Emergence of and Compliance with New Social Norms
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ETH Library Emergence of and Compliance with New Social Norms Journal Article Author(s): Diekmann, Andreas Publication date: 2020 Permanent link: https://doi.org/10.3929/ethz-b-000449331 Rights / license: In Copyright - Non-Commercial Use Permitted Originally published in: Zeitschrift für Soziologie : ZfS 49(4), https://doi.org/10.1515/zfsoz-2020-0021 This page was generated automatically upon download from the ETH Zurich Research Collection. For more information, please consult the Terms of use.
Zeitschrift für Soziologie 2020; 49(4): 236–248 Andreas Diekmann* Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen. Emergence of and Compliance with New Social Norms Das Beispiel der Corona-Krise The Example of the Corona Crisis https://doi.org/10.1515/zfsoz-2020-0021 Rechtssetzung von Bedeutung. Denn bei Koordinations- normen gibt es kein „Trittbrettfahrerproblem“, wohl aber Zusammenfassung: In Krisensituationen müssen Men- bei Kooperationsnormen. In dem Beitrag wird der Frage schen umdenken. Ein kollektiver Lernprozess beginnt nach den Eigenschaften in der Corona-Krise neu entstan- und neue Ordnungsmuster entstehen. Externalitäten des dener Normen wie Abstandsgebot, Maskenpflicht und die Verhaltens führen zur Entstehung neuer sozialer Normen. Kooperation beim digitalen „Tracing“ von Infektionsket- Doch werden die sozialen Normen auch befolgt? Eine ge- ten nachgegangen. Aus der Analyse folgen Bedingungen, nauere Untersuchung muss dem unterschiedlichen Cha- die den Grad der Befolgung von Normen erklären können. rakter sozialer Normen Rechnung tragen. Im Anschluss an die Theorie von Ullmann-Margalit (1977) haben Koor- Schlüsselwörter: Soziale Normen; Kooperationsnormen; dinationsnormen oder Konventionen (Lewis 1969) andere Koordinationsnormen; Trittbrettfahrerproblem; Corona- Konsequenzen für normorientiertes Verhalten als Koope- Pandemie. rationsnormen. Diese Unterscheidung ist auch für die Abstract: In crisis situations, people have to change their Anmerkung: „The risk of severe disease associated with COVID-19 infection for people in the EU/EEA and UK is currently considered behaviour. A collective learning process begins and new moderate for the general population” (EU agency European Centre patterns of order emerge. Externalities of behaviour lead for Disease Prevention and Control, 13. März 2020). So habe ich to the emergence of new social norms. But are the social auch gedacht, bevor ich mich Mitte März mit den Statistiken über norms also followed? A closer examination must take into die weltweite Entwicklung vertraut gemacht habe. Bei den sich rasch account the different character of social norms. Following wandelnden Erkenntnissen ist eine Chronologie angebracht. Dieser the theory of Ullmann-Margalit (1977), coordination norms Artikel ist aus einem Vortrag hervorgegangen, den ich am 6.5.2020 im WZB-Kolloquium zur Corona-Krise gehalten habe. Das Manuskript or conventions (Lewis 1969) have different consequences wurde am 29.5. eingereicht. Über die Konsequenzen aus der Ana- for norm oriented behaviour than cooperation norms. lyse von Kooperationsnormen, ein nachdrückliches Plädoyer für eine This distinction is also important for law-making. There Maskenpflicht, habe ich vor der Einführung der Maßnahme in den is no “free-rider problem” with coordination norms, but Medien geschrieben (Der Freitag, „Für ein Vermummungsgebot“, vom there is one with cooperation norms. This paper examines 15.4.20 und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21.4.20). Die weitere Entwicklung hat die Prognosen bestätigt. Das gilt auch the question of the characteristics of new norms which für die Tracing App, die mit großer Verzögerung erst Mitte Juni ein- emerged during the corona crisis, such as the requirement geführt wurde. Nur der letzte Absatz zur Tracing App musste mit ak- for distance, the obligation to wear masks and coopera- tuellen Zahlen ergänzt werden (Stand 17.8.20). In sieben anonymen tion in the digital tracing of infection chains. The analysis Gutachten wurden zahlreiche Anregungen gegeben, aber auch z. T. leads to conditions which may explain the degree of com- heftige Kritik an den theoretischen Grundlagen geübt. Ich bedanke pliance with new social norms. mich bei den Gutachterinnen und Gutachtern. Kritik und Anregungen habe ich, soweit es mir möglich war, versucht aufzugreifen. Alle ver- Keywords: Social Norms; Cooperation Norms; Coordina- bleibenden Mängel gehen natürlich zu meinen Lasten. tion Norms; Free Rider Problem; Corona Pandemic. *Korrespondenzautor: Prof. Dr. Andreas Diekmann, Universität Leipzig, Institut für Soziologie, Beethovenstr. 15, 04107 Leipzig; ETH Zürich, Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissen schaften, Weinbergstr. 109, CH-8092 Zürich, E-Mail: diekmann@soz.gess.ethz.ch
Andreas Diekmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen 237 1 Einleitung Füße junger Mädchen wurde nach der These von Mackie (1996) durch stillschweigende Übereinkunft ohne staat- Die Bedrohung durch das Corona-Virus hat neue Normen lichen Zwang ausgeübt. Koordinationsnormen wie auch hervorgerufen wie Hygieneregeln, Abstandsgebot und das Rechtsfahrgebot im Straßenverkehr sind selbsterzwin- das Tragen von Schutzmasken. Auch die Etikette von Be- gend. Heute bietet die Corona-Krise Anschaungsmate- grüßungsritualen hat sich geändert. Händeschütteln ist rial, um die Unterschiede zwischen Koordinations- und verpönt; alternative Formen der Begrüßung konkurrieren Kooperationsnormen zu studieren. miteinander. Neue soziale Normen entstehen oft in Zeiten Anknüpfend an die klassische Theorie von Ullmann- des Umbruchs, in Krisensituationen, denn dann geht es Margalit (1977) ist das Ziel dieses Beitrags, den unter- um die Ausbalancierung neu entstandener Interessenkon- schiedlichen Charakter der sozialen Normen herauszuar- flikte. Die neuen Normen dienen der Abwehr „negativer beiten, die Konsequenzen aufzuzeigen und auf neu in der Externalitäten“, der Tröpfcheninfektion, die bei jeder Be- Corona-Pandemie entstandene Normen zu beziehen. Wie gegnung von zwei oder mehr Personen auftreten kann. Sie sich im folgenden Abschnitt zeigen wird, ist die Unter- sollen die Ansteckungsgefahr vermindern und damit zum scheidung nicht nur eine definitorische Angelegenheit, Kollektivgut „Schutz der Gesundheit“ beitragen, haben sondern hat auch Konsequenzen für die Befolgung und aber zugleich auch Nachteile, indem sie gravierende Ein- Stabilität von Normen. Sie ist auch für die Rechtssetzung schränkungen des gewohnten Verhaltens auferlegen. von Bedeutung. In Abschnitt 3 werden die Konsequen- Allerdings haben die Normen unterschiedliche Eigen- zen anhand der Verhaltensnormen in der Corona-Krise schaften, die auch zu einem unterschiedlichen Maß der aufgezeigt und mit vorliegendem empirischem Material Befolgung führen. Mit wachsenden Ängsten vor einer An- belegt. Abschnitt 4 befasst sich mit Tracing Apps, die auf steckung haben sich Abstandsregeln relativ rasch verbrei- Smartphones installiert über Kontakte mit infizierten Per- tet. Weshalb galt gleiches nicht für das Tragen von Masken sonen informieren sollen. Einige Konsequenzen werden in der Öffentlichkeit? Selbst bei hohen Infektionszahlen abschließend diskutiert. waren „Alltagsmasken“ im Einzelhandel, öffentlichen Verkehrsmitteln oder größeren Versammlungen – Anfang März spielte noch die Bundesliga – kaum zu sehen. Dafür wurden auch kulturelle Gründe geltend gemacht. Masken 2 Arten von Normen: Koordination, zu tragen passe zur kollektivistischen Kultur asiatischer Kooperation, Verteilung Gesellschaften; die individualistische Kultur des Westens hemme dagegen die soziale Diffusion der Norm. Erst nach „Normträchtige“ Konfliktsituationen lassen sich präzise der relativ späten Einführung der Maskenpflicht zeigte mit den Mitteln der Spieltheorie beschreiben. In solchen sich, dass die weit überwiegende Mehrheit der Menschen Situationen sind die Handlungen der einzelnen Akteure doch recht schnell bereit war, ihr Verhalten zu ändern. miteinander verknüpft; das Ergebnis der Handlung eines Umfragen bestätigen zudem die hohe Akzeptanz der Norm Akteurs hängt von den Handlungen der anderen Akteure trotz „Corona-Protesten“ einer sehr kleinen Minderheit. ab. Man kann auch sagen: Jede Handlung eines Akteurs Bestimmte Normen setzen sich rasch durch, andere hat negative oder positive Externalitäten zu Lasten oder nicht. Eine Erklärung der Emergenz von Normen und des zum Nutzen anderer Akteure. Grads der Befolgung, um die es hier primär geht, erfordert, Ungeregelte negative (oder auch positive) Externalitä- dass die zugrunde liegende Handlungsstruktur und der ten sind quasi der Nährboden für die Entstehung sozialer jeweilige Typ der Norm identifiziert werden kann. Ins- Normen1 (Demsetz 1967; Opp 1983; Coleman 1990; Voss besondere in Situationen sozialer Dilemmas, in denen Ei- 2001). Coleman (1990) spricht von einem „Bedürfnis nach gennutz gerade nicht die allgemeine Wohlfahrt befördert, sind die Aussichten gering, dass auf Freiwilligkeit basie- 1 In der Literatur werden eine Vielzahl von Definitionen sozialer rende Normen tatsächlich auch befolgt werden. Anders Normen vorgeschlagen (Überblick in Opp 1983, Hechter & Opp 2001). verhält es sich bei sozialen Normen oder Konventionen, Eine häufig verwendete Definition verweist auf zwei Komponenten: die Verhaltensweisen koordinieren. Eine beispielhafte eine Norm ist erstens eine Verhaltensregularität; zweitens droht bei Arbeit, die auf einfache Bi-Matrixspiele aus der Spieltheo- Abweichungen eine Sanktion. Somit können soziale Normen als sank- tionsbewehrte Verhaltensvorschriften definiert werden. Je nach theo- rie zurückgreift, ist Mackies (1996) Untersuchung der jahr- retischer Perspektive kommen weitere Kriterien hinzu, die sich auf hundertelangen Persistenz und des plötzlichen Wandels Einstellungen und Erwartungen von Ego und Alter beziehen (Bicchie- der im alten China weithin praktizierten Norm der Fuß- ri 2017). Die zentralen Aussagen des Artikels ändern sich nicht, wenn bindung. Diese Praxis der grausamen Verstümmelung der andere Definitionen von Normen zugrunde gelegt werden.
238 Andreas Diekmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen einer sozialen Norm“. Wenn die Handlung von Ego die In- Margalit (1977) geht von einfachen Spielsituationen aus. teressen von Alter verletzt, Egos Handlung also aus Sicht Dabei ist die Unterscheidung von Koordinationssituatio- von Alter eine negative Externalität darstellt, dann kann nen und Dilemmasituationen und den entsprechenden der Interessenkonflikt durch eine soziale Norm gelöst Spielmodellen zentral. In „reinen“ Koordinationsspielen werden, die die negative Externalität unterbindet oder haben die Akteure völlig übereinstimmende Interessen, kompensiert. Neue soziale Normen entstehen somit a) allerdings müssen sie ihre Entscheidungen koordinieren, durch neu auftretende Externalitäten (z. B. zur Regelung um zu „guten“ Ergebnissen zu kommen. Ein typisches Bei- der Folgen neuer Technologien) oder b) auch durch die spiel ist die Entscheidung im Straßenverkehr, rechts oder Neubewertung von Handlungen als schädigende, negative links zu fahren. Es gibt für Ego und Alter vier Möglichkei- Externalitäten (z. B. durch neue Erkenntnisse oder neue ten: „rechts/rechts“ und „links/links“ sind dabei (Nash-) Wertprioritäten). Als die Gefahren des Passivrauchens zu- Gleichgewichte2 solche, die zweifellos bessere Ergebnisse nehmend in den Blick gerieten, wuchs auch das Engage- hervorbringen als ein Kollisionskurs. Die soziale Norm ment für die Regulierung durch Rauchverbote. ist eine Festlegung auf eines der Gleichgewichte. Man Externalitäten sind allerdings weder hinreichend kann auch von „Konventionen“ sprechen (Lewis 1969). noch notwendig, um soziale Normen hervorzurufen. Auch Koordinationsnormen sind demnach soziale Normen, andere Gründe können zur Entstehung neuer sozialer die eines von mehreren Gleichgewichten in einem Koor- Normen führen. In Ellicksons (1994) Studien spielt die Ver- dinationsspiel festlegen. Die Norm muss nicht notwen- minderung von Transaktionskosten durch soziale Normen digerweise durch Setzung seitens einer Instanz zustande eine Schlüsselrolle; bei Posner (2000) signalisieren kommen. Koordinationsnormen können auch evolutionär soziale Normen persönliche Eigenschaften wie z. B. Ver- entstehen. Tatsächlich sind Rechts- und Linksfahrgebote trauenswürdigkeit und Kooperationsbereitschaft. Nicht im Straßenverkehr zunächst evolutionär entstanden, alle Normen haben ihren Ursprung in der Regulierung wie Young (1998) anhand von historischen Beispielen von Externalitäten. Piercing, Mode oder demonstrativer demonstriert hat. Koordinationsspiele können auch eine Konsum durch Statusgüter sind durch die „Externalitä- komplexere Struktur haben und eine Vielzahl von Gleich- tenhypothese“ nicht erklärbar (Diekmann & Przepiorka gewichten aufweisen, die unterschiedlich günstig für die 2010; Opp 2018). Außerdem führt allein die Tatsache, dass Beteiligten ausfallen. Die bereits in Rousseaus Essay „Über negative Externalitäten vorliegen, nicht automatisch zur die Ursprünge und Grundlagen der Ungleichheit unter Entstehung und Akzeptanz von Normen (Coleman 1990; den Menschen“ genannte Situation einer gemeinsamen Voss 2001). Wenn sich ansteckende Krankheiten wie Hirschjagd, eine Parabel auf die Erhöhung der Wohlfahrt Masern durch Impfung unter Kontrolle bringen lassen, durch gesellschaftliches Miteinander, lässt sich als Koor- ist die Einführung einer Impfpflicht wahrscheinlich, aber dinationsspiel („Hirschjagdspiel“) mit zwei unterschied- nicht zwingend. Straßenlärm schädigt die Gesundheit der lich günstigen Gleichgewichten darstellen (z. B. Diekmann Anwohner, aber ob es zu einer Begrenzung durch soziale 2016). Höflichkeitsnormen koordinieren die Gleichge- Normen kommt, hängt von Macht und Einfluss der Betei- wichte beim Passieren eines Engpasses nach Alter oder ligten im politischen Prozess ab. Auch andere Faktoren Geschlecht; eine Verkehrsampel setzt eine soziale Norm, müssen hinzukommen, damit eine Norm durch Rechts- die an einer Kreuzung jeweils ein Gleichgewicht für die akt oder evolutionär (Opp 1982; Young 1998) entsteht und Verkehrsteilnehmer „auswählt“. Da dieses „Chickenspiel“ auf Akzeptanz stößt. Dennoch darf man behaupten, dass mit unterschiedlichen Akteuren häufig wiederholt wird, Externalitäten sehr häufig den Ausgangspunkt für einen erhält jeder „Spieler“ im Durchschnitt die gleiche Auszah- Prozess der Entstehung neuer sozialer Normen bilden. lung. Die Norm ist fair und sorgt für optimale Ergebnisse. Das gilt zweifellos für eine neu auftretende Epidemie, Viele Probleme im gesellschaftlichen Miteinander gegen die es zunächst keine Immunität in der Bevölkerung sind allerdings nicht allein durch Koordination zu lösen. gibt. Jede infizierte Person kann das Virus übertragen, und In Dilemmaspielen – Paradebeispiel ist das Gefangenen- im Falle von Covid-19 weiß der Überträger nicht einmal, dilemma – erzielen die Akteure im Gleichgewicht ein dass sie oder er andere Menschen potentiell gefährdet, „schlechteres“ Ergebnis als bei wechselseitiger Koope- d. h. die Handlungen negative Externalitäten auslösen können. 2 Ein Nash-Gleichgewicht ist eine Kombination von Strategien, so Die Analyse miteinander verknüpfter, „interdepen- dass keiner der Akteure einen Anreiz hat, seine Strategie einseitig denter“ Handlungen ist die Domäne der Spieltheorie. Ein zu ändern. Wenn die anderen Akteure an der Strategiewahl „links“ Spielmodell berücksichtigt per definitionem die negativen festhalten, gibt es hier nur einen Verlust, wenn Ego seine Strategie oder positiven Externalitäten der Akteure. Auch Ullmann- „links“ ändern würde.
Andreas Diekmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen 239 Abbildung 1 ration.3 Das Gefangenendilemma ist nur eine Metapher; Individueller Gewinn es gibt zahlreiche unterschiedliche Strukturen sozialer Di- lemmas, deren Analyse z. T. höchst differenzierte Modelle kollektives erfordert (Raub, Buskens & Corten 2015). Man denke an ● Optimum den Klimawandel; letztlich eine Dilemmasituation mit Kooperations- gewinn sehr vielen Akteuren und sehr unterschiedlichen Interes- „defektives“ senlagen (die Spielstruktur ist dann komplexer; siehe z. B. Gleichgewicht ● Przepiorka & Diekmann 2020). Hier geht es aber um die grundlegenden Prinzipien, so dass einfache Situationen kooperative Akteure zur Illustration genügen. Wegwerfen von Abfall, Schwarzfahren, die Verweige- Abbildung 1: Kooperationsproblem und Kooperationsnormen rung von Impfung bei ansteckenden Krankheiten, Steuer- Je mehr Personen kooperieren, desto höher ist der individuelle hinterziehung, Überfischung der Meere und anderes mehr Gewinn für jeden Akteur. Ein Trittbrettfahrer erzielt aber immer sind nicht-kooperative Strategien in sozialen Dilemmas. einen Extragewinn. Dies kann man anhand eines einfachen Bei- Individuell profitieren die Akteure im Vergleich zu koope- spiels illustrieren (Rapoport 1988). Die Akteure können zwischen K rativen Personen. Aber insgesamt verlieren alle, wenn und T wählen. x sei die Anzahl kooperativer Akteure, die K wählen. Die Kosten der Kooperation betragen eine Einheit. Ein kooperativer sich sehr viele oder alle Akteure der nicht-kooperativen Akteur erhält K = 2x + 2; ein Trittbrettfahrer T = 2x + 3. T ist eine Strategie anschließen. Die individuell rationalen Strate- dominierende Strategie; ein Trittbrettfahrer steht immer besser da, gien führen zu einem „schlechten“, ineffizienten Gleich- gleichgültig, ob die anderen viel oder wenig kooperieren. Wenden gewicht. Eine Kooperationsnorm weist einen Ausweg aus nun alle Akteure die Trittbrettfahrerstrategie an, stellt sich das dem Dilemma. Sie verpflichtet zu kooperativem Verhalten. „defektive“ Gleichgewicht ein. Durch Kooperationsnormen ist es möglich, das kollektive Optimum zu erzielen. Sanktionsdrohungen Allerdings hat jeder Akteur einen Anreiz, die Norm zu ver- und die Internalisierung von Normen verschieben die „Trittbrett- letzen. Erst die Möglichkeit von Sanktionen, eine glaub- fahrergerade“ nach unten. Befindet sie sich unter der Kooperations- würdige Sanktionsdrohung (oder auch positive Sanktion geraden, wird das kollektive Optimum zum neuen Gleichgewicht. für kooperatives Verhalten), verschafft der Norm Geltung. In spieltheoretischen Termini ermöglicht die Sanktions- Unterscheidung von Koordinations- und Kooperations- drohung ein kooperatives Gleichgewicht (Abbildung 1). normen ist auch für die politische Praxis bedeutsam. Die Sanktion kann eine soziale Missbilligung, eine Geld- Denn natürlich ist es viel einfacher, Koordinationsnormen strafe u.a.m. oder auch die intrinsische Bestrafung durch durchzusetzen als Kooperationsnormen Geltung zu ver- ein schlechtes Gewissen sein. schaffen. Der zentrale Unterschied zu Koordinationsnormen Die Unterschiede zwischen Koordinations- und Ko- ist offensichtlich. Koordinationsnormen sind selbst-er- operationsnormen werden in Tabelle 1 übersichtlich dar- zwingend. Eigentlich bedarf es keiner zusätzlichen Straf- gestellt. Die Befolgung von Kooperationsnormen trägt drohung, um das Rechtsfahrgebot durchzusetzen. Die per definitionem zu einem Kollektivgut bei. Auch die Be- Wahl der Gleichgewichtsstrategie ist im Eigeninteresse folgung von Koordinationsnormen kann gleichzeitig ein und gleichzeitig im kollektiven Interesse. Kollektivgut befördern. Beispielsweise erhöhen Koordina- Bei Kooperationsnormen ist es umgekehrt. In einer tionsregeln im Straßenverkehr das Kollektivgut Verkehrs- Dilemmasituation sind Eigeninteresse und „kollektive Ra- sicherheit. Obwohl die Einhaltung im Eigeninteresse liegt, tionalität“ (Rapoport 1988) nicht deckungsgleich. Noch werden auch bei Koordinationsnormen oftmals externe kein Staat hat es geschafft, auf Freiwilligkeit bauend ein Sanktionen angedroht. Ein Grund dafür ist, dass es immer Steueraufkommen zu erzielen.4 Kooperationsnormen einige Akteure geben kann, die z. B. situationsbedingt ein zielen darauf, kollektive Rationalität herzustellen. Die Interesse haben, die Koordinationsnorm zu verletzen oder fahrlässig von der Norm abzuweichen. Außerdem kann die wiederholte Handlung in Übereinstimmung mit Koor- 3 Ein soziales Dilemma ist eine Situation, in der individuell ra- dinationsnormen die Befolgung intrinsisch verstärken tionale Entscheidungen zu einem schlechteren Ergebnis führen als bei einem hypothetischen Vertragsabschluss, der für alle Beteiligten (Guala & Mittone 2010). Das durch die Koordinationsnorm bindend wäre. festgelegte Gleichgewicht muss nicht immer „effizient“ 4 Die Mormonen haben es 1831 unter Führung von Joseph Smith in sein. Gerade bei der evolutionären Entwicklung und Aus- Missouri versucht. Die Steuerzahlung war freiwillig. Ihre erste Staats- breitung von Normen kann dieser Prozess in die Falle gründung in Jackson County scheiterte nach nur drei Jahren (Bullock eines „schlechten“ Gleichgewichts führen. Die eingangs & Baden 1977).
240 Andreas Diekmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen Tabelle 1: Eigenschaften von Koordinations- und Kooperationsnormen Eigeninteresse Eigeninteresse an Sanktionen Typ der Interaktion Beispiel an Befolgung* Nicht-Befolgung* Koordinations-norm + – Selbstsanktionierend Koordinationsspiel. Rechtsfahrgebot, („Konvention“) Die Norm legt ein Abstandsregel Gleichgewicht fest. Kooperations- – + Extern oder Intrinsisch Soziales Dilemma: CO2-Reduktion, norm ist Voraussetzung für Gleichgewicht(e) Mund-Nasen-Schutz Befolgung sind suboptimal *Vor Einführung von Sanktionen erwähnte Analyse der Norm der Fußbindung in China der Corona-Krise. Zudem ist auch die Wahrscheinlichkeit durch Mackie (1996) ist hierfür ein Beispiel.5 einer Infektion, die Schwere der Krankheit und das Risiko, Weiterhin kann es Mischformen von Kooperations-, der Krankheit zum Opfer zu fallen nicht nur vom Alter, Koordinations- und Verteilungsproblemen geben. Schließ- sondern auch von der sozialen Lage oder der Zugehörig- lich kann es vorkommen, dass Kooperationsnormen im Ei- keit zu einer Minorität abhängig (Eligon et al. 2020). ‚De- geninteresse befolgt werden, wenn es – in der Sprache von mokratisch‘ ist das Virus nicht. Olson (1968) – hinreichend starke „selektive Anreize“ gibt. Selektive Anreize können auch von Institutionen gesetzt werden, um ein soziales Dilemma zu entschärfen. Wenn in Tabelle 1 die beiden Arten von Normen gegenübergestellt 3 Neue Soziale Normen in der werden, handelt es sich quasi um „reine“ Koordinations- Corona-Krise und Kooperationsnormen. Man könnte auch im Sinne von Max Weber von „Idealtypen“ sprechen. Nach der weltweiten Ausbreitung der Pandemie haben die Ullmann-Margalit (1977) behandelt ferner eine dritte meisten Länder rigide Maßnahmen zur Eindämmung der Kategorie sozialer Normen, nämlich Verteilungsnormen.6 Pandemie ergriffen. Die sogenannten nicht-pharmazeuti- Die Norm „A teilt den Kuchen auf, B wählt aus“ ist ein schen Maßnahmen bestanden aus mehr oder minder strikt Musterbeispiel für eine kluge Norm, die quasi automatisch verordneten Hygieneregeln, Abstandsgeboten bei Kontak- Verteilungsgerechtigkeit realisiert. Das ist in Politik und ten, Versammlungsverboten, Schließung von Schulen und Wirtschaft nicht garantiert. Es ist klar, dass die Verteilung Geschäften, Kontaktsperren und Reiseeinschränkungen, von Ressourcen im politischen Prozess, bei wirtschaft- Maskenpflicht und Nachverfolgung von Infektionsketten lichen Aktivitäten, aber ebenso auch im Alltagshandeln mit manuellen oder digitalen Methoden, dazu umfang- von eminenter Bedeutung ist. Hier sei nur so viel gesagt, reichen Testprogrammen. Staaten, die dieses Bündel von dass Koordinations- und Kooperationsnormen auch Ver- Maßnahmen weitgehend und vor allem früh umgesetzt teilungsprobleme berühren können. Nicht alle Koor- haben, sind bislang mit relativ geringen Gesundheitsschä- dinations- oder Dilemmasituationen sind symmetrisch. den und auch relativ geringen wirtschaftlichen Schäden Koordinations- und Kooperationsnormen können je durch die Krise gekommen. Oft zitierte Musterbeispiele nach sozialer Lage oder demografischen Merkmalen un- sind Taiwan oder Südkorea, in denen Politik und Bevöl- terschiedliche Kosten aufbürden. Das zeigt sich auch in kerung auch von den Erfahrungen mit vorhergehenden Epidemien profitierten. Ökonometrische Studien, die die 5 Mackie (1996) hat die Koordinationsthese auch auf die Praxis der Effekte der Maßnahmen systematisch anhand von Längs- Beschneidung bei Mädchen angewandt. Aus empirischer Sicht gibt schnittdaten untersuchen, stehen noch aus. Für eine ge- es überzeugende Gegenargumente (Efferson et al. 2015). Bei der nauere Evaluierung der Wirksamkeit der Maßnahmen ist Fußbindung verhält es sich allerdings anders. Hier wurde seine Er- es auch noch zu früh, denn die Pandemie ist längst noch klärung nicht widerlegt. Man muss hinzufügen, dass die Kontroverse nicht nur von akademischem Interesse ist, sondern auch für die Ent- nicht vorbei, und eine systematische Untersuchung der wicklungspolitik erhebliche Konsequenzen hat. kausalen Wirksamkeit einzelner Maßnahmen stellt die 6 Der Vollständigkeit halber sei eine weitere Kategorie von Normen Forschung auch methodisch vor Probleme. Gleichwohl angeführt, die Ullmann-Margalit nicht behandelt hat. Eine wichtige gibt es bereits Hinweise auf die Effektivität der Interven- Rolle spielen auch die eingangs erwähnten „Signalnormen“ (dazu tionen (z. B. Chu et al. 2020; Dehning et al. 2020). Posner 2000: Diekmann & Przepiorka 2010).
Andreas Diekmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen 241 Kontaktbeschränkungen und Abstandsgebote (von Handschlag bei einem Treffen in Berlin (am 2.3.2020) ver- mindestens 1,5 Metern) wurde in Deutschland nach Bera- weigerte. Ob sich neue Begrüßungsformen herausbilden tung mit dem Bund von allen Ländern am 22.3.2020 be- und womöglich die Jahrhunderte alte Kultur des Hand- schlossen. Die einschneidenden Maßnahmen, die zahl- schlags verdrängen, welche alternativen Rituale dabei reiche Grundrechte beschneiden, werden vom Großteil obsiegen oder nebeneinander koexistieren werden, kann der Bevölkerung befürwortet (z. B. Wagner et al. 2020). niemand mit Sicherheit prognostizieren. Derzeit lässt sich Wurden sie auch befolgt? Dafür gibt es zahlreiche Belege. nur feststellen: Händeschütteln wird mehr oder minder So zeigen die anonymisierten Daten von Bewegungspro- tabuisiert. Hier ist sogar die latente Norm zu einer Unter- filen der Mobiltelefone, die die Firma Google veröffent- lassensnorm aufgestiegen, denn schon das Ausstrecken licht und laufend aktualisiert, neue Verhaltensmuster.7 der Hand zur Begrüßung wird vom Gegenüber oft milde Nicht nur in Deutschland, in fast allen der 131 Staaten, sanktioniert. für die Google Daten berichtet, sank der Aufenthalt am Die Einhaltung der Abstandsnorm ist nach einer Arbeitsplatz und an früher populären öffentlichen Orten, Metaanalyse von Chu et al. (2020) eine der effektivsten während der Aufenthalt in privaten Räumen gewachsen Maßnahmen gegen eine Ansteckung bei sozialen Kon- ist. Für Freizeiteinrichtungen, Restaurants, Einkaufen takten. Die Koordinationsnorm wurde auf dem Höhepunkt z. B. wird bis zum 29.3.2020 ein Rückgang von 77 % gegen- der Epidemie und auch danach in hohem Maße befolgt, über dem Median der Vorwochen berichtet. Interessant ist wie Online-Umfragen bekräftigen. Mit der Cosmo-Studie hierbei, dass sich deutliche Verhaltensänderungen bereits (2020) werden seit dem 3.3.2020 wöchentlich ca. 1000 Per- vor den Beschlüssen der Länder am 22.3.2020 zeigen. sonen im Alter von 18 bis 74 Jahren befragt. Solche On- Somit hat die Bevölkerung zu einem erheblichen Teil ihr line-Panels sind zwar meist nicht wirklich repräsentativ, Verhalten bereits vor den behördlichen Anordnungen auf aber sie liefern im Längsschnitt wertvolle Informationen. freiwilliger Basis verändert. Denn wenn das Design nicht verändert wird, können auch Abstand halten gegenüber anderen und Kontakte ver- weniger repräsentative Studien zumindest Trends aufzei- meiden wurde in zunehmendem Maße praktiziert. Auf die gen (zu den Einzelheiten der Methode siehe Cosmo 2020). negative Externalität der Ansteckungsgefahr wurde mit Dabei zeigt sich, dass ein sehr hoher Anteil angibt, sich Verhaltensänderungen reagiert. Man kann von der He- die Norm des Abstandsgebots nach eigener Einschätzung rausbildung einer „latenten Norm“ im Sinne von Wrong zu befolgen. Die Werte liegen hier seit dem 24.3. stabil bei (1994) sprechen. Wrong (1994) charakterisiert den Prozess über 90 % und verringern sich nur minimal. Am 5.5. beträgt als „expectations that arise concerning habits emerging der Wert noch 89 %. Die Maßnahme wurde verpflichtend and crystallizing in the course of repeated interactions” von den Ländern mit Beschluss vom 22.3. eingeführt, aber (siehe auch Diekmann & Przepiorka 2016). Zu der Ent- es ist stark zu vermuten, dass sich die meisten Menschen wicklung „bottom up” risikobewusster Akteure gesellte bereits vorher an Distanzregeln gehalten haben. Vor dem sich schließlich „top down“ die Entscheidung von Bund 24.3. wurde nicht nach der Abstandsregel gefragt, wohl und Ländern bzw. der Landesregierungen zum Abstands- aber danach, ob die befragte Person Menschenansamm- gebot, der Mobilitätseinschränkung und später der Mas- lungen meidet. Das war bei der Befragung vom 17.3 nach kenpflicht. Die auch mit Sanktionsdrohung versehenen eigenen Angaben bei 91,4 % der Fall (am 10.3. 65 %). Rechtsnormen wurden von Institutionen gesetzt und für Die Werte zur Befolgung des Abstandsgebots liegen verbindlich erklärt. Neben der Abstandsnorm haben sich über einen längeren Zeitraum bei um die 90 %. Anders andere Verhaltensweisen spontan herausgebildet. Hän- verhält es sich beim Mund-Nasen-Schutz. Hier geht es deschütteln wurde verpönt, neue Begrüßungsformen wie vorwiegend um sogenannte Alltagsmasken, seien es OP- das Anstoßen mit den Ellbögen oder die leichte Vernei- Masken oder selbstgefertigte Schutzmasken. Es gab seit gung nach japanischem Ritual wurden mehr oder minder Mitte März eine Empfehlung der Bundesregierung, einen spielerisch ausprobiert. Zu beobachten ist eine Emergenz Mund-Nasen-Schutz in der Öffentlichkeit aufzusetzen. Die latenter Koordinationsnormen. Dabei kann es leicht zu Einführung einer Pflicht mit Bußgelddrohung im Falle der Normkonflikten kommen. Aufsehen erregten die Fernseh- Übertretung wie bei den Distanz-Maßnahmen war zu dem bilder, als Innenminister Seehofer Kanzlerin Merkel den Zeitpunkt noch umstritten. Die Maskenpflicht wurde von allen Ländern erst am 27.4.2020 eingeführt; nur der Frei- staat Sachsen und einige Städte wie Jena waren bei dieser 7 Die Daten basieren auf Android-Smartphones, die von Nutzern entsprechend eingestellt waren, so dass die Lokalisierung möglich Maßnahme vorgeprescht. Die Cosmo-Studie berichtet die war. Die Stichprobe ist demnach nicht repräsentativ, gestattet aber Anteile der Befragten, die nach eigenen Angaben „Atem- die Diagnose von Trends. schutzmasken einsetzen“ (Frage bis 7.4., danach „häufig
242 Andreas Diekmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen Abbildung 2 % Personen, die eine Maske aufsetzen 100 90 80 70 60 50 40 30 20 Einführung der Maskenpflicht 10 0 19.5. 26.5. 23.6. 9.6. 7.7. 3.3. 10.3. 17.3. 24.3. 31.3. 7.4. 14.4. 21.4. 28.4. 5.5. 12.5. Abbildung 2: Tragen von Schutzmasken Grafik nach den Angaben über selbstberichtetes Verhalten in der Cosmo-Studie. „Anteil der Personen, die die Maßnahmen einsetzen (bis 07.04.) bzw. mindestens häufig einsetzen (ab 14.04.) (falls anwendbar)“, Cosmo 2020. einsetzen“). In der ersten Welle (3.3.) sind es gerade 8 % gleichzeitig aber auch die andere Person, mit der sie oder (Abbildung 2). Dieser Wert steigt auf 34 % in der achten er in Kontakt tritt. Beide haben gleichgerichtete Interessen; Welle (21.4.) vor Einführung der bundesweiten Masken- die soziale Norm des Abstandsgebots dient Ego und Alter – pflicht am 27.4. Nach der „Intervention“ steigt der Anteil nicht anders als beim Rechtsfahrgebot im Straßenverkehr. auf 60 % (28.4.) und eine Woche später auf 77 % (5.5.). Gleichgerichtete Interessen heißt nicht, dass alle Per- Die Maskenpflicht bezieht sich auf Geschäfte und den sonen das gleiche Interesse an der Einhaltung der Norm öffentlichen Nahverkehr. Wer vor Einführung der Pflicht haben. Es dürfte auch vom Risiko abhängen, eine schwere einen Supermarkt besucht hat, wird die Erfahrung teilen Krankheit zu durchleiden. Dieses steigt bekanntlich mit können: Nur eine Minderheit hatte eine Maske aufgesetzt. dem Alter und mit Vorerkrankungen. Während der Hoch- Danach waren es nahezu alle Kundinnen und Kunden. Na- phase der ersten Welle sind größere Generationskonflikte türlich hat dazu beigetragen, dass viele Geschäfte schon nicht bekannt geworden. Der jüngere Teil der Bevölkerung beim Eingang das Tragen von Mund-Nasen-Schutz forder- war erstaunlich solidarisch mit der älteren Generation. Al- ten und die Einhaltung vom Personal kontrolliert wurde. lenfalls vereinzelte Berichte über „Corona-Partys“ sind in Das aus asiatischen Ländern gewohnte Bild von Menschen den Medien erschienen. Es ist aber anzunehmen, dass mit mit Schutzmasken zeigte sich nun auch in deutschen Su- der Dauer der Epidemie eine Risikodifferenzierung erfolgt, permärkten. Anders als das Abstandsgebot war aber das und zwar sowohl regional als auch bezüglich des Alters. Aufsetzen einer Maske vor der behördlichen Anordnung So kann man prognostizieren, dass Abstandsregeln in Re- eher die Ausnahme, erst danach die Regel. gionen mit geringen Infektionsraten weniger eingehalten Wie kommt es, dass die neuen Normen so unter- werden als in Risikogebieten. Weiterhin ist zu erwarten, schiedliche Muster der Befolgung aufweisen? Die Normen dass die Befolgung der Norm positiv mit dem Alter korre- der sozialen Distanzierung und speziell das Abstands- liert und weiteren Merkmalen, die die Schwere einer Er- gebot wurden sehr rasch in außerordentlich hohem Maße krankung erhöhen. eingehalten; die Norm Mund-Nasen-Schutz zu tragen Halten sich die Menschen an die Norm, wird auch die dagegen erst nach Einführung der Maskenpflicht. Ausbreitung der Epidemie gebremst. Sie schützt damit Ein Grund dürfte die unterschiedliche Art der Normen auch das Kollektivgut Gesundheit, genauer: Die Ver- sein. Dazu müssen wir die Interessenkonstellation genauer ringerung der Ansteckungsgefahr. Anders als in Dilem- betrachten. Wer die Abstandsnorm einhält, schützt zu- masituationen gibt es bei Koordinationsnormen keinen nächst einmal sich selbst vor einer Tröpfcheninfektion, Anreiz zum Trittbrettfahren. Eigeninteresse hindert nicht,
Andreas Diekmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen 243 sondern befördert die kollektive Wohlfahrt. Welcher Beim Maskentragen in Situationen, in denen das Ab- Abstand eingehalten werden soll, ist ein Koordinations- standsgebot nicht eingehalten werden kann, etwa in Ge- problem. Gleiches gilt für die Form der Begrüßung bei schäften oder im öffentlichen Nahverkehr, wird das Risiko einer persönlichen Begegnung. einer Infektion vermindert, wenn sehr viele, möglichst Ganz anders beim Maskentragen. Die Botschaft lautet, alle Personen eine Maske tragen. Ähnlich einer Masern- Alltagsmasken schützen hauptsächlich andere Personen impfung ist eine Person geschützt, wenn alle oder mög- in der Nähe vor einer Tröpfcheninfektion. In welchem lichst viele andere sich kooperativ verhalten. Jetzt „lohnt“ Ausmaß sie auch den Träger schützen, ist umstritten. sich aber Trittbrettfahren, denn bei einer Normverletzung Zudem wird von vielen das Tragen einer Maske als nicht wird der Schutz durch kooperative Mitmenschen zuteil. sehr angenehm empfunden und die Masken haben auch Eigeninteresse und kollektives Wohl fallen auseinander, einen Preis, der erst mit wachsender Nachfrage gesunken wie in so vielen Situationen in Wirtschaft und Gesell- ist. Weltgesundheitsorganisation und Robert-Koch-In- schaft. stitut haben anfangs das Maskentragen in der Öffent- Wie beim Umweltschutz oder Organspenden lässt lichkeit nicht gefördert. Später wurde kommuniziert, der sich auch die Diskrepanz zwischen Einstellung und Ver- Eigenschutz sei geringer als der Fremdschutz. Gemäß halten beobachten, die immer wieder thematisiert wird, einer Stellungnahme des Robert-Koch-Instituts schützt weil das Kollektivgutproblem eben oft nicht erkannt wird. der Mund-Nasen-Schutz primär andere Personen vor dem Vor Einführung der Maskenpflicht wird das Aufsetzen von Virus.8 Schutzmasken beim Einkaufen von mehr als 60 %, im Handlungserklärungen müssen, das ist geradezu ein öffentlichen Nahverkehr sogar von mehr als 80 % befür- Axiom der Soziologie, die subjektive Perspektive berück- wortet (Wagner et al. 2020). Tatsächlich haben aber sehr sichtigen, die „Situationsdefinition“ der handelnden viel weniger Kunden und Verkehrsteilnehmer vom Mund- Akteure (umfassend Esser 1999). Objektive Anreize und Nasen-Schutz Gebrauch gemacht, wie auch die von Cosmo Risiken können unterschiedlich wahrgenommen werden. (2020) ermittelten Zahlen belegen. Erst aufgrund der Dies gilt um so mehr, wenn nicht nur bei Laien, sondern Maskenpflicht ist die Kooperationsrate steil angestiegen, auch in der Medizin zumindest zu Beginn der Epidemie die Empfehlung hat sich dagegen als wenig verhaltens- die Schutzwirkungen der einfachen „Alltagsmasken“ relevant erwiesen. umstritten waren. So könnte der Selbstschutz stark über- Masken tragen in der Öffentlichkeit an Orten, an schätzt worden sein. Eine „Selbstschutzillusion“, die den denen das Abstandsgebot nicht realisierbar ist, zum Kol- Schutz des Trägers priorisiert, wird durch Umfrageergeb- lektivgut Gesundheit bei. Die soziale Norm ist eine Koope- nisse allerdings nicht gestützt. So zeigt die Cosmo-Studie, rationsnorm. Im Unterschied zur Koordinationsnorm ist dass in der Bevölkerung von Masken mehr Fremdschutz eine Verletzung im Eigeninteresse, sofern sich die anderen als Eigenschutz erwartet wird (Cosmo 2020). Menschen kooperativ verhalten. Statt Rechtsfahrgebot ist Beim neuen Corona-Virus ist das Maskentragen be- es eine Norm vergleichbar mit einem Parkverbot, das das sonders deshalb sinnvoll, weil die Krankheit stark an- Kollektivgut des knappen öffentlichen Raums schützt. steckend ist (stärker als Influenza) und vor allem, wie So würde auch ein Appell an die Freiwilligkeit oder eine man heute weiß, auch dann ansteckend ist, wenn die dringende Empfehlung kaum helfen, dass Autofahrer in infizierte Person keine Symptome verspürt. Diese asymp- Innenstädten Parkverbote befolgen, wenn dies sanktions- tomatischen Infektionen stellen ein besonderes Risiko für los möglich wäre. die Mitmenschen dar, denn die Überträger der Krankheit Es sei hinzugefügt, dass weitere Gründe für den Ver- wissen nicht um die Infektion und haben keinen Grund, zicht auf das Maskentragen vor Einführung der Pflicht sich vom sozialen Leben fernzuhalten. eine Rolle spielen mögen. So war die Botschaft der Behör- den zum Maskentragen anfangs eher ablehnend. Neben- wirkungen und Risiken wurden überbetont. Wie schon in Diskussionen über Helmpflicht im Zweiradverkehr wurde 8 „Während ein MNS primär andere Personen vor feinen Tröpf- das Argument der „Risikokompensation“ herangezogen. chen und Partikeln in der Ausatemluft desjenigen schützen soll, der Durch das Aufsetzen der Maske würden sich Personen in einen MNS trägt (Fremdschutz), ist das Ziel von FFP2-/FFP3-Masken falscher Sicherheit wiegen und entsprechend riskanter der persönliche Schutz des Trägers vor Infektionen, einschließlich verhalten, war auf der Webseite des Robert-Koch-Insti- solche, die durch mikroskopisch kleine Tröpfchen (Aerosole) über- tragen werden.“ (Robert-Koch-Institut 2020) MNS sind die sogenann- tuts zu lesen. Maskenpflicht und Abstandsnorm würden ten Alltagsmasken oder auch OP-Masken, um die es primär bei der somit im Konflikt stehen. Risikokompensation z. B. bei Maskenpflicht geht. Motorradhelmen wurde empirisch eindeutig widerlegt
244 Andreas Diekmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen (Thompson, Thompson & Rivara 2009).9 Beim Masken- 4 Tracing Apps als Kollektivgut und tragen scheint eine Mehrheit in der Bevölkerung aber anzunehmen, dass infolge des Maskentragens die Ab- „Contribution Game“ standsregel weniger stark eingehalten wird (Cosmo 2020). Die Tracing App zur anonymen, dezentralen Nachver- Systematische Evidenz über Verhaltensänderungen liegt folgung von Kontakten mit Virusträgern wurde wieder- dazu allerdings nicht vor. Es ist demnach sehr fraglich, holt angekündigt. Die App basiert auf der Bluetooth- ob das Aufsetzen einer einfachen Schutzmaske tatsäch- Technologie und soll Datenschutzbedenken Rechnung lich dazu führt, dass die Abstandsnorm häufiger verletzt tragen. Ziel ist, dass eine Person, die die App auf ihrem wird. Auch Unbequemlichkeit, mangelnde Kenntnis und Smartphone installiert, gewarnt wird, wenn sie über eine Gewohnheit könnten das Maskentragen erschwert haben. gewisse Zeitspanne in geringer Distanz mit einer infizier- Wenn nur wenige eine Maske tragen, mag es eher peinlich ten Person Kontakt hatte. Der Vorteil der App ist dabei ins- sein, selbst eine Maske aufzusetzen. Die in asiatischen besondere auch die Geschwindigkeit, die rasche Benach- Ländern in epidemischen Situationen übliche Norm richtigung von Kontaktpersonen. wurde in Europa eher belächelt. Tragen viele Menschen Im Unterschied zur dezentralen Tracing App werden eine Maske, ist es leichter, sich dem Verhalten anzuschlie- Tracking Apps mit zentraler Datenspeicherung in China, ßen. Hypothesen und Feldexperimente aus der Sozial- aber auch in demokratisch verfassten Staaten wie Südko- psychologie unterstreichen das Argument. Die Theorie rea oder Island verwendet. In einigen Ländern ist Nicht- der Normbefolgung (Cialdini et al. 1990) verweist auf den Kooperation mit erheblichen Nachteilen verbunden. Die Einfluss deskriptiver Normen. Je mehr Menschen sichtbar in China entwickelte App war zwar nicht verpflichtend, eine Norm befolgen, umso eher sind Menschen bereit, aber Mobilität zwischen Stadtvierteln oder mit öffent- sich anzuschließen. Labor- und Feldexperimente zeigen lichen Verkehrsmitteln war nur mit „grün“ signalisieren- zudem ein hohes Ausmaß prosozialen Verhaltens in der der App möglich (Ferretti et al. 2020). Das europäische Bevölkerung. Dies ist sicher eine gute Grundlage dafür, Projekt beruht dagegen auf Freiwilligkeit und Anonymität. dass generell die Bereitschaft vorliegt, Kooperationsnor- Damit erhofft man sich, Vertrauen zu stiften, Datenschutz- men zu folgen, wenn weitere Bedingungen gegeben sind. normen zu erfüllen und eine genügend hohe Kooperation Insbesondere handeln viele Menschen „bedingt koope- zu erzielen. rativ“, d. h. sie sind bereit, eine Kooperationsnorm zu be- Je mehr Menschen die App verwenden, umso größer folgen, wenn dies auch andere Personen tun (Fischbacher, ist die Wahrscheinlichkeit, zusätzlich zur manuellen Gächter & Fehr 2001). Wenn Normverletzungen wie beim Arbeit der Gesundheitsämter Infektionsketten aufzuspü- Maskentragen leicht erkennbar sind und die Norm ak- ren. Das Ausmaß der allgemeinen Nutzung der App ist zeptiert wird, kommt es auch zu sozialen Sanktionen der mithin ein Kollektivgut, dessen Wert mit der Zahl der Missbilligung. Allerdings sind Kooperationsnormen fragil, Nutzer steigt. Allerdings ist der Anstieg nicht linear, wie wenn sie nicht verpflichtend sind, nicht internalisiert und es bei den meisten Kollektivgutexperimenten der Fall ist.10 keine Sanktionsdrohungen existieren. Bei anfänglich Die Kooperationsbereitschaft hängt dann aber auch vom relativ hoher Normbefolgung kommt es leicht zu einer Ab- Verlauf der „Produktionsfunktion“ des Kollektivguts ab, wärtsspirale; die Norm erodiert (Fehr und Gächter 2002). Noch nicht etablierte Normen werden sich auf der anderen Seite kaum entwickeln, wenn sich zunächst nur wenige „Außenseiter“ kooperativ verhalten. Deshalb hat die Emp- 10 Die ersten Kollektivgutexperimente wurden von den Soziologen fehlung, Masken zu tragen, auch kaum Wirkung entfaltet; Marwell und Ames (1979) durchgeführt; ihr Spielmodell wurde später erst die Maskenpflicht hat der Kooperationsnorm Geltung in der Verhaltensökonomie aufgegriffen. Heute kann man feststellen, verschafft. dass das (lineare) Kollektivgutexperiment zu einer Art „Drosophila“ der Verhaltensökonomie mutiert ist (zu einem frühen Survey Led- yard 1995). Im Gegensatz zum linearen Kollektivgutspiel erfordert ein „contribution game“, dass ein Schwellenwert kooperierender 9 Auch wenn die unbeabsichtigte Nebenwirkung riskanteren Verhal- Akteure erreicht werden muss, um das kollektive Gut zu erzeugen. tens auftritt, bedeutet dies noch nicht, dass vollständige Risikokom- Wird der Schwellenwert nicht erreicht, sind die Beiträge aller Spie- pensation zu erwarten ist, wie es die Theorie der Risikohomöostase ler vergeudet. Ist der Schwellenwert erreicht worden, sind weitere behauptet. Verminderung des passiven Risikos durch Schutzmaß- Beiträge nutzlos. Weder Trittbrettfahren noch Kooperation sind do- nahmen kann zwar das aktive Risiko durch Verhaltensanpassung minierende Strategien. Die Kooperationsentscheidung einer Person erhöhen. Daraus folgt aber nicht, dass der „Netto-Effekt“ der Schutz- ist mithin durch starke Unsicherheit geprägt. Erste Experimente mit maßnahme null ist. Gurtpflicht für Autofahrer und Helmpflicht für dieser strategischen Situation wurden von van de Kragt, Orbell und Motorradfahrer haben das Unfallrisiko insgesamt vermindert. Dawes (1983) berichtet.
Abbildung 3 Andreas Diekmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen 245 Grad der Eindämmung der Epidemie Schwellenwert x% % Bevölkerung, die die App verwenden. Abbildung 3: Hypothetische Verläufe der Produktionsfunktion des Kollektivguts wie Oliver, Marwell und Teixera (1985) in der „Theory of 60 % werden auf freiwilliger Basis auch kaum erreicht. Critical Mass“ argumentieren. Abgesehen von den zahlreichen technischen Problemen Simulationsstudien nennen einen Schwellenwert von sind bei einer dezentralen, auf Freiwilligkeit basierenden 60 %, in einem weiteren Bericht werden 42 % genannt App zudem zwei Hürden zu überwinden. Zunächst muss (University of Oxford 2020a, 2020b). Im Extremfall könnte die App auf dem Smartphone aufgeschaltet werden. Im es sich um eine Stufenfunktion handeln: Unter dem zweiten Schritt muss aber auch ein infizierter Nutzer die Schwellenwert von x% ist die App wenig hilfreich, über Diagnose angeben, so dass die Kontakte anonym alarmiert dem Schwellenwert wird die Epidemie eingedämmt (Ab- werden können. bildung 3). Das würde dann bedeuten, dass die Koope- Es wird nicht leicht sein, zu einer hohen Kooperati- rationsbereitschaft einer Person nutzlos wäre, wenn der onsbereitschaft zu motivieren. Im Unterschied zum Mas- Schwellenwert nicht erreicht wird. Paradoxerweise wäre kentragen, zum Abstandsgebot und zur Vermeidung von der Beitrag auch nutzlos, wenn der Schwellenwert über- Menschenansammlungen ist das Aufschalten einer App schritten wird. Den Simulationsmodellen zufolge wird nicht sichtbar. Soziale Sanktionen wie beim sichtbaren ab Erreichen des Schwellenwerts die Infektion abflauen; Maskentragen greifen nicht. Kommunikation über das weitere Nutzer der App würden dann nur noch einen sehr Aufschalten der App in sozialen Netzwerken kann das Ver- geringen oder keinen nennenswerten zusätzlichen Beitrag halten von Freunden und Bekannten erkennbar machen, leisten. aber nach außen hin sichtbar – wie das Maskentragen – „Contribution games“ kennt man, wenn auch nicht ist die App nicht. Eine verpflichtende Kooperationsnorm unter diesem Namen, bei demokratischen Abstimmungen wäre politisch chancenlos, kaum durchsetzbar und würde mit einem Quorum. Bei kleinen Gruppen ist die Wahr- massiven Widerstand hervorrufen. Man könnte positive scheinlichkeit groß, dass die eigene Stimme einen Unter- Anreize setzen, aber nährt dadurch möglicherweise Miss- schied macht, damit überhaupt ein Ergebnis erzielt wird. trauen und zerstört intrinsische Motivation. Man könnte Bei großen Gruppen, wie z. B. einem Volksentscheid mit aber die App mit weiteren Funktionen anreichern, etwa einem Quorum von 20 %, sind alle Stimmen unter 20 % anonymisierte Informationen über das Infektionsgesche- verschenkt; über der Schwelle von 20 % wiederum wird hen im Umkreis und der Region mitteilen oder andere eine einzelne Stimme selten den Ausschlag geben. Die wichtige Informationen, so dass das Interesse potentiel- Produktionsfunktion ist eine Stufenfunktion. ler Nutzer steigen könnte. Immerhin gibt es einen positi- So extrem wird die Produktionsfunktion aber nicht ven, individuellen Anreiz, die App zu verwenden: Denn verlaufen. Auch die Oxford-Studie macht darauf auf- der Nutzer wird alarmiert, wenn die Kontaktgeschichte merksam, dass zumindest die Epidemie gehemmt werden einen infektiösen Kontakt anzeigt. Die meisten Menschen könnte, falls die Beteiligung unter 60 % liegen würde. werden diese Information schätzen, weil sie dann die Vermutlich wird der Verlauf der Produktionsfunktion eher Ansteckungsgefahr in ihrem sozialen Umfeld verringern S-förmig sein. Je weiter „links“ der Wendepunkt, desto können. In Umfragen im April 2020 gaben 56 % der Be- größer ist offensichtlich der Nutzen der App. Werte von fragten an, eine App zur Nachverfolgung von Corona-In-
246 Andreas Diekmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen fektionen zu verwenden, wenn sie denn angeboten würde masken eher einer Kooperationsnorm. Erst die Verpflich- (Wagner et al. 2020). Von der Meinungsäußerung bis zum tung zum Maskentragen hat der neuen Norm Geltung tatsächlichen Verhalten ist es allerdings bei Kollektivgü- verschafft. Aus der zentralen These dieses Artikels folgt tern erfahrungsgemäß ein langer Weg. auch, dass Empfehlungen und Appelle bei Kooperati- Die Corona-Warn-App wurde nach Verzögerungen ab onsnormen wenig hilfreich sind. Bis zur Einführung der dem 16. Juni zur Verfügung gestellt. In der Praxis hat sich Maskenpflicht Ende April 2020 haben sich Bund, Länder gezeigt, dass der Anteil der Bevölkerung, der die Corona- und Robert-Koch-Institut mit Empfehlungen begnügt. Warn-App herunterlädt, weit unter den Angaben der Um- Obwohl Deutschland im europäischen Vergleich (bisher) fragen liegt. Dies ist auch nicht überraschend, denn zu der noch relativ gut durch die Krise gekommen ist, hätten Einstellungs-Verhaltensdiskrepanz kommt hinzu, dass die durch eine frühere Einführung der Maskenpflicht sehr App nur auf neue Smartphone-Versionen geladen werden wahrscheinlich viele Infektionsfälle verhindert werden kann. Immerhin haben 17,2 Mio. Personen oder 21 % der Be- können. völkerung in Deutschland die App auf ihrem Smartphone Auffallend ist auch, wie rasch und stark die Masken- installiert (Stand 17.8.2020, Robert-Koch-Institut 2020b), pflicht das tatsächliche Verhalten verändert hat. Nicht vermutlich eben auch, weil viele Nutzer interessiert sind, selten wurde die kollektive Mentalität der Asiaten gegen- bei einem infektiösen Kontakt alarmiert zu werden. Wie über der individualistischen Einstellung der Europäer viele Personen konnten nun gewarnt werden? Darüber vorgebracht, um die unterschiedlichen Verhaltensweisen gibt es aufgrund des einprogrammierten Datenschutzes bei Infektionen zu erklären (z. B. Zheng 2020). Womöglich keine Auskunft. Allerdings kann die Obergrenze aller sind kulturelle Unterschiede aber ein geringeres Hemmnis positiv Getesteten, die potentiell in das System eingespeist bei der Wirkung von Interventionen zur Eindämmung der werden konnten, angegeben werden. Denn eine positiv Corona-Pandemie als angenommen. Denn mit der Wahr- getestete Person erhält eine TAN-Nummer, die freiwillig nehmung der Risiken und der Änderung der Situations- und anonym weitergeleitet werden kann. Die Anzahl der bedingungen wurde die Maskenpflicht sehr schnell ak- TAN-Nummern beträgt 1679 (Robert-Koch-Institut 2020b), zeptiert und befolgt. die Anzahl maximal möglicher Warnungen kann höher Die Befolgung sozialer Normen hängt natürlich von liegen, da eine infizierte Person mehrere Kontakte haben weiteren Bedingungen ab, wie einer umfangreichen Lite- dürfte. Außerdem könnte die App bei einer eventuell auf- ratur zu entnehmen ist (z. B. Biccieri 2006; Bicchieri 2017; tretenden zweiten Welle helfen, denn bei einer geringen Cialdini, Reno & Kallgren 1990; Diekmann 1980; Hechter & Infektionsrate sind natürlich auch die über die App gemel- Opp 2001; Opp 1983, 2020). Hier wurde vor allem mit Blick deten Fälle gering. Allerdings ist mittlerweile klar gewor- auf die Corona-Krise ein Aspekt herausgearbeitet: der ver- den, dass eine Tracing App kein digitales Wundermittel haltensrelevante Einfluss des Typs sozialer Normen. Wer ist. Sie kann aber, insbesondere bei vermehrter Nutzung die Wirkung sozialer Normen erforscht, ist gut beraten, und steigenden Infektionszahlen, hilfreich sein, um die zunächst die Handlungsstruktur zu untersuchen. Spiel- konventionellen Methoden der Aufspürung von Infek theoretische Modelle können bei dieser Aufgabe hilfreich tionsketten durch die Gesundheitsämter zu ergänzen. sein, um die genaue Struktur der Interaktion aufzuklären. Eine Kernfrage ist dann, ob es sich um eine Handlungs- struktur vom Typ „soziales Dilemma“ oder um ein Koor- 5 Diskussion dinationsproblem handelt. Weitere Hypothesen lassen sich ableiten, wenn man die subjektive Wahrnehmung der einzelnen Elemente der Interaktion (die Situations- Soziale Normen können sich auf Konfliktsituationen definition) berücksichtigt. Dazu zählen zwei Komponen- vom Typ Koordination oder Kooperation beziehen. ten: Die Wahrnehmung der in der Handlungsstruktur vor- Diese Unterscheidung ist zentral, vor allem weil Koor- liegenden materiellen und immateriellen Anreize und die dinationsnormen im Eigeninteresse befolgt, während Heterogenität der Risikowahrnehmung (der „beliefs“). Kooperationsnormen im Eigeninteresse verletzt werden. Wer kein Risiko für sich wahrnimmt, wird allenfalls Deshalb sind Koordinationsnormen leichter durchsetz- aus altruistischen Motiven, dem Schutz von Familie und bar als Kooperationsnormen. Das Rechtsfahrgebot ist Bezugspersonen oder wegen Sanktionsdrohungen die selbsterzwingend, ein Parkverbot dagegen muss über- neuen Corona-Normen befolgen. Je geringer das Risiko wacht und bei Verletzung sanktioniert werden. Die neue einer Ansteckung wahrgenommen wird, desto geringer entstandene Norm des Abstandsgebots entspricht eher ist der Grad der Befolgung der sozialen Normen, ins- einer Koordinationsregel, das Aufsetzen von Schutz- besondere auch der Koordinationsnormen. Je jünger und
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