Pop-Up-Sommer - Mitgehangen, mitgefangen: Bern im kolonialen Netz - Irme ige ide Ittume* - Bären, Kraniche und kauzige Stadtoriginale - Quo ...
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AZB CH-3012 Bern bärner studizytig #20 Mai 2020 — Pop-Up-Sommer — Mitgehangen, mitgefangen: Bern im kolonialen Netz — Irme ige ide Ittume* — Bären, Kraniche und kauzige Stadtoriginale — Quo vadis Berna? — Bern – 23 places to see before you die (or finish your study time in Bern) — Bern: Ctrl+C, Ctrl+V — Safari durch Bern — Im Gespräch mit Alec von Graffenried — SUB-Seiten: Auf den Spuren studentischer Einsamkeit
Editorial ds portmonee – Pop-Up-Sommer dr kolumbus 4 9 #20 – Mitgehangen, mitgefangen: Bern im kolonialen Netz kennet dir di gschicht 13 – Irme ige ide Ittume* mir het dr dings verzellt 16 Liebe Freund*innen des – Bären, Kraniche und unkonventionellen Grillguts kauzige Stadtoriginale nei säget sölle mir 18 «Än Umwäg isch geng e Reis wärt, i mir schöne Heimatstadt», sangen einst Wurzel 5. Dies nahmen wir uns zu Herzen, und beschlossen prompt die 20. Ausgabe der bsz – Quo vadis Berna? (ja es ist tatsächlich soweit: Wir sind zumindest auf Papier dem Teenie- Flegelalter entwachsen) Bern zu widmen, schliesslich verdanken wir ihr alles. Ohne die Stadt Bern dene wos guet geit 22 gäbe es keine Universität Bern und ohne Universität Bern auch keine bärner studizytig – ist doch logo! Unsere zweite Jubiläumsausgabe bringt euch deshalb für einmal nicht Orte, – Bern – 23 places to see Themen und Phänomene aus aller Welt näher, sondern das Vertraute. Wer jetzt meint, before you die (or finish sie oder er wisse schon alles über Bern, sei gewarnt: Bern ist wie ein Familienmitglied, your study time in Bern) das du schon dein Leben lang kennst, das dich aber an jeder Familienzusammenkunft überrascht. So fördern die Recherchen der bärner studizytig über die Verwicklung Berns i han en uhr erfunde 28 in den kolonialen Handel eine dunkle Vergangenheit zutage, über die niemand am Tisch sprechen möchte. Als ob das nicht reicht, zeigt sich, dass Bern auf der ganzen Welt verteilt – Bern: Ctrl+C, Ctrl+V Kinder hat, von denen du nichts wusstest. Sie heissen beispielsweise New Bern oder Berne di strass won i dran wone 31 und wurden von Berner*innen auf der Flucht vor Schulden oder religiöser Verfolgung gegründet. Spätestens wenn Bern im Korridor leise auf Itteme-Inglische ins Telefon – Safari durch Bern flüstert, verstehst du die Welt nicht mehr. Du warst dir doch sicher, dass du deine Familie kennst! Also nimmt die dich bärner studizytig zur Seite und erklärt dir, dass Bern eben är isch vom amt ufbote gsi 34 wildere Seiten hat als Hauskatzen und Hunde in Tragtaschengrösse. Während du nämlich schläfst, feiert Pelz Party in der Bundesstadt, wie das tierische Instagram «StadtWildTiere» – im Gespräch mit Alec beweist. Die unbekannten Seiten Berns haben dafür auch ihren Reiz: 23 Porträts von tollen von Graffenried Orten helfen dir, deine Beziehung zu Bern neu zu erfinden und zur alten Vertrautheit mit missverständnis38 ihr zurückzufinden. Wie es in allen Familien üblich ist, kommt es jedoch auch in Bern zu Konflikten, was die Nutzung dieser Orte angeht. Unser Artikel «Pop-Up-Sommer» setzt sich us emene lääre gygechaschte 39 deshalb mit der Kommerzialisierung des öffentlichen Raums auseinander. Als hellsehen- des Medium beschäftigt sich die bärner studizytig nicht nur mit Vergangenheit und SUB-Seiten40 Gegenwart Berns, sondern fragt sich: Quo vadis Berna? Oder um es weniger bildungs bürgerlich und in den Worten Endo Anacondas auszudrücken: Wohärä geisch? Für – «Es hätte sich ein Dokto- den roten Faden der Familiengeschichte und den familiären Zusammenhalt sorgen ein rat ergeben können.» Zeitstrahl mit kuriosen und wissenswerten Fakten zu Bern sowie ein Interview mit dem – Das Campus Festival meldet höchsten Stadtberner. Letzterer stammt aus einer einflussreichen Patrizierfamilie und sich aus dem Homeoffice steht für die Beständigkeit aristokratischer Herrschaft – in etwa so, wie dieses Heft für – Chancengerechtkeit die Beständigkeit der bärner studizytig steht. nicht vergessen – Auf den Spuren studen- Darum: merci, proscht und tschou zämä! tischer Einsamkeit – Eine alte Dame im Porträt Eure studizytig-Redaktion Titelbild: Hansueli Trachsel, «Der Bund»
ds portmonee ds portmonee Pop-Up-Sommer Rechtsgrundsätze beachten, zum Beispiel die Rechtsgleichheit», sagt Lerch. «Wenn sie das tut, sehe ich kein Problem im feh- lenden Einspracheverfahren». Nicht immer werden die Nut- zungsentscheidungen zu aller Zufrieden- heit getroffen. So wurde im Dalmazimät- Der öffentliche Raum wird zum Wohnzimmer teli auf Sommer 2020 ein neues Pop-Up- und damit zur Projektionsfläche für Projekt bewilligt, das verschiedene gas- tronomische Angebote beinhalten soll. verschiedenste Visionen. Ein Rundumblick Der Park an der Aare wird jedoch schon durch die Pop-Up-Kultur in Bern. von verschiedenen anderen Gruppen rege genutzt. Slacklining und Akrobatik gehö- ren genauso zum alltäglich sommerlichen Bild wie Schlauchboote, die in der Sonne trocknen, und Freund*innen, die sich Wenn in den ersten warmen Frühlings- zum Picknick einfinden. Die verschiede- tagen die Stadt wieder aus ihrem Winter- nen Anspruchsgruppen haben sich nun schlaf erwacht und die Leute in die Gärten, zum Verein «Pro Dalmazi» zusammenge- die Pärke und an die Aare strömen, ist es tan, um ihre Interessen besser vertreten nicht mehr weit, bis auch die ersten Som- zu können und das Gespräch mit der Stadt merbars und Openairkinos wieder aus zu suchen. Ihrer Meinung nach wird der dem Boden schiessen. Der von allen gelieb- Park schon nicht-kommerziell beträcht- te Berner Sommer entfaltet sich und mit lich genutzt und ein Gastroangebot wür- ihm alle Möglichkeiten, die uns der öffent- de die bisherigen Aktivitäten stark ein- liche Raum bietet. Ein Bier trinken, mit der schränken. Sie stellen die Frage: Braucht Familie picknicken, im Park jonglieren, wirklich jeder noch so kleine Park und einem Konzert beiwohnen oder sprayen jede Wiese ihre Bar? Quartierleist die Stadt in einem Brief um müssen. Der kulturelle Begegnungsort gehen – ganz nach der jeweiligen Laune. die wiederholte Bewilligung für die Bar auf der Einsteinterrasse bei der Grossen Pop-Up-Kultur ist dabei als neues Trend- Nicht immer die Antwort bat. Soweit die Betreiber*innen wissen, Schanze kombinierte in den letzten drei wort in aller Munde. Darunter werden Bars Nein, finden auch die tangieren sie keine nicht-kommerziellen Sommersaisons ein gastronomisches und Cafés, aber auch kulturelle Veranstal- Betreiber*innen der Trybhouz Bar, ein Interessen. Sie sind sich jedoch bewusst, Street Food Angebot mit frei zugängli- tungsorte gezählt, die temporär einen öf- Pop-Up, das jeweils für drei Sommermona- dass das andere unterschiedlich sehen, chen, kulturellen Veranstaltungen wie te das Altenbergpärkli an der Aare nutzen und versuchen in diesem Sinne den Platz Openairkino-Vorstellungen und Konzer- darf. «Für uns ist klar, dass die Antwort auf möglichst für alle attraktiv und zugäng- ten. Dabei waren sie angewiesen auf die Wem gehört eigent- das Bedürfnis nach Belebung nicht in je- lich zu halten. gastronomischen Einnahmen, wollten gleichzeitig aber auch, dass es möglich ist, lich der öffentliche sich mit dem eigenen Bier zum Film dazu zu setzen. Die Einnahmen finanzierten Raum? Eine kommerzielle und eine nicht- schlussendlich den nicht-kommerziellen Teil ihres Angebots – Konsum also, der kommerzielle Nutzung müssen einen Nicht-Konsum erst ermöglichte. Trotz allem stellt sich auch hier die Frage, fentlichen Raum bespielen können und Ein knappes Gut kommerzielle Pop-Ups ist dabei weder eine sich nicht unbedingt ausschliessen. für wen «Peter Flamingo» nun wirklich ist: ihn damit gleichzeitig aufwerten sollen. Das sind Fragen, denen sich die Publikation der Projekte noch ein Einspra- Die Einsteinterasse war zuvor bekannt für Auch temporäre Möblierungen werden als Stadt Bern stellen muss. Ihre Aufgabe ist cheverfahren vorgesehen. Beschwerden ge- Kleinkriminalität und randständige Grup- Pop-Ups bezeichnet. Was auf den ersten dabei keine einfache: Sie entscheidet über gen schon bewilligte Projekte sind deshalb dem Fall eine Pop-Up Bar sein darf», meint Symbiotisch? pen, die sich dort aufhielten. Gastronomi- Blick äusserst verlockend klingt, wirft auf das Sein oder Nichtsein von Pop-Ups qua- auch eher ein politischer als ein rechtlicher Julian von der Trybhouz Bar, «allerdings Die Kritiker*innen von Pop- sche Pop-Ups sind in diesem Sinne auch den zweiten aber wichtige und kritisch zu si im Alleingang. «Der öffentliche Boden Prozess, können aber in Extremfällen so- haben wir das Gefühl, dass man von Fall Ups befürchten eine durch Konsumzwang eine Möglichkeit zu steuern, wer sich wo beantwortende Fragen auf: Wem gehört ist ein knappes Gut und die Stadt insoweit gar zur Beendigung der Zwischennutzung zu Fall und von Ort zu Ort unterscheiden herbeigeführte Kommerzialisierung des im öffentlichen Raum aufhalten soll. eigentlich der öffentliche Raum? Und was frei in ihrer Entscheidung über die vorü- führen – so geschehen im Fall der Schüt- sollte». Die unter Freunden entstandene öffentlichen Raums. Dass es auch anders wird unter «Belebung» verstanden? Wel- bergehende Nutzung desselben», so Regie- zenmatte. Je nach Standort müssten die Idee für ein gemütliches Gastronomie- geht, zeigen Projekte wie «Peter Flamin- Viel, viel freiwilliges chen Stellenwert sollen dabei kommerzi- rungsstatthalter Christoph Lerch, der in verschiedenen Anspruchsgruppen und Be- angebot am Surferhotspot Altenbergsteg go» von der Berner Pop-Up-Firma Mosaik Engagement elle, welchen nicht-kommerzielle Projekte diesem Amt die Einzelgenehmigungen für dürfnisse der Bevölkerung abgewogen und wurde auch vom Quartier und der Anwoh- Events. Sie beweisen, dass sich eine kom- Die grössten Herausforde- einnehmen? Und wie kann Zugänglichkeit gastgewerbliche Anträge erteilt, nachdem ein optimaler Mix geschaffen werden. «Die nerschaft höchst willkommen geheissen merzielle und eine nicht-kommerzielle rungen, vor denen nicht-kommerzielle für alle garantiert werden? sie von der Stadt geprüft worden sind.Für Stadt muss hierbei stets die allgemeinen und die Resonanz war so positiv, dass der Nutzung nicht unbedingt ausschliessen Projekte stehen, sind finanzieller Natur. 4 5
ds portmonee ds portmonee Etwas schaffen, zu dem sich alle «Nicht-kommerzielle Räume werden in Herkunft und verschiedenen Alters zu- setzen können. Das ist auch der Wunsch der Stadt Bern und in der Schweiz allge- sammenfinden können. Als Ort, der per der Organisator*innen des «Kino im Ko- zugehörig fühlen können, mein immer seltener, da die Opportuni- Definition allen gehört. Das war einer der cher». «Wir wollen tolle Gastgeber*innen tätskosten von den Projektinitiant*innen Gründe, weshalb die Heitere Fahne ihre im öffentlichen Raum sein und die Leute ohne etwas zu «müssen». oftmals als zu hoch eingeschätzt werden», Rollschuh- und Rollstuhldisco in den öf- auf der Wiese im Kocherpark zwanglos zu- meint denn auch Mario vom Verein Warm- fentlichen Raum Berns getragen hat. Sie sammenbringen», erklärt Deana Gariup, bächlibrache. Finanzierung von Infra- will damit Menschen vernetzen, Bewe- struktur, Kosten durch Wasser, Strom und gung und Spiel verbinden, gemeinsames Logistik können nur durch einen grossen Lernen und Lehren ermöglichen und Teil an freiwilligem Engagement wieder schliesslich gerade jungen Leuten eine Al- Ein Ort, der wettgemacht werden. Das trifft sowohl ternative zum Vorplatz der Reitschule oder auf umfassende Zwischennutzungen wie ähnlichen Orten bieten. per Definition die Warmbächlibrache zu als auch auf Das war auch einer der Gründe, sporadische Events wie zum Beispiel die der am Anfang des Vereins Warmbächli- allen gehört. Rollschuh- und Rollstuhldisco, die von der brache stand. Dieser ist aus dem Wunsch Heiteren Fahne vier- bis fünfmal im Jahr entstanden, einen freien und spontanen an verschiedenen Orten in Bern durchge- Begegnungsort mit kreativem Potenzial zu führt wird, darunter bisher zweimal am schaffen anstelle eines regulierten Veran- Mitgründerin des jährlich im August statt- Europaplatz. Projekte wie das Kino im Ko- staltungsortes mit festen Öffnungszeiten findenden Openairkinos. Ganz nach dem cher wiederum sind vor allem auf Sponso- und einem Sicherheitsdienst, der rund Motto: «Jede und jeder ganz wie er und sie ren angewiesen, um ihr Openairkino kos- um die Brache patrouilliert. Diese Vision will.» Die Besucher*innen können sowohl tenlos anbieten zu können. wurde in den letzten Jahren umgesetzt und eigene kreative Picknicks mitbringen als auch vom kulinarischen Angebot vor Ort profitieren. Ihr Ziel sei es, etwas zu schaf- fen, dem sich alle zugehörig fühlen könn- ten, ohne ein Gefühl des Müssens. KORA «Begegnung» scheint das Wort der Stunde zu sein. Auch die Stadt Bern pongspiele und alltägliche Kaffeepausen. ropaplatz verlegt hat: «Wir sagen aber auch Hier muss ein Pop-up ein Betriebskonzept möchte lokale Initiativen zur nicht-kom- Zugänglichkeit ist dabei ein klares Leit- ‹Schönä bim Föhnä›, was dafür steht, dass aufweisen, das die Interessen der Anwoh- merziellen Gestaltung des öffentlichen prinzip, gibt Luder zu verstehen. «Exklu- das Leben dann und wann Lärm macht nerschaft berücksichtigt». Raumes fördern. Dazu wurde das Kompe- sive, ausschliessende Projekte wären auf und unkommerzielle Kultur Toleranz von tenzzentrum öffentlicher Raum (KORA) dem öffentlichen Boden nicht gestattet», allen Seiten braucht, um eben diese Kul- Ein Neben- und Miteinander gegründet. «Das Ziel ist es», so Claudia Lu- erklärt sie. Aber auch bei solchen nicht- tur überleben zu lassen». Essentiell ist da- So befindet sich Nutzung öf- der, Geschäftsführerin von KORA, «tempo- kommerziellen Projekten findet mit einer fentlichen Raums immer in jenem Span- räre Projekte im öffentlichen Raum rasch bewussten Möblierung immer auch ein nungsfeld zwischen Belebung und Ver- realisierbar zu machen und Initiant*innen Steuerungsprozess statt, welche Gruppen drängung, zwischen Kommerzialisierung, den Weg über schwerfällige Bewilligungs- prozesse zu ersparen.» Dazu sind im KORA sich an welchen Orten aufhalten. Beson- Ziel war es, Zugänglichkeit und Berücksichtigung der ders im Hinblick auf soziale Randgruppen verschiedenen Interessensgruppen. Nicht verschiedene Ämter vertreten, die diese Projekte zusammen koordinieren und die kann es deshalb geschehen, dass eine Be- einen Ort, der jeder Platz und jedes Pärkchen muss kom- lebung des öffentlichen Raumes zu einem merziell genutzt werden. Eine kommerziel- Initiant*innen unterstützen. In erster Li- nie schafft KORA mithilfe von temporären politischen Instrument wird, um «Schön- vermeintlich le Nutzung kann aber auch durch das Quar- heitsfehler» desselben zu korrigieren. tier erwünscht sein und auf sehr positive Infrastrukturangeboten neue Räume für nicht-kommerzielle Interaktionen. brachliegt, für Resonanz stossen. Und schliesslich müs- Schönä bim Föhnä sen sich kommerzielle und nicht-kommer- Eines der bekanntesten Bei- spiele ist der Sockel auf dem Waisenhaus- Neben der Zugänglichkeit alle nutzbar zu zielle Nutzungen auch nicht ausschliessen. müssen sowohl kommerzielle als auch Im Gegenteil, sie können sich ergänzen Schaffen von Begegnungsorten Trotz finanzieller und büro- der Platz von verschiedensten Zirkussen, Theaterkollektiven, Barbetrieben, aber platz, der während der Sommermonate je- weils als Bühne, Spielort und Begegnungs- nicht-kommerzielle Projekte insbeson- machen. und gegenseitig befruchten, sodass Pop-Up dere die Bedürfnisse der Anwohnerschaft mehr als nur eine invasive Ausbreitung von kratischer Hürden werden immer wieder auch von Kindern, Jugendlichen und Fa- zone diente und auch spezifisch Menschen berücksichtigen. Projekte können für die- trendigen Konsummöglichkeiten, sondern nicht-kommerzielle Projekte in Angriff milien bespielt und mitgestaltet. Ziel sei es eine Plattform bieten sollte, die kein eige- se eine Bereicherung sein, bedürfen aber eine Entfaltung verschiedener Gestaltungs- genommen. Sie benötigen dafür den öf- gewesen, so der Verein, einen Ort, der ver- nes Projekt in der Innenstadt realisieren auch einer gewissen Toleranz von ihrer für ein klarer und direkter Austausch, der möglichkeiten sein kann. Ideen sind in fentlichen Raum, nicht nur aus einer meintlich brachliege, für alle nutzbar zu könnten. Gastronomische Projekte wurden Seite. Wie es die Heitere Fahne treffend eine schnelle Lösung von Problemen er- der Hauptstadt auf jeden Fall zur Genüge finanziellen Perspektive, sondern auch machen. Alle sollen ihre eigenen Ideen und bewusst nicht genehmigt. Stattdessen wur- zusammenfasst, nachdem sie die Disco laubt. Das sieht auch Statthalter Lerch so: vorhanden. text: janine schneider, jana als Ort, an dem Menschen verschiedener Gestaltungswünsche mitbringen und um- de Raum geschaffen für Tanzkurse, Ping- zur Schonung ihrer Nachbarn an den Eu- «Das Hauptproblem ist oft die Lärmfrage. schmid; illustrationen: lisa linder 6 7
ds portmonee dr kolumbus Mitgehangen, mitgefangen: Ursula Wyss Thomas Niffenegger + Barbara Steiner Kirchliche Gassenarbeit Bern Direktorin für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün Geschäftsleitung Restaurant Marzilibrücke «Heute ist der öffentliche Raum unser «er- «Aus Gastronomensicht sind Pop-Ups «Der öffentliche Raum sollte für alle Men- weitertes Wohnzimmer». Die Bevölkerung grundsätzlich keine schlechte Sache. Aber schen nutzbar sein und nicht nur für jene zieht es nach draussen zum Essen, Le- wenn wie jetzt im Dalmazipark ein mehr- Menschen, die Konsumangebote nutzen Bern im sen, Reden, Spielen oder für ein «Mittags- monatiges Pop-Up direkt vor unserem können oder wollen. Gezielt geplante Auf- schläfchen» im Park. Das stellt völlig neue Lokal entstehen soll, das uns die Sicht wertung des öffentlichen Raumes in Form Anforderungen an den öffentlichen Raum. auf die Aare versperrt, dann spüren wir von Pop-Ups verdrängt Menschen, welche Ich habe mich als Direktorin «des öffentli- natürlich einen Konkurrenzdruck. Dass im Stadtbild nicht gerne gesehen sind. chen Raums» dafür eingesetzt, dass durch in einem solchen Fall weder vorgängige Diese konsumorientierten Angebote rich- vielfältige, temporäre Gestaltungen wie Informationen durch die Stadt noch ein ten sich an Menschen, die über genügend kolonialen Netz Pop-up-Massnahmen (Parklets zum Auf- Einspracheverfahren durchgeführt wer- finanzielle Mittel verfügen. Es braucht enthalt, Tischfussball oder Billiardtische) den, ist nicht korrekt. Es kommt bei ei- Möglichkeiten, dass Menschen sich den die Bedürfnisse der Bevölkerung rasch, ein- nem Pop-up extrem auf den Standort an: öffentlichen Raum zum Verweilen aneig- fach und unbürokratisch umgesetzt wer- Ein Fabrikgelände ist nicht vergleichbar nen können. Sämtliche Nutzer*innen soll- den. Wir versuchen über einfache Pilotpro- mit einem Standort, wo bereits Gastrono- ten die Möglichkeit erhalten, bei Konflik- jekte, innovative Lösungen zu testen. Be- miebetriebe existieren. Hier benachteili- ten und Umstrukturierungen partizipieren währt sich eine Massnahme nicht, wird sie gen das einfache Bewilligungsverfahren zu können. Wir brauchen in der Stadt Bern angepasst, temporäre Massnahmen lassen sich einfach zurückbauen. Unterschiedli- und die günstigen Mietkonditionen für die Pop-Ups das umliegende Gastrono- ein Umdenken: Weg von Kommerziali- sierung des öffentlichen Raumes, welche Die Schweiz besass keine eigenen Kolonien che Interessen gibt es dabei immer wieder, miegewerbe. In den letzten Jahren hat das einzig die Aufwertung von Plätzen und und hat somit keine unmittelbare koloniale der öffentliche Raum ist für alle da. Wichtig erscheint mir der Dialog mit den Beteilig- Phänomen von Pop-Up-Bars tatsächlich ein wenig Überhand gewonnen.» Verdrängung von unerwünschten Gästen zum Ziel hat, und hin zu niederschwelli- Vergangenheit. Nichtsdestotrotz war sie in ten auf Augenhöhe und dass die Massnah- gen Angeboten und partizipativer Nutzung, das koloniale System verwickelt. Die studizytig men zusammen mit den Menschen vor Ort geplant und umgesetzt werden.» die nicht zum Ziel hat, ein von aussen hüb- sches Stadtbild zu vermitteln, sondern hat nachgeforscht, wo die Spuren des Kolonia einlädt zum sozialen Austausch und eine lismus in Bern zu finden sind. gerechtere Stadt ermöglicht.» Fällt das Stichwort Kolonialismus, tauchen publik Bern selbst im transatlantischen oder eben das Dreieck – schloss. So handel- vor dem inneren Auge meist Grossbritan- Dreieckshandel. Dreieckshandel deshalb, te beispielsweise Rudolf Emanuel von Hal- Kommentar nien, Frankreich oder Spanien auf, die weil Sklaven aus Afrika in die «Neue Welt» ler mit Kolonialwaren aus holländischen grossen imperialen Mächte mit ihren Ko- verschifft wurden, dort Rohstoffe sam- und französischen Kolonien und besass Wer sind alle? lonien in Übersee, Afrika und Asien. Dass melten, die dann nach Europa gebracht Aktien der Westindien-Kompanie. Dane- Stylische Feierabendbiere auf Europaletten und Paninis unter Lichterketten sind aber auch Schweizer Städte und Akteur*in- und in den aufkommenden Industrien zu ben war er auch am Aufbau der «Nouvelle politischer, als mensch denken würde. Toll für Tourist*innen, Gourmets und nen bei dieser Geschichte der Ausbeutung Kulturliebende, weniger toll für alle, die lieber einfach im Gras sitzen, turnen, mittaten, ist den wenigsten bewusst. yogieren, sich ungestört Dosenbier oder ein Buch zu Gemüte führen, ist es wenn in ihrem Lieblingspark plötzlich Pop-Up-Bars aus dem Boden schiessen. Dass öffent Am Anfang war das Kapital In Bern konnte Geld nicht mehr ge- licher Raum für alle da ist, scheint auf den ersten Blick eine Selbstverständlichkeit, Man schreibt das 18. Jahrhun- ist es auf den zweiten aber nicht. Indem die Stadt ohne öffentlichen Diskurs darüber dert, und in der Republik Bern standen die winnbringend angelegt werden, wes- entscheidet, wo Public Viewing betrieben, wo getanzt und wo Glühwein getrunken vermögenden Familien und das Gemein- werden soll, kann sie relativ direkt Einfluss darauf nehmen, wer sich wo aufhalten wesen vor dem Problem, dass im eigenen halb nach Investitionsmöglichkeiten soll – auch ohne dass an jenen Orten Konsumzwang oder Verbote eingeführt werden. Staat ein sogenannter Kapitalüberhang Es ist gut, kreativen Köpfen eine Möglichkeit zu bieten, sich im öffentlichen Raum entstanden war. Das bedeutete, dass in im Ausland Ausschau gehalten wurde. mit ihren Ideen auszutoben. Dass das Verfahren dazu unkompliziert ausgestaltet ist, Bern Geld nicht mehr gewinnbringend ergibt in vieler Hinsicht Sinn. Dabei darf aber nicht vergessen werden, wie vielseitig angelegt werden konnte, weshalb nach die Interessen an der Nutzung öffentlicher Plätze sind. Es lohnt sich darüber nachzu- Investitionsmöglichkeiten im Ausland Endprodukten verarbeitet wurden, welche Compagnie des Indes» beteiligt, die unter denken, an wem es sein soll, Dosenbier, Yoga, Lichterketten und Ungestörtheit Ausschau gehalten wurde. Diese fanden schliesslich (unter anderem) nach Afrika anderem Sklaven in die französischen Ko- gegeneinander abzuwägen. jas einige Patrizierfamilien und auch die Re- exportiert wurden, womit sich der Kreis – lonien in Indien verschiffen sollte. Oder 8 9
dr kolumbus dr kolumbus Die Völkerschauen auf dem Waisen- Gabriel von May, nach dessen Familie ein gerade während des Bürgerkriegs wurde Weg in Bern benannt ist: Er handelte mit hausplatz oder im Bierhübeli häufig auf die Argumente von Haller zu- Tabak in Brasilien und war in das dortige rückgegriffen, um die Sklaverei in jenen Schweizer Söldnerwesen involviert. Mit erfreuten sich grosser Beliebtheit. Gebieten zu verteidigen. der Zeit baute er sich gar ein Monopol auf, wodurch er ein Vermögen erwirtschaftete. Kolonialismus im Alltäglichen Dieser Erfolg war aber nur möglich durch Koloniales Gedankengut fand die Beteiligung am transatlantischen Skla- Welt der ETH Zürich. «Diese alten Samm- weder auf den Webseiten des Naturhisto- sich aber nicht nur unter den Patrizierfa- venhandel und der Kooperation mit Plan- lungen sind von universitärer Seite bis jetzt rischen oder Historischen Museums Bern milien und den Intellektuellen – auch die tagen, die Sklaven beschäftigten. noch kaum untersucht worden, da gäbe es noch bei Einträgen zu Theophil Studer ganz gewöhnliche Schweizer Bevölkerung für die historische Forschung noch viel zu wird auf diese Verbindungen hingewiesen. war davon geprägt. Gemäss dem Selbst- Staatliche Anlagen in London tun», fügt er an. Die tropische Natur übte verständnis der Europäer*innen nach, Die Republik Bern ihrerseits mit ihrer Diversität eine grosse Faszination Ein ideologisches Fundament dem sich auch die Berner*innen zugetan- legte Teile des Staatsschatzes in ausländi- auf die Naturwissenschaftler*innen des Ein weiterer Berner Intellek fühlten, waren sie den anderen Völkern schen Aktien an, wobei die grösste Investi- 18. und 19. Jahrhunderts aus, weshalb vie- tueller beeinflusste den kolonialen Dis- überlegen. Völkerschauen, an denen Men- tion in London getätigt wurde. Bern wurde le junge Forscher*innen in die Gebiete der kurs beträchtlich: Karl-Ludwig von Haller. schen aus Afrika oder anderen Kolonien Grossaktionärin der «South Sea Company», Kolonien reisten – eine Zusammenarbeit Der autodidaktische Jurist und Mitgestal- vorgeführt wurden, waren keine Seltenheit. deren Auftrag die Versorgung der spani- mit den Kolonialmächten war dafür unaus- ter der bernischen Staatsverfassung war In Bern wurden diese beispielsweise im schen Kolonien mit Sklaven war. In der Ak- weichlich. Eine der grössten Sammlungen ein erbitterter Gegner der französischen Bierhübeli oder auf dem Waisenhausplatz tionärszeit der Republik Bern von 1719 bis stammt vom Berner Naturzeichner Johann Revolution und schrieb in seinen späteren durchgeführt und erfreuten sich grosser 1734 wurden ungefähr 20’000 Sklaven von Wäber oder John Webber, der auf der drit- Jahren ein wichtiges Buch im Bereich des Beliebtheit. der «South Sea Company» ins heutige Mit- ten Expeditionsreise von Captain Cook als tel- und Südamerika verschifft. Allerdings Maler mit an Bord war und die Natur so- gründete die «South Sea Company» auf ei- wie die angetroffenen Ureinwohner*innen ner Spekulation, der «South Sea Bubble», zeichnerisch festhielt. Er überliess einen die 1723 platzte und grossen wirtschaftli- Grossteil seiner Zeichnungen und der mit- chen Schaden anrichtete. Nichtsdestotrotz gebrachten Gegenstände dem Historischen blieb die Republik Bern die mit Abstand Museum in Bern. Ähnlich gestaltet es sich grösste Einzelinvestorin der South Sea beim Naturhistorischen Museum, dessen Company. Bei diesen Aktienkäufen spielte ausgestopfte Tiere aus dem afrikanischen auch der bereits damals starke Bankensek- Raum von den Grossjäger-Abenteuern von tor eine grosse Rolle, da die Geschäfte von Ein mahiole-Federhelm und ein dazugehöriger Umhang, hier an einem Modell angebracht. Beide Objekte Sohn und Tochter von Wattenwyl stammen. wurden von Johann Wäber aus Hawai’i mitgebracht, wo sie normalerweise von Herrschern getragen wurden. Agenten der Berner Bank Malacrida und Einige Ausstellungsobjekte wurden auch © Bernisches Historisches Museum Cie. abgewickelt wurden. Vergleichsweise durch Tausch mit anderen europäischen mit Zürich oder Neuenburg beteiligte sich Museen erworben, wobei deren Herkunft die Republik Bern jedoch später und weni- «Die Schweiz war keine Insel» Geschichte an der Universität Bern, «viel- damals nicht besonders hinterfragt wurde. ger stark an diesem Handel und den Speku- Bereits vor jenen grossen In- mehr war sie eingebunden in die sie umge- Gleichzeitig waren die Museen lationsgeschäften, da ihre wirtschaftliche vestitionen war das Bündnissystem der benden Vorgänge in Europa und in das im und die jeweiligen Kuratoren treibende Hauptausrichtung der Landwirtschaft galt. damaligen Eidgenossenschaft und damit Entstehen begriffene globale Netzwerk.» Kräfte in der Rassenforschung. Beispiels- In der Ryff-Fabrik im Marzili wurde Baumwolle aus Plantagen, die Sklaven beschäftigten, auch Bern jedoch vom Handel mit kolo- So waren beispielsweise Berner Söldner, weise verfasste Theophil Studer, Kurator zu Textilien verarbeitet. nialen Waren abhängig. Man denke nur angeführt von Offizieren der Patrizierfa- des Naturhistorischen Museums Bern, Man denke nur an die Schokolade, die ohne Verbindung milien, in den französischen und hollän- Studien zu den sogenannten «primitiven reaktionären und rechtsgerichteten Kon- Auch was die Investitionen zum Kolonialwarenhandel gar nicht pro- dischen Heeren zu finden. Auch Intellek- Völkern», indem er Schädel verschiedener servatismus, mit dem Titel «Restauration angeht, beteiligten sich nicht nur die an die Schoko duziert werden konnte. Auch für die Uh- tuelle und öffentliche Einrichtungen wie aussereuropäischer Stämme mit prähisto- der Staatswissenschaft». Darin argumen- Patrizier*innen: Berner*innen, die ihr ren- und Schmuckherstellung, für welche Museen pflegten den Austausch mit ihren rischen Schädeln aus der Schweiz verglich. tiert er im Gegensatz zur aufklärerischen Geld der Bank anvertrauten, waren durch lade, die ohne die Schweiz bereits im 17. Jahrhundert zu europäischen Pendants. Andere Forschende beschrieben nicht- Philosophie, dass die Europäer*innen die von der Bank getätigten Anlagen mehr einem Zentrum wurde, mussten die Roh- europäische Menschen als Zwischenstufe den anderen Völkern natürlicherwei- oder weniger wissentlich Teil kolonialer Verbindung zum stoffe von weit her eingeführt werden. Zur Wissenschaft zwischen von Mensch und Schimpanse und daher se überlegen seien und damit auch die Projekte und Handelsnetze. Herstellung von Textilien wiederum – zu- Tropenliebe und Rassentheorie als weniger entwickelt. Diese Ansichten Sklaverei in der Natur begründet ist. Ein- Kolonialwaren erst in Heimarbeit, dann beispielsweise Diese Vernetzung machte wurden durch Gesellschaften wie der zige Bedingung von Hallers war, dass die Der Widerstand regt sich in der Ryff-Fabrik, die im Marzili stand sich besonders im Bereich der Wissen- geographischen Gesellschaft in Bern, der Sklav*innen von den Besitzer*innen nicht Doch zwischen dieser passi- handel gar und die grösste industrielle Arbeitgeberin schaft bemerkbar. «Die Sammlungen der Theophil Studer vorstand, unter den Intel- schlecht behandelt werden durften. In ven Befürwortung des Kolonialismus und Berns war – wurde Baumwolle importiert. Museen bauen grösstenteils auf Objekten lektuellen aus ganz Europa verteilt. Diese diesem Falle wäre auch seiner Ansicht einigen aktiven Akteur*innen regten sich nicht produziert «Die Schweiz war keine Insel, auch wenn aus den damaligen Kolonien auf», erklärt Geschichte der Verwicklung der Wissen- nach die Sklaverei unrechtmässig. Seine auch einige kritische Stimmen. «Es ist sie das gerne so darstellt», betont André Dr. Bernhard Schär, Oberassistent an der schaft mit dem kolonialen Netzwerk ist Ideen fanden grosse Verbreitung und Ver- einerseits eine Geschichte der Involvie- werden konnte. Holenstein, Professor für ältere Schweizer Professur für Geschichte der modernen bis jetzt noch kaum aufgearbeitet worden, wendung in den Südstaaten der USA und rung, aber immer auch eine Geschichte 10 11
Kapiteltitel kennet dir die gschicht Irme ige ide Ittume* Die Matte ist anders. Anders als Bern. Und über Jahrhunderte hinweg besass sie nicht nur einen eigenen Dialekt, sondern sogar eine Geheimsprache – das Matte- änglisch. Der Name war Programm: Die heutige Bar Colonial war früher ein Kolonialwarenladen. Dort, wo das Weisse ins Schwarze Quartier Von diesem einst emsigen Trei- seinem warmen Berner Dialekt, der sich übergeht, holt mich die Ruhe ein. Weit ben ist heute allerdings nicht mehr viel zu auch für mich Neubernerin wohlig nach des Widerstands, gerade vonseiten der tantismus an der Rechtmässigkeit der eine diskrete, wirtschaftliche Verwicklung über mir strömen Bärenhungrige Berns be- spüren. Die Gerberngasse, die mich tiefer Heimat anhört, «dabei hat Matteänglisch kolonialisierten Bevölkerung», wie Schär Sklaverei, da aus religiöser Sicht alle Ge- in das koloniale System, die die damalige kanntester Sehenswürdigkeit zu. Das Rat- in die Matte führt, ist auf beiden Seiten mit England grad gar nichts zu tun.» Im meint. Davon zeugen die Revolutionen schöpfe Gottes sind und deshalb nieman- Eidgenossenschaft und Bern kennzeich- tern der Busse auf dem Kopfsteinpflaster, von niedrigen Lauben gesäumt. Gross- deutschen Sprachraum, erklärt er mir, und Unabhängigkeitsbewegungen, die im dem das Recht zusteht, andere schlecht nete», merkt Holenstein an. Ohne diese die aufgeregten Rufe der Touristen, wenn städter müssen hier schon ein wenig den habe man unverständliche Sprachen frü- 18. und 19. Jahrhundert auf dem amerika- zu behandeln. Diese Positionen machten wäre die Schweiz heute nicht so, wie sie ein Bär sich wieder mal bequemt, den Leu- Kopf einziehen. Die Häuser wurden säu- her «welsch» genannt, was gleichzeitig nischen Kontinent und später dann auch sich besonders Mitte des 19. Jahrhunderts ist. Eigentlich offensichtlich, wenn man ten beim Starren zuzuschauen – aller Lärm berlich saniert und blicken in schweizeri- auch «Französisch» bedeutete. Im zwei- in Afrika und Asien aufkamen. Einige der bemerkbar, als der Berner Freisinn dem etwas genauer darüber nachdenkt: Wir verklingt, von mir ungehört. Hier unten an scher Manier den wenigen Passanten nach sprachigen Bern wurde Französisch aber exilierten Anführer dieser Bewegungen stärker wirtschaftlich ausgerichteten Zür- könnten weder Schokolade noch Uhren der Aare, in der Mattenenge, verlangsamt – einige Schulkinder, eine Radfahrerin, sehr wohl verstanden, ein anderer Name trafen sich in der Schweiz, die dadurch zu cher Freisinn Begünstigung der Sklaverei produzieren und hätten eine völlig an- sich der Herzschlag im Rhythmus verein- zwei Nonnen. Und doch – es gibt sie noch, musste her – und Englisch war den Leuten einer Drehscheibe für den international und sogar Sklavenhaltung vorwarf. dere Ernährungskultur, ohne Tomaten, zelter Schritte und dem sanften Treiben die Überbleibsel aus jener Zeit des Han- damals wesentlich fremder. Matteänglisch Mais oder Bohnen. Nicht zuletzt wurde des Flusses. Kein Bus fährt hier, Autos ist dels. Eines davon sind die zwei Wörter in ist denn auch keine Sprache mit eigenem auch der Reichtum der Schweiz zu gewis- nur zu gewissen Zeiten die Durchfahrt er- aareblauen Lettern über dem Eingang Vokabular, sondern eine Geheimsprache, «Es war eine diskrete, wirtschaftliche sen Teilen mithilfe des Kolonialismus laubt. Das Schwarze Quartier, das seinen zum Quartierladen: Ittume Idele. die spezifischen Regeln folgt. Aber wo liegt aufgebaut. Zudem spüren Migrant*innen Namen den schwarzen Strassenschildern ihr Ursprung? Verwicklung in das koloniale System, die Auswirkungen des Kolonialismus verdankt, deren Farbgebung noch aus den Im Grossraum Hamburg. Dort am eigenen Leib, denn unbewusste Vor- Zeiten Napoleons stammt, war schon seit werden die Regeln der Geheimsprache im die die damalige Eidgenossenschaft urteile, Stereotypen und racial profiling jeher von der Stadt isoliert. Ein eigener Schiffe fuhren von 14. Jahrhundert zum ersten Mal beschrie- zeigen, dass gewisse Züge kolonialen dörflicher Mikrokosmos aus Kleinhand- ben. Bis heute spricht man in Hamburg und Bern kennzeichnete.» Denkens noch nicht gänzlich aus der Ge- werkern, Schiffern, Wäscherinnen und hier bis Brienz im von der sogenannten «Kesselklopferspra- sellschaft verschwunden sind. Und doch Schulkindern. Die Matte ist eben nicht che», die dem Matteänglischen ziemlich ist die Geschichte der Verwicklung Berns Bern. Aber Bern gäbe es wahrscheinlich Süden und Rotter- ähnlich ist. Höchstwahrscheinlich verbrei- vernetzten Kampf gegen den Kolonialis- Aufarbeitung der eigenen und der Schweiz in das koloniale System nicht ohne die Matte. Die seit dem 12. Jahr- teten sich die Regeln dann auf dem Was- mus wurde. unangenehmen Geschichte kaum ein Thema, weder im akademi- hundert von der Wasserkraft angetriebene dam im Norden. serweg südwärts bis in die Matte. So wurde Unter der schweizerischen Das Netz des Kolonialismus er- schen Bereich noch im Gespräch unter Industrie im Quartier bescherte der Stadt hier aus der Schtibere (Stadt) die Iberesch- und bernischen Bevölkerung waren zwar streckte sich ohne Ausnahme über die ge- Freund*innen. Deshalb wird es höchste Leder, Tuch, Gold und später sogar Scho- te und aus dem Matte-Lade eben der Ittu- progressive Einstellungen wie der Aboli- samte Welt, einschliesslich Bern. Die Fol- Zeit, dass die Schweiz, Bern und wir selbst kolade und ermöglichte es ihr, die Stadt zu me Idele. tionismus nicht mehrheitsfähig – dafür gen davon sind noch heute spürbar und uns dieser Vergangenheit bewusst stellen, werden, die wir heute kennen. Zudem war Kauderwelsch Hafen, dem der Schalk bei je- standen zu grosse finanzielle Interessen ersichtlich, sei es in unserer Ernährung, auch wenn die Debatte über historische die Matte lange Zeit ein wichtiger Schiff- Peter Hafen, Präsident des Mat- dem Wort hinter den Ohren sitzt, treffe auf dem Spiel – aber sie wurden doch in Bauwerken, Diskursen oder der Migra- Schuld oft unangenehm ist und viele Ab- fahrtsknotenpunkt mit einer eigenen teänglisch Club Bern, muss lachen, als ich ich beim Takeaway «Ligu Lehm» am Müh- diskutiert. Ausserdem zweifelte auch der tion – auch wenn Bern oder die Schweiz wehrreaktionen auslöst. text und fotos: Werft. Schiffe fuhren von hier bis Brienz im ihm am Telefon vom Thema unserer Aus- lenplatz. Nirgendwo sonst fühlt man sich gerade in Bern stark vertretene Protes- keine eigenen Kolonien besassen. «Es war lucie jakob Süden und Rotterdam im Norden. gabe erzähle. «Das ist lustig», meint er in in der Matte mehr in einem Dorf als auf 12 13
inägspienzlet kennet dir die gschicht Kinder musste ein zweites Schulhaus her. Die Vorurteile über die Matte stammen Keep Calm and Learn Matteänglisch wohl aus dieser Zeit – bis heute wird Mat- Und so geht’s: teänglisch als «Gaunersprache» bezeich- net. Das war sie allerdings nie, stellt Hafen 1. Wort nach dem ersten Vokal klar. Und Gauner waren die Mätteler auch trennen und Teile vertauschen: nicht mehr als andere. «Vielleicht etwas ei- Matte ----› Ma / tte ----› tte / ma genwillig», gibt er zu. So erzählt man sich, dass früher gerne Burschen aus der oberen 2. Ein ‹I› vorne anhängen Stadt hinunter ins Inselibad kamen, um ----› I / tte / ma dort in der Gartenwirtschaft um Geld zu spielen und mit den Meitschi z tschääg- 3. Den Schlussvokal zu einem ‹e› gerle, worauf sie jeweils kurzerhand von umwandeln den Mattegiele in die Aare geschmissen ----› I / tte / me wurden. Irgendwann hatten die Anwohner ----› Itteme genug davon, dass die Burschen immer pflitschnass durch das Quartier liefen und Den fremden Klängen lauschen auf: bauten ihnen die Brücke zwischen Schiffs- digezz.ch/projekte/mattequartier/ laube und Inseli - zur Abkürzung. Tschugger und Chempe Wie es heute mit dem Matte- änglisch aussehe, hake ich nach. Schlecht Adlerblick - die Antwort. Heute werde die Sprache Wen es trotzdem wieder nach nur noch zum Vergnügen in einigen we- oben zieht, dem empfehle ich das Senkel nigen Familien benutzt. Am meisten tram. Der Lift, der direkt auf die Münster- Glück, einige Brocken Matteänglisch auf- plattform fährt, bietet nicht nur ein hüb- zuschnappen, hat der Suchende vielleicht sches Schwindelgefühl im Bauch, sondern noch am alle zwei Wochen stattfindenden auch einen letzten Mundvoll Matteäng- Stammtisch des Matteänglisch Clubs im lisch– Inkede irfe ds Itme-ihrefe. Danke Restaurant Mühlirad. fürs Mitfahren. Begonnen hat der schleichen- Auf der Münsterplattform be- de Niedergang des Matteänglisch mit schleunigt sich der Puls dann spätestens Beim Hochwasser von 2005 Teil des Flusses geworden: die Gerberngasse. der Armut. Mit dem Zuzug neuer Famili- beim Blick in die Tiefe wieder – die hän- en und der zunehmenden Mobilität der genden Gärten, die sich zwischen Altstadt Bewohner*innen ging langsam auch das und Matte an den Hang schmiegen, warten dem Mühlenplatz. Der Brunnen plätschert Gleich neben dem Mühlen- Wissen um die Geheimsprache zurück. auf den nahenden Frühling, um in voller friedlich vor sich hin, die 500-jährigen Häu- platz stehen die zwei Schulhäuser der Zuletzt, erzählt Hafen, sei die Sprache Pracht zu erblühen und die Aare schäumt ser schmiegen sich wohlig aneinander, Matte. Als um 1850 die Wasserkraft von von den Giele und Modi verwendet wor- in weisser Gischt über die Schwelle, lockt die Fassaden hübsch zurechtgemacht, die der Elektrizität abgelöst wurde, brach die den, «wo veu no öppe em Tschugger Strei- in türkisgrünen Tönen. Die goldene Bun- Fenster leicht trunken einander zugeneigt. «Söui mou richtig bös driiluege?», lacht Peter Hafen bei der Führung. deshauskuppel thront in Sichtweite und Ob er selber in der Familie das Münster ragt imposant in den weich Matteänglisch gesprochen habe?, frage gezeichneten Himmel. Aber unten in der ich Hafen. Der schüttelt schmunzelnd den Die Sprache wurde zuletzt von Tiefe, zwischen Stadt und Fluss, stehen Kopf. «Überhaupt wurde Matteänglisch nie Diesen Dialekt spricht heute zwar auch Überhaupt gibt es nur noch wenige «Ori- tüchtig die Häuser der Matte und werfen wirklich gesprochen», fügt er an, «es wurde den Giele und Modi verwendet, niemand mehr, es haben sich aber eini- ginale» hier unten, die Gentrifizierung hat keinen einzigen Blick zu denen da oben. nur benutzt, um kurze Anweisungen zu ge- ge Wörter erhalten, die mir als Aarauerin das Quartier fest im Griff. Wo früher Spin- Die Matte ist eben die Matte. ben oder Mitteilungen zu verfassen.» Über «wo veu no öppe em Tschugger mit Bahnhofs-Buffet-Olten-Dialekt min- nerei, Müllerei und Spezerei waren, haben *matteänglisch für das matten- Jahrhunderte wurde es benutzt, wenn Drit- destens so rätselhaft erscheinen wie das heute Tänzerinnen ihren Parkettboden berndeutsche «mir gö id Matte» (wir gehen te nicht mithören sollten. So zum Beispiel, Streiche gspeut hei». Matteänglisch. So wird hier die Flasche und Architekten ihren Coworking Space. in die Matte) wenn die Eltern vor den Kindern über de- Flämnu genannt und die Steine Chempe. Viele kreative Köpfe sind hier zu finden, text: janine schneider; ren Weihnachtsgeschenke reden wollten. Armut über die Matte herein. Die Industrie che gspeut hei.» Der Tschugger, versteht Mehrmals muss ich nachhaken bei Herr nur leider auch viele, die bloss zum Schla- fotos: franca sidler «Ich kenne einige Leute, die deshalb Mat- zog weg und manch einstiger Handwerker sich, ist der Polizist. Wie auch der Ligu Hafen, der spricht, als wäre er ein Mätte- fen hierherkommen. «Aber die packt’s Erstmals erschienen in teänglisch gelernt haben. Weil sie wissen musste sich oben in der Stadt als Tagelöh- Lehm eben ein Stück Brot ist. Aber weder ler, dabei lebt er gar nicht hier, sondern denn schono», meint Hafen. Und ich spü- der Ausgabe «England» wollten, was ihre Eltern da Seltsames von ner verdingen. Dazu kam, dass viele Leute Tschugger noch Ligu Lehm sind Matte- im Altenberg, eben kein Original, son- re, was er meint. Dem eigenwilligen Zauber des Schweizer Reisema- sich gaben.» vom Land hierherzogen. Für die vielen änglisch, sondern Mattenberndeutsch. dern einer von den «zuechegschläckte». der Matte entkommt man nicht so schnell. gazins Transhelvetica. 14 15
Von Bären und Kranichen 1798 1834 1870 1919 Auf Geheiss des Kantons wird 1972 Mani Matter ist tot. Der bekannteste Vertreter der 1982 Ein Punk stiehlt im Drogenrausch einen Kranich aus dem Tierpark Dählhölzli und brät ihn vor der Reitschule. In der Folge wird das Gelände polizei- lich geräumt, es kommt zu Strassen- Humorlose Politikhochburg und Hort der Der Legende nach haben Napoleons Die neuen Herrscher Catharina Gontscharoff studiert als erste Frau das verschuldete Berner Troubadours stirbt bei einem Autounfall im schlachten. Die Reitschule wird zur Sperrzone und ein Jahr lang rund um Langsamkeit? Bern hat weit mehr zu bieten. Soldaten gewisse Ori- beschliessen die Gründung einer während zwei Gastsemes- Bümpliz in die Stadt Bern eingemeindet. Alter von 36 Jahren. Matter die Uhr durch die Polizei bewacht. Wichtiges, Überraschendes und Kurioses aus entierungsschwierig- keiten. Der Einfachheit Hochschule nach tern an der Universität Bern. Zwei Jahre später hat Lieder wie «I han es Zundhölzli azündt» oder 2020 über 800 Jahren Stadtgeschichte. halber wird die Berner deutschem Vorbild – die Universität Bern. folgte mit Anna Gal- «Hemmige» geschrieben. 1993 In der Stadt Bern leben rund 143’000 Menschen. Altstadt deshalb in fünf vis-Hotz die erste reguläre 1968 Die Universität be- Sie ist damit hinter «farbige» Quartiere ein- 1831 Studentin. Sie schliesst Die Stimmberech- zieht das Gebäude Zürich, Genf, Basel und 1208 geteilt. Jedem Quartier Eine liberale Welle ihr Studium 1877 ab. tigten der Stadt der ehemaligen Lausanne die fünftgröss- Bern wird erstmals in 1654 ist dabei eine Farbe erfasst Europa. 1981 1890 Bern beschliessen Schokoladenfab- te Stadt der Schweiz. einer Urkunde erwähnt. Die Der Student Theobald (schwarz, weiss, grün, In Bern dankt die In den Stallungen 2015 Bern eröffnet seine erste die Einführung des rik Tobler. Später Herkunft des Namens ist 1405 Weinzäpfli stürzt mit seinem rot und gelb) zugeord- adelige Patrizier- 1859 der ehemaligen Die bärner studizy- Tramlinie. Sie führt vom Frauenstimmrechts entstehen auch auf umstritten. Die bekannteste Ein Grossbrand in der Pferd über die Mauer der net. Bis heute sind die regierung ab und Die neue Eisen- Reitschule findet tig (bsz) erscheint Bärengraben via Bahnhof auf Gemeindeebene. den Arealen des Legende besagt, dass die Altstadt zerstört über 600 Münsterplattform. Er überlebt Strassenschilder dieser macht den Weg bahnlinie Bern- das Eröffnungsfest zum ersten Mal. Sie zum Bremgartenfriedhof. Zwei Jahre später alten Frauenspitals Stadt nach dem ersten in Häuser und fordert mehr den über 20 Meter hohen Quartiere in den ent- frei für Wahlen Münsingen-Thun des Autonomen ersetzt die darben- Frost in den Leitungen der wird die erste Frau (UniS) und der den umliegenden Wäldern als hundert Opfer. Es Fall. Heute erinnert eine sprechenden Farben. im Kanton. Klarer setzt der bishe- Jugendzentrums de Studierenden- Drucklufttram führt zu in die kommunale Maschinenfabrik erlegten Tier benannt ist bis heute der grösste Gedenktafel auf der «Pläfe» Im Rest der Stadt sind Gewinner sind rigen Aareschiff (AJZ) statt. zeitschrift Unikum. saisonalen Unterbrüchen. Regierung gewählt. von Roll Uni-Räum- wurde - einem Bären. Brand in der Stadt Bern. an den spektakulären Unfall. die Schilder blau. die Liberalen. fahrt ein Ende. lichkeiten. 1400 2000 1200 1600 1900 2020 1800 1500 1100 1300 1700 1992 Die Universi- 2012 1191 tät Bern zählt Bei der zweiten Aus- 1353 Um 1500 1848 1908 1977 Herzog erstmals in gabe des «Tanz dich Der Stadtstaat Die Aare beim Der lockere Staatenbund Albert Einstein, der Begrün- Mit 20'000 Besucher*innen Berchtold V. ihrer Ge- frei» demonstrieren Bern wird Eichholz bildet ist passé. Bern wird Sitz der der der Relativitätstheorie, findet auf dem «Güsche» das von Zähringen schichte mehr und feiern 10'000 achter Ort im den kirchlichen Bundesbehörden in der neuen lehrt für drei Semester 1. Internationale Folkfesti- gründet die als 10’000 junge Menschen in Bündnissystem Röstigraben der Schweizerischen Eidgenossen- lang theoretische Physik val statt – der Vorläufer des Stadt Bern. Studierende. der Stadt für mehr der Schweize- Schweiz: Wabern schaft. Erste Teile des Regie- an der Universität Bern. heutigen Gurtenfestivals. Freiraum. Nach rischen Eidge- gehört zum Erz- rungsgebäudes entstehen in Vor lauter Aufregung ging wüsten Ausschrei- nossenschaft. bistum Lausanne, den Folgejahrzenten, der Bau allerdings die Bühnen- tungen und harscher Muri zum Erzbis- des Bundeshauses wird aber belichtung vergessen. 1931 Polizeigewalt bei der tum Mainz. Der erst 1902 abgeschlossen. Das Berner Stadtoriginal 1980 dritten Ausgabe ein Jahresbeginn wird 1861 Dällenbach Kari stürzt sich Louise Elisabeth de Meu- Jahr später wird das um drei Monate Der norwegische Kavalleriehauptmann von einer Brücke über die ron-von Tscharner stirbt im Projekt eingestellt. zeitversetzt gefeiert. Lorenz Göttig Lorck stürzt – alkoholisiert und Aare in den Tod. Der kauzi- Alter von fast 98 Jahren. Die als zuvor übermütig auf dem Geländer balancie- ge Coiffeurmeister war in letzte Aristokratin bekannte 1802 rend – in den Bärengraben. Mit einem Regen- Bern bei vielen als Anek- Dame galt mit ihrem anachro- Im «Stäcklichrieg» wird schirm verteidigt sich der 31-jährige gegen doten- und Witzeerzähler, nistischen Verhalten als Stad- 1798 die Stadt zum ersten die Bären. Ohne Erfolg. Als die herbeigerufe- Possenreisser und trink- toriginal. So fuhr sie etwa stets Bei Grauholz unterliegt Berns und einzigen Mal in nen Landjäger eintreffen, ist Lorck bereits tot. freudiger Geselle bekannt. ohne Billet Tram. Ihre Begrün- Streitmacht den Franzosen. ihrer Geschichte zum dung: «I bi vorem Tram da gsi». Napoleons Truppen besetzen Ziel einer Kanonenku- 2018 daraufhin die Stadt und entwen- gel. Das Einschussloch Die Young Boys gewinnen text: mathias streit, bettina wyler, noah pilloud; den nebst der Staatskasse auch ist noch heute am 2:1 gegen Luzern und sind bilder: staatsarchiv kanton bern die Bären aus dem Bärengraben Läuferplatz sichtbar. erstmals seit 32 Jahren und bringen sie nach Paris. wieder Schweizer Fuss- ballmeister. Bern ist über Wochen gelb-schwarz. 16 17
nei säget sölle mir nei säget sölle mir Quo vadis Berna? Wie sieht die Bundesstadt im Jahr 2050 aus? Bereits heute entstehen Projekte, die das Stadtbild nachhaltig prägen werden. Visionäre Stadtplaner erträumen sich derweil Jahrhundertbauwerke. Eine Auswahl von Bilder des Projekts Trio in der Wankdorf City 2; Quelle: trio-wankdorfcity.ch Berns Zukunftsmöglichkeiten. «Die Ausgangs ben dem Institut für Sportwissenschaften und ein neuer Quartierplatz entstehen. lage in Berns der Universität. Die neue Halle hat mehr Dieser wäre zugleich Ausgangspunkt für Mit dem Bus in fünf Minuten von der Uni Boa hat berechnet, dass die Hochbrücke ist deshalb klar, dass der neue Stadtteil nur Kapazität als die drei bestehenden Stadt- die von Städtebauer Boa angedachte Vier- in der Länggasse in die WG im hippen mindestens 16 Meter breit sein müsste. integral zusammen mit der neuen Aareque- Norden ist Hallenbäder zusammen. Geplant ist ein erfeldbrücke. Auch beim ehemaligen Zieg- «Breitsch»? Eine neue 350 Meter lange «Damit es später auch genügend Platz für rung nachhaltig entwickelt werden könne. Becken mit zehn 50-Meter-Bahnen, die lerspital, auf der Warmbächlibrache in Brücke inmitten von Bern könnte das bald eine Tramlinie hat.» Verbinden soll die Brü- «Deshalb dürfen die beiden Projekte nicht stadtplanerisch sich in doppelt so viele 25-Meter-Bahnen Holligen oder auf dem Gaswerk-Areal di- schon möglich machen. Auch Velos sollen cke den Quartierplatz im Wyler mit einem unabhängig voneinander geplant werden», teilen lassen. Sobald die Schwimmhalle rekt an der Aare sollen bald grosse Wohn- über die Brücke fahren. Der Umweg über Boulevard im Viererfeld. Dort will die Stadt ermahnt Arpad Boa. eine Jahrhundert steht, werden die in die Jahre gekomme- bauprojekte realisiert werden. Und im den Hauptbahnhof? Geschenkt! Das Brü- ein neues Quartier aus dem Boden stamp- Doch genau das hat die Stadt- nen Hallenbäder erneuert. Auch Freibäder Weyermannshaus, direkt neben der Badi, ckenprojekt ist eines der Vorhaben, das fen. 2016 hat die Berner Stimmbevölkerung regierung vor. Das Siegerprojekt für die chance.» wie das Weyerli oder die Ka-We-De werden entsteht eine Überbauung mit rund 900 das Gesicht der Stadt Bern in den nächsten entschieden, die heute landwirtschaftlich Viererfeld-Überbauung ist als in sich ge- bald totalsaniert. neuen Wohnungen. Jahrzehnten verändern könnte, aber lange genutzte Fläche zu überbauen. Geplant schlossene Wohnüberbauung angelegt. radial, also strahlenförmig, von einem nicht das einzige. Das zeigt ein Blick in die sind im Viererfeld 1’100 Wohnungen für Die Stadt sieht im Viererfeld ein «Wohnen Mittelpunkt ausgehend, angelegt gewe- Zukunft der Stadt Bern. rund 3’000 Personen. im Grünen» und will das Land möglichst sen. Bern hat(te) zwei solcher Zentren: den Bald schon könnte das Münster schnell stückweise an Investoren verkau- Zytglogge und den Bahnhofplatz. «Heute fen. Wo Boa einen neuen, vielfältigen und sollte alles viel dichter vernetzt sein», sagt nicht mehr das grösste Gebäude durchmischten Stadtteil mit vernetzten Boa. Das ergebe automatisch kürzere Wege Grünräumen sieht, der durch eine voll- sowie weniger und langsameren Verkehr. in Bern sein. wertige Brücke ins Zentrum einer neuen Dazu sei es wichtig, die Quartiere noch städtischen Ost-West-Passage nördlich des stärker untereinander zu vernetzen und Bahnhofs rückt, plant Bern bisher nur eine somit den Weg über das Zentrum obsolet Eine der imposantesten Neu- Wolkenkratzer am Europaplatz schmale Velobrücke. Autos oder Busse hät- zu machen. In der Viererfeldbrücke sieht bauten entsteht auf dem Areal der Insel. Nicht ausgeschlossen, dass ten darauf keinen Platz. Das Projekt hatte er deshalb die Chance, eine schnelle und Das Universitätsspital baut bis 2023 ein dort auch ein paar Fachhochschulstu- von Beginn weg mit Widerstand zu kämp- direkte Ost-West-Querung der Stadt zu er- neues Hauptgebäude. Anschliessend soll dis eine Bleibe finden. Gleich ennet dem fen. «Unnötig» und «zu wenig durchdacht» möglichen. «Die Brücke würde mit einem das alte, weit hinaus sichtbare Betten- Weyerli-Bad wird nämlich der Campus der lauten die Hauptvorwürfe. Das sieht auch Schlag die rund 50’000 Menschen in der hochhaus abgerissen werden. Auch die Berner Fachhochschule (BFH) gebaut. Ab Boa so: «Weshalb eine Brücke bauen, die Länggasse und im Breitenrain miteinan- medizinische Fakultät plant Neubauten 2026 sollen dort über 6’000 Studierende nur einem bestimmten Verkehrsmittel zu- der verbinden.» Gemeinsam mit einem auf dem Areal, unter anderem sollen sie- und Dozierende Platz finden. Auch Teile gänglich ist?», fragt er. Die Kritik von ihm dichten Strassennetz im Viererfeld ermög- ben heute in der Stadt verteilte Institute der Hochschule der Künste Bern (HKB) und anderen Experten hat erste Spuren hin- liche das ein lebendiges, urbanes Quartier unter einem Dach vereint werden. Für ihre werden im Neubau in Berns Westen ein- terlassen: Zurzeit überprüft die Stadt mögli- vom Engeried bis zum Wankdorf. Und Pläne will die Universität bis 2034 über quartiert. Baubeginn ist 2022. Die Vision von Arpad Boa: Eine Brücke, die den «Breitsch» (unten) mit dem neu bebauten Viererfeld verbindet. che Alternativen zur reinen Velobrücke. bis wann soll das der Fall sein? «Wenn es eine Milliarde Franken investieren. Bild: zvg Doch weshalb wehrt sich Boa schnell geht, ist eine fertig gebaute Vierer- In Bern werden zudem meh- Ebenfalls in der Nähe des Eu- gegen eine solche? «Eine Brücke, die auch feldbrücke bis 2050 nicht unrealistisch.» rere grössere Wohnbauprojekte vorange- ropaplatzes planen Energie Wasser Bern «Die Viererfeldbrücke bietet Eine Brücke nur für Velos? für Autos – oder noch besser E-Autos – zu- trieben. Die Stadt will nämlich wachsen. (EWB) und die BLS gleich vier markante Platz für eine normale Fahrspur, Velostrei- Diese Ausgangslage bezeichnet gänglich ist, bringt verkehrstechnisch Uni investiert 1 Milliarde Bis 2050 sollen rund 160’000 Personen in Hochhäuser. Der «Nordturm» könnte da- fen und Trottoirs», erklärt Arpad Boa seine Boa als eine «Jahrhundertchance» für Bern. einen grossen Mehrwert», sagt der Städ- Deutlich früher werden ande- Bern wohnen, 17’000 mehr als heute. Platz bei bis zu 110 Meter in die Höhe ragen. Er Vision. Als selbstständiger Bauforscher, Aus städtebaulicher Sicht sei das wie ein tebauer. Er sehe seine Zukunftsvision für re wegweisende Berner Zukunftsprojekte finden werden diese unter anderem auf wäre damit das höchste Gebäude in der Städtebauer und Architekt bringt er sich Sechser im Lotto: «Wo sonst kann man auf Bern denn auch als städtebauliche Antwort fertig sein: Bereits 2023 soll im Neufeld dem Areal der ehemaligen Zeitungsdruck- Bundesstadt und fast so hoch wie Zürichs immer wieder aktiv ein, wenn es um die flachem, unbebautem Land an so zentraler auf den Klimawandel und die Energie- eine neue 50-Meter-Schwimmhalle stehen. maschinenfabrik Wifag im Wyler. Ab 2023 Prime Tower. Bis anhin galt in Bern die un- Zukunftsgestaltung in der Stadt Bern geht. Lage ein ganzes Quartier planen?» Für ihn wende. Früher seien die Strassen in Bern Sie befindet sich damit unmittelbar ne- sollen dort mehrere Dutzend Wohnungen geschriebene Regel, dass kein Bau das 100 18 19
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