, van.treeck@igb-berlin.de

                                                                                                                                                           Van Treeck, R., et al. (2021). The European Fish Hazard Index – An
                                                                                                                                                           assessment tool for screening hazard of hydropower plants for
                                                                                                                                                           fish. Sustainable Energy Technologies and Assessments, 43, Article
                                                                                                                                                           100903. https://doi.org/10.1016/j.seta.2020.100903

                                                                                                                                                           Van Treeck, R., et al. (2020). Fish species sensitivity classification for
                                                                                                                                                           environmental impact assessment, conservation and restoration
                                                                                                                                                           planning. Science of the Total Environment, 708, Article 135173.
                                                                                                                                                           https://doi.org/10.1016/j.scitotenv.2019.135173
                                                                                         Das BFN-Skript zum Bewertungsindex lesen Sie unter
                                                                                         p www.bfn.de/fileadmin/BfN/service/Dokumente/skripten/            Radinger, J., et al. (2020). The role of connectivity in the interplay
                                                                                         Skript561.pdf                                                     between climate change and the spread of alien fish in a large
                                                                                                                                                           Mediterranean river. Global Change Biology, 26(11), 6383-6398.
                                                                                         Der Europäische Fischgefährdungsindex (European Fish Hazard       https://doi.org/10.1111/gcb.15320
                                                                                         Index, EFHI) lässt sich für verschiedenste Anlagentypen anwen-
                                                                                         den und macht es möglich, das Sterberisiko von 168 in europä-     Projekt: FIThydro – Fischfreundliche innovative Technologien
                                                                                         ischen Gewässern beheimateten Fischarten zu beurteilen. Der       für Wasserkraft, Laufzeit: 11/2016-03/2021, Gefördert duch: EU
                                                                                         EFHI unterstützt die Planung von Schutzmaßnahmen, indem er        Horizon 2020
                                                                                         deren Auswirkungen in einem Gefährdungsscore abbildet. Da-
                                                                                         bei berücksichtigt der Index vor Ort relevante Gewässer- oder
                                                                                         Fischschutzziele und geltende europäische Regelwerke. Die For-      Fallbeispiel:
                                                                                         schenden hoffen, dass eine weitverbreitete Anwendung des EFHI       Fische im Anden-Amazonas
                                                                                         potenziell gravierende negative Auswirkungen der Wasserkraft
                                                                                         systematisch aufdeckt und somit die Bemühungen, Europas                    Klimawandel und physische Barrieren wie
                                                                                         Flüsse zu schützen, effektiv unterstützen kann.                            Dämme bedrohen auch Fische des in den An-
Fotos: Staudamm Santa Ana (l.) © Manuel Portero; Damm Chile © FranciscoKemeny/Unsplash

                                                                                                                                                             den liegenden Teils des Amazonasgebietes. Das zeigt
                                                                                         Ohne Ausweg: Dämme verschärfen die Folgen des Klima-                eine Studie, bei der IGB-Forschende Artverbreitungs-
                                                                                         wandels                                                             modelle mit funktionalen Merkmalen von Fischen des
                                                                                                                                                             Anden-Amazonas kombinierten und dies mit Stau-
                                                                                         Ein weiteres Vorhaben unter IGB-Beteiligung beschäftigt sich        dammstandorten und Klimaprojektionen koppelten.
                                                                                         mit der Frage, welche Folgen Barrieren in Form von Staudäm-         Das Team konnte zeigen, dass der Klimawandel für
                                                                                         men und Wehren für Fische haben: Die daraus resultierende           die meisten Fischarten des Anden-Amazonas zu einer
                                                                                         Fragmentierung führt dazu, dass einheimische Fische entlang         Verkleinerung des Verbreitungsgebiets führen wird.
                                                                                         eines Flusses oft keine neuen Lebensräume besiedeln können,         Dass Staudämme zukünftige Arealverschiebungen für
                                                                                         auch wenn die Auswirkungen des Klimawandels wie Verände-            die meisten Arten stark einschränken werden, sagte
                                                                                         rungen der Wassertemperatur und -qualität sie dazu treiben.         das Modell jedoch nicht aus. Einige dieser Barrieren
                                                                                         Wie sich Lebensräume von einheimischen und gebietsfremden           dürften jedoch für viele Arten die Ausbreitung fluss-
                                                                                         Fischarten unter verschiedenen Klimaszenarien verändern und         aufwärts verhindern. Langfristig führt die Fragmen-
                                                                                         welche Rolle Staudämme dabei spielen, haben IGB-Forschende          tierung der Flüsse zusammen mit dem Klimawandel
                                                                                         gemeinsam mit einem Team der Universität Girona am Beispiel         zu einer beträchtlichen Abnahme der Wahrscheinlich-
                                                                                         des Flusses Ebro im Nordosten Spaniens untersucht. Dort sind        keit, dass Arten dauerhaft überleben.
                                                                                         die Fische besonders von den Auswirkungen des Klimawandels
                                                                                         und der Invasion gebietsfremder Fischarten betroffen. Zudem ist     Dr. Johannes Radinger, jradinger@igb-berlin.de
                                                                                         der Ebro durch 300 große Staudämme und viele kleine Querbau-
                                                                                         werke unterbrochen.                                                 Herrera-R, G. A., et al. (2020). The combined effects of climate
                                                                                                                                                             change and river fragmentation on the distribution of Ande-
                                                                                         Johannes Radinger, Hauptautor der Studie, und das Projektteam       an Amazon fishes. Global Change Biology, 26(10), 5509-5523.
                                                                                         fanden heraus, dass Staudämme oft nicht die Ausbreitung inva-       https://doi.org/10.1111/gcb.15285
                                                                                         siver Arten wie Moskitofisch, Wels und Karpfen verhindern. Tat-

                                                                                         Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei                                                                                     15
Fo r s c h u n g | Ökosystemleistungen

                                                                        Schont die Alten! Entnahmefenster
                                                                        schützen Fischbestände
                                                                               Maßnahmen gegen Überfischung schonen
                                                                               mit dem „Mindestmaß“ bislang die jungen
                                                                        Fische. Ein Forscherteam um Robert Arlinghaus
                                Ausbaupläne an der Oder –               empfiehlt jedoch, neben dem Nachwuchs auch die
               Gefahren für Natur und nachhaltige Nutzung               besonders großen, älteren Exemplare am Leben zu
                                                                        lassen. Diese Art der Bewirtschaftung erzielt gute
                                            IGB Policy Brief
                                                                        Kompromisse zwischen den Ansprüchen von Be-
                                                                        rufs- und Angelfischerei und der natürlichen Ver-
                                                                        mehrungsfähigkeit der Fischbestände.

                                                                        Mit Fischereibiologen der Universitäten in Florida und
                                                                        Vancouver untersuchte Robert Arlinghaus die opti-
                                                                        malen Fangbestimmungen für eine große Bandbreite
                                                                        an Fischarten. Sie verglichen die Wirkung klassischer
                                                                        Mindestmaße mit einer selteneren Bewirtschaftungs-
                                                                        methode: dem Entnahmefenster, bei dem nur mittel-
                                                                        große Fische entnommen werden. Die Forschenden
                                                                        fanden heraus: Das Entnahmefenster stabilisiert
                                                                        die Bestandsdynamik ohne relevante Einbußen bei
                                                                        den Erträgen und steigert die Durchschnittsgröße
                                                                        im Fang. Entnahmefenster sind vor allem dann dem

          IGB Policy Brief:
                                                                        klassischen Mindestmaß überlegen, wenn intensiv
                                                                        genutzte Bestände von Berufs- und Angelfischerei ge-
                                                                        meinsam befischt werden.

          Ausbaupläne                                                   Große Laichfische sollten in einer Population nicht

          an der Oder
                                                                        fehlen, denn ein einzelnes besonders großes Weib-
                                                                        chen kann die Eizahl vieler kleiner Fische kompensie-
                                                                        ren. Außerdem vermehren sich verschieden große und
                                                                        alte Fische zu unterschiedlichen Zeiten und häufig
                Die Oder ist einer der letzten großen, relativ natur-   auch an unterschiedlichen Orten.
                nahen Flüsse Europas. Noch, denn die Regierung          Wenn Umweltereignisse die
          der Republik Polen plant den Ausbau des Flusses – und         Brut vernichten, kann eine
          auch Deutschland hat sich in einem beidseitigen Abkom-        altersgemischte Popu-
          men dazu verpflichtet.                                        lation trotzdem eine
                                                                        Nachkommenschaft
          In einem Policy Brief machen die IGB-Experten Christi-        sicherstellen und so
          an Wolter und Jörn Geßner darauf aufmerksam, dass die         zu stabileren Popu-
          Maßnahmen wertvolle Lebensräume vieler seltener und           lationen beitragen.
          vom Aussterben bedrohter Tier- und Pflanzenarten un-          Zudem haben Alt und
          wiederbringlich zerstören werden. Die Planungen versto-       Jung unterschiedliche
          ßen nach Meinung der Forscher in mehrfacher Hinsicht          Standplätze, Zugrouten
          gegen geltendes EU-Recht und gefährden neben der Um-          und Speisepläne, und jun-
          welt auch die Landwirtschaft beidseitig der Oder.             ge Fische lernen von den erfah-
          Die vorgebrachten Argumente für den Ausbau seien in-          renen Leittieren.
                                                                                                                                 Fotos: Oder © Harald Schulz; Hecht © Philipp Czapla

          haltlich nicht belastbar. Die Forscher plädieren daher        
          dafür, Auen-Retentionsflächen an der Oder zu erhalten         Prof. Dr. Robert Arlinghaus, arlinghaus@igb-berlin.de
          und auszuweiten. Und sie empfehlen dringend, politische
          Schritte gegen das Ausbauvorhaben und für den Erhalt          Projekt: BODDENHECHT, Laufzeit 01/2019-06/2023,
          der Oder als ökologisches Vorranggebiet einzuleiten.          Gefördert durch: EU und Land Mecklenburg-Vor-
                                                                        pommern

                                                                        Ahrens, R. N. M., et al. (2020). Saving large fish
                                                                        through harvest slots outperforms the classical
                                                                        minimum-length limit when the aim is to achieve
                                                                        multiple harvest and catch-related fisheries objecti-
          Den IGB Policy Brief können Sie kostenfrei herunterladen      ves. Fish and Fisheries, 21(3), 483-510.
          p https://bit.ly/IGBPolicyBrief_Oder-Ausbau                   https://doi.org/10.1111/faf.12442

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Ökosystemleistungen | Fo r s c h u n g

                                                                                                                 Aquakultur: Fischkrankheiten umweltfreundlich behandeln
                                                                                                                         Sie ist gefürchtet: die Samtkrankheit. Die Infektion                                      Warmwasserfische wie hier der Siamesische
                                                                                                                                                                                                                    Kampffisch (Betta splendens) sind häufiger
                                                                                                                         wird durch Dinoflagellaten der Gattungen                                               bedroht, denn die Reproduktion der Krankheits­
                                                                                                                 Amyloodinium und Piscinoodinium verursacht                                                         erreger verläuft bei höheren Temperaturen
                                                                                                                                                                                                                                                     schneller.
                                                                                                                 und befällt Zier- und Speisefische im Süß- und
                                                                                                                 Meerwasser. In Aquarien und Aquakultur
                                                                                                                 sorgt sie immer wieder für erhebliche Ster-
                                                                                                                 beraten und daher finanzielle Verluste. Tho-                                                        essigsäure. Sie haben sich als wirksam
                                                                                                                 ra Lieke hat im Rahmen ihrer Doktorarbeit                                                           gegen eine Vielzahl von aquatischen
                                                                                                                 Risiken und Vorteile aktueller Behandlungs-                                                         Krankheitserregern erwiesen, auch bei
                                                                                                                 möglichkeiten und neuer Ansätze kombi-                                                             der Behandlung der Samtkrankheit. Je-
                                                                                                                 niert. Ihr Artikel wurde als „Top Downloaded                                                      doch können sie das Stressniveau der infi-
                                                                                                                 Paper“ ausgezeichnet.                                                                          zierten Fische zusätzlich erhöhen. In zahlrei-
                                                                                                                                                                                                             chen Studien wird daher der Einsatz natürlicher
                                                                                                                 Hüllen sich Fische in Samt, ist das ein Alarmsignal. Dann han-                         Futterzusätze wie Vitamine, Pflanzenextrakte und
                                                                                                                 delt es sich oft um die parasitäre Samtkrankheit. Sie ist hoch infek-   Prä- und Probiotika untersucht. Diese aktivieren das Immunsys-
                                                                                                                 tiös und endet, wenn sie nicht rechtzeitig behandelt wird, tödlich.     tem und steigern das Wohlbefinden der Tiere. Dadurch verringert
                                                                                                                 Traditionell standen Therapeutika zur Verfügung, die Kupfer, Ma-        sich deren Anfälligkeit gegenüber Krankheiten. Auch Huminstoffe
                                                                                                                 lachitgrün oder Methylenblau enthalten. Deren Rückstände ge-            sind als Immunstimulanzien bekannt und Gegenstand weltwei-
                                                                                                                 langen aber in die Umwelt und sind für andere Organismen hoch           ter Forschungen. Als natürlicher Teil aquatischer Ökosysteme kön-
                                                                                                                 toxisch. Mehrere europäische Länder haben diese Chemikalien             nen sie über die Kiemen aufgenommen werden, wie Thora Lieke
                                                                                                                 deshalb für den Einsatz in der Aquakultur verboten; für die kom-        und Kolleg*innen in einer weiteren Studie nachgewiesen haben.
                                                                                                                 merzielle Zierfischhaltung werden ebenfalls Verbote erwartet.           
                                                                                                                                                                                         Thora Lieke, lieke@igb-berlin.de
                                                                                                                 Deshalb wird intensiv nach alternativen Behandlungsmöglich-             Dr. Thomas Meinelt, meinelt@igb-berlin.de
                                                                                                                 keiten gesucht, auch gegen andere Erreger. In der Fachzeitschrift
                                                                                                                 Reviews in Aquaculture geben Thora Lieke und Kolleg*innen einen         Projekt: Entwicklung von Produkten auf Basis von Huminstof-
                                                                                                                 Überblick zu althergebrachten und neuen Mitteln gegen verschie-         fen zur Steigerung der Resistenz gegen Stress und Infektionen
                                                                                                                 dene parasitäre Erkrankungen. Sie raten, sich bei der umwelt-           in der Aquakultur, Laufzeit: 08/2017-01/2020, Gefördert durch:
Fotos: Siamesischer Kampffisch © Bernard Ladenthin, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons; Cover Policy Brief © IGB

                                                                                                                 freundlichen Behandlung von Fischkrankheiten auf zwei Aspekte           AiF Projekt GmbH, BMWi
                                                                                                                 zu konzentrieren: Parasiten mit rückstandsfreien oder natürlich
                                                                                                                 vorkommenden Substanzen zu behandeln sowie das Immunsys-                Lieke, T., et al. (2020). Sustainable aquaculture requires environ-
                                                                                                                 tem der Fische zu stärken. Zu den rückstandsfreien, sogenannten         mental-friendly treatment strategies for fish diseases. Reviews
                                                                                                                 „alternativen“ Therapeutika gehören Wasserstoffperoxid und Per­         in Aquaculture, 12(2), 943-965. https://doi.org/10.1111/raq.12365

                                                                                                                                                              Lieke, T., et al. (2021). Phenol-rich fulvic acid as a water additi-
                                                                                                                   IGB Policy Brief:
                                                                                                                                                              ve enhances growth, reduces stress, and                 stimulates
                                                                                                                   Hat die Nachhaltige Aquakultur in Deutschland   eine Zukunft?
                                                                                                                                                              the immune      system of fish in aquaculture.

                                                                                                                          Die Aquakultur gilt als der am schnellsten wachsen-            mit nachhaltigen Verfahren deutlich zu
                                                                                                                          de Zweig der Lebensmittelproduktion weltweit – in              erhöhen. Im einem IGB Policy Brief zeigen
                                                                                                                   Deutschland fristet sie ein Nischendasein. Unter 3 Prozent            die Autoren das Potenzial landbasierter
                                                                                                                   des Fischkonsums werden zurzeit durch heimische Aqua-                 (teil-) geschlossener Kreislaufanlagen
                                                                                                                   kultur abgedeckt. Dabei könnte das Potenzial für eine                 (KLA) auf und regen eine gesellschaft-
                                                                                                                   stärkere Eigenversorgung und für den Export von Fisch                 liche Diskussion an. Ohne eine höhere
                                                                                                                   mit nachhaltigen Verfahren entwickelt werden, statt den               Zahlungsbereitschaft von Handel und
                                                                                                                   Nutzungsdruck auf aquatische Ökosysteme und mögliche                  Konsument*innen wird sich diese
                                                                                                                   Umweltfolgen ins Ausland zu verlagern.                                Form der Aquakultur voraussichtlich
                                                                                                                                                                                         nicht flächendeckend in Deutschland
                                                                                                                   Verbraucher*innen kennen Fisch oftmals nur als verarbeite-            durchsetzen können, denn nachhal-
                                                                                                                   tes und verzehrfertiges Produkt im Warenregal, das in den             tiger Fisch hat seinen Preis.
                                                                                                                   meisten Fällen importiert wurde. Häufig findet die Aquakul-
                                                                                                                   tur-Produktion im Ausland unter geringeren Sozial- oder Um-           Der IGB Policy Brief steht kostenlos als
                                                                                                                   weltstandards statt. Das ließe sich ändern, sagen die IGB-For-        Download zur Verfügung
                                                                                                                   scher Fabian Schäfer und Werner Kloas. Deutschland verfüge            p https://bit.ly/IGBPolicyBriefNachhaltigeAquakultur
                                                                                                                   bezüglich Wasser, Fläche, Technik, Know-how und Kaufkraft             
                                                                                                                   prinzipiell über genügend Ressourcen, um die eigene Produk-           Dr. Fabian Schäfer, schaefer@igb-berlin.de
                                                                                                                   tion von Speisefischarten für den Binnen- und Exportmarkt             Prof. Dr. Werner Kloas, werner.kloas@igb-berlin.de

                                                                                                                 Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei                                                                                       17
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