Gut angekommen? - 2,50 - Augustin

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Gut angekommen? - 2,50 - Augustin
Erste österreichische Boulevardzeitung

                                             2,50
                                         1,25 für den_die
                                          Verkäufer_in

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                                         Augustin-Ausweis

NUMMER 512 9. 9. – 22. 9. 2020

         Gut
    angekommen?
               Jugoslawische
             Geflüchtete in Wien
                             Seite 6

Beigelegt: wienwoche «power and privilege»
Gut angekommen? - 2,50 - Augustin
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                                                                                                                                                                                            512
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E D I TO R I A L

                                               E
                                                       s war nicht abgesprochen, es ist «passiert», dass    ausschließlich an öffentlichen Orten auf, um «den Le-
                                                       Uwe Mauch in seiner Rubrik «Lokalmatador_in»         bensraum Stadt zurückzuerobern». Nina Thiel begab sich
                                                       eine Ergänzung zum Coverdossier lieferte. Mar-       zum Urban-Loritz-Platz, um von der KLAUS’schen Inter-
                                                ko Iljić, der aktuelle Lokalmatador, ist mit seinen Eltern  vention Princess in Wort und Bild zu berichten (S. 22).
                                                1972 «ganz klassisch» am damaligen Südbahnhof ange-            Der Mariannenplatz liegt in Berlin-Kreuzberg und
                                                kommen. Das «Gastarbeiterkind» Mar-                                         war im August Schauplatz der Kundge-
                                                ko studierte später, heute arbeitet Herr                                    bung zum «Vagabundenkongress 2020».
                                                Iljić als Fremdenführer in Wien (S. 19).         Den Lebensraum Inhaltlich knüpfte die Neuauflage an den
                           von                      Nermin Beharić betreibt einen Frisier- Stadt zurückerobern historischen Kongress von 1929 an, denn
                        Reinhold                salon in Ottakring. Auch er kam aus Jugo-                                   es gilt auch heute noch, gegen die wirt-
                       Schachner                slawien nach Österreich, aber nicht aus                                     schaftliche Ausbeutung und politische
                                                freien Stücken, er flüchtete im Krieg. Im Gespräch mit      Repression von Nichtsesshaften anzukämpfen. Mit von
                                                Olja Alvir erzählt der Friseur von den sozialen Agenden,    der Partie in Berlin waren unsere Mitarbeiter_innen An-
                                                die sein oft unterschätzter Beruf mit sich bringt, aber vor dreas Pavlic und Eva Schörkhuber, die übrigens auch die
                                                allem über seine Erfahrungen als Flüchtling und sein Mit-   Titelgeschichte (S. 6) verfasste. Ihren Report aus Ber-
                                                wirken als Zeitzeuge bei Nach der Flucht (S. 8). Diese Aus- lin über die moderne Vagabundenbewegung können Sie
                                                stellung ist ab Mitte September in der Hauptbücherei zu     auf Seite 10 lesen.
                                                sehen und war Anlass fürs vorliegende Dossier.                 Es menschelt in einem positiven Sinne verstanden
                                                    Die Hauptbücherei spielt auch im Beitrag über das       ziemlich stark in diesem Heft, und das ist auch gut so in
                                                Kollektiv KLAUS eine Rolle, denn die Performancegrup-       Zeiten, in denen unser Zusammenleben mit einer vier-
                                                pe nutzt das Gebäude als Kulisse. KLAUS führt (sich)        farbigen (!) Ampel geregelt wird.                     ■
I N H A LT

                                                  Cove
                                                  stor yr

                   tun & lassen                                    vorstadt                                art.ist.in                              dichter innenteil

                   Ankommen in Wien                                «Was tut ihr?»                          Der Asphalt, der die Welt bedeutet      Entblätterung
                   In einer Ausstellung erzählen Ex-               Das analoge Rollenspiel stirbt nicht    Das Kollektiv KLAUS macht die           Cherchez la Femme
                   Jugoslaw_innen vom Leben nach der               aus                       Seite 16     Straße zur Bühne       Seite 22        Von Jella Jost                    Seite 28
                   Flucht                       Seite 6                                                                                           

                   Frisör, Flüchtling,                        8   Lokalmatador Marko Iljić  19           Musikarbeiter unterwegs …  24          Wie war Amstetten?27
                   Frohnatur                                       «Gastarbajter»-Kind und Fremdenführer   mit chra aka Christina Nemec            Gedicht von -Herr Bert
                   Nermin Beharić ist Zeitzeuge für vieles
                                                                   vorstadt magazin                 20    art.ist.in magazin            25-26    Lyrik31
                   Bittere Not,                             10                                                                                    Von Sonja Henisch
                   rebellische Kraft
                   Beim Vagabundenkongress in Berlin                                                                                               Phettbergs Fisimatenten 31
                                                                                                                                                   Wehnsucht
                   Immo aktuell		                            13
                   Neues soziales Wohnen bei der                                                                                                   Herr Groll auf Reisen                   32
                   IBA_Wien 2022 – ein Zwischenstand                                                                                               Hollywood in Hainburg, von Erwin Riess

                   tun & lassen magazin                 14–15                                                                                     Gottfrieds Tagebuch 	 33
                                                                                                                                                   Weltverschwörung und Eselsbrücke

                   Kolumnen & Rubriken: Augustiner_in 3, Wiener Winkel, wos is los …, Fanpost 4, eingSCHENKt, Gustl 5, Schach 15, Kreuz&Wort 20,
                   Die Abenteuer des Herrn Hüseyin 30, Tonis Bilderleben 31, Impressum 33, Magdalena Steiner 36                                    AUGUSTINCHEN                            34
                   mittig unsere Programmbeilage, die Strawanzerin                                                                                 Die Doppelseite für Kinder
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                                                               Susanne Efthimiou

                             An der Grundidee festhalten
                                                              Protokoll: Jenny Legenstein
                                                                   Foto: Mario Lang

S
        eit 17. August bin ich, als Nachfolgerin     Behinderung bei ihrer Wohnplatzsuche und              Diese Aufgabe hat mich sehr bereichert. Die Ver-
        von Evi Rohrmoser, beim Augustin für         Alltagsbewältigung begleiten, so individuell,         antwortung, die man damit übernimmt, ist groß,
        die Administration und Buchhaltung zu-       wie die Menschen waren. In dieser Zeit habe           aber es ist auch großartig, diesen Gestaltungs-
        ständig. Evi hat mich eingeschult und mir    ich wohl am meisten darüber ge-                                      raum einnehmen zu dürfen.
viel Hintergrundwissen mitgegeben.
   Ich bin aus Niederösterreich und komme aus
                                                     lernt, wie manch eine_r der Ge-
                                                     sellschaft mit Menschen umgeht,
                                                                                           Ich mag den                       Zur Entspannung gehe ich
                                                                                                                          sehr gern wandern, tanzen oder
einem Mehrgenerationenhaushalt mit Bäckerei.         die nicht den Leistungskriterien      Austausch mit                  ins Kino. Ich lese gern und ich mag
Ich habe viel im Verkauf, aber auch in der Back-     unserer Arbeitswelt und Gesell-                                      den Austausch mit Menschen
stube geholfen und es geliebt, wenn ich morgens      schaft entsprechen.                  Menschen über                   über bewegende und mir wichti-
um 6 Uhr das frische Brot und Gebäck in den             Nach der Geburt meiner bei-                                       ge Themen.
Verkaufsraum bringen konnte; an Bäckereien,          den Kinder habe ich 5 Jahre
                                                                                          bewegende und                      Was mich am Augustin be-
wo auch immer, komme ich heute noch schwer
vorbei, der Duft ist zu verführerisch.
                                                     im Verkauf eines Biohofladens
                                                     mitgearbeitet.
                                                                                            mir wichtige                  eindruckt ist, wie stimmig an
                                                                                                                          der Grundidee festgehalten wird:
   Die Fremdenverkehrsschule habe ich in Bad            Bis Ende Juli dieses Jahres          Themen                       durch den Verkauf der Zeitung
Ischl gemacht, aufgrund fehlender Arbeitsplätze      war ich bei SMIR, einem gemein-                                      den Menschen, die aus verschie-
in Amstetten bin ich 1995 nach Wien gekommen         nützigen Verein, der ganzheitliche Hauskran-          densten Gründen vom Arbeitsmarkt ausge-
und habe zwei Jahre die Buchhaltung bei Reise-       kenpflege im 23. Bezirk anbietet. Dort war ich u.a.   schlossen sind, zu helfen, ihre finanzielle Not
veranstaltern gemacht. Nach einem schweren           für die Vereinszeitung, Administration und für        zu lindern und mit den Menschen in Kontakt
Unfall war mir klar, dass ich im Sozialbereich ar-   die Beratung von Angehörigen verantwortlich.          zu bleiben.
beiten möchte, für mich reine Büroarbeit zu we-         Seit 2010 lebe ich in einem selbstverwalte-           Die Unabhängigkeit des Augustin beein-
nig Kontakt mit Menschen bietet. Die Lebensbe-       ten Gemeinschaftsprojekt. Wir treffen uns jeden       druckt mich ebenfalls, sie trotz aller Aufs und
rater_innen-Ausbildung war sehr intensiv und         Monat zu einer Versammlung, entscheiden ge-           Abs beizubehalten, zeugt von einem starken und
wichtig für meine Persönlichkeitsentwicklung.        meinsam unsere Projekte und Vorhaben, haben           kreativen Team. Ich bin stolz, in diesem Team
   Die folgenden fünf Jahre war ich bei Jugend       regelmäßig Arbeitstage im Freiraum. Eine Perio-       zu sein und mit meiner Arbeit einen Teil zum
am Werk und durfte Menschen mit geistiger            de lang war ich als Sprecherin im Leitungsteam.       ­Augustin beitragen zu können.                 ■
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WIENER WINKEL   einsicht

                Gute Drogen oder Gewalt in der famiglia? Koch/Kellner-Plastik, 1060 Wien. Foto: Lisa Bolyos

                             wos is los …                                                                                 FANPOST
                   … beim Augustin

 D
                                                                                         Berührende Gedichte                         Beste Grüße und weiter so,
        ie Jury hat getagt, die Jury hat entschieden. Die Journa-                                                                                  Maximilian Petrin
        listin Alexandra Stanić, Christine Grabner, Chefredakteu-                        Betrifft: Der Literat und sein Bart,
        rin der Kärntner Straßenzeitung kaz., und der Fotograf Ro-                       Nr. 509
 bert Davis haben aus den anonymisierten Einreichungen zum
 1. AUGUSTIN-Reportagestipendium nach langen Diskussionen
                                                                                            Liebe Redaktion,                      Missglückte
 («Die Entscheidung ist uns nicht leicht gefallen, da hinter jedem                          vorab möchte ich mich für Euer        Umgestaltung
 eingereichten Konzept eine gute Geschichte                                              langjähriges Engagement für Bedürf-
                                                                                         tige sowie kulturellen Journalismus      Betrifft: Layout
 schlummert») bekannt gegeben: Das AUGUS-
 TIN-Reportagestipendium geht an die Foto-               Das 1.                          abseits des Mainstreams bedanken,            Liebe AUGUSTIN -Leute,
 grafin Bettina Fleischanderl und den Autor              AUGUSTIN-                       welches ohne Zweifel Grundlage für           ich kaufe, schätze und lese den
 Christof Mackinger bzw. an «Konzept #12».                                               die tolle Qualität der Zeitung und de-   ­AUGUSTIN seit Jahrzehnten. Die letz-
 Wir gratulieren! In ihrer Reportage werden              Reportage-                      ren sozialen Erfolg ist. Hut ab.          te Umgestaltung macht mir aber kei-
 die beiden M., eine aus dem Maßnahmen-
                                                         stipendium                         Ausgabe 509, und hier allem vo-        ne Freude: Ich finde das neue Design
 vollzug entlassene Transfrau, in ihrem neu-                                             ran die Gedichte von Herrn Hamed          missglückt. Die Artikel und Kolum-
 en Alltag nach der Haft begleiten: «In wel-             geht an …                       Abboud, haben mich besonders be-          nen (auch solche, die ich durchaus mag
 cher Verfassung spuckt der österreichische                                              rührt (natürlich ist aber die gesamte     und schätze wie Phettberg oder Hü­
 Strafvollzug eine Insassin aus, die viele Jah-
                                                                                         Ausgabe irrsinnig gut gelungen). Es       seyin) haben in der neuen Gestaltung
 re lang hin- und herverschoben, mit Begünstigungen befördert
                                                                                         freut mich so sehr, dass es noch Medi-    wenig Aufforderungscharakter, ich
 und mit Ordnungsstrafen wieder zurückgeworfen wurde?», fra-
 gen sie in ihrem Exposé. «Das Konzept besticht durch eine kriti-                        en gibt, die solch begabten Menschen      muss mich fast überwinden, sie zu le-
 sche Haltung, eine spannende Protagonistin und eine hochak-                             eine Plattform bieten. Es mag sein,       sen – und das gilt noch mehr für 5-sei-
 tuelle Geschichte», schreibt die Jury in ihrem Statement. «Die                          dass Herr Abboud in der Schweiz und       tige Beiträge (Abboud). Bitte überar-
 beiden Personen, die hinter Konzept #12 stehen, möchten das                             informierten Kreisen ein Begriff ist,     beiten – der AUGUSTIN muss nicht
 Leben von M. nachzeichnen. Wir als Jury möchten das Ergebnis                            mir war er es zugegebenermaßen            wie das Heute ausschauen, aber auch
 unglaublich gern lesen.» Zu lesen wird die Reportage 2021 im                            noch nicht. Selten haben mich Ge-         nicht wie Die Presse.
 AUGUSTIN sein.                                                                          dichte so berührt wie jene von Herrn         Liebe Grüße
                                                                         lib             Abboud.                                                        Verena Michalke
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                          eingSCHENKt
                          Normsturz in der Sozialhilfe
von MARTIN SCHENK

  D
                 er Normsturz misst die Festigkeit von Kletterseilen. Fünf Ab-   nachzugehen und auch nicht von Verwandten oder Freunden mitun-
                 stürze müssen sie mindestens aushalten, sonst taugt das Seil    terstützt werden. Zudem wird das Soziahilfe-Grundsatzgesetz so ver-
                 nicht zum Schutz. Die sozialen Probleme werden größer. Und      standen, dass die Länder die so wichtigen «Hilfen in besonderen Le-
                 die schlechte Sozialhilfe kann sie nicht lösen. Sie würde den   benslagen» einstellen. Damit fällt jede Unterstützung weg.
      Normsturz nicht bestehen. Die Krise zeigt, wie wichtig jetzt eine gute        Wohnen bleibt in der Sozialhilfe überhaupt das Negativthema. Denn
      Mindestsicherung wäre – statt einer schlechten So-                                             nun wird auch die Wohnbeihilfe in Oberösterreich
      zialhilfe, die Menschen in Existenznöten und Notsi-
      tuationen nicht trägt.
                                                               Einer Person, die                     auf die Leistungen der Sozialhilfe angerechnet, also
                                                                                                     abgezogen. Und die Zuverdienstgrenze wurde mit
         In Oberösterreich können wir gerade beobachten,      ihre Mutter pflegt,                    dem Sozialhilfe-Ausführungsgesetz praktisch ab-
      wie die neue Sozialhilfe versagt: nämlich darin, Men-                                          geschafft. Das bedeutet, dass bei Sozialhilfeempfän-
      schen, die ohnehin wenig haben, krisenfest abzusi-     wurde mitgeteilt, sie                   ger_innen, die tageweise etwa im Trödlerladen der
      chern. Oberösterreich und Niederösterreich haben
      das Sozialhilfegesetz als einzige bereits eingeführt.
                                                             soll doch «hackeln»                     Arge für Obdachlose mitarbeiten, das Einkommen
                                                                                                     zur Gänze vom Sozialamt kassiert wird.
      Das oberösterreichische Sozialhilfe-Ausführungs-
      gesetz ist ein für Hilfesuchende schlechtes Gesetz,
                                                               gehen, wenn sie                          Die Abschaffung der Mindestsicherung und
                                                                                                     das in zwei Bundesländern bereits umgesetzte
      dessen Auswirkungen mittlerweile im Alltag sicht-      mehr Geld braucht                       Sozialhilfe­gesetz werden uns angesichts der Kri-
      bar sind: geringere Richtsätze für Erwachsene und                                              se noch große Probleme machen. Das neue Gesetz
      Kinder, Anrechnung der Wohnbeihilfe oder eine uneinheitliche Voll-         verschärft Armutslagen, degradiert Betroffene zu Bittsteller_innen und
      zugspraxis der Bezirksverwaltung bei Berechnung des Wohnaufwan-            eröffnet neue Hürden und Unsicherheiten für Menschen in schwieri-
      des von Haushaltsgemeinschaften. Dies führt dazu, dass Haushalte           gen Lebenssituationen. Deren Lebensbedingungen waren schon bis-
      mit Menschen in Not um mehrere hundert Euro monatlich weniger              her von feuchten, schimmligen Wohnungen geprägt, wie wird das jetzt
      haben als in der Mindestsicherung. Auffallend an der Sozialhilfe ist       weitergehen? Besonders giftig für Hilfesuchende ist der Wohndeckel.
      zudem, dass sich der Ton in einigen Bezirksbehörden gegenüber So-          Auch mangelnde Soforthilfe, fehlende Heilbehelfe, Barrieren für psy-
      zialhilfebezieher_innen nochmal verschlechtert hat. So wurde einer         chisch Kranke und Kürzungen bei Haushalten volljähriger Personen
      Person, die ihre Mutter pflegt, mitgeteilt, sie solle doch «hackeln» ge-   mit Behinderung tragen nicht, wenn alles rundum zusammenbricht.
      hen, wenn sie mehr Geld brauche.                                              Instrumente der Mindest- oder Grundsicherung sind für Krisen ge-
         «Es fühlt sich an, als wolle man meine Familie wegschmeißen», hat       macht. Das ist ihre Bewährungsprobe. Wenn ein Regenschirm nicht
      es eine Mutter mit humanitärem Bleiberecht in Niederösterreich for-        den Regen abhält, wenn das Kletterseil nicht den Sturz abfängt, wenn
      muliert. Keine Existenzsicherung, keine Krankenversicherung. Un-           der Bretterboden nicht stabil vor dem dunklen Keller schützt – wenn
      ter den Betroffenen finden sich auch viele schwerkranke und nicht          also Sozialhilfe gerade in der Krise nichts taugt, dann hat sie ihre Auf-
      arbeitsfähige Personen, die keine Möglichkeit haben, einer Arbeit          gabe verfehlt.                                                       ■
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        cover

         Ankommen. Vom Recht auf ein
         Leben nach der Flucht
         Mitte September eröffnet die Ausstellung «Nach der
         Flucht» in der Hauptbücherei. Die Kuratorinnen Vida Bakondy
         und Amila Širbegović haben dafür Gegenstände und Geschichten von
         Menschen gesammelt, die während der Jugoslawienkriege in den
         1990er-Jahren nach Wien geflüchtet sind.

         Text: Eva Schörkhuber
         Fotos: Carolina Frank

Brieftasche, Goldkette und Zahnkrone aus Gold von Dragan Peraks Mutter,
die sie ihm auf die Flucht nach Österreich 1992 mitgab
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«E           s gibt zwei Sorten Flüchtlinge. Sol-
             che mit und solche ohne Fotos.»
             Dubravka Ugrešić dokumentiert
             in ihrem Buch Das Museum der be-
dingungslosen Kapitulation diese Aussage ei-
                                                         vorgefunden habe, und alle Fotos. Ich wäre glück-
                                                         lich, wenn mir jemand wenigstens meine Fotos
                                                         schicken würde, deshalb habe ich deine behal-
                                                         ten, nun schicke ich dir alles. Bleibt wohl und ge-
                                                         sund, so viel von mir. Spomenka». Diese Reakti-
                                                                                                                  dem Krieg teilnehmen wollte. Er hat sein Studi-
                                                                                                                  um fortgesetzt und ist, da seine Lebensgefährtin
                                                                                                                  noch in Serbien war, regelmäßig dorthin gereist.
                                                                                                                  Im Gespräch über das Weggehen und Ankommen
                                                                                                                  hat er auf diesen Koffer verwiesen. Mittlerwei-
nes Mannes, der während der Jugoslawienkrie-             on sei, so Širbegović, «das Natürlichste zwischen        le ist der Koffer kein funktionales Gepäckstück
ge aus Bosnien geflüchtet ist. Krieg vertreibt,          Menschen», nur hätten die Kriege eine Situation          mehr, sondern ein Hüter der Erinnerungen, nicht
zerstört und ermordet Menschen, außerdem                 geschaffen, in der das zu «etwas                                          nur an das Hierherkommen oder
löscht er Erinnerungen aus – eine Art doppel-            ganz Besonderem» geworden sei.                                            an die Demonstrationen gegen
te Vernichtung, die nicht nur Symbole ethni-                Ganz besonders war es auch,         «Man braucht                       Milošević, sondern auch an die
scher und religiöser Zugehörigkeiten betrifft,           über weite Umwege per Post             die Erinnerung,                    eigene Familiengeschichte.»
sondern auch Monumente und Dokumente der                 ein Foto zu erhalten, das bei ei-                                            So unterschiedlich die Objek-
vielfältigen, über Jahrzehnte hinweg prakti-             ner Neujahrsfeier kurz vor Aus-        damit man sich                     te und die Geschichten sind, sie
zierten Möglichkeiten eines Miteinanders wie
die Brücke in Mostar oder die Vijećnica, die Na-
                                                         bruch der Kriege aufgenommen
                                                         worden war. «Das ist ein ganz
                                                                                                    nicht so                       haben alle mit Ankommen und
                                                                                                                                   Unsichtbarwerden zu tun. «In
tionalbibliothek in Sarajevo.                            verschwommenes Foto», sagt            ausgelöscht fühlt»                  einer ORF-Doku aus den 90er-
                                                         Širbegović, «man kann die Per-                                            Jahren [Leben im Wartesaal,
Ein Brief und ein Foto. Vida Bakondy und Ami-            sonen gar nicht richtig erken-         Vida Bakondy                       ORF, 14. April 1994] sind wir
la Širbegović haben für ihre Ausstellung Objekte         nen. Dieses Foto hätte man gar                                            auf ein Zitat gestoßen», erzählt
und Geschichten von Menschen gesammelt, die              nicht aufbewahrt, wenn es nicht diesen Bruch,            Širbegović, «das besagt, dass man als geflüchte-
während der Jugoslawienkriege in den 1990er-             den Ausbruch der Kriege, gegeben hätte. Ich hab          ter Mensch in einem neuen Land nicht bei null,
Jahren nach Wien geflüchtet sind. Unter diesen           es erst 1993 von einer Freundin zugeschickt be-          sondern mit einem Minus anfange. Da sind diese
Objekten befindet sich ein Brief, adressiert an          kommen. Es gibt auch Briefe darüber, wie dieses          Verbindungen zu einem früheren Leben enorm
eine Frau, die aus Mittelbosnien flüchten muss-          Foto von Kroatien in Australien und schließlich          wichtig, diese Nachweise, die zum Beispiel be-
te und nach einer Zwischenstation in einem kro-          in Wien, bei mir, gelandet ist.»                         zeugen, dass man eine Ausbildung hat.» «Man
atischen Flüchtlingslager in Wien Zuflucht fand.                                                                  braucht die Erinnerung, damit man sich nicht so
Verfasst wurde der Brief von jener Frau, die ihrer-      Vor der Flucht, nach der Flucht. Während der             ausgelöscht fühlt», fügt Bakondy hinzu.
seits in der damals von den serbischen Truppen           Jugoslawienkriege konnten viele Menschen ihre
eingenommenen Stadt in die Wohnung der Ad-               Fotoalben nicht auf die Flucht mitnehmen, weil           Resilienz hoch zehn. Eine weitere Ebene der
ressatin gezogen war. Die beiden Frauen, die vor         sie schnell aufbrechen mussten oder weil es ih-          Ausstellung, die ein Projekt der Initiative Min-
den Kriegen 40 Kilometer voneinander entfernt            nen untersagt wurde. Heute sind es die Smart-            derheiten ist und von der Stadt Wien gefördert
gewohnt hatten, haben einander nie getroffen.            phones, auf denen Bilder gespeichert sind, die den       wird, sind Interviews, die zu hören sein werden.
Die ethnischen Demarkationslinien, die scharf            Geflüchteten streitig gemacht und zum Gegen-             Fünf Zeitzeug_innen erzählen von ihrer Flucht,
gezogen wurden, konnten sie dennoch überwin-             stand rechtspopulistischer Polemik werden. Für           von ihrem Ankommen, von der Bedeutung ihrer
den. In dem Brief steht: «Azra! Ich kam aus Novi         die Ausstellung sei es ihnen wichtig gewesen, eine       Erinnerungen auch als Ressource. Als «Re­silienz
Travnik mit den Kindern und einer Schulterta-            Verbindung zwischen der Flucht und dem Leben             hoch zehn» habe eine der Gesprächspartner_in-
sche, nur um die Kinder zu retten. In deine Woh-         danach herzustellen, so Vida Bakondy. Die Ob-            nen jene Stärke benannt, die sie aus ihren Er-
nung bin ich als Dritte eingezogen. Aus der Woh-         jekte, die sie gesammelt haben, bilden dabei eine        fahrungen, selbst einmal geflüchtet und in Wien
nung war alles weggetragen, was mit Händen               Art Scharnier. «Manche der Objekte sind auf die          fremd gewesen zu sein, ziehen und an Men-
zu tragen war, außer sperrigen Sachen. Ich habe          Flucht mitgenommen worden, manche sind hier              schen weitergeben könne, die sich in einer ähn-
[in Novi Travnik] auch meine möblierte Woh-              erworben worden. Es gibt zum Beispiel diesen             lichen Situation befinden, erzählt Bakondy. Und
nung und mein ganzes Leben [...] gelassen, ich           Koffer, er war eines der ersten Dinge, die ein Zeit-     Širbegović: «Es geht um das Sichtbarmachen von
war dort 19 Jahre. Ich kam hierher, weil ich muss-       zeuge gekauft hat, als er nach Wien gekommen             Geschichten. Im Grunde gilt der Satz ‹Ich bin
te. Ich schicke dir die Dokumentation, die ich           ist. 1991 hat er Belgrad verlassen, weil er nicht an     kein typischer Flüchtling›, den ein Zeitzeuge im

Fotos aus Kindheit und Jugend in Brčko und Wien im Album von Amila Širbegović           Briefe aus dem Krieg schrieb Adisa Beganović an ihren in Österreich lebenden Vater
Gut angekommen? - 2,50 - Augustin
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           cover

Gespräch formuliert hat, für alle. Es handelt sich um
persönliche, um einzigartige Geschichten.»
   Entlang der konkreten Fluchtbiografien zeigt sich
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                                                                Frohnatur
unter anderem, wie bedrohlich gewisse gesetzliche Re-
gelungen sind. Die sogenannte Drittstaatenregelung,
der zufolge Menschen, die über einen als sicher gel-
tenden Staat einreisen, kein Anrecht auf Asyl wegen
politischer Verfolgung haben, trat Anfang der 1990er
in Kraft und betraf somit bereits die Schutzsuchenden
aus den jugoslawischen Gebieten. Viele von ihnen wa-
ren in den Nachbarländern, in denen kein Krieg (mehr)
herrschte, nicht sicher davor, zum Militärdienst einbe-         Nermin «Nero» Beharić betreibt einen Friseursalon in
rufen oder weiter vertrieben zu werden.                         Ottakring. In der Ausstellung «Nach der Flucht» wirkt er als Zeitzeuge mit
                                                                und spricht mit dem AUGUSTIN über Zusammengehörigkeitsgefühle,
                                                                Ausnahmesituationen und F-Wörter.
    «Die Kriege haben dazu
 geführt, dass das Natürlichste                                 Interview: Olja Alvir
  zwischen den Menschen zu                                      Foto: Jana Madzigon

    etwas ganz Besonderem
            wurde»

                                                                W
       Amila Širbegović                                                      ir erwischen dich ge­           Würdest du sagen, du bist im Transit
                                                                              rade nach dem Urlaub.           zu Hause?
                                                                              Wie war das Reisen im              Wien ist mein Zuhause, da fühl ich
   Der Bezug zur Gegenwart ist den Kuratorinnen aus                           Ausnahmezustand?                mich wirklich daheim, da bin ich am
mehreren Gründen wichtig: Gerade jüngeren Besu-                    Wir sind dieses Mal, für uns unge-         liebsten. Ich bin gern unterwegs, komme
cher_innen sollen die Zusammenhänge zwischen den                wöhnlicherweise, nach Kroatien gefah-         aber auch gerne nach Hause zurück. Zum
Fluchtbewegungen von damals und heute vor Augen                 ren, mit allem Drum und Dran: Autopan-        Glück waren die Testergebnisse schnell
geführt werden – etwa dass 2015 die ehemals Schutz-             ne, Reisewarnung, Corona-Test. Normal         da und negativ, meine einzige Sorge war,
suchenden aus Bosnien oftmals zu «Vorzeigeflüchtlin-            fahren und fliegen wir gern überallhin,       rechtzeitig wieder zur Arbeit zu kommen.
gen» stilisiert wurden, um an ihnen pauschal ein Ex-            es muss nicht immer der Balkan sein.
empel der «Integrationswilligkeit» zu statuieren, das           Wir sind nicht so damit verbunden und         Wie hat sich dein Alltag durch das Co­
gegen die aus Syrien, Afghanistan und dem Irak Flüch-           eher selten in Bosnien. Das letzte Mal wa-    ronavirus verändert?
tenden gewendet wurde. Das Besondere in den 1990ern             ren wir vor drei bis vier Jahren dort. Wir        Aus allem, was mir passiert, kitzle ich
war, dass um die 100.000 Menschen aus Bosnien, Kro-             schauen, dass wir alle paar Jahre hinfah-     etwas Positives heraus. Mit COVID war
atien und dem Kosovo in Österreich aufgenommen                  ren, meiner Tochter zuliebe. Sie soll schon   das auch so. Seitdem ich mit 15 Jahren
wurden. Sie wurden unabhängig von regulären Asyl-               wissen, wo die Wurzeln ihrer Eltern sind.     nach Wien gekommen bin, hab ich ge-
verfahren, die zu lange gedauert hätten, mit einem be-          Die wichtigsten Menschen – unsere Ge-         arbeitet. Ich war seit 1992 keinen ein-
fristeten Aufenthaltsstatus versehen, der ihnen zu-             schwister und Eltern – sind aber eh alle      zigen Tag arbeitslos, und ich habe nie
mindest vorübergehend Rechtssicherheit gewährte.                da. Damit verschwinden für uns die Grün-      länger als drei Wochen am Stück Pause
Zwei Drittel davon sind geblieben, sie sind Bürger_in-          de, hinzufahren.                              beziehungsweise Urlaub gemacht. Heu-
nen dieses Landes, Nachbar_innen, Arbeitskolleg_in-                                                           er war es das erste Mal, dass ich sehr
nen, Freund_innen.                                              Menschen mit Fluchterfahrung kön­             lang zu Hause war. Trotz anfänglicher
   Notwendig wäre es jetzt, sich eine Vorgehenswei-             nen mitunter auch ein schwieriges Ver­        Unsicherheit habe ich die Zeit sehr ge-
se zum Vorbild zu nehmen, die es erlaubt, Menschen,             hältnis zum Reisen entwickeln; die Rei­       nossen. Ich hab mich um den Haushalt
die sich auf vielen Ebenen in Ausnahmesituationen               se als unsicheres Moment.                     gekümmert, bin vom Großstadtstress
befinden, schnell zu helfen, sie aufzunehmen, ihnen                 Für mich hat es genau zum Gegenteil       runtergekommen, hab mit meiner Toch-
eine medizinische, ökonomische und soziale Versor-              geführt. Als Kind konnte ich mir nie vor-     ter Zeit verbracht. Danach gab es einen
gung zu garantieren, ihnen ein Leben nach der Flucht            stellen, irgendwo anders zu leben als in      großen Ansturm im Salon, und jetzt läuft
zu ermöglichen. Amila Širbegović fasst noch einmal              Bosnien. Durch die Flucht habe ich gese-      das Geschäft wieder gut. Wir beachten
zusammen, was die Ausstellung leisten soll: «Die Un-            hen, dass – geistige und körperliche – Be-    die Sicherheitsmaßnahmen, versuchen
sichtbarkeit von Menschen und ihren Geschichten er-             weglichkeit auch unter solchen schwieri-      aber sonst, auch im Ausnahmezustand
laubt es anderen, diese Geschichten so zu erzählen, wie         gen Umständen möglich sein kann. Man          business as usual zu machen. Vielleicht
es ihnen passt.» Außerdem ist sie ein Plädoyer dafür,           ist gezwungen, offen zu bleiben, und fle-     ist diese Einstellung auch so etwas, was
sich nicht von sogenannten nationalen Schulterschlüs-           xibel. Und man erlebt auch positive Sa-       Leute mit Kriegs- oder Fluchterfahrung
sen blenden zu lassen, bei denen jene Menschen ausge-           chen auf der Flucht – Hilfsbereitschaft       denen voraushaben, die solche Situati-
blendet werden, die sich aufgemacht haben, um Schutz            und Solidarität. Ich war immer ein neu-       onen der Ungewissheit und lauernden
vor Krieg, Verfolgung und Hunger zu suchen.         ■          gieriger Mensch, auch schon als Kind.         Gefahr nicht kennen.
                                                                Jetzt habe ich zum Glück Möglichkei-
      Nach der Flucht. Aus Ex-Jugoslawien nach Wien
      Geschichten von Geflüchteten in den 1990er Jahren
                                                                ten, viele Orte und Situationen kennen-       Ich habe den Eindruck, dass die Aus­
      Eröffnung: 14. September, 19 Uhr                          zulernen. Ich freue mich, dass meine Fa-      nahmesituation Leute, die andere
      Bis 14. November, Hauptbücherei, 7., Urban-Loritz-Platz   milie auch so ist.                            ex­treme Situationen wie Krieg und
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Flucht erlebt haben, weniger aus der
Bahn geworfen hat.
   Vielleicht stellt sich mit der Flucht
eine gewisse Resilienz ein? Destabilisie-
rung, Ausnahmesituation, Stress: Viele,
die schon mal auf der Flucht waren, wis-
sen damit besser umzugehen. Salopp ge-
sagt: «Naja, hab schon Schlimmeres er-
lebt, ist nicht so tragisch.»

Bei der Ausstellung «Nach der Flucht»
wirst du als Zeitzeuge sprechen. «Zeit­
zeuge» – ein großes, schweres Wort. Wie
trägt es sich?
   Bei dem Wort denken viele an Zei-
ten, die gefühlt «eeewig lang her sind»;
an den Zweiten Weltkrieg und den Holo-
caust. In Wahrheit ist jeder von uns per-
manent Zeitzeuge, auch bei Dingen mit
mehr Leichtigkeit. Ich bin beispielswei-       Mitbürger_innen sein, das hat nichts da-           Ich liebe meinen Job auch, weil er so
se Zeitzeuge der Mode der 80er oder 90er.      mit zu tun, ob man geflüchtet ist oder nicht.   viel mit Kommunikation zu tun hat. Zu
Ich denke dabei nicht sofort nur an den                                                        mir kommen Leute von überall, und viele
Jugoslawienkrieg.                              Mich frustriert in solchen Momenten,            kennen mich noch aus der Lehrzeit. Eini-
                                               dass Rassist_innen mich als «eine von           ge sehe ich auch als Freunde. Meine aller-
Die Vergangenheit sucht dich also nicht        ihnen» zu identifizieren meinen.                erste Kundin etwa, die damals schwanger
heim?                                             Teilweise erlebe ich auch Leute, die         war – mittlerweile hat sie drei Kinder –,
   Ich denke immer: Ich kann nur mei-          vor vielen Jahrzehnten nach Österreich          hat mich zur Hochzeit ihrer Tochter ein-
ne Zukunft verändern. Vergangenheit ist        gekommen sind und dann ihre erst kürz-          geladen. Beim Frisör gibt’s also nicht nur
passiert, vorbei. Ich glaube aber, die eige-   lich gekommenen Landsleute schlecht-            den Haarschnitt – das ist selbstverständ-
ne Beziehung zur Vergangenheit, konkret        reden. Oder Menschen, die in gebroche-          lich, da müssen Handwerk und Quali-
zum Jugoslawienkrieg oder einem ande-                                                          tät auch passen –, sondern auch Kontakt
ren Krieg, ist stark davon geprägt, ob man                                                     zu Menschen. Lockdown und Isolation
Familie verloren hat. In dem Fall kann man
bestimmt nicht so locker darüber reden wie
                                                  «Wie essentiell mein                         haben uns gezeigt, wie selbstverständ-
                                                                                               lich diese Art von beiläufigem Kontakt
ich gerade, weil es mit viel mehr Schmerz          Job ist, haben wir                          für uns alle eigentlich geworden ist. Erst
verbunden ist. Meine Eltern und Geschwis-                                                      als er fehlte, merkten wir, wie viel wir
ter haben alles gut überstanden und sind
                                                   spätestens an den                           tagtäglich mit Leuten kommunizieren,
auch jetzt in meiner Nähe, und das sehe ich       Quarantäne-Haar-                             nicht nur mit unseren Liebsten, eben
als großes Glück.                                                                              auch auf der Straße, im Geschäft, mit
                                                  schnitten auf Social                         Dienstleister_innen.
Was war dann deine Motivation, bei ei­
ner solchen Ausstellung mitzuwirken?
                                                    Media gesehen»                             Dabei wird der Beruf des Frisörs oft bei­
   Mir ging es darum, mehr Verständnis                                                         spielhaft für perspektivenlose «Unter­
für Flüchtlinge allgemein aufkommen            nem Deutsch über Zugewanderte lästern.          schichtsberufe» genannt; etwas, wo man
zu lassen. Es ist wichtig, dass Flucht und     Die Leute glauben, wenn sie über andere         nur im schlimmsten Fall lande.
Flüchtlinge auch positiv dargestellt wer-      schimpfen, sind sie besonders österrei-             Viele haben erst durch COVID-19 ge-
den. In den Medien werden Flüchtlinge          chisch. Skurril! Mich macht das sehr trau-      merkt, wie essentiell der Job ist und dass
verunglimpft; Flucht wird mit Kriminali-       rig. Es dient der Herstellung von Grup-         es sich dabei um alles andere als unqua-
tät und Betrug verquickt. Es kursieren Lü-     penzugehörigkeit, und solange wir uns           lifizierte Arbeit handelt. Das haben wir
gen über die vermeintliche Sonderbehand-       nicht darauf einigen können, dass wir           spätestens an den vielen komischen Qua-
lung von Geflüchteten. Unsinn, den auch        alle einer großen, bunten Gruppe ange-          rantäne-Haarschnitten auf Social Media
Kund_innen bei mir im Salon manchmal           hören, bleibt es schwer mit dem guten           gesehen! Ich hoffe, mit meiner Arbeit und
wiederkäuen. Da antworte ich dann immer,       Zusammenleben.                                  meinem Leben die dunklen Wolken über
dass das nicht stimmt und dass ich selbst                                                      diesen beiden F-Wörtern – Frisör und
Flüchtling bin. Diese Gespräche haben          Mir gefällt das Konzept vom Frisörsa­           Flüchtling – etwas zu vertreiben.      ■
mich sicher auch schon die eine oder an-       lon nicht nur als Ort, an dem man einen
dere Kundschaft gekostet. Aber vielleicht      Haarschnitt bekommt, sondern auch als                Ansichtssache
hat es ein paar Leute auch zum Überdenken      Ort des lockeren Zusammenseins und                   16., Liebhartsgasse 55-57
angestoßen. Alle Menschen können gute          des Austausches.                                     ansichtssache.co.at
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TUN & LASSEN

               Bittere Not, rebellische Kraft
               Im August fand in Berlin der                 vorletzten Jahrhundertwende zogen Men-       knapp vorher abgesagt. Unter anderem
               Vagabundenkongress 2020                      schen aus unterschiedlichsten Gründen        Hugo Sonnenschein rief anschließend zu
               statt. Wie vor hundert Jahren geht           über die Landstraße: nomadische Minder-      einem Treffen 1933 in Kalkutta auf. Mit
               es auch heute um wirtschaftliche             heiten, Handwerksgesellen auf der Walz,      der Machtübernahme der NSDAP jedoch
               Not und politische Kultur in einem.          jugendliche Wandervögel, Menschen, die       wurde es für Vagabundierende gefährlich,
                                                            aus Not bettelnd und auf der Suche nach      viele landeten als so genannte «Asozia-
                                                            Arbeit vagabundierten, oder jene, die aus-   le» in Arbeits- und Konzentrationslagern.
               Text & Fotos: Andreas Pavlic,                stiegen und zu den Kreisen der Boheme ge-       In späterer Zeit gab es immer wieder
               Eva Schörkhuber                              hörten. Neben den Roma, Sinti und Jeni-      Initiativen, an die Vagabundenbewegung
                                                            schen waren es die beiden letzteren, die     zu erinnern. Der Vagabundenkongress in

               D
                                                            im Fokus staatlicher Sanktionen standen.     Berlin knüpfte bewusst an diese Tradition
                        er Mariannenplatz in Ber-           Die Vagabondage war aber nicht nur An-       an, zumal die Bewegung in den 80er-Jah-
                        lin-Kreuzberg liegt hinter          feindungen ausgesetzt: Dichter_innen wie     ren in Westberlin durch eine Ausstellung
                        dem Bethaniendamm, wenige           Hugo Sonnenschein huldigten ihrer rebel-     im Künstlerhaus Bethanien am Marian-
                        Schritte vom berühmten Rauch-       lischen Kraft.                               nenplatz eine Wiederentdeckung erfuhr.
               Haus entfernt, dessen Besetzung 1971 von         1927, als die wirtschaftliche Not Hun-
               der Band Ton Steine Scherben nicht nur       derttausende durchs Land trieb, grün-
               musikalisch unterstützt wurde. Der Platz     dete Gregor Gog die «Bruderschaft der          Menschen zogen aus
               ist langgezogen, von alten Platanen ge-
               säumt. In der Mitte befindet sich ein Oval
                                                            Vagabunden», die auch eine Künstler_in-
                                                            nengruppe umfasste und den Kunden, die
                                                                                                           unterschiedlichsten
               mit Steinstufen, eine Art Forum, das sich    Zeit- und Streitschrift von und für Vaga-       Gründen über die
               ausgezeichnet eignet, um im öffentlichen     bundierende, herausgab. 1929, auf dem
               Raum die Tradition der Vagabundenkon-        1. Vagabundenkongress in Stuttgart, ver-          Landstraße
               gresse aus den späten 1920er-Jahren wie-     kündete Gog die Parole «Generalstreik
               der aufleben zu lassen.                      ein Leben lang!», um gegen wirtschaftli-     Vagabund_innen 2020. Die Organisator_
                                                            che Ausbeutung und bürgerliche Wert-         innen des «VAGA 2020», der von 21.–23.
               Generalstreik ein Leben lang! Vaga-          vorstellungen zu protestieren. Der für       August in Berlin stattfand, waren mit ei-
               bundieren ist ein uraltes Phänomen. Zur      1930 in Wien geplante 2. Kongress wurde      nigen Schwierigkeiten konfrontiert, die
11
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nur teilweise COVID-19 geschuldet waren:
Das Grünflächenamt in Berlin untersag-
te die Veranstaltung. Angemeldet wurde
                                                  «Vagabondage findet auch
schließlich eine Kundgebung am Marian-
nenplatz für Samstagnachmittag, die Ver-
anstaltungen am Freitag und am Samstag-
                                                  im Kopf statt»
abend wurden dezentral, in nahegelegenen
selbstverwalteten Orten, abgehalten. Nach
einem Community Dinner ging es zur Aus-
stellungseröffnung in die Galerie SO36, wo        Tanja hat den Vagabundenkongress 2020 in Berlin
Siebdruckplakate, Collagen und T-Shirts           mitorganisiert. Sie ist im Verein Unter Druck – Kultur von der
gezeigt und verkauft wurden. Am Samstag           Straße aktiv, der einen Treffpunkt für Wohnungslose und das
wurde der Mariannenplatz mit Konzerten,           Kunstkollektiv Czentrifuga betreibt.
Vorträgen, Workshops und einem Vagamu-
sical bespielt, am Abend der angrenzen-           INterview: Andreas Pavlic, Eva Schörkhuber
de Wagenplatz mit einer Revue und einem

                                                  W
Konzert. Am Sonntag trafen sich die Teil-
nehmer_innen zu einer Vollversammlung,                          ie funktioniert in Eurem Verein       Bereichen, der Czentrifuga und der Wohnungs-
bei der Forderungen von Wohnungslosen                           der Treffpunkt für Wohnungslose?      losentagesstätte, ein Transfer der künstleri-
diskutiert wurden. Einige der Teilnehmer_                          Tanja: Der Grundgedanke ist        schen Praxis hergestellt werden kann. Zwi-
innen, die auftraten, Workshops abhielten,                      Hilfe zur Selbsthilfe. Es gibt eine   schen den beiden Einrichtungen gab es schon
moderierten und sich an der Organisation          wöchentliche Teamsitzung und prinzipiell            viele Berührungspunkte und soziokulturelle
beteiligt hatten, leben aktuell ohne festen       läuft es partizipativ und selbstorganisiert. Im     Projekte mit dem Ziel des Empowerments, aber
Wohnsitz in Berlin.                               Konkreten gibt es eine Sozialberatung, einen        das war uns nicht politisch genug. Beim Vaga-
                                                  Café­betrieb mit täglichem Essen, Wasch- und        bundenkongress von Gregor Gog 1929 in Stutt-
Übers eigene Leben bestimmen. Eines der           Duschmöglichkeiten und ein Kulturangebot.           gart war es auch so, dass neben den Vagabund_
wichtigsten Anliegen, das hier zur Sprache                                                            innen viele Künstler_innen und Bürgerliche
kam, ist – nach Vorbild einer Initiative in       Woher kam die Idee, einen Vagabunden­               teilgenommen haben.
Marseille – die Einrichtung von selbstver-        kongress zu veranstalten?                              Wir wollen dem Thema der Obdachlosig-
walteten «Bagagerien»: Dabei handelt es             Tanja: Vor circa 4 Jahren haben wir uns bei       keit das Stigma nehmen. Es kann jede und je-
sich um Räume, in denen obdach- oder woh-         Unter Druck überlegt, wie zwischen den beiden       den treffen. Gerade in Berlin, wo die Gentrifi-
nungslose Menschen für einen bestimm-                                                                 zierung überhandnimmt, die Mietpreise nach
ten Zeitraum ihr Gepäck unterbringen, du-                                                             oben geschnellt sind, trifft es ganz viele. Wobei
schen, Wäsche waschen und Computer mit                                                                Vagabondage nicht nur als körperliche Bewe-
Internet benutzen können. Das Hauptau-                                                                gungsform Sinn macht, sondern auch im Kopf.
genmerk bei dieser Forderung liegt auf der
Selbstverwaltung, um diese Räume selbst-                                                              Wie verliefen die Vorbereitungen?
bestimmt und ohne Sanktionen gestalten                                                                   Tanja: Die Organisation war gar nicht so
und nutzen zu können. An Mitspracherecht                                                              einfach, da die Besucher_innen des Woh-
bei Entscheidungen, wie mit Wohnungslo-                                                               nungslosentreffpunkts sehr mobil sind. Ein
sigkeit, mit freien Zugängen zu Wohnraum,                                                             Instrument, um gemeinsam Öffentlichkeits-
Bildung, Nahrung umzugehen sei, mangelt                                                               arbeit zu machen, ist, ein Zine zu machen. Es
es grundsätzlich: Zur Strategiekonferenz zur                                                          gab ein monatliches Redaktionstreffen, mit
Wohnungslosenhilfe des Berliner Senats, die                                                           den gesammelten Beiträgen überlegten wir
seit drei Jahren regelmäßig stattfindet, wer-                                                         die Gestaltung des Heftes, es wurde gemein-
den kaum obdachlose Menschen geladen.                                                                 sam produziert und zum Abschluss gab es eine
    Dass in großem Ausmaß über ihre Köp-                                                              Releaseparty.
fe hinweg darüber bestimmt wird, wie und
mit welchen Auflagen sie zu leben haben,                                                              Habt ihr im Vorfeld auch über mögliche Forde­
ist für alle unerträglich. In einem O-Ton-                                                            rungen diskutiert?
Kommentar auf der Homepage des VAGA                                                                      Tanja: Wir wollten bewusst nichts vorweg-
2020 heißt es dann auch: «unsere kraft ist                                                            nehmen, aber es ist ja so, dass man die Woh-
doch vielmehr, dass wir trotz ablehnung                                                               nungslosigkeit recht gut beenden könnte,
den kongress durchgeführt haben, die enor-                                                            wenn man die Menschen fragen würde, was
me vielfalt der teilnehmenden, die aktio-                                                             sie brauchen und wollen. Ich weiß, es ist ein
nen, die beteiligten orte und grüppchen, die                                                          komplexes Thema, aber zum Beispiel erzäh-
zugereisten, das fette programm und die                                                               len uns Leute, sie können zur Kältehilfe nicht
grossartige stimmung. das ist unsere kraft,                                                           hingehen, da keine Hunde reindürfen, oder an-
widerspiegelt unsere freiheiten und wider-                                                            derswo darf man als Frau nicht rein. Die ande-
spenstigkeit, unsere (auch politische) kul-                                                           re Sache ist, dass der Kapitalismus Wohnungs-
tur, demonstriert unsere kreativität und                                                              losigkeit produziert – und natürlich gehört er
phantasie und gibt mut für utopien.» ■                                                               abgeschafft.                               ■

vaga2020.de                                     Der Obdachlosigkeit das Stigma nehmen – Vagabummm …   unterdruck.poetaster.de
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Wohnen – jetzt neu & sozial!

Neues soziales Wohnen. Die
Internationale Bauausstellung Wien läuft
seit 2016 und noch bis 2022. Zeit für eine
Zwischenbilanz.

Text: Bettina Landl
Illustration: Much

I
     nternationale Bauausstellungen (IBA) gibt
     es seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Gemein-
     sam ist allen, dass sie sich als Spiegel ihrer
     Zeit auf gesellschaftliche, technische und
kulturelle Strömungen und Entwicklungen ver-    sich das Sparen infolge unattraktiver Zinsni-       Auch bei der Vergabe des Wiener Wohn-Tickets,
standen wissen wollen. Die IBA_Wien zum Neu-    veaus kaum mehr lohnt, konzentrieren sich in        das den Zugang zum kommunalen und geförder-
en sozialen Wohnen (2016–2022) ist vergleichs-  wirtschaftlichen und sozialen Wachstumsre-          ten Wiener Wohnungsangebot ermöglicht, gibt
weise kurz. Zwischenbilanz wird in einem Buch   gionen lukrative Investitionsmöglichkeiten in       es Änderungsbedarf – die Bedingung, dass man
und einer Ausstellung gezogen.                  gewerbliche und Wohnimmobilien. Um über-            mindestens zwei Jahre durchgehend an der aktu-
                                                durchschnittliche Mietpreissteigerungen zu ver-     ellen Wiener Adresse hauptgemeldet sein muss,
Wille zur Verbesserung. Laut Organisator_in-    meiden, bedarf es einer politischen Regulation.     schließt viele Menschen in schwierigen Wohn-
nen haben sich Internationale Bauaustellun-     «Die angespannte Lage am Wohnungsmarkt,             situationen aus.
gen im 20. Jahrhundert als Inst-                             aber auch die massiven Sanierungs-
rumente der Innovation bewährt «Wir müssen die aktivitäten im Altbau, die eine Reihe                Keine Wegwerfarchitektur. «Seit den 1960er
und verstehen sich als Reaktion                              qualitativ eher bescheidener, aber     Jahren fehlt es in Wiens Neubau an Kleinteilig-
auf bestehende Defizite. «Aber         in den letzten sehr günstiger Wohnungen vom                  keit und funktionaler Durchmischung», ergänzt
stellt Wien tatsächlich Bishe-           50 Jahren           Markt verschwinden lassen, haben       Stadtplaner Seiß. «Wir errichten mit wenigen
riges in Frage, oder präsentiert                             die Situation für Menschen in und      Ausnahmen nach wie vor weitläufige Wohn- und
es der Welt eher sein Best-of ?», absolut unurban am Rande der Obdachlosigkeit ver-                 Gewerbegebiete, große Büro- und Einkaufskom-
fragt Stadtplaner Reinhard Seiß         entwickelte          schärft», schreibt Thomas Ritt, Öko-   plexe und glauben, dass daraus irgendwann so
im AUGUSTIN-Gespräch. «Eine                                  nom und Leiter der Abteilung Kom-      etwas wie Stadt entstehen wird. Hier auszubre-
IBA soll kein Stadtmarketingins-         Stadt jetzt         munalpolitik der Arbeiterkammer        chen und zu sagen: Wir hören sofort auf mit die-
trument sein, sondern neue Wege          umbauen»            Wien in Neues soziales Wohnen. Po-     sen monofunktionalen Quartieren, ja mehr noch,
zu beschreiten helfen. Wien hat                              sitionen zur IBA_Wien 2022. Die Er-    wir bauen die in den letzten 40 bis 50 Jahren
sich mit dem Wohnbau aber genau das The-        richtung von günstigen Neubauwohnungen mit          absolut unurban entwickelte Stadt schrittwei-
ma ausgesucht, in dem es ohnehin am besten      geringen oder keinen Finanzierungsbeiträgen         se um, wir schieben die unsägliche Wegwerf­
ist, zumindest in sozialpolitischer Hinsicht.»  (SMART-Wohnungen) sowie die Zusammen-               architektur von Handel und Gewerbe samt de-
Wäre Wien selbstkritisch genug, würde es bei    arbeit von Stadt und Gemeinnützigen mit So-         ren Parkplatzwüsten so schnell wie möglich weg
der IBA darum gehen, einen stadtplanerischen    zialverbänden seien gute Ansatzpunkte, auf de-      und bauen eine zusammenhängende, vitale und
und städtebaulichen Paradigmenwechsel vo-       nen aufgebaut werden könne. Zusätzlich sollten      schöne – also eine lebenswerte – Stadt. Das wäre
ranzutreiben. So würden die großmaßstäbli-      Menschen, die es besonders schwer haben, bei        ein wegweisender Ansatz!» Aber dafür, so Seiß,
che Bebauung der neuen Entwicklungsgebie-       der Wiedervermietung von lastenfreien und da-       «bräuchte es statt der weitverbreiteten Selbstzu-
te und ihre Autoabhängigkeit nach wie vor im    mit besonders günstigen gemeinnützigen Miet-        friedenheit eine selbstkritische Diskussion über
Widerspruch zu einer nachhaltigen und urba-     wohnungen (Bruttomiete etwa 7 Euro/m2) bes-         Stadtentwicklung».                            ■
nen Stadt stehen.                               sere Chancen auf einen bestenfalls unbefristeten
                                                Mietvertrag haben. «Eine Regelung, dass etwa              IBA_Wien 2022 / future.lab (Hg.): Neues soziales Wohnen.
Anspannung am Wohnungsmarkt. Im Zeit-           ein Drittel dieser Wohnungen über Sozialver-              Positionen zur IBA_Wien 2022
raum 2009 bis 2019 stieg die Einwohner_in-      bände oder zu Bedingungen von SMART-Woh-                  Jovis 2020, 256 Seiten, 35 Euro
nenzahl Wiens um 217.356 Personen auf aktuell   nungen vergeben werden, wäre ein großer Fort-
                                                                                                          Wie wohnen wir morgen?
knapp 1,91 Millionen. Insgesamt stehen 220.000  schritt für benachteiligte Menschen, aber auch            Ausstellung, WEST, 7., Stollgasse 17
Gemeindewohnungen zur Verfügung. Und seit       für die soziale Durchmischung in der Stadt.»              8. September – 22. Oktober
14             tun & lassen                                                                                       magazin
        VOLLE
    KONZENTRATION                            5 Jahre March of Hope
                                             Der Tag, an dem der Grenzbalken
Alles kommt raus                             Geschichte war
Der Journalist Max Zirngast hat Recht

                                            A
bekommen: Der österreichische Staat
hat seine Verfahrensrechte verletzt,               m 4. September 2015 schrieb
stellt das Oberlandesgericht Graz                  eine Gruppe von Menschen zwi-
Ende August fest. Die Staatsanwalt-                schen Budapest und Nickelsdorf
schaft Graz habe ihm, als er von Sep-       Geschichte. Nach Wochen des Fest­
tember 2018 bis September 2019 in           steckens am Keleti pályaudvar, dem
der Türkei inhaftiert war, für sein Ver-    Ostbahnhof der ungarischen Haupt-
fahren relevante Informationen vorent-      stadt, von dem es kein Fortkommen mit
halten: nämlich, dass es auch in Öster-     Zügen mehr gab, brachen Hunderte auf,
reich Ermittlungen gegen ihn gab und
                                            um ihren Fluchtweg zu Fuß fortzuset-
die österreichischen Behörden den tür-
                                            zen. Die Kraft dieses Aufbruchs mach-

                                                                                                                                                        Foto: Lisa Bolyos
kischen gegenüber behaupteten, es
bestünde der Verdacht, Zirngast sei         te möglich, womit niemand gerechnet
Mitglied in einer als terroristisch ein-    hatte: Die Grenzen wurden geöffnet;
gestuften Organisation. Dabei, stellt       der March of Hope hatte gesiegt. Die-
sich jetzt heraus, gab es dazu gar kei-     ser «Sommer der Migration» nahm die          Geschafft im doppelten Wortsinn –
ne Ermittlungsergebnisse. So schützt        Utopie eines offenen Europas vorweg.         Nickelsdorf im Morgengrauen des 5. September 2015
der Staat seine Schäfchen im Ausland.       Willkommenskultur, Bewegungsfrei-
                                            heit, Selbstbestimmung der Geflüchte-
                                            ten – Schlagworte, die in einem kurzen      Erinnerung in Familien und Freund_in-
Zahlt uns was aus                           Zeitfenster bis in die Yellow Press der     nenkreisen. Das Wissen, dass es vor fünf
                                            Ankunftsländer hinein positiv konno-        Jahren möglich war, Grenzen zu über-
So wichtig uns die Pfleger_innen, die       tiert waren.                                winden, bestärkt Initiativen wie We’ll
24-Stunden-Betreuer_innen und die
                                               Fünf Jahre später ist das euro­          come united darin, dem Grenz­regime
Erntehelfer_innen sind, um uns zu er-
                                            päische Grenzregime «back to normal»        auch weiterhin die Zukunftsfähigkeit
halten und zu ernähren, so wurscht sind
uns ihre Kinder. Das lässt die Regierung,   und «back to brutal». Im Gedenken an        abzusprechen.
bestehend aus Familienpartei ÖVP und        den March of Hope gibt es Aktions­tage,                                           lib
den grünen Ex-Indexierungs-Gegner_          Demonstrationen und wahrschein-
innen, durch die Blume bzw. den ein-        lich eine Menge stiller Momente der         welcome-united.org
malig ausgezahlten Kinderbonus aus-
richten. Der wird im September in der
vollen Höhe von 360 Euro ausbezahlt,
wenn die Kinder in Österreich leben.
Leben sie allerdings in Rumänien, gibt’s
knapp weniger als die Hälfte. Die logi-                                                Speakers' Corner
sche Konsequenz muss sein: Rumäni-
sche Arbeitskräfte zahlen in Österreich
auch nur noch die Hälfte an Steuern.
                                                                KdK
Holt uns hier raus
                                                                I
                                                                    ch bin die unangefochtene Köni-          mit ihrem Geld die Grenzen der Moral
                                                                    gin der Katastrophen (KdK). Wie          überschreiten dürfen) … machte nur
Und noch einmal die Kinder. Wien will                               bin ich? Was macht mich so an-           einmal Diät nach einer lebensbedroh-
100 Kinder aus den überfüllten, psy-                            ders? Bin ich anders? Ist das gut oder       lichen OP … bin für Strafen nach Ge-
chisch und physisch gesundheitsge-                              schlecht?                                    haltshöhe … liebe Liebe … kann nicht
fährdenden Flüchtlingslagern in Grie-                              Kurzbeschreibung einer nicht ste-         Haushalt führen … Friede und Frei-
chenland aufnehmen. Erstens ist das                             reotypen KdK: 165 cm groß … mindes-          heit ist mir das Wichtigste … bin Ma-
peinlich wenig – wieso nimmt eine                               ten 30 kg Übergewicht … nonstop am           mas Kind … will keine Führer/innen
Großstadt nicht 10.000 Menschen auf                             Reden und Analysieren … in 60s ge-           … bedingungsloses Grundeinkom-
                                               von
einen Schlag auf? – und zweitens wird                           boren … 80s in Wien 22 … bedeutet            men ist logisch … finde die momenta-
                                            Grace Marta
es nicht passieren, denn die Bundes-                            Drogenerfahrung … wollte nie Kinder          ne Drogenpolitik dumm … make love
regierung stellt sich quer. Das ist eine      Latigo            … habe Katze … stehe total auf Poli-         not war… baba und foi ned.
ganz falsche Welt, in der man zuschaut,                         tik … kann keine Ungerechtigkeit aus-           Wenn ihr glaubt, ich bin nichts Be-
wie Menschen traumatisiert werden,                              stehen … bekennende Proletarierin …          sonderes – freut mich.
krank werden, verrecken. Weil man de-                           denke oft an Sex … habe kein Kapital-           Findet ihr, ich habe recht – freut
nen, die eine so einfach zu bewerkstelli-                       denken und mache die besten Finanz-          mich auch.
gende Rettung verhindern, nichts Böses                          konzepte … mag gesunde Aggression
an den Leib wünschen darf, bleibt uns                           und Wut … rede gerne mit Älteren …               Hier schreiben abwechselnd Puneh
nur, ihnen die Weisheit zu wünschen,                            Leben ohne Süßigkeiten geht nicht               Ansari, Bärbel Danneberg und Grace
doch noch richtig zu handeln.                                   … finde Reiche unheimlich (weil sie             Marta Latigo nichts als die Wahrheit.
15
512
                                                                                                                                          tun & lassen

Dokumentarfilm                                                                                      Sachbuch
Fiebersenken                                                                                        Wider den Konjunktiv

M
          itten in die Lektüre von
          Drehli Robniks Ansteck-
          kino (Besprechung folgt)
über den «Pandemie-Spielfilm»
                                                                                                    «W             ie viele Generatio-
                                                                                                                   nen wollen wir denn
                                                                                                                   noch verschwen-
                                                                                                    den?», fragt Melisa Erkurt und
                                                                                                                                         ein – und lässt dabei zu oft an-
                                                                                                                                         dere über sie sprechen. Drittens
                                                                                                                                         verlassen sich konkrete Forde-
                                                                                                                                         rungen auf verallgemeinernde
kündigt sich großes Epidemie­                                                                       analysiert Sprachlosigkeit, ver-     Beobachtungen über «die Mehr-
kino im Dokumentarsegment an.                                                                       bunden mit fehlenden Vorbil-         heitsgesellschaft» oder ignoran-
                                      Foto: pooldoks

Katharina Weingartner hat in                                                                        dern, als typisch österreichische    te «Bobo-Eltern».
mehrjähriger Arbeit einen neuen                                                                     Begleiterscheinung eines sicht-          Was sich nach journalisti-
Dokufilm produziert: Das Fieber                                                                     baren Migrationshintergrundes.       schen Kriterien als Aktionismus
                                                   Heilpraktikerin Namyalo kämpft gegen Malaria
feiert am 24. September im Gar-                                                                     Die Journalistin und Deutsch-        bezeichnen lässt, nennt Erkurt
tenbaukino Premiere. Der Film                                                                       lehrerin hat der Assimilation        selbst «hart und ehrlich». Die
erzählt, angesiedelt am ostafrika-                     einjährige Beifuß, wird von Heil-            abgeschworen. Sie benennt ras-       Autorin regt nicht an, was viel-
nischen Lake Victoria, aus Pers-                       kräuterspezialist_innen und Me-              sistische Strukturen als solche,     leicht unter Umständen durch-
pektive von Gesundheitsaktivist_                       diziner_innen prophylaktisch und             kritisiert ein Bildungssystem,       aus anzudenken wäre – Erkurt
innen, Wissenschaftler_innen und                       kurativ als Tee empfohlen. Der               das sich auf überforderte Eltern     sagt an. Möge ganz Österreich
Betroffenen vom Kampf gegen Ma-                        Pharmaindustrie passt das nicht,             verlasse, und deckt Doppelmo-        ihr zuhören.
laria, der todbringendsten Infekti-                    die WHO rät ab. Das Fieber wagt              ral auf, die ihr im Lehrerzimmer,                            Mareike
onskrankheit der Welt. Hier trifft                     einen Blick über den schulmedizi-            unter ORF-Kolleg_innen und in                                  Boysen
Kolonial-, Agrar- und Gesund-                          nischen Tellerrand und findet tief           öffentlichen Debatten begegnet.
heitspolitik auf eine aktuelle Fra-                    beeindruckende Geschichten über                  Erkurts erstes Buch Gene-                           Melisa Erkurt:
ge: Why do Black Lives not Mat-                        die Kraft, mit der um Lösungen für           ration haram hat neben vielen                           Generation haram.
ter enough? Sie habe sechs Kinder                      eines der größten Gesundheitspro-            Stärken drei formale Schwä-                             Warum Schule
an Malaria verloren, erzählt eine                      bleme auf Erden gerungen wird.               chen: Erstens ist es schlampig                          lernen muss, allen
                                                                                                                                                            eine Stimme zu
Frau, und man bleibt sprachlos zu-                                                     lib          lektoriert. Zweitens fordert die                        geben
rück. Im Zentrum der Story steht                                                                    Autorin für die Verlierer_in-                           Zsolnay 2020
eine Pflanze: Artemisia annua, der                     dasfieber.com                                nen des Systems eine Stimme                             192 Seiten, 20 Euro

                                      DESPERADO-SCHACH von Häm und Bernleitner

      V
             or sechzig Jahren fegte der 24-jährige                                                                    Droht Th8 mit Damenfang. 19... e4?! sieht
             Michail Tal wie ein Wirbelsturm durch                                                                     nur auf den ersten Blick gut aus. 20.dxe5
             die erstarrenden Strukturen des Sow-                                                                      Scxe5 Jetzt würde auf 20... Th8? 21.e6! Dxe6
      jetschachs und entriss Michail Botwinnik in                                                                      22.Te3 Txh5 23.Txe6+ Kf7 24.Txg6! folgen.
      selten kreativem Stil den Weltmeistertitel.                                                                      21.Te3 Kd7 Wieder wäre auf 21... Th8?
      Allerdings rächte sich der Patriarch, wie sein                                                                   22.Txe5+ Kd7 23.Te7+! Dxe7 24.Dxg6 fatal.
      Spitzname lautete, ein Jahr später, als er die                                                                   22.Tb1 b6? Die entscheidende Schwächung.
      WM-Krone von Tal wieder zurückeroberte.                                                                          22... Lc6 23.Sd4 f4 24.Txe5! Sxe5 25.Dxf7+
                                                                                                                       Sxf7 26.Lxf4 Tae8+ 27.Kd2 war notwendig.
                  Tal – Botwinnik                                                                                      23.Sf4! Tae8 Zum dritten Mal scheitert 23...
             Moskau 1960, 1. WM-Partie                                                                                 Th8, diesmal an 24.Sxg6! Sxg6 25.De2 Txh4
                                                                                                                       26.Da6. 24.Tb4! Lc6
      1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Lb4 Französisch Wi-
      nawer – eine spannende Partie kündigt sich                                                                       Siehe Diagramm
      an. 4.e5 c5 5.a3 Lxc3+ 6.bxc3 Dc7 7.Dg4
      Tal lenkt die Partie in unwegsames Gelände.                                                                      25.Dd1! Die entscheidende Spielverlage-
      Solid war 7.a4 oder 7.Sf3. 7... f5 8.Dg3 Se7                     sicher, daher war 14... Sc6 nebst 0-0-0 ange-   rung. Der Bd5 steht unter Beschuss, außer-
      9.Dxg7 Tg8 10.Dxh7 cxd4 11.Kd1!? Damals                          sagt. 15.Ke1 Dxe5 Noch einmal sieht 15… Sc6     dem droht Le2-h5. 25... Sxf4 26.Txf4 Sg6
      ganz außergewöhnlich; verhindert Dxc3 und                        besser aus. 16.Lg5! Auch der schwarze Kö-       27.Td4 Droht 28.c4, wogegen 27... f4? we-
      droht 11.Sf3. 11... Ld7 Besser als 11... Dxc3                    nig bleibt in der Mitte, doch wohin mit den     gen 28.Dg4+ keine Verteidigung ist. 27...
      12.Tb1 oder 11... Dxe5 12.Sf3. 12.Dh5+ Sg6                       Türmen? 16... Sc6 Nur scheinbar gut ist 16...   Txe3+ 28.fxe3 Kc7 29.c4! Kraftvoll! 29...
      13.Se2 Droht 14.Sf4. 13… d3! Das richti-                         f4? 17.d4! Df5 18.Sxf4 Dc2 19.Se2. 17.d4 Dc7    dxc4 Nichts hilft 29... Se7 30.cxd5 Sxd5 (30...
      ge Gegenspiel nach 37 Minuten Nachden-                           Zurück, denn 17... De4 18.Tc1 ist nicht ange-   Lxd5 31.Lxe7 Dxe7 32.Dc1+) 31.Lc4 Kd6
      ken. 14.cxd3 La4+?! Erste Verwirrungen                           nehm. 18.h4! Kreativschach pur! Der Turm        32.Lf4+ Kc5 33.Dc2. 30.Lxc4 Dg7 31.Lxg8
      bei Botwinnik. Auf e1 steht der weiße König                      findet über h3 ins Spiel. 18... e5 19.Th3 Df7   Dxg8 32.h5 1–0
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