Gut angekommen? - 2,50 - Augustin
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Erste österreichische Boulevardzeitung 2,50 1,25 für den_die Verkäufer_in Registrierte Verkäufer_innen tragen sichtbar einen Augustin-Ausweis NUMMER 512 9. 9. – 22. 9. 2020 Gut angekommen? Jugoslawische Geflüchtete in Wien Seite 6 Beigelegt: wienwoche «power and privilege»
2 512 Vom Mensch-Sein E D I TO R I A L E s war nicht abgesprochen, es ist «passiert», dass ausschließlich an öffentlichen Orten auf, um «den Le- Uwe Mauch in seiner Rubrik «Lokalmatador_in» bensraum Stadt zurückzuerobern». Nina Thiel begab sich eine Ergänzung zum Coverdossier lieferte. Mar- zum Urban-Loritz-Platz, um von der KLAUS’schen Inter- ko Iljić, der aktuelle Lokalmatador, ist mit seinen Eltern vention Princess in Wort und Bild zu berichten (S. 22). 1972 «ganz klassisch» am damaligen Südbahnhof ange- Der Mariannenplatz liegt in Berlin-Kreuzberg und kommen. Das «Gastarbeiterkind» Mar- war im August Schauplatz der Kundge- ko studierte später, heute arbeitet Herr bung zum «Vagabundenkongress 2020». Iljić als Fremdenführer in Wien (S. 19). Den Lebensraum Inhaltlich knüpfte die Neuauflage an den von Nermin Beharić betreibt einen Frisier- Stadt zurückerobern historischen Kongress von 1929 an, denn Reinhold salon in Ottakring. Auch er kam aus Jugo- es gilt auch heute noch, gegen die wirt- Schachner slawien nach Österreich, aber nicht aus schaftliche Ausbeutung und politische freien Stücken, er flüchtete im Krieg. Im Gespräch mit Repression von Nichtsesshaften anzukämpfen. Mit von Olja Alvir erzählt der Friseur von den sozialen Agenden, der Partie in Berlin waren unsere Mitarbeiter_innen An- die sein oft unterschätzter Beruf mit sich bringt, aber vor dreas Pavlic und Eva Schörkhuber, die übrigens auch die allem über seine Erfahrungen als Flüchtling und sein Mit- Titelgeschichte (S. 6) verfasste. Ihren Report aus Ber- wirken als Zeitzeuge bei Nach der Flucht (S. 8). Diese Aus- lin über die moderne Vagabundenbewegung können Sie stellung ist ab Mitte September in der Hauptbücherei zu auf Seite 10 lesen. sehen und war Anlass fürs vorliegende Dossier. Es menschelt in einem positiven Sinne verstanden Die Hauptbücherei spielt auch im Beitrag über das ziemlich stark in diesem Heft, und das ist auch gut so in Kollektiv KLAUS eine Rolle, denn die Performancegrup- Zeiten, in denen unser Zusammenleben mit einer vier- pe nutzt das Gebäude als Kulisse. KLAUS führt (sich) farbigen (!) Ampel geregelt wird. ■ I N H A LT Cove stor yr tun & lassen vorstadt art.ist.in dichter innenteil Ankommen in Wien «Was tut ihr?» Der Asphalt, der die Welt bedeutet Entblätterung In einer Ausstellung erzählen Ex- Das analoge Rollenspiel stirbt nicht Das Kollektiv KLAUS macht die Cherchez la Femme Jugoslaw_innen vom Leben nach der aus Seite 16 Straße zur Bühne Seite 22 Von Jella Jost Seite 28 Flucht Seite 6 Frisör, Flüchtling, 8 Lokalmatador Marko Iljić 19 Musikarbeiter unterwegs … 24 Wie war Amstetten?27 Frohnatur «Gastarbajter»-Kind und Fremdenführer mit chra aka Christina Nemec Gedicht von -Herr Bert Nermin Beharić ist Zeitzeuge für vieles vorstadt magazin 20 art.ist.in magazin 25-26 Lyrik31 Bittere Not, 10 Von Sonja Henisch rebellische Kraft Beim Vagabundenkongress in Berlin Phettbergs Fisimatenten 31 Wehnsucht Immo aktuell 13 Neues soziales Wohnen bei der Herr Groll auf Reisen 32 IBA_Wien 2022 – ein Zwischenstand Hollywood in Hainburg, von Erwin Riess tun & lassen magazin 14–15 Gottfrieds Tagebuch 33 Weltverschwörung und Eselsbrücke Kolumnen & Rubriken: Augustiner_in 3, Wiener Winkel, wos is los …, Fanpost 4, eingSCHENKt, Gustl 5, Schach 15, Kreuz&Wort 20, Die Abenteuer des Herrn Hüseyin 30, Tonis Bilderleben 31, Impressum 33, Magdalena Steiner 36 AUGUSTINCHEN 34 mittig unsere Programmbeilage, die Strawanzerin Die Doppelseite für Kinder
3 512 augustiner_in Susanne Efthimiou An der Grundidee festhalten Protokoll: Jenny Legenstein Foto: Mario Lang S eit 17. August bin ich, als Nachfolgerin Behinderung bei ihrer Wohnplatzsuche und Diese Aufgabe hat mich sehr bereichert. Die Ver- von Evi Rohrmoser, beim Augustin für Alltagsbewältigung begleiten, so individuell, antwortung, die man damit übernimmt, ist groß, die Administration und Buchhaltung zu- wie die Menschen waren. In dieser Zeit habe aber es ist auch großartig, diesen Gestaltungs- ständig. Evi hat mich eingeschult und mir ich wohl am meisten darüber ge- raum einnehmen zu dürfen. viel Hintergrundwissen mitgegeben. Ich bin aus Niederösterreich und komme aus lernt, wie manch eine_r der Ge- sellschaft mit Menschen umgeht, Ich mag den Zur Entspannung gehe ich sehr gern wandern, tanzen oder einem Mehrgenerationenhaushalt mit Bäckerei. die nicht den Leistungskriterien Austausch mit ins Kino. Ich lese gern und ich mag Ich habe viel im Verkauf, aber auch in der Back- unserer Arbeitswelt und Gesell- den Austausch mit Menschen stube geholfen und es geliebt, wenn ich morgens schaft entsprechen. Menschen über über bewegende und mir wichti- um 6 Uhr das frische Brot und Gebäck in den Nach der Geburt meiner bei- ge Themen. Verkaufsraum bringen konnte; an Bäckereien, den Kinder habe ich 5 Jahre bewegende und Was mich am Augustin be- wo auch immer, komme ich heute noch schwer vorbei, der Duft ist zu verführerisch. im Verkauf eines Biohofladens mitgearbeitet. mir wichtige eindruckt ist, wie stimmig an der Grundidee festgehalten wird: Die Fremdenverkehrsschule habe ich in Bad Bis Ende Juli dieses Jahres Themen durch den Verkauf der Zeitung Ischl gemacht, aufgrund fehlender Arbeitsplätze war ich bei SMIR, einem gemein- den Menschen, die aus verschie- in Amstetten bin ich 1995 nach Wien gekommen nützigen Verein, der ganzheitliche Hauskran- densten Gründen vom Arbeitsmarkt ausge- und habe zwei Jahre die Buchhaltung bei Reise- kenpflege im 23. Bezirk anbietet. Dort war ich u.a. schlossen sind, zu helfen, ihre finanzielle Not veranstaltern gemacht. Nach einem schweren für die Vereinszeitung, Administration und für zu lindern und mit den Menschen in Kontakt Unfall war mir klar, dass ich im Sozialbereich ar- die Beratung von Angehörigen verantwortlich. zu bleiben. beiten möchte, für mich reine Büroarbeit zu we- Seit 2010 lebe ich in einem selbstverwalte- Die Unabhängigkeit des Augustin beein- nig Kontakt mit Menschen bietet. Die Lebensbe- ten Gemeinschaftsprojekt. Wir treffen uns jeden druckt mich ebenfalls, sie trotz aller Aufs und rater_innen-Ausbildung war sehr intensiv und Monat zu einer Versammlung, entscheiden ge- Abs beizubehalten, zeugt von einem starken und wichtig für meine Persönlichkeitsentwicklung. meinsam unsere Projekte und Vorhaben, haben kreativen Team. Ich bin stolz, in diesem Team Die folgenden fünf Jahre war ich bei Jugend regelmäßig Arbeitstage im Freiraum. Eine Perio- zu sein und mit meiner Arbeit einen Teil zum am Werk und durfte Menschen mit geistiger de lang war ich als Sprecherin im Leitungsteam. Augustin beitragen zu können. ■
4 512 WIENER WINKEL einsicht Gute Drogen oder Gewalt in der famiglia? Koch/Kellner-Plastik, 1060 Wien. Foto: Lisa Bolyos wos is los … FANPOST … beim Augustin D Berührende Gedichte Beste Grüße und weiter so, ie Jury hat getagt, die Jury hat entschieden. Die Journa- Maximilian Petrin listin Alexandra Stanić, Christine Grabner, Chefredakteu- Betrifft: Der Literat und sein Bart, rin der Kärntner Straßenzeitung kaz., und der Fotograf Ro- Nr. 509 bert Davis haben aus den anonymisierten Einreichungen zum 1. AUGUSTIN-Reportagestipendium nach langen Diskussionen Liebe Redaktion, Missglückte («Die Entscheidung ist uns nicht leicht gefallen, da hinter jedem vorab möchte ich mich für Euer Umgestaltung eingereichten Konzept eine gute Geschichte langjähriges Engagement für Bedürf- tige sowie kulturellen Journalismus Betrifft: Layout schlummert») bekannt gegeben: Das AUGUS- TIN-Reportagestipendium geht an die Foto- Das 1. abseits des Mainstreams bedanken, Liebe AUGUSTIN -Leute, grafin Bettina Fleischanderl und den Autor AUGUSTIN- welches ohne Zweifel Grundlage für ich kaufe, schätze und lese den Christof Mackinger bzw. an «Konzept #12». die tolle Qualität der Zeitung und de- AUGUSTIN seit Jahrzehnten. Die letz- Wir gratulieren! In ihrer Reportage werden Reportage- ren sozialen Erfolg ist. Hut ab. te Umgestaltung macht mir aber kei- die beiden M., eine aus dem Maßnahmen- stipendium Ausgabe 509, und hier allem vo- ne Freude: Ich finde das neue Design vollzug entlassene Transfrau, in ihrem neu- ran die Gedichte von Herrn Hamed missglückt. Die Artikel und Kolum- en Alltag nach der Haft begleiten: «In wel- geht an … Abboud, haben mich besonders be- nen (auch solche, die ich durchaus mag cher Verfassung spuckt der österreichische rührt (natürlich ist aber die gesamte und schätze wie Phettberg oder Hü Strafvollzug eine Insassin aus, die viele Jah- Ausgabe irrsinnig gut gelungen). Es seyin) haben in der neuen Gestaltung re lang hin- und herverschoben, mit Begünstigungen befördert freut mich so sehr, dass es noch Medi- wenig Aufforderungscharakter, ich und mit Ordnungsstrafen wieder zurückgeworfen wurde?», fra- gen sie in ihrem Exposé. «Das Konzept besticht durch eine kriti- en gibt, die solch begabten Menschen muss mich fast überwinden, sie zu le- sche Haltung, eine spannende Protagonistin und eine hochak- eine Plattform bieten. Es mag sein, sen – und das gilt noch mehr für 5-sei- tuelle Geschichte», schreibt die Jury in ihrem Statement. «Die dass Herr Abboud in der Schweiz und tige Beiträge (Abboud). Bitte überar- beiden Personen, die hinter Konzept #12 stehen, möchten das informierten Kreisen ein Begriff ist, beiten – der AUGUSTIN muss nicht Leben von M. nachzeichnen. Wir als Jury möchten das Ergebnis mir war er es zugegebenermaßen wie das Heute ausschauen, aber auch unglaublich gern lesen.» Zu lesen wird die Reportage 2021 im noch nicht. Selten haben mich Ge- nicht wie Die Presse. AUGUSTIN sein. dichte so berührt wie jene von Herrn Liebe Grüße lib Abboud. Verena Michalke
5 512 das wahre leben eingSCHENKt Normsturz in der Sozialhilfe von MARTIN SCHENK D er Normsturz misst die Festigkeit von Kletterseilen. Fünf Ab- nachzugehen und auch nicht von Verwandten oder Freunden mitun- stürze müssen sie mindestens aushalten, sonst taugt das Seil terstützt werden. Zudem wird das Soziahilfe-Grundsatzgesetz so ver- nicht zum Schutz. Die sozialen Probleme werden größer. Und standen, dass die Länder die so wichtigen «Hilfen in besonderen Le- die schlechte Sozialhilfe kann sie nicht lösen. Sie würde den benslagen» einstellen. Damit fällt jede Unterstützung weg. Normsturz nicht bestehen. Die Krise zeigt, wie wichtig jetzt eine gute Wohnen bleibt in der Sozialhilfe überhaupt das Negativthema. Denn Mindestsicherung wäre – statt einer schlechten So- nun wird auch die Wohnbeihilfe in Oberösterreich zialhilfe, die Menschen in Existenznöten und Notsi- tuationen nicht trägt. Einer Person, die auf die Leistungen der Sozialhilfe angerechnet, also abgezogen. Und die Zuverdienstgrenze wurde mit In Oberösterreich können wir gerade beobachten, ihre Mutter pflegt, dem Sozialhilfe-Ausführungsgesetz praktisch ab- wie die neue Sozialhilfe versagt: nämlich darin, Men- geschafft. Das bedeutet, dass bei Sozialhilfeempfän- schen, die ohnehin wenig haben, krisenfest abzusi- wurde mitgeteilt, sie ger_innen, die tageweise etwa im Trödlerladen der chern. Oberösterreich und Niederösterreich haben das Sozialhilfegesetz als einzige bereits eingeführt. soll doch «hackeln» Arge für Obdachlose mitarbeiten, das Einkommen zur Gänze vom Sozialamt kassiert wird. Das oberösterreichische Sozialhilfe-Ausführungs- gesetz ist ein für Hilfesuchende schlechtes Gesetz, gehen, wenn sie Die Abschaffung der Mindestsicherung und das in zwei Bundesländern bereits umgesetzte dessen Auswirkungen mittlerweile im Alltag sicht- mehr Geld braucht Sozialhilfegesetz werden uns angesichts der Kri- bar sind: geringere Richtsätze für Erwachsene und se noch große Probleme machen. Das neue Gesetz Kinder, Anrechnung der Wohnbeihilfe oder eine uneinheitliche Voll- verschärft Armutslagen, degradiert Betroffene zu Bittsteller_innen und zugspraxis der Bezirksverwaltung bei Berechnung des Wohnaufwan- eröffnet neue Hürden und Unsicherheiten für Menschen in schwieri- des von Haushaltsgemeinschaften. Dies führt dazu, dass Haushalte gen Lebenssituationen. Deren Lebensbedingungen waren schon bis- mit Menschen in Not um mehrere hundert Euro monatlich weniger her von feuchten, schimmligen Wohnungen geprägt, wie wird das jetzt haben als in der Mindestsicherung. Auffallend an der Sozialhilfe ist weitergehen? Besonders giftig für Hilfesuchende ist der Wohndeckel. zudem, dass sich der Ton in einigen Bezirksbehörden gegenüber So- Auch mangelnde Soforthilfe, fehlende Heilbehelfe, Barrieren für psy- zialhilfebezieher_innen nochmal verschlechtert hat. So wurde einer chisch Kranke und Kürzungen bei Haushalten volljähriger Personen Person, die ihre Mutter pflegt, mitgeteilt, sie solle doch «hackeln» ge- mit Behinderung tragen nicht, wenn alles rundum zusammenbricht. hen, wenn sie mehr Geld brauche. Instrumente der Mindest- oder Grundsicherung sind für Krisen ge- «Es fühlt sich an, als wolle man meine Familie wegschmeißen», hat macht. Das ist ihre Bewährungsprobe. Wenn ein Regenschirm nicht es eine Mutter mit humanitärem Bleiberecht in Niederösterreich for- den Regen abhält, wenn das Kletterseil nicht den Sturz abfängt, wenn muliert. Keine Existenzsicherung, keine Krankenversicherung. Un- der Bretterboden nicht stabil vor dem dunklen Keller schützt – wenn ter den Betroffenen finden sich auch viele schwerkranke und nicht also Sozialhilfe gerade in der Krise nichts taugt, dann hat sie ihre Auf- arbeitsfähige Personen, die keine Möglichkeit haben, einer Arbeit gabe verfehlt. ■
6 512 cover Ankommen. Vom Recht auf ein Leben nach der Flucht Mitte September eröffnet die Ausstellung «Nach der Flucht» in der Hauptbücherei. Die Kuratorinnen Vida Bakondy und Amila Širbegović haben dafür Gegenstände und Geschichten von Menschen gesammelt, die während der Jugoslawienkriege in den 1990er-Jahren nach Wien geflüchtet sind. Text: Eva Schörkhuber Fotos: Carolina Frank Brieftasche, Goldkette und Zahnkrone aus Gold von Dragan Peraks Mutter, die sie ihm auf die Flucht nach Österreich 1992 mitgab
7 512 cover «E s gibt zwei Sorten Flüchtlinge. Sol- che mit und solche ohne Fotos.» Dubravka Ugrešić dokumentiert in ihrem Buch Das Museum der be- dingungslosen Kapitulation diese Aussage ei- vorgefunden habe, und alle Fotos. Ich wäre glück- lich, wenn mir jemand wenigstens meine Fotos schicken würde, deshalb habe ich deine behal- ten, nun schicke ich dir alles. Bleibt wohl und ge- sund, so viel von mir. Spomenka». Diese Reakti- dem Krieg teilnehmen wollte. Er hat sein Studi- um fortgesetzt und ist, da seine Lebensgefährtin noch in Serbien war, regelmäßig dorthin gereist. Im Gespräch über das Weggehen und Ankommen hat er auf diesen Koffer verwiesen. Mittlerwei- nes Mannes, der während der Jugoslawienkrie- on sei, so Širbegović, «das Natürlichste zwischen le ist der Koffer kein funktionales Gepäckstück ge aus Bosnien geflüchtet ist. Krieg vertreibt, Menschen», nur hätten die Kriege eine Situation mehr, sondern ein Hüter der Erinnerungen, nicht zerstört und ermordet Menschen, außerdem geschaffen, in der das zu «etwas nur an das Hierherkommen oder löscht er Erinnerungen aus – eine Art doppel- ganz Besonderem» geworden sei. an die Demonstrationen gegen te Vernichtung, die nicht nur Symbole ethni- Ganz besonders war es auch, «Man braucht Milošević, sondern auch an die scher und religiöser Zugehörigkeiten betrifft, über weite Umwege per Post die Erinnerung, eigene Familiengeschichte.» sondern auch Monumente und Dokumente der ein Foto zu erhalten, das bei ei- So unterschiedlich die Objek- vielfältigen, über Jahrzehnte hinweg prakti- ner Neujahrsfeier kurz vor Aus- damit man sich te und die Geschichten sind, sie zierten Möglichkeiten eines Miteinanders wie die Brücke in Mostar oder die Vijećnica, die Na- bruch der Kriege aufgenommen worden war. «Das ist ein ganz nicht so haben alle mit Ankommen und Unsichtbarwerden zu tun. «In tionalbibliothek in Sarajevo. verschwommenes Foto», sagt ausgelöscht fühlt» einer ORF-Doku aus den 90er- Širbegović, «man kann die Per- Jahren [Leben im Wartesaal, Ein Brief und ein Foto. Vida Bakondy und Ami- sonen gar nicht richtig erken- Vida Bakondy ORF, 14. April 1994] sind wir la Širbegović haben für ihre Ausstellung Objekte nen. Dieses Foto hätte man gar auf ein Zitat gestoßen», erzählt und Geschichten von Menschen gesammelt, die nicht aufbewahrt, wenn es nicht diesen Bruch, Širbegović, «das besagt, dass man als geflüchte- während der Jugoslawienkriege in den 1990er- den Ausbruch der Kriege, gegeben hätte. Ich hab ter Mensch in einem neuen Land nicht bei null, Jahren nach Wien geflüchtet sind. Unter diesen es erst 1993 von einer Freundin zugeschickt be- sondern mit einem Minus anfange. Da sind diese Objekten befindet sich ein Brief, adressiert an kommen. Es gibt auch Briefe darüber, wie dieses Verbindungen zu einem früheren Leben enorm eine Frau, die aus Mittelbosnien flüchten muss- Foto von Kroatien in Australien und schließlich wichtig, diese Nachweise, die zum Beispiel be- te und nach einer Zwischenstation in einem kro- in Wien, bei mir, gelandet ist.» zeugen, dass man eine Ausbildung hat.» «Man atischen Flüchtlingslager in Wien Zuflucht fand. braucht die Erinnerung, damit man sich nicht so Verfasst wurde der Brief von jener Frau, die ihrer- Vor der Flucht, nach der Flucht. Während der ausgelöscht fühlt», fügt Bakondy hinzu. seits in der damals von den serbischen Truppen Jugoslawienkriege konnten viele Menschen ihre eingenommenen Stadt in die Wohnung der Ad- Fotoalben nicht auf die Flucht mitnehmen, weil Resilienz hoch zehn. Eine weitere Ebene der ressatin gezogen war. Die beiden Frauen, die vor sie schnell aufbrechen mussten oder weil es ih- Ausstellung, die ein Projekt der Initiative Min- den Kriegen 40 Kilometer voneinander entfernt nen untersagt wurde. Heute sind es die Smart- derheiten ist und von der Stadt Wien gefördert gewohnt hatten, haben einander nie getroffen. phones, auf denen Bilder gespeichert sind, die den wird, sind Interviews, die zu hören sein werden. Die ethnischen Demarkationslinien, die scharf Geflüchteten streitig gemacht und zum Gegen- Fünf Zeitzeug_innen erzählen von ihrer Flucht, gezogen wurden, konnten sie dennoch überwin- stand rechtspopulistischer Polemik werden. Für von ihrem Ankommen, von der Bedeutung ihrer den. In dem Brief steht: «Azra! Ich kam aus Novi die Ausstellung sei es ihnen wichtig gewesen, eine Erinnerungen auch als Ressource. Als «Resilienz Travnik mit den Kindern und einer Schulterta- Verbindung zwischen der Flucht und dem Leben hoch zehn» habe eine der Gesprächspartner_in- sche, nur um die Kinder zu retten. In deine Woh- danach herzustellen, so Vida Bakondy. Die Ob- nen jene Stärke benannt, die sie aus ihren Er- nung bin ich als Dritte eingezogen. Aus der Woh- jekte, die sie gesammelt haben, bilden dabei eine fahrungen, selbst einmal geflüchtet und in Wien nung war alles weggetragen, was mit Händen Art Scharnier. «Manche der Objekte sind auf die fremd gewesen zu sein, ziehen und an Men- zu tragen war, außer sperrigen Sachen. Ich habe Flucht mitgenommen worden, manche sind hier schen weitergeben könne, die sich in einer ähn- [in Novi Travnik] auch meine möblierte Woh- erworben worden. Es gibt zum Beispiel diesen lichen Situation befinden, erzählt Bakondy. Und nung und mein ganzes Leben [...] gelassen, ich Koffer, er war eines der ersten Dinge, die ein Zeit- Širbegović: «Es geht um das Sichtbarmachen von war dort 19 Jahre. Ich kam hierher, weil ich muss- zeuge gekauft hat, als er nach Wien gekommen Geschichten. Im Grunde gilt der Satz ‹Ich bin te. Ich schicke dir die Dokumentation, die ich ist. 1991 hat er Belgrad verlassen, weil er nicht an kein typischer Flüchtling›, den ein Zeitzeuge im Fotos aus Kindheit und Jugend in Brčko und Wien im Album von Amila Širbegović Briefe aus dem Krieg schrieb Adisa Beganović an ihren in Österreich lebenden Vater
8 512 cover Gespräch formuliert hat, für alle. Es handelt sich um persönliche, um einzigartige Geschichten.» Entlang der konkreten Fluchtbiografien zeigt sich Frisör, Flüchtling, Frohnatur unter anderem, wie bedrohlich gewisse gesetzliche Re- gelungen sind. Die sogenannte Drittstaatenregelung, der zufolge Menschen, die über einen als sicher gel- tenden Staat einreisen, kein Anrecht auf Asyl wegen politischer Verfolgung haben, trat Anfang der 1990er in Kraft und betraf somit bereits die Schutzsuchenden aus den jugoslawischen Gebieten. Viele von ihnen wa- ren in den Nachbarländern, in denen kein Krieg (mehr) herrschte, nicht sicher davor, zum Militärdienst einbe- Nermin «Nero» Beharić betreibt einen Friseursalon in rufen oder weiter vertrieben zu werden. Ottakring. In der Ausstellung «Nach der Flucht» wirkt er als Zeitzeuge mit und spricht mit dem AUGUSTIN über Zusammengehörigkeitsgefühle, Ausnahmesituationen und F-Wörter. «Die Kriege haben dazu geführt, dass das Natürlichste Interview: Olja Alvir zwischen den Menschen zu Foto: Jana Madzigon etwas ganz Besonderem wurde» W Amila Širbegović ir erwischen dich ge Würdest du sagen, du bist im Transit rade nach dem Urlaub. zu Hause? Wie war das Reisen im Wien ist mein Zuhause, da fühl ich Der Bezug zur Gegenwart ist den Kuratorinnen aus Ausnahmezustand? mich wirklich daheim, da bin ich am mehreren Gründen wichtig: Gerade jüngeren Besu- Wir sind dieses Mal, für uns unge- liebsten. Ich bin gern unterwegs, komme cher_innen sollen die Zusammenhänge zwischen den wöhnlicherweise, nach Kroatien gefah- aber auch gerne nach Hause zurück. Zum Fluchtbewegungen von damals und heute vor Augen ren, mit allem Drum und Dran: Autopan- Glück waren die Testergebnisse schnell geführt werden – etwa dass 2015 die ehemals Schutz- ne, Reisewarnung, Corona-Test. Normal da und negativ, meine einzige Sorge war, suchenden aus Bosnien oftmals zu «Vorzeigeflüchtlin- fahren und fliegen wir gern überallhin, rechtzeitig wieder zur Arbeit zu kommen. gen» stilisiert wurden, um an ihnen pauschal ein Ex- es muss nicht immer der Balkan sein. empel der «Integrationswilligkeit» zu statuieren, das Wir sind nicht so damit verbunden und Wie hat sich dein Alltag durch das Co gegen die aus Syrien, Afghanistan und dem Irak Flüch- eher selten in Bosnien. Das letzte Mal wa- ronavirus verändert? tenden gewendet wurde. Das Besondere in den 1990ern ren wir vor drei bis vier Jahren dort. Wir Aus allem, was mir passiert, kitzle ich war, dass um die 100.000 Menschen aus Bosnien, Kro- schauen, dass wir alle paar Jahre hinfah- etwas Positives heraus. Mit COVID war atien und dem Kosovo in Österreich aufgenommen ren, meiner Tochter zuliebe. Sie soll schon das auch so. Seitdem ich mit 15 Jahren wurden. Sie wurden unabhängig von regulären Asyl- wissen, wo die Wurzeln ihrer Eltern sind. nach Wien gekommen bin, hab ich ge- verfahren, die zu lange gedauert hätten, mit einem be- Die wichtigsten Menschen – unsere Ge- arbeitet. Ich war seit 1992 keinen ein- fristeten Aufenthaltsstatus versehen, der ihnen zu- schwister und Eltern – sind aber eh alle zigen Tag arbeitslos, und ich habe nie mindest vorübergehend Rechtssicherheit gewährte. da. Damit verschwinden für uns die Grün- länger als drei Wochen am Stück Pause Zwei Drittel davon sind geblieben, sie sind Bürger_in- de, hinzufahren. beziehungsweise Urlaub gemacht. Heu- nen dieses Landes, Nachbar_innen, Arbeitskolleg_in- er war es das erste Mal, dass ich sehr nen, Freund_innen. Menschen mit Fluchterfahrung kön lang zu Hause war. Trotz anfänglicher Notwendig wäre es jetzt, sich eine Vorgehenswei- nen mitunter auch ein schwieriges Ver Unsicherheit habe ich die Zeit sehr ge- se zum Vorbild zu nehmen, die es erlaubt, Menschen, hältnis zum Reisen entwickeln; die Rei nossen. Ich hab mich um den Haushalt die sich auf vielen Ebenen in Ausnahmesituationen se als unsicheres Moment. gekümmert, bin vom Großstadtstress befinden, schnell zu helfen, sie aufzunehmen, ihnen Für mich hat es genau zum Gegenteil runtergekommen, hab mit meiner Toch- eine medizinische, ökonomische und soziale Versor- geführt. Als Kind konnte ich mir nie vor- ter Zeit verbracht. Danach gab es einen gung zu garantieren, ihnen ein Leben nach der Flucht stellen, irgendwo anders zu leben als in großen Ansturm im Salon, und jetzt läuft zu ermöglichen. Amila Širbegović fasst noch einmal Bosnien. Durch die Flucht habe ich gese- das Geschäft wieder gut. Wir beachten zusammen, was die Ausstellung leisten soll: «Die Un- hen, dass – geistige und körperliche – Be- die Sicherheitsmaßnahmen, versuchen sichtbarkeit von Menschen und ihren Geschichten er- weglichkeit auch unter solchen schwieri- aber sonst, auch im Ausnahmezustand laubt es anderen, diese Geschichten so zu erzählen, wie gen Umständen möglich sein kann. Man business as usual zu machen. Vielleicht es ihnen passt.» Außerdem ist sie ein Plädoyer dafür, ist gezwungen, offen zu bleiben, und fle- ist diese Einstellung auch so etwas, was sich nicht von sogenannten nationalen Schulterschlüs- xibel. Und man erlebt auch positive Sa- Leute mit Kriegs- oder Fluchterfahrung sen blenden zu lassen, bei denen jene Menschen ausge- chen auf der Flucht – Hilfsbereitschaft denen voraushaben, die solche Situati- blendet werden, die sich aufgemacht haben, um Schutz und Solidarität. Ich war immer ein neu- onen der Ungewissheit und lauernden vor Krieg, Verfolgung und Hunger zu suchen. ■ gieriger Mensch, auch schon als Kind. Gefahr nicht kennen. Jetzt habe ich zum Glück Möglichkei- Nach der Flucht. Aus Ex-Jugoslawien nach Wien Geschichten von Geflüchteten in den 1990er Jahren ten, viele Orte und Situationen kennen- Ich habe den Eindruck, dass die Aus Eröffnung: 14. September, 19 Uhr zulernen. Ich freue mich, dass meine Fa- nahmesituation Leute, die andere Bis 14. November, Hauptbücherei, 7., Urban-Loritz-Platz milie auch so ist. extreme Situationen wie Krieg und
9 512 cover Flucht erlebt haben, weniger aus der Bahn geworfen hat. Vielleicht stellt sich mit der Flucht eine gewisse Resilienz ein? Destabilisie- rung, Ausnahmesituation, Stress: Viele, die schon mal auf der Flucht waren, wis- sen damit besser umzugehen. Salopp ge- sagt: «Naja, hab schon Schlimmeres er- lebt, ist nicht so tragisch.» Bei der Ausstellung «Nach der Flucht» wirst du als Zeitzeuge sprechen. «Zeit zeuge» – ein großes, schweres Wort. Wie trägt es sich? Bei dem Wort denken viele an Zei- ten, die gefühlt «eeewig lang her sind»; an den Zweiten Weltkrieg und den Holo- caust. In Wahrheit ist jeder von uns per- manent Zeitzeuge, auch bei Dingen mit mehr Leichtigkeit. Ich bin beispielswei- Mitbürger_innen sein, das hat nichts da- Ich liebe meinen Job auch, weil er so se Zeitzeuge der Mode der 80er oder 90er. mit zu tun, ob man geflüchtet ist oder nicht. viel mit Kommunikation zu tun hat. Zu Ich denke dabei nicht sofort nur an den mir kommen Leute von überall, und viele Jugoslawienkrieg. Mich frustriert in solchen Momenten, kennen mich noch aus der Lehrzeit. Eini- dass Rassist_innen mich als «eine von ge sehe ich auch als Freunde. Meine aller- Die Vergangenheit sucht dich also nicht ihnen» zu identifizieren meinen. erste Kundin etwa, die damals schwanger heim? Teilweise erlebe ich auch Leute, die war – mittlerweile hat sie drei Kinder –, Ich denke immer: Ich kann nur mei- vor vielen Jahrzehnten nach Österreich hat mich zur Hochzeit ihrer Tochter ein- ne Zukunft verändern. Vergangenheit ist gekommen sind und dann ihre erst kürz- geladen. Beim Frisör gibt’s also nicht nur passiert, vorbei. Ich glaube aber, die eige- lich gekommenen Landsleute schlecht- den Haarschnitt – das ist selbstverständ- ne Beziehung zur Vergangenheit, konkret reden. Oder Menschen, die in gebroche- lich, da müssen Handwerk und Quali- zum Jugoslawienkrieg oder einem ande- tät auch passen –, sondern auch Kontakt ren Krieg, ist stark davon geprägt, ob man zu Menschen. Lockdown und Isolation Familie verloren hat. In dem Fall kann man bestimmt nicht so locker darüber reden wie «Wie essentiell mein haben uns gezeigt, wie selbstverständ- lich diese Art von beiläufigem Kontakt ich gerade, weil es mit viel mehr Schmerz Job ist, haben wir für uns alle eigentlich geworden ist. Erst verbunden ist. Meine Eltern und Geschwis- als er fehlte, merkten wir, wie viel wir ter haben alles gut überstanden und sind spätestens an den tagtäglich mit Leuten kommunizieren, auch jetzt in meiner Nähe, und das sehe ich Quarantäne-Haar- nicht nur mit unseren Liebsten, eben als großes Glück. auch auf der Straße, im Geschäft, mit schnitten auf Social Dienstleister_innen. Was war dann deine Motivation, bei ei ner solchen Ausstellung mitzuwirken? Media gesehen» Dabei wird der Beruf des Frisörs oft bei Mir ging es darum, mehr Verständnis spielhaft für perspektivenlose «Unter für Flüchtlinge allgemein aufkommen nem Deutsch über Zugewanderte lästern. schichtsberufe» genannt; etwas, wo man zu lassen. Es ist wichtig, dass Flucht und Die Leute glauben, wenn sie über andere nur im schlimmsten Fall lande. Flüchtlinge auch positiv dargestellt wer- schimpfen, sind sie besonders österrei- Viele haben erst durch COVID-19 ge- den. In den Medien werden Flüchtlinge chisch. Skurril! Mich macht das sehr trau- merkt, wie essentiell der Job ist und dass verunglimpft; Flucht wird mit Kriminali- rig. Es dient der Herstellung von Grup- es sich dabei um alles andere als unqua- tät und Betrug verquickt. Es kursieren Lü- penzugehörigkeit, und solange wir uns lifizierte Arbeit handelt. Das haben wir gen über die vermeintliche Sonderbehand- nicht darauf einigen können, dass wir spätestens an den vielen komischen Qua- lung von Geflüchteten. Unsinn, den auch alle einer großen, bunten Gruppe ange- rantäne-Haarschnitten auf Social Media Kund_innen bei mir im Salon manchmal hören, bleibt es schwer mit dem guten gesehen! Ich hoffe, mit meiner Arbeit und wiederkäuen. Da antworte ich dann immer, Zusammenleben. meinem Leben die dunklen Wolken über dass das nicht stimmt und dass ich selbst diesen beiden F-Wörtern – Frisör und Flüchtling bin. Diese Gespräche haben Mir gefällt das Konzept vom Frisörsa Flüchtling – etwas zu vertreiben. ■ mich sicher auch schon die eine oder an- lon nicht nur als Ort, an dem man einen dere Kundschaft gekostet. Aber vielleicht Haarschnitt bekommt, sondern auch als Ansichtssache hat es ein paar Leute auch zum Überdenken Ort des lockeren Zusammenseins und 16., Liebhartsgasse 55-57 angestoßen. Alle Menschen können gute des Austausches. ansichtssache.co.at
10 512 TUN & LASSEN Bittere Not, rebellische Kraft Im August fand in Berlin der vorletzten Jahrhundertwende zogen Men- knapp vorher abgesagt. Unter anderem Vagabundenkongress 2020 schen aus unterschiedlichsten Gründen Hugo Sonnenschein rief anschließend zu statt. Wie vor hundert Jahren geht über die Landstraße: nomadische Minder- einem Treffen 1933 in Kalkutta auf. Mit es auch heute um wirtschaftliche heiten, Handwerksgesellen auf der Walz, der Machtübernahme der NSDAP jedoch Not und politische Kultur in einem. jugendliche Wandervögel, Menschen, die wurde es für Vagabundierende gefährlich, aus Not bettelnd und auf der Suche nach viele landeten als so genannte «Asozia- Arbeit vagabundierten, oder jene, die aus- le» in Arbeits- und Konzentrationslagern. Text & Fotos: Andreas Pavlic, stiegen und zu den Kreisen der Boheme ge- In späterer Zeit gab es immer wieder Eva Schörkhuber hörten. Neben den Roma, Sinti und Jeni- Initiativen, an die Vagabundenbewegung schen waren es die beiden letzteren, die zu erinnern. Der Vagabundenkongress in D im Fokus staatlicher Sanktionen standen. Berlin knüpfte bewusst an diese Tradition er Mariannenplatz in Ber- Die Vagabondage war aber nicht nur An- an, zumal die Bewegung in den 80er-Jah- lin-Kreuzberg liegt hinter feindungen ausgesetzt: Dichter_innen wie ren in Westberlin durch eine Ausstellung dem Bethaniendamm, wenige Hugo Sonnenschein huldigten ihrer rebel- im Künstlerhaus Bethanien am Marian- Schritte vom berühmten Rauch- lischen Kraft. nenplatz eine Wiederentdeckung erfuhr. Haus entfernt, dessen Besetzung 1971 von 1927, als die wirtschaftliche Not Hun- der Band Ton Steine Scherben nicht nur derttausende durchs Land trieb, grün- musikalisch unterstützt wurde. Der Platz dete Gregor Gog die «Bruderschaft der Menschen zogen aus ist langgezogen, von alten Platanen ge- säumt. In der Mitte befindet sich ein Oval Vagabunden», die auch eine Künstler_in- nengruppe umfasste und den Kunden, die unterschiedlichsten mit Steinstufen, eine Art Forum, das sich Zeit- und Streitschrift von und für Vaga- Gründen über die ausgezeichnet eignet, um im öffentlichen bundierende, herausgab. 1929, auf dem Raum die Tradition der Vagabundenkon- 1. Vagabundenkongress in Stuttgart, ver- Landstraße gresse aus den späten 1920er-Jahren wie- kündete Gog die Parole «Generalstreik der aufleben zu lassen. ein Leben lang!», um gegen wirtschaftli- Vagabund_innen 2020. Die Organisator_ che Ausbeutung und bürgerliche Wert- innen des «VAGA 2020», der von 21.–23. Generalstreik ein Leben lang! Vaga- vorstellungen zu protestieren. Der für August in Berlin stattfand, waren mit ei- bundieren ist ein uraltes Phänomen. Zur 1930 in Wien geplante 2. Kongress wurde nigen Schwierigkeiten konfrontiert, die
11 512 tun & lassen nur teilweise COVID-19 geschuldet waren: Das Grünflächenamt in Berlin untersag- te die Veranstaltung. Angemeldet wurde «Vagabondage findet auch schließlich eine Kundgebung am Marian- nenplatz für Samstagnachmittag, die Ver- anstaltungen am Freitag und am Samstag- im Kopf statt» abend wurden dezentral, in nahegelegenen selbstverwalteten Orten, abgehalten. Nach einem Community Dinner ging es zur Aus- stellungseröffnung in die Galerie SO36, wo Tanja hat den Vagabundenkongress 2020 in Berlin Siebdruckplakate, Collagen und T-Shirts mitorganisiert. Sie ist im Verein Unter Druck – Kultur von der gezeigt und verkauft wurden. Am Samstag Straße aktiv, der einen Treffpunkt für Wohnungslose und das wurde der Mariannenplatz mit Konzerten, Kunstkollektiv Czentrifuga betreibt. Vorträgen, Workshops und einem Vagamu- sical bespielt, am Abend der angrenzen- INterview: Andreas Pavlic, Eva Schörkhuber de Wagenplatz mit einer Revue und einem W Konzert. Am Sonntag trafen sich die Teil- nehmer_innen zu einer Vollversammlung, ie funktioniert in Eurem Verein Bereichen, der Czentrifuga und der Wohnungs- bei der Forderungen von Wohnungslosen der Treffpunkt für Wohnungslose? losentagesstätte, ein Transfer der künstleri- diskutiert wurden. Einige der Teilnehmer_ Tanja: Der Grundgedanke ist schen Praxis hergestellt werden kann. Zwi- innen, die auftraten, Workshops abhielten, Hilfe zur Selbsthilfe. Es gibt eine schen den beiden Einrichtungen gab es schon moderierten und sich an der Organisation wöchentliche Teamsitzung und prinzipiell viele Berührungspunkte und soziokulturelle beteiligt hatten, leben aktuell ohne festen läuft es partizipativ und selbstorganisiert. Im Projekte mit dem Ziel des Empowerments, aber Wohnsitz in Berlin. Konkreten gibt es eine Sozialberatung, einen das war uns nicht politisch genug. Beim Vaga- Cafébetrieb mit täglichem Essen, Wasch- und bundenkongress von Gregor Gog 1929 in Stutt- Übers eigene Leben bestimmen. Eines der Duschmöglichkeiten und ein Kulturangebot. gart war es auch so, dass neben den Vagabund_ wichtigsten Anliegen, das hier zur Sprache innen viele Künstler_innen und Bürgerliche kam, ist – nach Vorbild einer Initiative in Woher kam die Idee, einen Vagabunden teilgenommen haben. Marseille – die Einrichtung von selbstver- kongress zu veranstalten? Wir wollen dem Thema der Obdachlosig- walteten «Bagagerien»: Dabei handelt es Tanja: Vor circa 4 Jahren haben wir uns bei keit das Stigma nehmen. Es kann jede und je- sich um Räume, in denen obdach- oder woh- Unter Druck überlegt, wie zwischen den beiden den treffen. Gerade in Berlin, wo die Gentrifi- nungslose Menschen für einen bestimm- zierung überhandnimmt, die Mietpreise nach ten Zeitraum ihr Gepäck unterbringen, du- oben geschnellt sind, trifft es ganz viele. Wobei schen, Wäsche waschen und Computer mit Vagabondage nicht nur als körperliche Bewe- Internet benutzen können. Das Hauptau- gungsform Sinn macht, sondern auch im Kopf. genmerk bei dieser Forderung liegt auf der Selbstverwaltung, um diese Räume selbst- Wie verliefen die Vorbereitungen? bestimmt und ohne Sanktionen gestalten Tanja: Die Organisation war gar nicht so und nutzen zu können. An Mitspracherecht einfach, da die Besucher_innen des Woh- bei Entscheidungen, wie mit Wohnungslo- nungslosentreffpunkts sehr mobil sind. Ein sigkeit, mit freien Zugängen zu Wohnraum, Instrument, um gemeinsam Öffentlichkeits- Bildung, Nahrung umzugehen sei, mangelt arbeit zu machen, ist, ein Zine zu machen. Es es grundsätzlich: Zur Strategiekonferenz zur gab ein monatliches Redaktionstreffen, mit Wohnungslosenhilfe des Berliner Senats, die den gesammelten Beiträgen überlegten wir seit drei Jahren regelmäßig stattfindet, wer- die Gestaltung des Heftes, es wurde gemein- den kaum obdachlose Menschen geladen. sam produziert und zum Abschluss gab es eine Dass in großem Ausmaß über ihre Köp- Releaseparty. fe hinweg darüber bestimmt wird, wie und mit welchen Auflagen sie zu leben haben, Habt ihr im Vorfeld auch über mögliche Forde ist für alle unerträglich. In einem O-Ton- rungen diskutiert? Kommentar auf der Homepage des VAGA Tanja: Wir wollten bewusst nichts vorweg- 2020 heißt es dann auch: «unsere kraft ist nehmen, aber es ist ja so, dass man die Woh- doch vielmehr, dass wir trotz ablehnung nungslosigkeit recht gut beenden könnte, den kongress durchgeführt haben, die enor- wenn man die Menschen fragen würde, was me vielfalt der teilnehmenden, die aktio- sie brauchen und wollen. Ich weiß, es ist ein nen, die beteiligten orte und grüppchen, die komplexes Thema, aber zum Beispiel erzäh- zugereisten, das fette programm und die len uns Leute, sie können zur Kältehilfe nicht grossartige stimmung. das ist unsere kraft, hingehen, da keine Hunde reindürfen, oder an- widerspiegelt unsere freiheiten und wider- derswo darf man als Frau nicht rein. Die ande- spenstigkeit, unsere (auch politische) kul- re Sache ist, dass der Kapitalismus Wohnungs- tur, demonstriert unsere kreativität und losigkeit produziert – und natürlich gehört er phantasie und gibt mut für utopien.» ■ abgeschafft. ■ vaga2020.de Der Obdachlosigkeit das Stigma nehmen – Vagabummm … unterdruck.poetaster.de
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13 512 immo aktuell Wohnen – jetzt neu & sozial! Neues soziales Wohnen. Die Internationale Bauausstellung Wien läuft seit 2016 und noch bis 2022. Zeit für eine Zwischenbilanz. Text: Bettina Landl Illustration: Much I nternationale Bauausstellungen (IBA) gibt es seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Gemein- sam ist allen, dass sie sich als Spiegel ihrer Zeit auf gesellschaftliche, technische und kulturelle Strömungen und Entwicklungen ver- sich das Sparen infolge unattraktiver Zinsni- Auch bei der Vergabe des Wiener Wohn-Tickets, standen wissen wollen. Die IBA_Wien zum Neu- veaus kaum mehr lohnt, konzentrieren sich in das den Zugang zum kommunalen und geförder- en sozialen Wohnen (2016–2022) ist vergleichs- wirtschaftlichen und sozialen Wachstumsre- ten Wiener Wohnungsangebot ermöglicht, gibt weise kurz. Zwischenbilanz wird in einem Buch gionen lukrative Investitionsmöglichkeiten in es Änderungsbedarf – die Bedingung, dass man und einer Ausstellung gezogen. gewerbliche und Wohnimmobilien. Um über- mindestens zwei Jahre durchgehend an der aktu- durchschnittliche Mietpreissteigerungen zu ver- ellen Wiener Adresse hauptgemeldet sein muss, Wille zur Verbesserung. Laut Organisator_in- meiden, bedarf es einer politischen Regulation. schließt viele Menschen in schwierigen Wohn- nen haben sich Internationale Bauaustellun- «Die angespannte Lage am Wohnungsmarkt, situationen aus. gen im 20. Jahrhundert als Inst- aber auch die massiven Sanierungs- rumente der Innovation bewährt «Wir müssen die aktivitäten im Altbau, die eine Reihe Keine Wegwerfarchitektur. «Seit den 1960er und verstehen sich als Reaktion qualitativ eher bescheidener, aber Jahren fehlt es in Wiens Neubau an Kleinteilig- auf bestehende Defizite. «Aber in den letzten sehr günstiger Wohnungen vom keit und funktionaler Durchmischung», ergänzt stellt Wien tatsächlich Bishe- 50 Jahren Markt verschwinden lassen, haben Stadtplaner Seiß. «Wir errichten mit wenigen riges in Frage, oder präsentiert die Situation für Menschen in und Ausnahmen nach wie vor weitläufige Wohn- und es der Welt eher sein Best-of ?», absolut unurban am Rande der Obdachlosigkeit ver- Gewerbegebiete, große Büro- und Einkaufskom- fragt Stadtplaner Reinhard Seiß entwickelte schärft», schreibt Thomas Ritt, Öko- plexe und glauben, dass daraus irgendwann so im AUGUSTIN-Gespräch. «Eine nom und Leiter der Abteilung Kom- etwas wie Stadt entstehen wird. Hier auszubre- IBA soll kein Stadtmarketingins- Stadt jetzt munalpolitik der Arbeiterkammer chen und zu sagen: Wir hören sofort auf mit die- trument sein, sondern neue Wege umbauen» Wien in Neues soziales Wohnen. Po- sen monofunktionalen Quartieren, ja mehr noch, zu beschreiten helfen. Wien hat sitionen zur IBA_Wien 2022. Die Er- wir bauen die in den letzten 40 bis 50 Jahren sich mit dem Wohnbau aber genau das The- richtung von günstigen Neubauwohnungen mit absolut unurban entwickelte Stadt schrittwei- ma ausgesucht, in dem es ohnehin am besten geringen oder keinen Finanzierungsbeiträgen se um, wir schieben die unsägliche Wegwerf ist, zumindest in sozialpolitischer Hinsicht.» (SMART-Wohnungen) sowie die Zusammen- architektur von Handel und Gewerbe samt de- Wäre Wien selbstkritisch genug, würde es bei arbeit von Stadt und Gemeinnützigen mit So- ren Parkplatzwüsten so schnell wie möglich weg der IBA darum gehen, einen stadtplanerischen zialverbänden seien gute Ansatzpunkte, auf de- und bauen eine zusammenhängende, vitale und und städtebaulichen Paradigmenwechsel vo- nen aufgebaut werden könne. Zusätzlich sollten schöne – also eine lebenswerte – Stadt. Das wäre ranzutreiben. So würden die großmaßstäbli- Menschen, die es besonders schwer haben, bei ein wegweisender Ansatz!» Aber dafür, so Seiß, che Bebauung der neuen Entwicklungsgebie- der Wiedervermietung von lastenfreien und da- «bräuchte es statt der weitverbreiteten Selbstzu- te und ihre Autoabhängigkeit nach wie vor im mit besonders günstigen gemeinnützigen Miet- friedenheit eine selbstkritische Diskussion über Widerspruch zu einer nachhaltigen und urba- wohnungen (Bruttomiete etwa 7 Euro/m2) bes- Stadtentwicklung». ■ nen Stadt stehen. sere Chancen auf einen bestenfalls unbefristeten Mietvertrag haben. «Eine Regelung, dass etwa IBA_Wien 2022 / future.lab (Hg.): Neues soziales Wohnen. Anspannung am Wohnungsmarkt. Im Zeit- ein Drittel dieser Wohnungen über Sozialver- Positionen zur IBA_Wien 2022 raum 2009 bis 2019 stieg die Einwohner_in- bände oder zu Bedingungen von SMART-Woh- Jovis 2020, 256 Seiten, 35 Euro nenzahl Wiens um 217.356 Personen auf aktuell nungen vergeben werden, wäre ein großer Fort- Wie wohnen wir morgen? knapp 1,91 Millionen. Insgesamt stehen 220.000 schritt für benachteiligte Menschen, aber auch Ausstellung, WEST, 7., Stollgasse 17 Gemeindewohnungen zur Verfügung. Und seit für die soziale Durchmischung in der Stadt.» 8. September – 22. Oktober
14 tun & lassen magazin VOLLE KONZENTRATION 5 Jahre March of Hope Der Tag, an dem der Grenzbalken Alles kommt raus Geschichte war Der Journalist Max Zirngast hat Recht A bekommen: Der österreichische Staat hat seine Verfahrensrechte verletzt, m 4. September 2015 schrieb stellt das Oberlandesgericht Graz eine Gruppe von Menschen zwi- Ende August fest. Die Staatsanwalt- schen Budapest und Nickelsdorf schaft Graz habe ihm, als er von Sep- Geschichte. Nach Wochen des Fest tember 2018 bis September 2019 in steckens am Keleti pályaudvar, dem der Türkei inhaftiert war, für sein Ver- Ostbahnhof der ungarischen Haupt- fahren relevante Informationen vorent- stadt, von dem es kein Fortkommen mit halten: nämlich, dass es auch in Öster- Zügen mehr gab, brachen Hunderte auf, reich Ermittlungen gegen ihn gab und um ihren Fluchtweg zu Fuß fortzuset- die österreichischen Behörden den tür- zen. Die Kraft dieses Aufbruchs mach- Foto: Lisa Bolyos kischen gegenüber behaupteten, es bestünde der Verdacht, Zirngast sei te möglich, womit niemand gerechnet Mitglied in einer als terroristisch ein- hatte: Die Grenzen wurden geöffnet; gestuften Organisation. Dabei, stellt der March of Hope hatte gesiegt. Die- sich jetzt heraus, gab es dazu gar kei- ser «Sommer der Migration» nahm die Geschafft im doppelten Wortsinn – ne Ermittlungsergebnisse. So schützt Utopie eines offenen Europas vorweg. Nickelsdorf im Morgengrauen des 5. September 2015 der Staat seine Schäfchen im Ausland. Willkommenskultur, Bewegungsfrei- heit, Selbstbestimmung der Geflüchte- ten – Schlagworte, die in einem kurzen Erinnerung in Familien und Freund_in- Zahlt uns was aus Zeitfenster bis in die Yellow Press der nenkreisen. Das Wissen, dass es vor fünf Ankunftsländer hinein positiv konno- Jahren möglich war, Grenzen zu über- So wichtig uns die Pfleger_innen, die tiert waren. winden, bestärkt Initiativen wie We’ll 24-Stunden-Betreuer_innen und die Fünf Jahre später ist das euro come united darin, dem Grenzregime Erntehelfer_innen sind, um uns zu er- päische Grenzregime «back to normal» auch weiterhin die Zukunftsfähigkeit halten und zu ernähren, so wurscht sind uns ihre Kinder. Das lässt die Regierung, und «back to brutal». Im Gedenken an abzusprechen. bestehend aus Familienpartei ÖVP und den March of Hope gibt es Aktionstage, lib den grünen Ex-Indexierungs-Gegner_ Demonstrationen und wahrschein- innen, durch die Blume bzw. den ein- lich eine Menge stiller Momente der welcome-united.org malig ausgezahlten Kinderbonus aus- richten. Der wird im September in der vollen Höhe von 360 Euro ausbezahlt, wenn die Kinder in Österreich leben. Leben sie allerdings in Rumänien, gibt’s knapp weniger als die Hälfte. Die logi- Speakers' Corner sche Konsequenz muss sein: Rumäni- sche Arbeitskräfte zahlen in Österreich auch nur noch die Hälfte an Steuern. KdK Holt uns hier raus I ch bin die unangefochtene Köni- mit ihrem Geld die Grenzen der Moral gin der Katastrophen (KdK). Wie überschreiten dürfen) … machte nur Und noch einmal die Kinder. Wien will bin ich? Was macht mich so an- einmal Diät nach einer lebensbedroh- 100 Kinder aus den überfüllten, psy- ders? Bin ich anders? Ist das gut oder lichen OP … bin für Strafen nach Ge- chisch und physisch gesundheitsge- schlecht? haltshöhe … liebe Liebe … kann nicht fährdenden Flüchtlingslagern in Grie- Kurzbeschreibung einer nicht ste- Haushalt führen … Friede und Frei- chenland aufnehmen. Erstens ist das reotypen KdK: 165 cm groß … mindes- heit ist mir das Wichtigste … bin Ma- peinlich wenig – wieso nimmt eine ten 30 kg Übergewicht … nonstop am mas Kind … will keine Führer/innen Großstadt nicht 10.000 Menschen auf Reden und Analysieren … in 60s ge- … bedingungsloses Grundeinkom- von einen Schlag auf? – und zweitens wird boren … 80s in Wien 22 … bedeutet men ist logisch … finde die momenta- Grace Marta es nicht passieren, denn die Bundes- Drogenerfahrung … wollte nie Kinder ne Drogenpolitik dumm … make love regierung stellt sich quer. Das ist eine Latigo … habe Katze … stehe total auf Poli- not war… baba und foi ned. ganz falsche Welt, in der man zuschaut, tik … kann keine Ungerechtigkeit aus- Wenn ihr glaubt, ich bin nichts Be- wie Menschen traumatisiert werden, stehen … bekennende Proletarierin … sonderes – freut mich. krank werden, verrecken. Weil man de- denke oft an Sex … habe kein Kapital- Findet ihr, ich habe recht – freut nen, die eine so einfach zu bewerkstelli- denken und mache die besten Finanz- mich auch. gende Rettung verhindern, nichts Böses konzepte … mag gesunde Aggression an den Leib wünschen darf, bleibt uns und Wut … rede gerne mit Älteren … Hier schreiben abwechselnd Puneh nur, ihnen die Weisheit zu wünschen, Leben ohne Süßigkeiten geht nicht Ansari, Bärbel Danneberg und Grace doch noch richtig zu handeln. … finde Reiche unheimlich (weil sie Marta Latigo nichts als die Wahrheit.
15 512 tun & lassen Dokumentarfilm Sachbuch Fiebersenken Wider den Konjunktiv M itten in die Lektüre von Drehli Robniks Ansteck- kino (Besprechung folgt) über den «Pandemie-Spielfilm» «W ie viele Generatio- nen wollen wir denn noch verschwen- den?», fragt Melisa Erkurt und ein – und lässt dabei zu oft an- dere über sie sprechen. Drittens verlassen sich konkrete Forde- rungen auf verallgemeinernde kündigt sich großes Epidemie analysiert Sprachlosigkeit, ver- Beobachtungen über «die Mehr- kino im Dokumentarsegment an. bunden mit fehlenden Vorbil- heitsgesellschaft» oder ignoran- Foto: pooldoks Katharina Weingartner hat in dern, als typisch österreichische te «Bobo-Eltern». mehrjähriger Arbeit einen neuen Begleiterscheinung eines sicht- Was sich nach journalisti- Dokufilm produziert: Das Fieber baren Migrationshintergrundes. schen Kriterien als Aktionismus Heilpraktikerin Namyalo kämpft gegen Malaria feiert am 24. September im Gar- Die Journalistin und Deutsch- bezeichnen lässt, nennt Erkurt tenbaukino Premiere. Der Film lehrerin hat der Assimilation selbst «hart und ehrlich». Die erzählt, angesiedelt am ostafrika- einjährige Beifuß, wird von Heil- abgeschworen. Sie benennt ras- Autorin regt nicht an, was viel- nischen Lake Victoria, aus Pers- kräuterspezialist_innen und Me- sistische Strukturen als solche, leicht unter Umständen durch- pektive von Gesundheitsaktivist_ diziner_innen prophylaktisch und kritisiert ein Bildungssystem, aus anzudenken wäre – Erkurt innen, Wissenschaftler_innen und kurativ als Tee empfohlen. Der das sich auf überforderte Eltern sagt an. Möge ganz Österreich Betroffenen vom Kampf gegen Ma- Pharmaindustrie passt das nicht, verlasse, und deckt Doppelmo- ihr zuhören. laria, der todbringendsten Infekti- die WHO rät ab. Das Fieber wagt ral auf, die ihr im Lehrerzimmer, Mareike onskrankheit der Welt. Hier trifft einen Blick über den schulmedizi- unter ORF-Kolleg_innen und in Boysen Kolonial-, Agrar- und Gesund- nischen Tellerrand und findet tief öffentlichen Debatten begegnet. heitspolitik auf eine aktuelle Fra- beeindruckende Geschichten über Erkurts erstes Buch Gene- Melisa Erkurt: ge: Why do Black Lives not Mat- die Kraft, mit der um Lösungen für ration haram hat neben vielen Generation haram. ter enough? Sie habe sechs Kinder eines der größten Gesundheitspro- Stärken drei formale Schwä- Warum Schule an Malaria verloren, erzählt eine bleme auf Erden gerungen wird. chen: Erstens ist es schlampig lernen muss, allen eine Stimme zu Frau, und man bleibt sprachlos zu- lib lektoriert. Zweitens fordert die geben rück. Im Zentrum der Story steht Autorin für die Verlierer_in- Zsolnay 2020 eine Pflanze: Artemisia annua, der dasfieber.com nen des Systems eine Stimme 192 Seiten, 20 Euro DESPERADO-SCHACH von Häm und Bernleitner V or sechzig Jahren fegte der 24-jährige Droht Th8 mit Damenfang. 19... e4?! sieht Michail Tal wie ein Wirbelsturm durch nur auf den ersten Blick gut aus. 20.dxe5 die erstarrenden Strukturen des Sow- Scxe5 Jetzt würde auf 20... Th8? 21.e6! Dxe6 jetschachs und entriss Michail Botwinnik in 22.Te3 Txh5 23.Txe6+ Kf7 24.Txg6! folgen. selten kreativem Stil den Weltmeistertitel. 21.Te3 Kd7 Wieder wäre auf 21... Th8? Allerdings rächte sich der Patriarch, wie sein 22.Txe5+ Kd7 23.Te7+! Dxe7 24.Dxg6 fatal. Spitzname lautete, ein Jahr später, als er die 22.Tb1 b6? Die entscheidende Schwächung. WM-Krone von Tal wieder zurückeroberte. 22... Lc6 23.Sd4 f4 24.Txe5! Sxe5 25.Dxf7+ Sxf7 26.Lxf4 Tae8+ 27.Kd2 war notwendig. Tal – Botwinnik 23.Sf4! Tae8 Zum dritten Mal scheitert 23... Moskau 1960, 1. WM-Partie Th8, diesmal an 24.Sxg6! Sxg6 25.De2 Txh4 26.Da6. 24.Tb4! Lc6 1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Lb4 Französisch Wi- nawer – eine spannende Partie kündigt sich Siehe Diagramm an. 4.e5 c5 5.a3 Lxc3+ 6.bxc3 Dc7 7.Dg4 Tal lenkt die Partie in unwegsames Gelände. 25.Dd1! Die entscheidende Spielverlage- Solid war 7.a4 oder 7.Sf3. 7... f5 8.Dg3 Se7 sicher, daher war 14... Sc6 nebst 0-0-0 ange- rung. Der Bd5 steht unter Beschuss, außer- 9.Dxg7 Tg8 10.Dxh7 cxd4 11.Kd1!? Damals sagt. 15.Ke1 Dxe5 Noch einmal sieht 15… Sc6 dem droht Le2-h5. 25... Sxf4 26.Txf4 Sg6 ganz außergewöhnlich; verhindert Dxc3 und besser aus. 16.Lg5! Auch der schwarze Kö- 27.Td4 Droht 28.c4, wogegen 27... f4? we- droht 11.Sf3. 11... Ld7 Besser als 11... Dxc3 nig bleibt in der Mitte, doch wohin mit den gen 28.Dg4+ keine Verteidigung ist. 27... 12.Tb1 oder 11... Dxe5 12.Sf3. 12.Dh5+ Sg6 Türmen? 16... Sc6 Nur scheinbar gut ist 16... Txe3+ 28.fxe3 Kc7 29.c4! Kraftvoll! 29... 13.Se2 Droht 14.Sf4. 13… d3! Das richti- f4? 17.d4! Df5 18.Sxf4 Dc2 19.Se2. 17.d4 Dc7 dxc4 Nichts hilft 29... Se7 30.cxd5 Sxd5 (30... ge Gegenspiel nach 37 Minuten Nachden- Zurück, denn 17... De4 18.Tc1 ist nicht ange- Lxd5 31.Lxe7 Dxe7 32.Dc1+) 31.Lc4 Kd6 ken. 14.cxd3 La4+?! Erste Verwirrungen nehm. 18.h4! Kreativschach pur! Der Turm 32.Lf4+ Kc5 33.Dc2. 30.Lxc4 Dg7 31.Lxg8 bei Botwinnik. Auf e1 steht der weiße König findet über h3 ins Spiel. 18... e5 19.Th3 Df7 Dxg8 32.h5 1–0
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