WELTRISIKOBERICHT 2021 - FOKUS: SOZIALE SICHERUNG - MISEREOR
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Impressum Herausgeber WeltRisikoBericht 2021 Bündnis Entwicklung Hilft Ruhr-Universität Bochum – Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) Konzeption und Realisierung Peter Mucke, Bündnis Entwicklung Hilft, Projektleitung Dr. Katrin Radtke, IFHV, Wissenschaftliche Leitung Lotte Kirch und Ruben Prütz, Bündnis Entwicklung Hilft, Redaktionsleitung Julia Walter, MediaCompany, Redaktion Naldo Gruden und Karolina Musial, MediaCompany, Grafische Gestaltung und Infografik Autor:innen Dr. Mariya Aleksandrova, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik Impressum Sascha Balasko, Plan International Prof. Dr. Markus Kaltenborn, Ruhr-Universität Bochum Dr. Daniele Malerba, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik Peter Mucke, Bündnis Entwicklung Hilft Oliver Neuschäfer, Christoffel-Blindenmission Dr. Katrin Radtke, IFHV Ruben Prütz, Bündnis Entwicklung Hilft Dr. Christoph Strupat, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik Daniel Weller, IFHV Nicola Wiebe, Brot für die Welt Unter Mitarbeit von Lennart Bade, Bündnis Entwicklung Hilft Jenifer Gabel, DAHW Sr. Dr. Elizabeth Nalloor, RAHA, Misereor Anja Oßwald, Kindernothilfe Silke Wörmann, Kindernothilfe Übersetzung Lisa Cohen, IFHV Druck Druckhaus Sportflieger, Berlin, gedruckt auf 100 Prozent Recycling-Papier, CO2-kompensiert ISBN 978-3-946785-11-8 Der WeltRisikoBericht wird seit 2011 jährlich vom Bündnis Entwicklung Hilft publiziert. Verantwortlich: Peter Mucke 2 WeltRisikoBericht 2021
Vorwort Das Jahr 2021 ist erneut stark durch die machen die große Bedeutung verschiedener Corona-Pandemie geprägt. Zudem haben Sicherungsmechanismen und ihre Relevanz uns in vielen Teilen der Welt klimabedingte für die Katastrophenrisikoreduzierung deut- Extremwetter ereignisse beschäftigt, darunter lich. Soziale Sicherungssysteme reagieren auf Hitzewellen, Waldbrände und Hochwasser. die Grundbedürfnisse von Menschen in der Auch Deutschland wurde dieses Jahr durch Katastrophe, stärken ihre Resilienz und ver- das Hochwasser im Westen und Süden stark hindern, dass sie automatisch in Armut abrut- getroffen. Diese Katastrophe hat viele Men- schen. Deutlich wird auch die Notwendigkeit, schen tief erschüttert und uns schmerzlich vor soziale Sicherung weiter auszubauen und noch Augen geführt, dass der Klimawandel – wel- stärker in Katastrophenvorsorge und Maßnah- cher derartige Überschwemmungen vielerorts men gegen den Klimawandel zu integrieren. wahrscheinlicher macht – uns alle betrifft und Aus der Perspektive von Wissenschaft und verheerende Auswirkungen auch in unserer Praxis identifiziert der Bericht dafür Ansatz- direkten Umgebung haben kann. Eine Auf- punkte und zeigt Lösungsansätze auf. Diese arbeitung der Ursachen auch im Bereich des Analysen in Kombination mit dem enthalte- Katastrophenmanagements ist unausweichlich nen WeltRisikoIndex 2021 machen den Welt‑ und muss in einer deutlich besseren Koordinie- RisikoBericht erneut zu einem wichtigen rung von Zuständigkeiten sowie endlich ambi- Instrument für Entscheidungsträger:innen aus tioniertem Klimaschutz münden. Gesellschaft und Politik. Gleichzeitig zeigen die Überschwemmungen bei aller Kritik sehr deutlich, dass Deutsch- land über die Kapazitäten verfügt, auf solche Extremereignisse zu reagieren. Viele Gebäude und Infrastrukturen haben den Wassermassen standgehalten, Einsatzkräfte waren zur Stelle Wolf-Christian Ramm und die Mehrheit der Betroffenen hat schnell Vorstandsvorsitzender Unterstützung erhalten. Sie haben in den meis- Bündnis Entwicklung Hilft ten Fällen Zugang zu sozialer Sicherung und werden staatliche finanzielle Unterstützung erhalten, wo kein Versicherungsschutz greift. Die Bedeutung sozialer Sicherung steht auch im Mittelpunkt des diesjährigen WeltRisi- Prof. Dr. Pierre Thielbörger koBerichts. Die Artikel unserer Autor:innen Geschäftsführender Direktor IFHV Bündnis Entwicklung Hilft bildet sich aus den Hilfswerken Brot für Das Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völker die Welt, Christoffel-Blindenmission, DAHW, Kindernothilfe, medico recht der Ruhr-Universität Bochum ist eine der führenden Einrichtungen international, Misereor, Plan International, terre des hommes und in Europa in der Forschung und Lehre zu humanitären Krisen. Aufbauend Welthungerhilfe sowie den assoziierten Mitgliedern German Doctors auf einer langen Tradition der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und Oxfam. In Katastrophen- und Krisengebieten leisten die Bündnis mit humanitärem Völkerrecht und den Menschenrechten verbindet das Mitglieder sowohl akute Nothilfe als auch langfristige Unterstützung, um Institut heute interdisziplinäre Forschung aus den Fachrichtungen der Not nachhaltig zu überwinden und neuen Krisen vorzubeugen. Rechts-, Sozial-, Geo- und Gesundheitswissenschaft. WeltRisikoBericht 2021 3
Weiterführende Informationen Wissenschaftliche Angaben zur Methodik und Tabellen sowie weitere Materialien sind unter www.WeltRisikoBericht.de eingestellt. Dort stehen auch die Berichte 2011 bis 2020 zum Download zur Verfügung. Ein interaktiver Reader zu den WeltRisikoBerichten, der auch für den Einsatz im Schulunterricht geeignet ist, ist unter www.WeltRisikoBericht.de/#epaper abrufbar. „Sind Katastrophen vermeidbar?“ – Unterrichtsmaterialien zum WeltRisikoIndex Die vorherrschende Sicht auf die Länder des Globalen Südens ist oftmals durch Katastrophen und Konflikte bestimmt. Aktuelle humanitäre Krisen wie Hungersnöte, Erdbeben und Überschwemmungen sind wichtige Themen, an die schulischer Unterricht anknüpfen kann. Der WeltRisikoIndex ist ein guter Ansatzpunkt, dabei auch die soziale Situation und die Umweltbedingungen in den betroffenen Ländern zu behandeln. Die Unterrichtsmaterialien enthalten kurz gefass- te thematische Darstellungen und ansprechende Arbeitsblätter, die die einzelnen Dimensionen des WeltRisikoIndex behandeln – von der Gefährdung über Anfälligkeit und Bewältigungskapazitäten bis hin zu Anpassungskapazitäten. Diese Materialien können in Form von Gruppen- oder Einzelarbeit in den Unterricht integriert werden. Das Online-PDF des Unterrichtsmaterials steht zum Download bereit: www.WeltRisikoBericht.de/ unterrichtsmaterial WorldRiskReport Der englischsprachige WorldRiskReport ist unter www.WorldRiskReport.org verfügbar. 4 WeltRisikoBericht 2021
Inhalt Zentrale Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1. S oziale Sicherung in Krisen und Katastrophen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Peter Mucke, Ruben Prütz 2. Fokus: Soziale Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.1 Krisen- und Katastrophenvorsorge durch einen globalen Fonds für soziale Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Markus Kaltenborn, Nicola Wiebe 2.2 Zugang zu sozialen Sicherungssystemen durch Partizipation und Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Sascha Balasko, Oliver Neuschäfer 2.3 „Building Back Better“ durch soziale Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Mariya Aleksandrova, Daniele Malerba, Christoph Strupat 3. Der WeltRisikoIndex 2021. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Katrin Radtke, Daniel Weller 4. Anforderungen und Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Bündnis Entwicklung Hilft, IFHV Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 WeltRisikoBericht 2021 5
Abbildung 1: WeltRisikoIndex 2021 Zentrale Ergebnisse WeltRisikoIndex 2021 Grundsatz, dass sich durch eine geringe bzw. sehr geringe Vulnerabilität das Katastrophen + Der WeltRisikoIndex 2021 bewertet das Kata risiko drastisch reduzieren lässt. strophenrisiko für 181 Länder. Damit sind knapp 99 Prozent der Weltbevölkerung erfasst. + Im Vergleich der Kontinente hat Ozeanien das höchste Katastrophenrisiko, vor allem bedingt + Unter den 15 Ländern mit dem höchsten durch seine hohe Gefährdung gegenüber extre- Katastrophenrisiko sind insgesamt zehn Insel- men Naturereignissen. Afrika, Amerika, Asien staaten vertreten. Ihr Risikoprofil wird zuneh- und Europa liegen beim Katastrophenrisiko in mend auch vom Anstieg des Meeresspiegels absteigender Reihenfolge dahinter. bestimmt. + Afrika ist der Kontinent mit der insgesamt höchs- + Die Länder mit dem höchsten Katastrophen ten gesellschaftlichen Vulnerabilität. Zwölf der risiko weltweit sind Vanuatu (WRI 47,73), die 15 vulnerabelsten Länder der Welt liegen dort. Salomonen (WRI 31,16) und Tonga (WRI 30,51). + Europa hat mit einem Median von 3,27 bei 40 + Am höchsten exponiert ist Vanuatu, gefolgt von Ländern das mit Abstand geringste Katastro- Antigua und Barbuda sowie Tonga. Das vulnera- phenrisiko aller Kontinente und liegt auch in belste Land der Welt ist die Zentralafrikanische allen anderen Komponenten der globalen Risi- Republik, gefolgt vom Tschad und der Demokra- koanalyse in der günstigsten Position. tischen Republik Kongo. + Länder mit niedriger Wirtschaftskapazität und + Deutschland weist ein sehr geringes Katastro- geringem Einkommen weisen in der Regel eine phenrisiko auf. Mit einem Wert von 2,66 belegt höhere Vulnerabilität bzw. geringere Möglich- Deutschland Rang 161 im WeltRisikoIndex. keiten zur Abwendung von Katastrophen auf. In diesen Ländern führen extreme Naturereig- + Die Beispiele Niederlande, Japan, Mauritius nisse oftmals zu weiteren Verringerungen vor- sowie Trinidad und Tobago verdeutlichen den handener Kapazitäten. 6 WeltRisikoBericht 2021
Fokus: Soziale Sicherung Rang Land Risiko 1. Vanuatu 47,73 Abbildung 2: Auszug aus dem + Soziale Sicherung trägt dazu bei, die gesell- 2. Salomonen 31,16 WeltRisikoIndex 2021 schaftliche Verwundbarkeit gegenüber extre- 3. Tonga 30,51 men Naturereignissen zu reduzieren. Im Kata- 4. Dominica 27,42 strophenfall muss soziale Sicherung oftmals 5. Antigua und Barbuda 27,28 kurzfristig ausgebaut werden, um gestiegene 6. Brunei Darussalam 22,77 Sicherungsbedarfe zu decken. Adaptive Siche- 7. Guyana 21,83 rungssysteme sind dafür besonders geeignet, 8. Philippinen 21,39 da sie schnell auf neue Sicherungsbedarfe 9. Papua-Neuguinea 20,90 reagieren und Schocks, wie die Corona-Pande- 10. Guatemala 20,23 mie, effektiv bewältigen können. 11. Kap Verde 17,72 + Parallel zu formellen, oftmals staatlichen, 12. Costa Rica 17,06 Sicherungssystemen bestehen informelle sozi- 13. Bangladesch 16,23 ale Sicherungsstrukturen, welche zum Beispiel 14. Fidschi 16,06 gemeindebasierte Institutionen wie Spargrup- 15. Kambodscha 15,80 pen oder Getreidebanken umfassen. ... ... ... 161. Deutschland 2,66 + Der Zugang zu rechtebasierten sozialen ... ... ... Sicherungssystemen ist bislang nur für eine 167. Singapur 2,50 Minderheit der Weltbevölkerung Realität. Die 168. Schweden 2,25 Corona-Pandemie hat in vielen Teilen der Welt 169. Litauen 2,18 verdeutlicht, wie ungleich der Zugang zu sozi- 170. Schweiz 2,04 aler Sicherung verteilt ist. Ohne soziale Siche- 171. Finnland 2,00 rung wird im Katastrophenfall Armut verschärft, 172. Estland 1,99 bestehende Ungleichheit vertieft, die Resilienz 173. Ägypten 1,82 gegenüber zukünftigen Krisen geschwächt und 174. Island 1,71 der Bedarf an humanitärer Hilfe erhöht. 175. Malediven 1,69 + Soziale Sicherungssysteme erreichen in der 176. Barbados 1,37 Realität nicht immer die Personen, die auf sie 177. Grenada 1,06 angewiesen wären. Die Ursachen dafür können 178. Saudi-Arabien 0,94 in institutionellen, kommunikativen, sozialen 179. St. Vincent u. die Grenadinen 0,70 oder physischen Barrieren liegen – oft auch in 180. Malta 0,69 einer Kombination mehrerer Faktoren. 181. Katar 0,30 + Ein globaler Fonds für soziale Sicherheit kann dazu beitragen, dass der Basisschutz auch in + Soziale Sicherung hat zwar in den letzten Jahren Staaten sichergestellt wird, die hierzu finanziell in der Katastrophenvorsorge und Adressierung noch nicht in der Lage sind. Der Fonds könnte der Risiken des Klimawandels an Bedeutung darüber hinaus in Krisensituationen denjenigen gewonnen, eine systematischere Verknüpfung, Ländern helfen, die aufgrund kurzfristiger finan- die Synergien zwischen den Handlungsfeldern zieller Engpässe auf internationale Unterstüt- schafft, ist jedoch weiterhin notwendig. Dies- zung angewiesen sind. bezüglich gilt es auch im Sinne des Building Back Better, effektive Maßnahmen der sozia- + Soziale Sicherung ist eine Aufgabe, die grund- len Sicherung zur Eindämmung und Anpassung sätzlich aus eigenstaatlichen Mitteln finanziert an den Klimawandel in die Bewältigung der werden muss, insofern kann die internationale Pandemiefolgen zu integrieren. Ko-Finanzierung der Systeme immer nur eine Übergangslösung darstellen. WeltRisikoBericht 2021 7
1 S oziale Sicherung in Krisen und Katastrophen Die Absicherung von Menschen gegenüber Risiken wie Krankheit, Verlust Peter Mucke von Hab und Gut, Arbeitslosigkeit oder Altersarmut trägt wesentlich dazu Geschäftsführer, Bündnis Entwicklung Hilft bei, ihre Verwundbarkeit, auch gegenüber extremen Naturereignissen, zu Ruben Prütz reduzieren. Dem Staat wird in der Regel die primäre Verantwortung für die Referent Themen & Information, Absicherung von Menschen gegenüber sozialen Risiken und in Krisensitua- Bündnis Entwicklung Hilft tionen zugeschrieben, aber auch nicht-staatliche, oft informelle Strukturen unterschiedlichster Art tragen hierzu bei. Für ein effektives Katastrophen- management ist die kurzfristige Ausweitung sozialer Sicherungssysteme ein entscheidender Faktor. In internationalen Rahmenwerken und Stra- tegien wie dem Sendai Framework for Disaster Risk Reduction wird der Bedeutung sozialer Sicherung bereits teilweise Rechnung getragen. Eine noch stärkere Berücksichtigung sozialer Sicherungssysteme im Bereich des Katastrophenmanagements und der Klimawandelanpassung ist jedoch möglich und notwendig. Bei dem verheerenden Hochwasser, das im Juli wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Pflegebe- 2021 im Westen und Süden Deutschlands mehr dürftigkeit kam der Familie, der Nachbarschaft als 180 Menschenleben forderte und Schäden und der Kirche historisch betrachtet lange Zeit in Milliardenhöhe anrichtete, war die gegensei- eine zentrale Rolle für die individuelle Absiche- tige Hilfe in der Not vielfältig: Beispielsweise rung zu (Kannan 2007). Im Zuge der Industria kamen Bewohner:innen aus höhergelegenen lisierung und Urbanisierung sowie der damit Stadtteilen im nordrhein-westfälischen Hagen einhergehenden tiefgreifenden gesellschaft- ins Tal, um die Betroffenen der Flut bei den lichen Veränderungen übernahm der Staat Aufräumarbeiten zu unterstützen. Ein Mann zunehmend Aufgaben der sozialen Sicherung, verschenkte von seinem Fenster aus Lebens- sodass sich seit dem 19. Jahrhundert zunächst mittel an Bedürftige, eine Facebook-Gruppe zur in europäischen Ländern sukzessive der west- Koordinierung der Nachbarschaftshilfe wurde liche Wohlfahrtsstaat entwickelte (Kannan eingerichtet (Rinaldi 2021). Bei extremen 2007). Heute wird weltweit den Nationalstaa- Naturereignissen sind es oft Nachbar:innen ten in der Regel die primäre Verantwortung oder auch Angehörige, die entscheidend zur für die Absicherung von Menschen gegenüber Nothilfe beitragen. sozialen Risiken zugeschrieben. Nichtsdesto- weniger sind auch nicht-staatliche Strukturen Nicht nur bei extremen Naturereignissen, son- der sozialen Sicherung bis heute weltweit von dern auch bei alltäglicheren sozialen Risiken großer Bedeutung geblieben. Formen und Bedeutung sozialer Sicherungssysteme In Anlehnung an die Definition der Internatio- vor wirtschaftlicher und sozialer Not zu schüt- nalen Arbeitsorganisation (ILO) wird in diesem zen. Soziale Sicherung beruht auf den Grund- Bericht unter sozialer Sicherung die Gesamtheit pfeilern Aufbau von Reserven sowie Solidarität. der Maßnahmen verstanden, die eine Gesell- Das Spektrum der sozialen Sicherung reicht schaft für ihre Bevölkerung bereitstellt, um sie von der Arbeitsunfall- bis zur Alterssicherung, WeltRisikoBericht 2021 9
sozialer Sicherung Ziele Schu und tz vor Ris ention iken Präv ge n € Fö tun rd s e ei Arbeitsunfallleistungen ru L d ng un € € vo rn nC te Gü Leistungen ha im Alter Familienleistungen nc en en ell nzi und € € esse Arbeitslosen- Mutterschafts- Mög leistungen leistungen zu lichk Zugang eiten Leistungen Hinterbliebenen- im Krankheitsfall leistungen € € Medizinische Leistungen Versorgung bei Invalidität Soziale Sicherung nach ILO: Die Gesamtheit der öffentlichen Maßnahmen, die eine Gesellschaft für ihre Bevölkerung bereitstellt, um sie vor wirtschaftlicher und sozialer Not zu schützen, die durch das Fehlen oder eine erhebliche Verringerung des Arbeitseinkommens infolge verschiedener Eventualitäten (Krankheit, Mutterschaft, Arbeitsunfall, Arbeitslosig- keit, Invalidität, Alter oder Tod der Hauptversorger:innen) verursacht wird, sowie die Bereitstellung von Gesundheitsfürsorge und die Gewährung von Leistungen für Familien mit Kindern. Abbildung 3: Ziele und Teilbereiche der formellen sozialen Sicherung nach ILO (zusammengestellt basierend auf ILO 2004) von der medizinischen bis zur Familienversor- Aktive Programme umfassen etwa Wei gung, von Leistungen im Krankheitsfall oder terbildungsmöglichkeiten oder Arbeitsver bei Invalidität bis zur Arbeitslosen- und Hinter- mittlungsangebote. Passive Programme bliebenenversorgung. Zugang zu essenziellen umfassen Arbeitslosenversicherungen Gütern und Leistungen, Prävention und Schutz oder Möglichkeiten für Frühverrentung. vor Risiken sowie Förderung von Chancen und Möglichkeiten sind dabei die drei zentralen + Soziale Versorgungsdienste: Dazu gehören Ziele (siehe Abbildung 3). besondere Vor- und Nachsorgeleistungen wie etwa Traumabewältigung im Kontext Im Hinblick auf formelle Leistungsstruktu- sozialer Risiken wie Diskriminierung oder ren – häufig gewährt oder gefördert durch den Gewalt. Staat – kann zwischen vier Formen sozialer Sicherung unterschieden werden (Bowen et al. Neben staatlichen formellen Leistungen kann 2020; Carter et al. 2019): soziale Sicherung darüber hinaus auf privat gewählten oder informellen Wegen erfolgen, + Sozialhilfe: Diese umfasst beitragsfreie dazu zählen: Leistungen für besonders vulnerable Gruppen wie bedingungslose oder kon + Soziale Sicherung durch Familie, Nachbar- ditionale Geldtransfers, Gütertransfers, schaft und Kommunen Sozialwohnungen oder Schulspeisungen. + Privat finanzierte, selbst gewählte Versiche‑ rungen + Sozialversicherungen: Dazu gehören Leistun- + Hilfe und Unterstützung durch religiöse gen wie Gesundheitsversorgung oder Alters‑ Gemeinschaften. vorsorge. In den meisten Fällen ist soziale Sicherung + Arbeitsmarkt-Interventionen: Diese um- verbunden mit Kosten, die insbesondere viele fassen sowohl beitragsfreie als auch bei- einkommensschwache Länder des Globa- tragsfinanzierte Arbeitsmarktprogramme. len Südens oftmals nicht finanzieren können, 10 WeltRisikoBericht 2021
sowie mit regelmäßigen Beiträgen, die sich Gelder gefördert, erweitert und an formelle längst nicht alle Menschen leisten können. Strukturen angeschlossen werden (Carter et al. Der Grad der Abdeckung von Sicherungsmaß- 2019). Der Vorteil informeller Sicherungsstruk- nahmen in den Teilbereichen der sozialen turen liegt in der oftmals höheren Flexibilität, Sicherung ist daher weltweit höchst unter- insbesondere bei nachbarschaftlicher und fami- schiedlich (siehe Abbildung 7). Zudem bestehen liärer Absicherung. zum Teil erhebliche qualitative Unterschiede zwischen den angebotenen Leistungen. Oftmals Internationale Anforderungen und Ansätze zur sind es besonders vulnerable Gruppen, die Umsetzung sozialer Sicherung nur unzureichenden Zugang zu bestehenden Sicherungsstrukturen haben (siehe Kapitel 2.2). Artikel 22 der Allgemeinen Menschenrechts- erklärung legte bereits 1948 soziale Siche- Die Rolle informeller Sicherungsstrukturen rung als Menschenrecht fest: „Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf sozia- Ungeachtet der formellen Sicherungssysteme le Sicherheit“ (UNGA 1948). Die Kernaspekte durch Staat und private Versicherungsgesell- des Rechts auf soziale Sicherheit bestehen in schaften bestehen informelle soziale Siche- (OHCHR 2021): rungsstrukturen fort, welche zum Beispiel gemeinschaftsbasierte Aktionen umfassen, + Verfügbarkeit: Ein System der sozia- die den individuellen und kollektiven Schutz len Sicherung muss nach nationalem innerhalb einer Kommune bzw. Gemeinschaft Recht vorhanden sein, um sicherzu- verbessern sollen. Insbesondere – aber keines- stellen, dass Unterstützungsleistungen wegs nur – in Ländern, in denen formelle wirksam verwaltet und geprüft werden. Systeme der sozialen Sicherung nur unzurei- chend funktionieren oder wenig Akzeptanz + Angemessenheit: Leistungen, ob in Form finden, sind informelle Strukturen weiterhin von Geld- oder Sachleistungen, müssen in von großer Bedeutung (von Benda-Beckmann Höhe und Dauer ausreichend sein, damit 2015). Sie umfassen vor allem (Carter et al. alle ihr Recht auf Schutz und Unterstüt- 2019; UNDP 2016): zung der Familie, einen angemessenen Lebensstandard und Zugang zur Gesund- + Dörfliche Getreidebanken zur Ernährungs- heitsversorgung verwirklichen können. sicherung (zum Beispiel im Fall von Ernte- ausfällen durch extreme Naturereignisse) + Erschwinglichkeit: Kosten und Abgaben, + Unbezahlte, teils rotierende Verpflichtun- die mit Beiträgen zur sozialen Sicherung gen und Aufgaben innerhalb von Gemein- verbunden sind, müssen für alle erschwing- schaften wie Kommunen lich sein und dürfen die Verwirklichung + Rollen und Pflichten innerhalb von Familien anderer Rechte nicht beeinträchtigen. + Gelebte Normen, Kultur von Reziprozität und Solidarität innerhalb von Gemeinschaf- + Zugänglichkeit: Ein System der sozialen ten, wie etwa Nachbarschaftshilfe Sicherung sollte alle Menschen ohne Diskri- + Rücküberweisungen von ausgewanderten minierung erfassen, insbesondere diejeni- Familien- oder Gemeindemitgliedern gen, die zu den am meisten benachteiligten + Leihgeschäfte und marginalisierten Gruppen gehören. Die + Kredit- und Spargruppen. Leistungen sollten auch physisch zugänglich sein. Derartige informelle Sicherungssysteme können effektiven Schutz auf kommunaler Im Rahmen internationaler Vereinbarungen Ebene bieten, sind aber in der Regel regio- wurde in zentralen Konventionen dieses nal sehr begrenzt und bieten nicht immer Recht konkretisiert, beginnend mit der Zugang für alle Mitglieder einer Kommu- Konvention der ILO von 1952 über Mindest- ne. Teilweise können derartige gewachsene standards für verschiedene Teilbereiche informelle Strukturen auch durch öffentliche sozialer Sicherung. Mehrere internationale WeltRisikoBericht 2021 11
Konventionen folgten, beispielsweise zu Gleich‑ Im Jahr 2009 wurde durch die Vereinten Nati- behandlung, zum Schutz von Kindern und onen die Social Protection Floor Initiative ins Müttern sowie zur Wahrung der Ansprüche von Leben gerufen. Dieser rechtebasierte Ansatz Arbeitsmigrant:innen. sieht Staaten grundsätzlich als Pflichtenträger und Bürger:innen als Inhaber:innen von Rech- Im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte ten. Darauf aufbauend wurden 2012 umfassende haben sich verschiedene Ansätze zur Ausgestal- Empfehlungen formuliert, wie ein rechtebasier- tung formeller sozialer Sicherung gegenseitig ter Basisschutz auf nationaler Ebene konkret abgelöst. Anfang der 2000-er Jahre dominier- aussehen sollte (The ILO Social Protection Floors te der sogenannte „Social Risk Management“- Recommendation 202) (Carter et al. 2019). Ansatz, der den Fokus auf die primäre Bewäl- tigung akuter Risiken legt. An diesem Ansatz Initiiert durch Weltbank und ILO folgte 2016 wurde kritisiert, dass er die strukturellen die Universal Social Protection Initiative, welche Ursachen und Risikotreiber wie Ungleichheit, universelle soziale Sicherung bis 2030 forciert. Diskriminierung und Armut nicht hinreichend Darin ist der angestrebte soziale Basisschutz der berücksichtige (HLPE 2012). Im Gegensatz Social Protection Floor Initiative eingeschlossen, dazu zielt die sogenannte „transformative sozi- jedoch werden die Maßnahmen und Programme ale Sicherung“ darauf ab, die strukturellen zur Erreichung universeller sozialer Sicherung Ursachen sozialer Unsicherheit zu bearbei- auf nationaler Ebene individuell und länder- ten. Durch diesen Ansatz würden jedoch teils spezifisch definiert. Das Modell gilt dadurch als die Aufgaben und Grenzen zwischen sozialer weniger starr als seine Vorläufer. Trotz des brei- Sicherung und Entwicklungspolitik verwischt, ten internationalen Zuspruchs gilt die Initiative mit negativen Auswirkungen hinsichtlich der als schwer umsetzbar angesichts der oft einge- Erreichung der Kernziele sozialer Sicherung schränkten finanziellen Mittel in vielen Ländern (HLPE 2012). (Carter et al. 2019; siehe auch Kapitel 2.1). Soziale Sicherung und Katastrophenmanagement Nach extremen Naturereignissen, zu denen für einzelne Staaten, zum Beispiel über einen auch Pandemien wie die aktuelle Corona- globalen Fonds (siehe Kapitel 2.1). Die Corona Pandemie oder die Spanische Grippe 1918 / 19 Pandemie hat deutlich vor Augen geführt, zählen, sind funktionierende Strukturen der welche immensen Kosten mit dem Ausbau sozi- sozialen Sicherung – sowohl formelle als auch aler Sicherung verbunden sein können: Allein informelle – von enormer Bedeutung, weil in in Deutschland wurden mehrere Milliarden diesen Situationen häufig eine große Zahl von Euro zur Abfederung der wirtschaftlichen und Menschen in existenzielle Not gerät (Bünd- sozialen Folgen der Corona-Pandemie bereitge- nis Entwicklung Hilft / IFHV 2020). Während stellt (BMAS 2021). der Spanischen Grippe stieg beispielsweise in Schweden der Anteil der Bevölkerung, der in Die Bedeutung adaptiver sozialer Armenhäusern lebte, signifikant: Auf jeden Sicherung im Katastrophenfall Grippetoten kamen durchschnittlich vier Personen, die in ein Armenhaus gehen mussten Im Krisen- und Katastrophenfall muss sozi- (Karlsson et al. 2014). ale Sicherung oftmals kurzfristig ausgebaut werden, um gestiegene Sicherungsbedarfe zu Gerade Krisen und Katastrophen zeigen aber decken. In diesem Kontext ist häufig von adap- auch die Grenzen der Belastbarkeit sozialer tiver sozialer Sicherung die Rede. Der Ansatz Sicherungssysteme. Gefordert ist dann die der adaptiven sozialen Sicherung zielt in dieser staatliche finanzielle Aufstockung der formellen Hinsicht darauf ab, bestehende soziale Siche- und auch informellen Sicherungssysteme und rungssysteme in kurzer Zeit zu expandieren gegebenenfalls internationale Unterstützung (World Bank / GFDRR 2020). Am schnellsten 12 WeltRisikoBericht 2021
Soziale Sicherung im Katastrophenmanagement + Vorhandene Informationen sozialer + Anpassungsfähigkeit sozialer Sicherungssysteme über besonders Sicherungssysteme für den vulnerable Gruppen nutzen Katastrophenfall verbessern + Frühzeitige Ausweitung sozialer + Frühzeitige und kontinuierliche Sicherungsleistungen bei drohenden Analyse von Anpassungskapazi- Katastrophen täten und Versorgungslücken bestehender sozialer Sicherungs- + Frühzeitige Warnung und Informations- systeme Katastrophen- verbreitung mittels formeller und vorsorge informeller Sicherungsnetzwerke Extremes Katastrophen- Naturereignis / bewältigung akute Krise + Deckung gestiegener Sicherungs- bedarfe und Abmilderung individueller und gesellschaftlicher Folgeschäden und Langzeitfolgen von Katastrophen mittels sozialer + Nutzung vorhandenen Wissens über + Stabilisierung sozialer Sicherungssysteme Sicherungsleistungen lokale Gegebenheiten und Bedarfe gegenüber möglichen krisenbedingten durch Einbeziehung von Beschäftigten Einschränkungen und Überlastungen in der sozialen Sicherung Abbildung 4: Soziale Sicherung in den Phasen des Katastrophenmanagements (zusammengestellt basierend auf World Bank / GFDRR 2020) möglich ist der Ausbau vorhandener Systeme Instrument im Kontext langfristiger Anpas- durch Hinzunahme weiterer Begünstigter (hori- sungen – etwa an den Klimawandel – gesehen. zontale Expansion) oder durch die Erhöhung Durch präventive Sicherungsmaßnahmen und der Leistungen bzw. deren Verlängerung für Anpassungen bestehender Sicherungssysteme die innerhalb des bestehenden Systems abgesi- kann für langfristige Entwicklungen und neu cherten Personen (vertikale Expansion). Hinzu auftretende Risiken vorgesorgt werden (siehe kommt der kurzfristige Aufbau von Sicherungs- auch Abbildung 4). Somit stellt adaptive sozi- systemen, die sich konzeptionell an vorhandene ale Sicherung eine Schnittstelle zwischen den Systeme bzw. einzelne System-Elemente anleh- drei Handlungsfeldern der sozialen Sicherung, nen (siehe Kapitel 2.3). Dagegen ist der Aufbau des Katastrophenrisikomanagements und der neuartiger Sicherungsprogramme oft zeit- und Klimawandelanpassung dar: Alle drei streben kostenintensiv und steht damit als Reaktion an durch gezielte Maßnahmen individuelle auf akute Krisen und Katastrophen in der Regel und gesellschaftliche Vulnerabilität zu redu- nicht im Vordergrund (Bowen et al. 2020). zieren bzw. Resilienz zu fördern und dadurch akute und künftige Risiken zu bewältigen und Neben den bereits genannten vier Kernaspek- abzumildern (Carter et al. 2019; FAO / Climate ten des Rechts auf soziale Sicherheit hängt Centre 2019). Adaptive soziale Sicherung stellt die Qualität adaptiver sozialer Sicherung im ein Mittel dar, um Synergien zwischen den drei Falle akuter Krisen davon ab, ob trotz hohen Handlungsfeldern zu fördern und Kapazitä- Zeitdrucks kosteneffiziente, reaktionsfähige, ten und Ressourcen effizient einzusetzen, um bedarfsorientierte und nachhaltige Anpassun- geteilte Ziele zu erreichen. gen bestehender Sicherungsleistungen umge- setzt werden können (World Bank / GFDRR Soziale Sicherung als Maßstab im 2020; O’Brien et al. 2018). WeltRisikoIndex Neben der akuten Anpassung und Auswei- Zur Einschätzung des Katastrophenrisikos tung bestehender sozialer Sicherungssysteme werden im WeltRisikoIndex die Expositi- zur Katastrophenbewältigung wird adaptive on sowie die Vulnerabilität anhand der drei soziale Sicherung häufig auch als relevantes Komponenten Anfälligkeit, Bewältigungs- und WeltRisikoBericht 2021 13
Anpassungskapazitäten analysiert (siehe Prioritäten werden umfassende Investitionen Schaukasten „Das Konzept des WeltRisiko- in die soziale, wirtschaftliche und gesund- Berichts“). Soziale Sicherung spielt dabei eine heitliche Resilienzförderung zur Vermeidung wichtige Rolle, von den 22 Indikatoren zur von Schäden für Individuen wie auch Gesell- Berechnung der Vulnerabilität haben fünf einen schaften nahegelegt. Auch wird die Notwen- direkten Bezug dazu (siehe Kapitel 3): digkeit der Förderung von sozialen Absiche- rungsnetzen und Versicherungssystemen + Öffentliche Gesundheitsausgaben zur Resilienzförderung von Haushalten und + Private Gesundheitsausgaben Gemeinschaften hervorgehoben (UNISDR + Versicherungsschutz 2015). Trotz der genannten mittelbaren + Anzahl der Ärzt:innen pro 1.000 Einwoh- Schnittstellen zwischen dem Sendai-Rahmen- ner:innen werk und sozialer Sicherung bleibt die expli- + Anzahl der Krankenhausbetten pro 1.000 zite Verknüpfung von sozialer Sicherung mit Einwohner:innen. Katastrophenmanagement in der Arbeit von UNDRR bislang augenscheinlich begrenzt: Weitere vier Indikatoren haben einen mittelba- Weder in den formulierten Zielen und ren Bezug zu Querschnittsthemen der sozialen Fokusaktivitäten für die kommenden Jahre Sicherung: noch im Flaggschiffbericht „Global Assess- ment Report on Disaster Risk Reduction“ + Alphabetisierungsrate (GAR) 2019 des UNDRR wird soziale Siche- + Bildungsbeteiligung rung als wesentlicher Baustein für Katastro + Anteil der Bevölkerung, die von weniger als phenrisikoreduzierung benannt (UNDRR 2021; 1,90 US-Dollar pro Tag lebt UNDRR 2019). + Anteil der unterernährten Bevölkerung. Im Rahmen der Agenda 2030 wird der Bedeu- Soziale Sicherung steht damit in Verbindung tung sozialer Sicherung dagegen explizit Rech- mit allen drei Bereichen der Vulnerabilität nung getragen, indem mehrere der Ziele für gemäß WeltRisikoIndex. Die Reduzierung nachhaltige Entwicklung (SDGs) einen direk- von Vulnerabilität durch den Ausbau sozialer ten Bezug zu sozialer Sicherung aufweisen. Die Sicherung führt zur Erreichung zentraler Ziele Agenda 2030 beinhaltet unter anderem die sozialer Sicherung: Prävention und Schutz vor Forderungen nach einer universellen Gesund- Risiken sowie Förderung von Chancen und heitsversorgung, einer stärkeren Berücksichti- Möglichkeiten. gung und Entlastung unbezahlter Pflege- und Sorgeleistungen sowie einer verbesserten Institutionelle Verankerung sozialer Sicherung gesamtgesellschaftlichen Abdeckung nationaler als Katastrophenvorsorge Sicherungssysteme. Soziale Sicherung trägt dazu bei, die gesell- Die anhaltende globale Krisensituation durch schaftliche Vulnerabilität gegenüber extre- die Corona-Pandemie sowie die fortschreiten- men Naturereignissen zu reduzieren. Im 2015 denden negativen Auswirkungen des Klima- verabschiedeten Sendai Framework for Disas- wandels machen deutlich, dass soziale Siche- ter Risk Reduction, initiiert durch das Büro der rung und speziell deren Flexibilisierung künftig Vereinten Nationen für die Verringerung des noch stärker in nationalen und internationalen Katastrophenrisikos UNDRR (vormals UNIS- politischen Prozessen, insbesondere hinsicht- DR), bestehen bereits mittelbare Schnittstellen lich Katastrophenmanagement und Klimawan- zur sozialen Sicherung: Prävention und Schutz delanpassung, berücksichtigt werden müssen vor Risiken bilden die Kernziele des Rahmen- (siehe Kapitel 4). Das Potenzial sozialer Siche- werks – Ziele, die gemäß ILO-Definition auch rungssysteme ist dahin gehend noch lange nicht soziale Sicherung erfüllen soll. Als eine von vier ausgeschöpft. 14 WeltRisikoBericht 2021
Das Konzept des WeltRisikoBerichts Risikobegriff und Ansatz qualitativer Herangehensweise, das Im WeltRisikoIndex können – wie in Hintergründe und Zusammenhänge jedem Index – nur Indikatoren berück- Die Risikobewertung im WeltRisikoBericht beleuchtet – in diesem Jahr zum Thema sichtigt werden, für die nachvollziehba- beruht auf dem grundsätzlichen Verständ- „Soziale Sicherung“. re, quantifizierbare Daten verfügbar sind. nis, dass für die Entstehung einer Kata Beispielsweise ist die direkte Nachbar- strophe nicht allein entscheidend ist, wie Die Berechnung des Katastrophenrisikos schaftshilfe im Katastrophenfall zwar sehr hart die Gewalten der Natur die Menschen erfolgt für 181 Staaten weltweit und wichtig, aber nicht messbar. Außerdem treffen, sondern auch, wie Gesellschaften basiert auf vier Komponenten: kann es Abweichungen in der Datenqua- auf extreme Naturereignisse reagieren lität zwischen verschiedenen Ländern können. Je nach Gesamtsituation ist die + Gefährdung / Exposition gegenüber Erd geben, wenn die Datenerhebung nur Bevölkerung verletzlicher gegenüber beben, Wirbelstürmen, Überschwem- durch nationale Autoritäten und nicht Naturereignissen als bei einer besseren mungen, Dürren und Meeresspiegel durch eine unabhängige internationale Ausgangslage hinsichtlich Anfälligkeit, anstieg Institution erfolgt. Bewältigungs- und Anpassungskapazitä- ten (Bündnis Entwicklung Hilft 2011). + Anfälligkeit in Abhängigkeit von Infra- Ziel des Berichts struktur, Ernährung und ökonomischen Risikobewertung Rahmenbedingungen Die Darstellung des Katastrophenrisikos mithilfe des Index und seiner vier Kompo- Der WeltRisikoBericht beinhaltet den Welt- + Bewältigungskapazitäten in Abhän- nenten macht die weltweiten Hotspots des RisikoIndex, der seit 2018 vom Institut für gigkeit von Regierungsführung, medi Katastrophenrisikos und die Handlungs- Friedenssicherungsrecht und Humanitäres zinischer Versorgung, sozialer und felder für die erforderliche Risikoreduzie- Völkerrecht (IFHV) der Ruhr-Universität materieller Absicherung rung auf quantitativer Basis sichtbar. Auf Bochum berechnet wird. Entwickelt wurde dieser Grundlage, ergänzt durch die quali- der Index von Bündnis Entwicklung Hilft + Anpassungskapazitäten bezogen auf tativen Analysen, können Handlungsemp- und der United Nations University Bonn. kommende Naturereignisse, auf den fehlungen für nationale und internatio‑ Neben dem Datenteil enthält der Bericht Klimawandel und auf andere Heraus‑ nale, staatliche und zivilgesellschaftliche immer auch ein Fokuskapitel mit forderungen. Akteur:innen formuliert werden. Naturgefahren-Bereich Gesellschaftlicher Bereich Gefährdung Vulnerabilität Exposition gegenüber Mittelwert aus den Naturgefahren drei Komponenten Meeresspiegelanstieg Überschwemmungen Anfälligkeit Bewältigung Wahrscheinlichkeit, im Kapazitäten zur Ereignisfall Schaden zu Verringerung negativer erleiden Auswirkungen im Ereignisfall Wirbelstürme Erdbeben Anpassung Kapazitäten für Dürren langfristige Anpassung WeltRisikoIndex und Wandel Produkt aus Gefährdung und Vulnerabilität Abbildung 5: Der WeltRisikoIndex und seine Komponenten WeltRisikoBericht 2021 15
2 Soziale Sicherung 2.1 Krisen- und Katastrophenvorsorge durch einen globalen Fonds für soziale Sicherheit Pandemien, extreme Naturereignisse, gewaltsame Konflikte und ökonomi- Markus Kaltenborn sche Verwerfungen führen überall dort zu Katastrophen, wo sie auf hohe Professor an der Juristischen Fa- kultät, Ruhr-Universität Bochum Vulnerabilität stoßen. Soziale Sicherungssysteme ermöglichen es, nicht Nicola Wiebe nur in normalen Zeiten, sondern auch in Krisensituationen soziale Grund- Referentin Soziale Sicherheit, rechte zu gewährleisten und die negativen Auswirkungen von Krisen zu Brot für die Welt bewältigen. Der Zugang zu rechtebasierten sozialen Sicherungssystemen ist jedoch bislang nur für eine Minderheit der Weltbevölkerung Realität. Ursache hierfür sind insbesondere die erheblichen Finanzierungslücken in manchen Ländern des Globalen Südens. Ein globaler Fonds für sozia- le Sicherheit kann dazu beitragen, dass der Basisschutz auch in Staaten sichergestellt werden kann, die hierzu finanziell noch nicht in der Lage sind. Der Fonds könnte darüber hinaus in Krisensituationen denjenigen Ländern helfen, die aufgrund kurzfristiger finanzieller Engpässe auf internatio- nale Unterstützung angewiesen sind. Soziale Sicherung ist in vielfacher Hinsicht eine sinnvolle Investition, nicht zuletzt mit Blick auf die globale Katastrophenvorsorge. Soziale Sicherungssysteme ermöglichen es den sozialpolitischer Instrumente kann im besten Staaten, schnell auf unterschiedliche Formen Fall dazu führen, dass neben der unmittelbaren von Krisen zu reagieren und deren Auswirkun- Reduzierung der Vulnerabilität auch umfas- gen auf Individuen und die Gesamtgesellschaft sendere soziale, wirtschaftliche oder politische abzumildern. Auf diese Weise können Kata Veränderungen angestoßen werden. strophen abgefedert und das dauerhafte Abrut- schen in Armut verhindert werden, beispiels- Um diese Beiträge zur Katastrophenvorsorge weise durch die Berücksichtigung zusätzlicher zu realisieren, bedarf es langfristig etablierter, Leistungsempfänger:innen in bereits etablier- rechtebasierter und reaktionsfähiger Systeme ten Sozialprogrammen oder eine krisenbezoge- der sozialen Sicherung. In Abhängigkeit von ne Erweiterung und Anpassung der Leistungen den kontextspezifischen Risiken spielt dabei (O’Brien et al. 2018). Die Wirkungsmechanis- die Koordination mit weiteren Sektoren eine men, über die soziale Sicherungsprogramme das zentrale Rolle, beispielsweise mit Politiken zur Katastrophenvorsorgeinstrumentarium unter- Anpassung an den Klimawandel (siehe auch stützen können, reichen dabei von der Absi- Kapitel 2.3). cherung der Existenzgrundlagen im Moment einer Krise (Schutzfunktion) über Beiträge zur Die Vorsorgelücke Prävention und Förderung der Krisenresilienz bis hin zur Unterstützung längerfristiger Trans- Etwa 53 Prozent der Weltbevölkerung haben formationsprozesse (Devereux / Sabates-Whee- jedoch keinen ausreichenden Zugang zu Leis- ler 2004). Das Zusammenspiel verschiedener tungen der sozialen Sicherung (ILO 2021). WeltRisikoBericht 2021 17
Wirkungsmechanismus Funktion Individuell Gesamtgesellschaftlich Instrumente (Beispiele) + Gewährleistung von Existenzsicherheit + Erhalt der Nachfrage, Reduzierung von + Sozialversicherungen Schutz + Zugang zu Gesundheitsdiensten Tiefe und Dauer der wirtschaftlichen + Garantierte Mindestsicherung + Schutz vor negativen Rezession (Sozialhilfe) Bewältigungsstrategien + Schutz der produktiven Kapazitäten + Grundeinkommen + Reduzierung der individuellen Anfäl- + Reduzierung der Anfälligkeit für Schäden + Reguläre und verlässliche ligkeit durch Zugang zu Ernährung, durch Maßnahmen der Risikoreduzie Sozialtransfers Prävention Gesundheit, Bildung rung oder Risikoabsicherung + Öffentliche Beschäftigung mit Fokus auf Prävention (etwa Bau von Dämmen oder Bewässerung) + Steigerung von Fähigkeiten und + Verbesserung von + Reguläre und verlässliche Einkommen, Diversifizierung von Bewältigungsstrategien Sozialtransfers Einkommensquellen + Reduzierung von Armut + Cash-Programme Förderung + Aufbau von Rücklagen + Ermöglichung von Risikobereitschaft für Veränderungen + Inklusion und Empowerment + Reduzierung der Chancenungleichheit in + Bildungszugang, Gesundheitsver- + Ermöglichung von Investitionen in nach- einer Gesellschaft (ex ante) sorgungszugang, Kindergeld Transformation haltige landwirtschaftliche Strategien + Umverteilung (ex post) + Progressive Ausgestaltung des Steuer-Transfer-Systems Abbildung 6: Wirkungsmechanismen der sozialen Sicherung im Krisenkontext (in Anlehnung an Devereux / Sabates-Wheeler 2004 und FAO 2019) Und trotz einer beeindruckenden Anzahl von Hinzu kommt, dass Länder mit niedrigem Maßnahmen der sozialen Sicherung, die nun Einkommen einem überproportional hohen im Kontext der Coronakrise zusätzlich ergriffen Katastrophenrisiko ausgesetzt sind (siehe wurden (ILO 2020), konnten auch hierdurch bei Kapitel 3). Innerhalb dieser Länder sind Weitem nicht alle Menschen abgesichert werden. wiederum die Bevölkerungsgruppen mit nied- Während Länder mit hohem Einkommen rigem Einkommen überproportional gefährdet, zwischen März und Oktober 2020 durchschnitt- unter anderem weil sie durch die geographische lich 695 US-Dollar pro Person zusätzlich in den Lage ihrer Siedlungsorte, die Prekarität ihres Sozialschutz investierten, lag der Durchschnitt Wohn- und Arbeitsumfelds oder aufgrund ihres in den Ländern mit niedrigem Einkommen bei Beschäftigungszweigs (zum Beispiel Landwirt- 4 US-Dollar (Almenfi et al. 2020). Gleichzeitig schaft oder Fischerei) in höherem Maße dem fiel es innerhalb einzelner Länder besonders Einfluss extremer Naturereignisse ausgesetzt schwer, diejenigen zu erreichen, die zuvor noch sind. Darüber hinaus verfügen sie über weniger nicht in das soziale Sicherungssystem integriert Ressourcen zur Krisenbewältigung oder proak- waren, wie zum Beispiel Beschäftigte im infor- tiven Anpassung an krisenhafte Veränderungen mellen Sektor und Menschen in extremer Armut. (FAO 2019). 18 WeltRisikoBericht 2021
Lücken im Sozialschutz machen Individuen, Schutter und Magdalena Sepúlveda als damali- aber auch ganze Gesellschaften, anfällig gegen- ge UN-Sonderberichterstatter:innen im Herbst über Krisen. Im Katastrophenfall wird Armut 2012 vor, einen globalen Fonds für soziale verschärft, bestehende Ungleichheit vertieft Sicherheit zur Umsetzung der ersten Kompo- und die Resilienz gegenüber zukünftigen nente – des Floor-Konzepts – einzurichten Krisen weiter geschwächt. Es stellt sich daher (de Schutter / Sepúlveda 2012). Ein solcher, die Frage, wie dieser Negativspirale entgegen- beispielsweise im Rahmen der Globalen Part- gewirkt werden kann. Nationale Lösungswege nerschaft für universelle soziale Sicherheit allein werden nicht ausreichen. Die internatio USP2030 einzurichtender Fonds soll dazu nale Gemeinschaft muss überlegen, wie sie beitragen, dass der Basisschutz auch in Staaten Fortschritte beim Aufbau sozialer Sicherheit in sichergestellt werden kann, die hierzu finanzi- Ländern mit niedrigem Einkommen beschleu- ell noch nicht in der Lage sind. Bereits früher nigen und auf diese Weise die globale Krisen- und seither verstärkt sind ähnliche Vorschläge und Katastrophenvorsorge verbessern kann. entwickelt worden (ILO 2002; Cichon 2015; GCSPF 2015; Greenhill et al. 2015), aber erst Rolle und Mandat eines globalen Fonds für im Zuge der Coronakrise nahm die Diskussi- soziale Sicherheit on an Fahrt auf. Die französische Regierung brachte den Vorschlag, einen neuen internatio Als sich mit der Weltfinanz- und Wirtschafts- nalen Finanzierungsmechanismus zu schaffen, krise in den Jahren 2007 / 2008 zeigte, wie in die Beratungen der G20 ein. De Schutter wichtig es ist, dass Staaten über ausreichend legte zudem dem UN-Menschenrechtsrat im stabile Schutzsysteme verfügen, brachte die April 2021 einen Bericht hierzu vor (UN-Doc. ILO gemeinsam mit der Weltgesundheitsor- A/HRC/47/36). Zivilgesellschaftliche Akteure ganisation (WHO) die Social Protection Floor unterstützen ebenfalls das Anliegen. Die Global Initiative auf den Weg, die im Jahr 2012 in Coalition for Social Protection Floors (GCSPF), eine entsprechende Empfehlung mündete (The ein internationales Bündnis aus Nichtregie- ILO Social Protection Floors Recommendation rungsorganisationen und Gewerkschaftsver- 202). Seither hat dieses Dokument die interna- bänden, forderte im Herbst 2020 die Staa- tionale Debatte über den globalen Sozialschutz tengemeinschaft zur Gründung eines solchen maßgeblich geprägt (zu weiteren Rechtsgrund- Fonds auf (GCSPF 2020). lagen siehe Kaltenborn 2020). Trotz unterschiedlicher Vorstellungen im Die Selbstverpflichtung, der sich die Staa- Detail kann man den vorliegenden Konzep- ten damit unterworfen haben, besteht aus ten entnehmen, wie das Mandat des Fonds zwei Komponenten: dem sozialen Basisschutz aussehen würde: In erster Linie würde er (Social Protection Floor), der den Zugang sich am Aufbau und an der vorübergehenden zu medizinischer Grundversorgung und ein Ko-Finanzierung von Social Protection Floors Mindestmaß an Einkommenssicherheit für alle beteiligen, sofern Niedrigeinkommenslän- Einwohner:innen gewährleistet, und den darauf der nicht über genügend eigene finanzielle aufbauenden umfassenderen Sicherungspro- Ressourcen (insbesondere Steuereinnah- grammen, die kontinuierlich weiterentwickelt men) für solche Systeme verfügen. Der Fonds werden. Die Empfehlung lässt den Staaten bei würde außerdem in besonderen Krisensitu- der Ausgestaltung beider Stufen einen weiten ationen (zum Beispiel extreme Naturereig- Gestaltungsspielraum. Es bleibt ihren sozialpo- nisse, Pandemien oder in Wirtschaftskrisen) litischen Schwerpunktsetzungen überlassen, ob denjenigen Ländern helfen, die aufgrund sie eher auf beitragsfinanzierte Sicherungssys- kurzfristiger finanzieller Engpässe gezwungen teme (zum Beispiel Kranken- oder Rentenversi- wären, das Leistungsspektrum und Leistungs- cherungen) oder auf steuerfinanzierte Grundsi- niveau ihrer Social Protection Floors wieder cherungsprogramme setzen. zurückzufahren. Mit Bezug auf die Social Protection Floor Soziale Sicherung ist eine Aufgabe, die Empfehlung der ILO schlugen Olivier de grundsätzlich aus eigenstaatlichen Mitteln WeltRisikoBericht 2021 19
finanziert werden muss, insofern kann die Weitere für die Gestaltung der Fondsstruk- internationale Ko-Finanzierung der Systeme turen relevante Prinzipien der Aid Effective- immer nur eine Übergangslösung darstel- ness-Agenda sind vor allem die Grundsätze len. Vom Mandat des Fonds mit umfasst sein der Inklusivität und der Rechenschaftspflicht. sollte daher auch die Beratung der Partner- Für die Konkretisierung dieser Prinzipien sind länder in Bezug auf die Mobilisierung zusätz- ergänzend auch die einschlägigen ILO-Stan- licher inländischer Ressourcen zur Finanzie- dards (unter anderem The ILO Social Protec- rung ihrer sozialen Sicherungssysteme. Eine tion Floors Recommendation 202) und die weitere wichtige Aufgabe dieser neuen Insti- Grundsätze des Menschenrechtsansatzes in der tution könnte darin bestehen, Koordination Entwicklungspolitik (unter anderem UNDG und Kohärenz der schon bestehenden inter- 2003) heranzuziehen. Inklusivität verlangt nationalen Programme zur Unterstützung von von den Akteuren, dass sie bereit sind, alle Sozialschutzsystemen im Globalen Süden zu Interessengruppen an den Steuerungsprozes- fördern. So ließe sich mithilfe des Fonds das sen des Fonds angemessen zu beteiligen. Das Problem einer fragmentierten Entwicklungs- bedeutet, dass neben den Regierungen der zusammenarbeit (Klingebiel et al. 2016) redu- an dem Fonds beteiligten Partnerländer und zieren, das für den Aufbau kohärenter sozialer den im Bereich der sozialen Sicherung aktiven Sicherungssysteme besonders schädlich ist. internationalen Organisationen (unter ande- Wenn die unterschiedlichen finanziellen und rem ILO, WHO, Weltbank) auch Sozialpartner technischen Ressourcen, die für diese globale (also internationale Gewerkschafts- und Unter- Aufgabe zur Verfügung stehen, über eine nehmerverbände) und zivilgesellschaftliche internationale Institution gebündelt würden, Repräsentant:innen der Betroffenengruppen könnten sie deutlich effizienter eingesetzt in den Partnerländern des Globalen Südens die werden. Möglichkeit haben müssen, ihre Ansichten in die Entscheidungs- und Überwachungsverfah- Organisationsprinzipien ren des Fonds einzubringen. Die Einrichtung neuer internationaler Insti- Mit dem Grundsatz der Rechenschaftspflicht tutionen muss im Rahmen des geltenden wird angemahnt, dass in allen Entscheidungsab- Völkerrechts erfolgen. Aus entwicklungsvöl- läufen in den Gremien des Fonds ein möglichst kerrechtlicher Sicht enthalten vor allem die hohes Maß an Transparenz notwendig ist Vorgaben der Global Partnership for Effective und institutionelle Vorkehrungen geschaffen Development Co-operation hierzu wichtige werden, die die gegenseitige Verantwortung Prinzipien. Die Details ergeben sich aus dem aller Akteure gewährleisten. Teilweise wird dies Nairobi Outcome Document (2016), darüber bereits durch die Beteiligungsmechanismen in hinaus auch aus den Vorgängerdokumenten der Organisationsstruktur des Fonds erreicht, Paris Declaration on Aid Effectiveness (2005) die sicherstellen, dass alle Interessengruppen und Busan Partnership Agreement (2011). in den Gremien des Fonds repräsentiert sind. Für die Arbeitsweise eines globalen Fonds für Allerdings müssen die Entscheidungen der soziale Sicherheit wäre das Prinzip der Eigen- Fondsgremien auch nachträglich überprüfbar verantwortung der Partnerländer (country sein. So sollte Vertreter:innen der Partnerlän- ownership) von zentraler Bedeutung: Es geht der die Möglichkeit gegeben werden, die Über- um den Aufbau von Sicherungssystemen, die einstimmung aller Entscheidungen des Fonds die Länder auf der Grundlage ihrer sozialpo- mit den vereinbarten Richtlinien und Grund- litischen Vorstellungen und Prioritätensetzun- sätzen zu kontrollieren. Ebenso wichtig ist es, gen entwickelt haben. Im Zentrum stehen die dass die Regierungen der Länder, die durch den Idee einer globalen Risikogemeinschaft und Fonds finanziell unterstützt werden, Rechen- das sozialpolitische Solidarprinzip in klarer schaft über die korrekte Verwendung der Mittel Abgrenzung von neokolonialen Mustern der ablegen müssen – nicht nur dem Fonds gegen- Fremdbestimmung in einer Geber-Nehmer- über, sondern auch gegenüber ihrer Bevöl- Beziehung. Dies muss in der Organisations- kerung. Umsetzen lassen sich diese Anfor- struktur des Fonds verankert werden. derungen durch Berichterstattungspflichten, 20 WeltRisikoBericht 2021
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