Emergence of and Compliance with New Social Norms

Die Seite wird erstellt Kuno Kellner
 
WEITER LESEN
ETH Library

Emergence of and Compliance
with New Social Norms

 Journal Article

 Author(s):
 Diekmann, Andreas

 Publication date:
 2020

 Permanent link:
 https://doi.org/10.3929/ethz-b-000449331

 Rights / license:
 In Copyright - Non-Commercial Use Permitted

 Originally published in:
 Zeitschrift für Soziologie : ZfS 49(4), https://doi.org/10.1515/zfsoz-2020-0021

 This page was generated automatically upon download from the ETH Zurich Research Collection.
 For more information, please consult the Terms of use.
Zeitschrift für Soziologie 2020; 49(4): 236–248

Andreas Diekmann*

Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen.
Emergence of and Compliance with New Social
Norms
Das Beispiel der Corona-Krise
The Example of the Corona Crisis

https://doi.org/10.1515/zfsoz-2020-0021                                 Rechtssetzung von Bedeutung. Denn bei Koordinations-
                                                                        normen gibt es kein „Trittbrettfahrerproblem“, wohl aber
Zusammenfassung: In Krisensituationen müssen Men-
                                                                        bei Kooperationsnormen. In dem Beitrag wird der Frage
schen umdenken. Ein kollektiver Lernprozess beginnt
                                                                        nach den Eigenschaften in der Corona-Krise neu entstan-
und neue Ordnungsmuster entstehen. Externalitäten des
                                                                        dener Normen wie Abstandsgebot, Maskenpflicht und die
Verhaltens führen zur Entstehung neuer sozialer Normen.
                                                                        Kooperation beim digitalen „Tracing“ von Infektionsket-
Doch werden die sozialen Normen auch befolgt? Eine ge-
                                                                        ten nachgegangen. Aus der Analyse folgen Bedingungen,
nauere Untersuchung muss dem unterschiedlichen Cha-
                                                                        die den Grad der Befolgung von Normen erklären können.
rakter sozialer Normen Rechnung tragen. Im Anschluss
an die Theorie von Ullmann-Margalit (1977) haben Koor-                  Schlüsselwörter: Soziale Normen; Kooperationsnormen;
dinationsnormen oder Konventionen (Lewis 1969) andere                   Koordinationsnormen; Trittbrettfahrerproblem; Corona-
Konsequenzen für normorientiertes Verhalten als Koope-                  Pandemie.
rationsnormen. Diese Unterscheidung ist auch für die

                                                                        Abstract: In crisis situations, people have to change their
Anmerkung: „The risk of severe disease associated with COVID-19
infection for people in the EU/EEA and UK is currently considered
                                                                        behaviour. A collective learning process begins and new
moderate for the general population” (EU agency European Centre         patterns of order emerge. Externalities of behaviour lead
for Disease Prevention and Control, 13. März 2020). So habe ich         to the emergence of new social norms. But are the social
auch gedacht, bevor ich mich Mitte März mit den Statistiken über        norms also followed? A closer examination must take into
die weltweite Entwicklung vertraut gemacht habe. Bei den sich rasch     account the different character of social norms. Following
wandelnden Erkenntnissen ist eine Chronologie angebracht. Dieser
                                                                        the theory of Ullmann-Margalit (1977), coordination norms
Artikel ist aus einem Vortrag hervorgegangen, den ich am 6.5.2020
im WZB-Kolloquium zur Corona-Krise gehalten habe. Das Manuskript        or conventions (Lewis 1969) have different consequences
wurde am 29.5. eingereicht. Über die Konsequenzen aus der Ana-          for norm oriented behaviour than cooperation norms.
lyse von Kooperationsnormen, ein nachdrückliches Plädoyer für eine      This distinction is also important for law-making. There
Maskenpflicht, habe ich vor der Einführung der Maßnahme in den          is no “free-rider problem” with coordination norms, but
Medien geschrieben (Der Freitag, „Für ein Vermummungsgebot“, vom
                                                                        there is one with cooperation norms. This paper examines
15.4.20 und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21.4.20).
Die weitere Entwicklung hat die Prognosen bestätigt. Das gilt auch
                                                                        the question of the characteristics of new norms which
für die Tracing App, die mit großer Verzögerung erst Mitte Juni ein-    emerged during the corona crisis, such as the requirement
geführt wurde. Nur der letzte Absatz zur Tracing App musste mit ak-     for distance, the obligation to wear masks and coopera-
tuellen Zahlen ergänzt werden (Stand 17.8.20). In sieben anonymen       tion in the digital tracing of infection chains. The analysis
Gutachten wurden zahlreiche Anregungen gegeben, aber auch z. T.         leads to conditions which may explain the degree of com-
heftige Kritik an den theoretischen Grundlagen geübt. Ich bedanke
                                                                        pliance with new social norms.
mich bei den Gutachterinnen und Gutachtern. Kritik und Anregungen
habe ich, soweit es mir möglich war, versucht aufzugreifen. Alle ver-   Keywords: Social Norms; Cooperation Norms; Coordina-
bleibenden Mängel gehen natürlich zu meinen Lasten.
                                                                        tion Norms; Free Rider Problem; Corona Pandemic.

*Korrespondenzautor: Prof. Dr. Andreas Diekmann, Universität
Leipzig, Institut für Soziologie, Beethovenstr. 15, 04107 Leipzig;
ETH Zürich, Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissen­
schaften, Weinbergstr. 109, CH-8092 Zürich,
E-Mail: diekmann@soz.gess.ethz.ch
Andreas Diekmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen             237

1 Einleitung                                                 Füße junger Mädchen wurde nach der These von Mackie
                                                              (1996) durch stillschweigende Übereinkunft ohne staat-
Die Bedrohung durch das Corona-Virus hat neue Normen          lichen Zwang ausgeübt. Koordinationsnormen wie auch
hervorgerufen wie Hygieneregeln, Abstandsgebot und            das Rechtsfahrgebot im Straßenverkehr sind selbsterzwin-
das Tragen von Schutzmasken. Auch die Etikette von Be-        gend. Heute bietet die Corona-Krise Anschaungsmate-
grüßungsritualen hat sich geändert. Händeschütteln ist        rial, um die Unterschiede zwischen Koordinations- und
verpönt; alternative Formen der Begrüßung konkurrieren        Kooperationsnormen zu studieren.
miteinander. Neue soziale Normen entstehen oft in Zeiten           Anknüpfend an die klassische Theorie von Ullmann-
des Umbruchs, in Krisensituationen, denn dann geht es         Margalit (1977) ist das Ziel dieses Beitrags, den unter-
um die Ausbalancierung neu entstandener Interessenkon-        schiedlichen Charakter der sozialen Normen herauszuar-
flikte. Die neuen Normen dienen der Abwehr „negativer         beiten, die Konsequenzen aufzuzeigen und auf neu in der
Externalitäten“, der Tröpfcheninfektion, die bei jeder Be-    Corona-Pandemie entstandene Normen zu beziehen. Wie
gegnung von zwei oder mehr Personen auftreten kann. Sie       sich im folgenden Abschnitt zeigen wird, ist die Unter-
sollen die Ansteckungsgefahr vermindern und damit zum         scheidung nicht nur eine definitorische Angelegenheit,
Kollektivgut „Schutz der Gesundheit“ beitragen, haben         sondern hat auch Konsequenzen für die Befolgung und
aber zugleich auch Nachteile, indem sie gravierende Ein-      Stabilität von Normen. Sie ist auch für die Rechtssetzung
schränkungen des gewohnten Verhaltens auferlegen.             von Bedeutung. In Abschnitt 3 werden die Konsequen-
Allerdings haben die Normen unterschiedliche Eigen-           zen anhand der Verhaltensnormen in der Corona-Krise
schaften, die auch zu einem unterschiedlichen Maß der         aufgezeigt und mit vorliegendem empirischem Material
Befolgung führen. Mit wachsenden Ängsten vor einer An-        belegt. Abschnitt 4 befasst sich mit Tracing Apps, die auf
steckung haben sich Abstandsregeln relativ rasch verbrei-     Smartphones installiert über Kontakte mit infizierten Per-
tet. Weshalb galt gleiches nicht für das Tragen von Masken    sonen informieren sollen. Einige Konsequenzen werden
in der Öffentlichkeit? Selbst bei hohen Infektionszahlen      abschließend diskutiert.
waren „Alltagsmasken“ im Einzelhandel, öffentlichen
Verkehrsmitteln oder größeren Versammlungen – Anfang
März spielte noch die Bundesliga – kaum zu sehen. Dafür
wurden auch kulturelle Gründe geltend gemacht. Masken
                                                              2 Arten von Normen: Koordination,
zu tragen passe zur kollektivistischen Kultur asiatischer        Kooperation, Verteilung
Gesellschaften; die individualistische Kultur des Westens
hemme dagegen die soziale Diffusion der Norm. Erst nach       „Normträchtige“ Konfliktsituationen lassen sich präzise
der relativ späten Einführung der Maskenpflicht zeigte        mit den Mitteln der Spieltheorie beschreiben. In solchen
sich, dass die weit überwiegende Mehrheit der Menschen        Situationen sind die Handlungen der einzelnen Akteure
doch recht schnell bereit war, ihr Verhalten zu ändern.       miteinander verknüpft; das Ergebnis der Handlung eines
Umfragen bestätigen zudem die hohe Akzeptanz der Norm         Akteurs hängt von den Handlungen der anderen Akteure
trotz „Corona-Protesten“ einer sehr kleinen Minderheit.       ab. Man kann auch sagen: Jede Handlung eines Akteurs
     Bestimmte Normen setzen sich rasch durch, andere         hat negative oder positive Externalitäten zu Lasten oder
nicht. Eine Erklärung der Emergenz von Normen und des         zum Nutzen anderer Akteure.
Grads der Befolgung, um die es hier primär geht, erfordert,       Ungeregelte negative (oder auch positive) Externalitä-
dass die zugrunde liegende Handlungsstruktur und der          ten sind quasi der Nährboden für die Entstehung sozialer
jeweilige Typ der Norm identifiziert werden kann. Ins-        Normen1 (Demsetz 1967; Opp 1983; Coleman 1990; Voss
besondere in Situationen sozialer Dilemmas, in denen Ei-      2001). Coleman (1990) spricht von einem „Bedürfnis nach
gennutz gerade nicht die allgemeine Wohlfahrt befördert,
sind die Aussichten gering, dass auf Freiwilligkeit basie-
                                                              1 In der Literatur werden eine Vielzahl von Definitionen sozialer
rende Normen tatsächlich auch befolgt werden. Anders          Normen vorgeschlagen (Überblick in Opp 1983, Hechter & Opp 2001).
verhält es sich bei sozialen Normen oder Konventionen,        Eine häufig verwendete Definition verweist auf zwei Komponenten:
die Verhaltensweisen koordinieren. Eine beispielhafte         eine Norm ist erstens eine Verhaltensregularität; zweitens droht bei
Arbeit, die auf einfache Bi-Matrixspiele aus der Spieltheo-   Abweichungen eine Sanktion. Somit können soziale Normen als sank-
                                                              tionsbewehrte Verhaltensvorschriften definiert werden. Je nach theo-
rie zurückgreift, ist Mackies (1996) Untersuchung der jahr-
                                                              retischer Perspektive kommen weitere Kriterien hinzu, die sich auf
hundertelangen Persistenz und des plötzlichen Wandels         Einstellungen und Erwartungen von Ego und Alter beziehen (Bicchie-
der im alten China weithin praktizierten Norm der Fuß-        ri 2017). Die zentralen Aussagen des Artikels ändern sich nicht, wenn
bindung. Diese Praxis der grausamen Verstümmelung der         andere Definitionen von Normen zugrunde gelegt ­werden.
238        Andreas Diekmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen

einer sozialen Norm“. Wenn die Handlung von Ego die In-         Margalit (1977) geht von einfachen Spielsituationen aus.
teressen von Alter verletzt, Egos Handlung also aus Sicht       Dabei ist die Unterscheidung von Koordinationssituatio-
von Alter eine negative Externalität darstellt, dann kann       nen und Dilemmasituationen und den entsprechenden
der Interessenkonflikt durch eine soziale Norm gelöst           Spielmodellen zentral. In „reinen“ Koordinationsspielen
werden, die die negative Externalität unterbindet oder          haben die Akteure völlig übereinstimmende Interessen,
kompensiert. Neue soziale Normen entstehen somit a)             allerdings müssen sie ihre Entscheidungen koordinieren,
durch neu auftretende Externalitäten (z. B. zur Regelung        um zu „guten“ Ergebnissen zu kommen. Ein typisches Bei-
der Folgen neuer Technologien) oder b) auch durch die           spiel ist die Entscheidung im Straßenverkehr, rechts oder
Neubewertung von Handlungen als schädigende, negative           links zu fahren. Es gibt für Ego und Alter vier Möglichkei-
Externalitäten (z. B. durch neue Erkenntnisse oder neue         ten: „rechts/rechts“ und „links/links“ sind dabei (Nash-)
Wertprioritäten). Als die Gefahren des Passivrauchens zu-       Gleichgewichte2 solche, die zweifellos bessere Ergebnisse
nehmend in den Blick gerieten, wuchs auch das Engage-           hervorbringen als ein Kollisionskurs. Die soziale Norm
ment für die Regulierung durch Rauchverbote.                    ist eine Festlegung auf eines der Gleichgewichte. Man
     Externalitäten sind allerdings weder hinreichend           kann auch von „Konventionen“ sprechen (Lewis 1969).
noch notwendig, um soziale Normen hervorzurufen. Auch           Koordinationsnormen sind demnach soziale Normen,
andere Gründe können zur Entstehung neuer sozialer              die eines von mehreren Gleichgewichten in einem Koor-
Normen führen. In Ellicksons (1994) Studien spielt die Ver-     dinationsspiel festlegen. Die Norm muss nicht notwen-
minderung von Transaktionskosten durch soziale Normen           digerweise durch Setzung seitens einer Instanz zustande
eine Schlüsselrolle; bei Posner (2000) signalisieren            kommen. Koordinationsnormen können auch evolutionär
soziale Normen persönliche Eigenschaften wie z. B. Ver-         entstehen. Tatsächlich sind Rechts- und Linksfahrgebote
trauenswürdigkeit und Kooperationsbereitschaft. Nicht           im Straßenverkehr zunächst evolutionär entstanden,
alle Normen haben ihren Ursprung in der Regulierung             wie Young (1998) anhand von historischen Beispielen
von Externalitäten. Piercing, Mode oder demonstrativer          demonstriert hat. Koordinationsspiele können auch eine
Konsum durch Statusgüter sind durch die „Externalitä-           komplexere Struktur haben und eine Vielzahl von Gleich-
tenhypothese“ nicht erklärbar (Diekmann & Przepiorka            gewichten aufweisen, die unterschiedlich günstig für die
2010; Opp 2018). Außerdem führt allein die Tatsache, dass       Beteiligten ausfallen. Die bereits in Rousseaus Essay „Über
negative Externalitäten vorliegen, nicht automatisch zur        die Ursprünge und Grundlagen der Ungleichheit unter
Entstehung und Akzeptanz von Normen (Coleman 1990;              den Menschen“ genannte Situation einer gemeinsamen
Voss 2001). Wenn sich ansteckende Krankheiten wie               Hirschjagd, eine Parabel auf die Erhöhung der Wohlfahrt
Masern durch Impfung unter Kontrolle bringen lassen,            durch gesellschaftliches Miteinander, lässt sich als Koor-
ist die Einführung einer Impfpflicht wahrscheinlich, aber       dinationsspiel („Hirschjagdspiel“) mit zwei unterschied-
nicht zwingend. Straßenlärm schädigt die Gesundheit der         lich günstigen Gleichgewichten darstellen (z. B. Diekmann
Anwohner, aber ob es zu einer Begrenzung durch soziale          2016). Höflichkeitsnormen koordinieren die Gleichge-
Normen kommt, hängt von Macht und Einfluss der Betei-           wichte beim Passieren eines Engpasses nach Alter oder
ligten im politischen Prozess ab. Auch andere Faktoren          Geschlecht; eine Verkehrsampel setzt eine soziale Norm,
müssen hinzukommen, damit eine Norm durch Rechts-               die an einer Kreuzung jeweils ein Gleichgewicht für die
akt oder evolutionär (Opp 1982; Young 1998) entsteht und        Verkehrsteilnehmer „auswählt“. Da dieses „Chickenspiel“
auf Akzeptanz stößt. Dennoch darf man behaupten, dass           mit unterschiedlichen Akteuren häufig wiederholt wird,
Externalitäten sehr häufig den Ausgangspunkt für einen          erhält jeder „Spieler“ im Durchschnitt die gleiche Auszah-
Prozess der Entstehung neuer sozialer Normen bilden.            lung. Die Norm ist fair und sorgt für optimale Ergebnisse.
     Das gilt zweifellos für eine neu auftretende Epidemie,          Viele Probleme im gesellschaftlichen Miteinander
gegen die es zunächst keine Immunität in der Bevölkerung        sind allerdings nicht allein durch Koordination zu lösen.
gibt. Jede infizierte Person kann das Virus übertragen, und     In Dilemmaspielen – Paradebeispiel ist das Gefangenen-
im Falle von Covid-19 weiß der Überträger nicht einmal,         dilemma – erzielen die Akteure im Gleichgewicht ein
dass sie oder er andere Menschen potentiell gefährdet,          „schlechteres“ Ergebnis als bei wechselseitiger Koope-
d. h. die Handlungen negative Externalitäten auslösen
können.
                                                                2 Ein Nash-Gleichgewicht ist eine Kombination von Strategien, so
     Die Analyse miteinander verknüpfter, „interdepen-
                                                                dass keiner der Akteure einen Anreiz hat, seine Strategie einseitig
denter“ Handlungen ist die Domäne der Spieltheorie. Ein         zu ändern. Wenn die anderen Akteure an der Strategiewahl „links“
Spielmodell berücksichtigt per definitionem die negativen       festhalten, gibt es hier nur einen Verlust, wenn Ego seine Strategie
oder positiven Externalitäten der Akteure. Auch Ullmann-        „links“ ändern würde.
Andreas Diekmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen                239
                                                                          Abbildung 1

ration.3 Das Gefangenendilemma ist nur eine Metapher;                                   Individueller
                                                                                        Gewinn
es gibt zahlreiche unterschiedliche Strukturen sozialer Di-
lemmas, deren Analyse z. T. höchst differenzierte Modelle                                                                        kollektives
erfordert (Raub, Buskens & Corten 2015). Man denke an                                                                         ● Optimum
den Klimawandel; letztlich eine Dilemmasituation mit                                                                              Kooperations-
                                                                                                                                  gewinn
sehr vielen Akteuren und sehr unterschiedlichen Interes-                   „defektives“
senlagen (die Spielstruktur ist dann komplexer; siehe z. B.                 Gleichgewicht ●
Przepiorka & Diekmann 2020). Hier geht es aber um die
grundlegenden Prinzipien, so dass einfache Situationen
                                                                                                        kooperative Akteure
zur Illustration genügen.
     Wegwerfen von Abfall, Schwarzfahren, die Verweige-
                                                                          Abbildung 1: Kooperationsproblem und Kooperationsnormen
rung von Impfung bei ansteckenden Krankheiten, Steuer-                    Je mehr Personen kooperieren, desto höher ist der individuelle
hinterziehung, Überfischung der Meere und anderes mehr                    Gewinn für jeden Akteur. Ein Trittbrettfahrer erzielt aber immer
sind nicht-kooperative Strategien in sozialen Dilemmas.                   einen Extragewinn. Dies kann man anhand eines einfachen Bei-
Individuell profitieren die Akteure im Vergleich zu koope-                spiels illustrieren (Rapoport 1988). Die Akteure können zwischen K
rativen Personen. Aber insgesamt verlieren alle, wenn                     und T wählen. x sei die Anzahl kooperativer Akteure, die K wählen.
                                                                          Die Kosten der Kooperation betragen eine Einheit. Ein kooperativer
sich sehr viele oder alle Akteure der nicht-kooperativen
                                                                          Akteur erhält K = 2x + 2; ein Trittbrettfahrer T = 2x + 3. T ist eine
Strategie anschließen. Die individuell rationalen Strate-                 dominierende Strategie; ein Trittbrettfahrer steht immer besser da,
gien führen zu einem „schlechten“, ineffizienten Gleich-                  gleichgültig, ob die anderen viel oder wenig kooperieren. Wenden
gewicht. Eine Kooperationsnorm weist einen Ausweg aus                     nun alle Akteure die Trittbrettfahrerstrategie an, stellt sich das
dem Dilemma. Sie verpflichtet zu kooperativem Verhalten.                  „defektive“ Gleichgewicht ein. Durch Kooperationsnormen ist es
                                                                          möglich, das kollektive Optimum zu erzielen. Sanktionsdrohungen
Allerdings hat jeder Akteur einen Anreiz, die Norm zu ver-
                                                                          und die Internalisierung von Normen verschieben die „Trittbrett-
letzen. Erst die Möglichkeit von Sanktionen, eine glaub-                  fahrergerade“ nach unten. Befindet sie sich unter der Kooperations-
würdige Sanktionsdrohung (oder auch positive Sanktion                     geraden, wird das kollektive Optimum zum neuen Gleichgewicht.
für kooperatives Verhalten), verschafft der Norm Geltung.
In spieltheoretischen Termini ermöglicht die Sanktions-
                                                                          Unterscheidung von Koordinations- und Kooperations-
drohung ein kooperatives Gleichgewicht (Abbildung 1).
                                                                          normen ist auch für die politische Praxis bedeutsam.
Die Sanktion kann eine soziale Missbilligung, eine Geld-
                                                                          Denn natürlich ist es viel einfacher, Koordinationsnormen
strafe u.a.m. oder auch die intrinsische Bestrafung durch
                                                                          durchzusetzen als Kooperationsnormen Geltung zu ver-
ein schlechtes Gewissen sein.
                                                                          schaffen.
     Der zentrale Unterschied zu Koordinationsnormen
                                                                              Die Unterschiede zwischen Koordinations- und Ko-
ist offensichtlich. Koordinationsnormen sind selbst-er-
                                                                          operationsnormen werden in Tabelle 1 übersichtlich dar-
zwingend. Eigentlich bedarf es keiner zusätzlichen Straf-
                                                                          gestellt. Die Befolgung von Kooperationsnormen trägt
drohung, um das Rechtsfahrgebot durchzusetzen. Die
                                                                          per definitionem zu einem Kollektivgut bei. Auch die Be-
Wahl der Gleichgewichtsstrategie ist im Eigeninteresse
                                                                          folgung von Koordinationsnormen kann gleichzeitig ein
und gleichzeitig im kollektiven Interesse.
                                                                          Kollektivgut befördern. Beispielsweise erhöhen Koordina-
     Bei Kooperationsnormen ist es umgekehrt. In einer
                                                                          tionsregeln im Straßenverkehr das Kollektivgut Verkehrs-
Dilemmasituation sind Eigeninteresse und „kollektive Ra-
                                                                          sicherheit. Obwohl die Einhaltung im Eigeninteresse liegt,
tionalität“ (Rapoport 1988) nicht deckungsgleich. Noch
                                                                          werden auch bei Koordinationsnormen oftmals externe
kein Staat hat es geschafft, auf Freiwilligkeit bauend ein
                                                                          Sanktionen angedroht. Ein Grund dafür ist, dass es immer
Steueraufkommen zu erzielen.4 Kooperationsnormen
                                                                          einige Akteure geben kann, die z. B. situationsbedingt ein
zielen darauf, kollektive Rationalität herzustellen. Die
                                                                          Interesse haben, die Koordinationsnorm zu verletzen oder
                                                                          fahrlässig von der Norm abzuweichen. Außerdem kann
                                                                          die wiederholte Handlung in Übereinstimmung mit Koor-
3 Ein soziales Dilemma ist eine Situation, in der individuell ra-
                                                                          dinationsnormen die Befolgung intrinsisch verstärken
tionale Entscheidungen zu einem schlechteren Ergebnis führen als
bei einem hypothetischen Vertragsabschluss, der für alle Beteiligten      (Guala & Mittone 2010). Das durch die Koordinationsnorm
bindend wäre.                                                             festgelegte Gleichgewicht muss nicht immer „effizient“
4 Die Mormonen haben es 1831 unter Führung von Joseph Smith in            sein. Gerade bei der evolutionären Entwicklung und Aus-
Missouri versucht. Die Steuerzahlung war freiwillig. Ihre erste Staats-   breitung von Normen kann dieser Prozess in die Falle
gründung in Jackson County scheiterte nach nur drei Jahren (Bullock
                                                                          eines „schlechten“ Gleichgewichts führen. Die eingangs
& Baden 1977).
240         Andreas Diekmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen

Tabelle 1: Eigenschaften von Koordinations- und Kooperationsnormen

                       Eigeninteresse      Eigeninteresse an Sanktionen                 Typ der Interaktion   Beispiel
                       an Befolgung*       Nicht-Befolgung*

Koordinations-norm               +                  –         Selbstsanktionierend      Koordinationsspiel.   Rechtsfahrgebot,
(„Konvention“)                                                                          Die Norm legt ein     Abstandsregel
                                                                                        Gleichgewicht fest.

Kooperations-                    –                  +         Extern oder Intrinsisch   Soziales Dilemma:     CO2-Reduktion,
norm                                                          ist Voraussetzung für     Gleichgewicht(e)      Mund-Nasen-Schutz
                                                              Befolgung                 sind suboptimal

*Vor Einführung von Sanktionen

erwähnte Analyse der Norm der Fußbindung in China                     der Corona-Krise. Zudem ist auch die Wahrscheinlichkeit
durch Mackie (1996) ist hierfür ein Beispiel.5                        einer Infektion, die Schwere der Krankheit und das Risiko,
     Weiterhin kann es Mischformen von Kooperations-,                 der Krankheit zum Opfer zu fallen nicht nur vom Alter,
Koordinations- und Verteilungsproblemen geben. Schließ-               sondern auch von der sozialen Lage oder der Zugehörig-
lich kann es vorkommen, dass Kooperationsnormen im Ei-                keit zu einer Minorität abhängig (Eligon et al. 2020). ‚De-
geninteresse befolgt werden, wenn es – in der Sprache von             mokratisch‘ ist das Virus nicht.
Olson (1968) – hinreichend starke „selektive Anreize“ gibt.
Selektive Anreize können auch von Institutionen gesetzt
werden, um ein soziales Dilemma zu entschärfen. Wenn in
Tabelle 1 die beiden Arten von Normen gegenübergestellt
                                                                      3 Neue Soziale Normen in der
werden, handelt es sich quasi um „reine“ Koordinations-                  Corona-Krise
und Kooperationsnormen. Man könnte auch im Sinne von
Max Weber von „Idealtypen“ sprechen.                                  Nach der weltweiten Ausbreitung der Pandemie haben die
     Ullmann-Margalit (1977) behandelt ferner eine dritte             meisten Länder rigide Maßnahmen zur Eindämmung der
Kategorie sozialer Normen, nämlich Verteilungsnormen.6                Pandemie ergriffen. Die sogenannten nicht-pharmazeuti-
Die Norm „A teilt den Kuchen auf, B wählt aus“ ist ein                schen Maßnahmen bestanden aus mehr oder minder strikt
Musterbeispiel für eine kluge Norm, die quasi automatisch             verordneten Hygieneregeln, Abstandsgeboten bei Kontak-
Verteilungsgerechtigkeit realisiert. Das ist in Politik und           ten, Versammlungsverboten, Schließung von Schulen und
Wirtschaft nicht garantiert. Es ist klar, dass die Verteilung         Geschäften, Kontaktsperren und Reiseeinschränkungen,
von Ressourcen im politischen Prozess, bei wirtschaft-                Maskenpflicht und Nachverfolgung von Infektionsketten
lichen Aktivitäten, aber ebenso auch im Alltagshandeln                mit manuellen oder digitalen Methoden, dazu umfang-
von eminenter Bedeutung ist. Hier sei nur so viel gesagt,             reichen Testprogrammen. Staaten, die dieses Bündel von
dass Koordinations- und Kooperationsnormen auch Ver-                  Maßnahmen weitgehend und vor allem früh umgesetzt
teilungsprobleme berühren können. Nicht alle Koor-                    haben, sind bislang mit relativ geringen Gesundheitsschä-
dinations- oder Dilemmasituationen sind symmetrisch.                  den und auch relativ geringen wirtschaftlichen Schäden
Koordinations- und Kooperationsnormen können je                       durch die Krise gekommen. Oft zitierte Musterbeispiele
nach sozialer Lage oder demografischen Merkmalen un-                  sind Taiwan oder Südkorea, in denen Politik und Bevöl-
terschiedliche Kosten aufbürden. Das zeigt sich auch in               kerung auch von den Erfahrungen mit vorhergehenden
                                                                      Epidemien profitierten. Ökonometrische Studien, die die
5 Mackie (1996) hat die Koordinationsthese auch auf die Praxis der    Effekte der Maßnahmen systematisch anhand von Längs-
Beschneidung bei Mädchen angewandt. Aus empirischer Sicht gibt        schnittdaten untersuchen, stehen noch aus. Für eine ge-
es überzeugende Gegenargumente (Efferson et al. 2015). Bei der        nauere Evaluierung der Wirksamkeit der Maßnahmen ist
Fußbindung verhält es sich allerdings anders. Hier wurde seine Er-
                                                                      es auch noch zu früh, denn die Pandemie ist längst noch
klärung nicht widerlegt. Man muss hinzufügen, dass die Kontroverse
nicht nur von akademischem Interesse ist, sondern auch für die Ent-   nicht vorbei, und eine systematische Untersuchung der
wicklungspolitik erhebliche Konsequenzen hat.                         kausalen Wirksamkeit einzelner Maßnahmen stellt die
6 Der Vollständigkeit halber sei eine weitere Kategorie von Normen    Forschung auch methodisch vor Probleme. Gleichwohl
angeführt, die Ullmann-Margalit nicht behandelt hat. Eine wichtige    gibt es bereits Hinweise auf die Effektivität der Interven-
Rolle spielen auch die eingangs erwähnten „Signalnormen“ (dazu
                                                                      tionen (z. B. Chu et al. 2020; Dehning et al. 2020).
Posner 2000: Diekmann & Przepiorka 2010).
Andreas Diekmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen      241

     Kontaktbeschränkungen und Abstandsgebote (von                    Handschlag bei einem Treffen in Berlin (am 2.3.2020) ver-
mindestens 1,5 Metern) wurde in Deutschland nach Bera-                weigerte. Ob sich neue Begrüßungsformen herausbilden
tung mit dem Bund von allen Ländern am 22.3.2020 be-                  und womöglich die Jahrhunderte alte Kultur des Hand-
schlossen. Die einschneidenden Maßnahmen, die zahl-                   schlags verdrängen, welche alternativen Rituale dabei
reiche Grundrechte beschneiden, werden vom Großteil                   obsiegen oder nebeneinander koexistieren werden, kann
der Bevölkerung befürwortet (z. B. Wagner et al. 2020).               niemand mit Sicherheit prognostizieren. Derzeit lässt sich
Wurden sie auch befolgt? Dafür gibt es zahlreiche Belege.             nur feststellen: Händeschütteln wird mehr oder minder
So zeigen die anonymisierten Daten von Bewegungspro-                  tabuisiert. Hier ist sogar die latente Norm zu einer Unter-
filen der Mobiltelefone, die die Firma Google veröffent-              lassensnorm aufgestiegen, denn schon das Ausstrecken
licht und laufend aktualisiert, neue Verhaltensmuster.7               der Hand zur Begrüßung wird vom Gegenüber oft milde
Nicht nur in Deutschland, in fast allen der 131 Staaten,              sanktioniert.
für die Google Daten berichtet, sank der Aufenthalt am                     Die Einhaltung der Abstandsnorm ist nach einer
Arbeitsplatz und an früher populären öffentlichen Orten,              Metaanalyse von Chu et al. (2020) eine der effektivsten
während der Aufenthalt in privaten Räumen gewachsen                   Maßnahmen gegen eine Ansteckung bei sozialen Kon-
ist. Für Freizeiteinrichtungen, Restaurants, Einkaufen                takten. Die Koordinationsnorm wurde auf dem Höhepunkt
z. B. wird bis zum 29.3.2020 ein Rückgang von 77 % gegen-             der Epidemie und auch danach in hohem Maße befolgt,
über dem Median der Vorwochen berichtet. Interessant ist              wie Online-Umfragen bekräftigen. Mit der Cosmo-Studie
hierbei, dass sich deutliche Verhaltensänderungen bereits             (2020) werden seit dem 3.3.2020 wöchentlich ca. 1000 Per-
vor den Beschlüssen der Länder am 22.3.2020 zeigen.                   sonen im Alter von 18 bis 74 Jahren befragt. Solche On-
Somit hat die Bevölkerung zu einem erheblichen Teil ihr               line-Panels sind zwar meist nicht wirklich repräsentativ,
Verhalten bereits vor den behördlichen Anordnungen auf                aber sie liefern im Längsschnitt wertvolle Informationen.
freiwilliger Basis verändert.                                         Denn wenn das Design nicht verändert wird, können auch
     Abstand halten gegenüber anderen und Kontakte ver-               weniger repräsentative Studien zumindest Trends aufzei-
meiden wurde in zunehmendem Maße praktiziert. Auf die                 gen (zu den Einzelheiten der Methode siehe Cosmo 2020).
negative Externalität der Ansteckungsgefahr wurde mit                 Dabei zeigt sich, dass ein sehr hoher Anteil angibt, sich
Verhaltensänderungen reagiert. Man kann von der He-                   die Norm des Abstandsgebots nach eigener Einschätzung
rausbildung einer „latenten Norm“ im Sinne von Wrong                  zu befolgen. Die Werte liegen hier seit dem 24.3. stabil bei
(1994) sprechen. Wrong (1994) charakterisiert den Prozess             über 90 % und verringern sich nur minimal. Am 5.5. beträgt
als „expectations that arise concerning habits emerging               der Wert noch 89 %. Die Maßnahme wurde verpflichtend
and crystallizing in the course of repeated interactions”             von den Ländern mit Beschluss vom 22.3. eingeführt, aber
(siehe auch Diekmann & Przepiorka 2016). Zu der Ent-                  es ist stark zu vermuten, dass sich die meisten Menschen
wicklung „bottom up” risikobewusster Akteure gesellte                 bereits vorher an Distanzregeln gehalten haben. Vor dem
sich schließlich „top down“ die Entscheidung von Bund                 24.3. wurde nicht nach der Abstandsregel gefragt, wohl
und Ländern bzw. der Landesregierungen zum Abstands-                  aber danach, ob die befragte Person Menschenansamm-
gebot, der Mobilitätseinschränkung und später der Mas-                lungen meidet. Das war bei der Befragung vom 17.3 nach
kenpflicht. Die auch mit Sanktionsdrohung versehenen                  eigenen Angaben bei 91,4 % der Fall (am 10.3. 65 %).
Rechtsnormen wurden von Institutionen gesetzt und für                      Die Werte zur Befolgung des Abstandsgebots liegen
verbindlich erklärt. Neben der Abstandsnorm haben sich                über einen längeren Zeitraum bei um die 90 %. Anders
andere Verhaltensweisen spontan herausgebildet. Hän-                  verhält es sich beim Mund-Nasen-Schutz. Hier geht es
deschütteln wurde verpönt, neue Begrüßungsformen wie                  vorwiegend um sogenannte Alltagsmasken, seien es OP-
das Anstoßen mit den Ellbögen oder die leichte Vernei-                Masken oder selbstgefertigte Schutzmasken. Es gab seit
gung nach japanischem Ritual wurden mehr oder minder                  Mitte März eine Empfehlung der Bundesregierung, einen
spielerisch ausprobiert. Zu beobachten ist eine Emergenz              Mund-Nasen-Schutz in der Öffentlichkeit aufzusetzen. Die
latenter Koordinationsnormen. Dabei kann es leicht zu                 Einführung einer Pflicht mit Bußgelddrohung im Falle der
Normkonflikten kommen. Aufsehen erregten die Fernseh-                 Übertretung wie bei den Distanz-Maßnahmen war zu dem
bilder, als Innenminister Seehofer Kanzlerin Merkel den               Zeitpunkt noch umstritten. Die Maskenpflicht wurde von
                                                                      allen Ländern erst am 27.4.2020 eingeführt; nur der Frei-
                                                                      staat Sachsen und einige Städte wie Jena waren bei dieser
7 Die Daten basieren auf Android-Smartphones, die von Nutzern
entsprechend eingestellt waren, so dass die Lokalisierung möglich
                                                                      Maßnahme vorgeprescht. Die Cosmo-Studie berichtet die
war. Die Stichprobe ist demnach nicht repräsentativ, gestattet aber   Anteile der Befragten, die nach eigenen Angaben „Atem-
die Diagnose von Trends.                                              schutzmasken einsetzen“ (Frage bis 7.4., danach „häufig
242           Andreas Diekmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen
  Abbildung 2

  % Personen, die eine
  Maske aufsetzen
100
 90
 80
 70
 60
 50
 40
 30
 20                                                             Einführung der Maskenpflicht

 10
  0

                                                                                              19.5.
                                                                                                      26.5.

                                                                                                                     23.6.
                                                                                                              9.6.

                                                                                                                             7.7.
       3.3.
                10.3.
                        17.3.
                                24.3.
                                        31.3.
                                                7.4.
                                                       14.4.
                                                               21.4.
                                                                       28.4.
                                                                               5.5.
                                                                                      12.5.

Abbildung 2: Tragen von Schutzmasken
Grafik nach den Angaben über selbstberichtetes Verhalten in der Cosmo-Studie. „Anteil der Personen, die die Maßnahmen einsetzen (bis
07.04.) bzw. mindestens häufig einsetzen (ab 14.04.) (falls anwendbar)“, Cosmo 2020.

einsetzen“). In der ersten Welle (3.3.) sind es gerade 8 %                                            gleichzeitig aber auch die andere Person, mit der sie oder
(Abbildung 2). Dieser Wert steigt auf 34 % in der achten                                              er in Kontakt tritt. Beide haben gleichgerichtete Interessen;
Welle (21.4.) vor Einführung der bundesweiten Masken-                                                 die soziale Norm des Abstandsgebots dient Ego und Alter –
pflicht am 27.4. Nach der „Intervention“ steigt der Anteil                                            nicht anders als beim Rechtsfahrgebot im Straßenverkehr.
auf 60 % (28.4.) und eine Woche später auf 77 % (5.5.).                                                    Gleichgerichtete Interessen heißt nicht, dass alle Per-
Die Maskenpflicht bezieht sich auf Geschäfte und den                                                  sonen das gleiche Interesse an der Einhaltung der Norm
öffentlichen Nahverkehr. Wer vor Einführung der Pflicht                                               haben. Es dürfte auch vom Risiko abhängen, eine schwere
einen Supermarkt besucht hat, wird die Erfahrung teilen                                               Krankheit zu durchleiden. Dieses steigt bekanntlich mit
können: Nur eine Minderheit hatte eine Maske aufgesetzt.                                              dem Alter und mit Vorerkrankungen. Während der Hoch-
Danach waren es nahezu alle Kundinnen und Kunden. Na-                                                 phase der ersten Welle sind größere Generationskonflikte
türlich hat dazu beigetragen, dass viele Geschäfte schon                                              nicht bekannt geworden. Der jüngere Teil der Bevölkerung
beim Eingang das Tragen von Mund-Nasen-Schutz forder-                                                 war erstaunlich solidarisch mit der älteren Generation. Al-
ten und die Einhaltung vom Personal kontrolliert wurde.                                               lenfalls vereinzelte Berichte über „Corona-Partys“ sind in
Das aus asiatischen Ländern gewohnte Bild von Menschen                                                den Medien erschienen. Es ist aber anzunehmen, dass mit
mit Schutzmasken zeigte sich nun auch in deutschen Su-                                                der Dauer der Epidemie eine Risikodifferenzierung erfolgt,
permärkten. Anders als das Abstandsgebot war aber das                                                 und zwar sowohl regional als auch bezüglich des Alters.
Aufsetzen einer Maske vor der behördlichen Anordnung                                                  So kann man prognostizieren, dass Abstandsregeln in Re-
eher die Ausnahme, erst danach die Regel.                                                             gionen mit geringen Infektionsraten weniger eingehalten
     Wie kommt es, dass die neuen Normen so unter-                                                    werden als in Risikogebieten. Weiterhin ist zu erwarten,
schiedliche Muster der Befolgung aufweisen? Die Normen                                                dass die Befolgung der Norm positiv mit dem Alter korre-
der sozialen Distanzierung und speziell das Abstands-                                                 liert und weiteren Merkmalen, die die Schwere einer Er-
gebot wurden sehr rasch in außerordentlich hohem Maße                                                 krankung erhöhen.
eingehalten; die Norm Mund-Nasen-Schutz zu tragen                                                          Halten sich die Menschen an die Norm, wird auch die
dagegen erst nach Einführung der Maskenpflicht.                                                       Ausbreitung der Epidemie gebremst. Sie schützt damit
     Ein Grund dürfte die unterschiedliche Art der Normen                                             auch das Kollektivgut Gesundheit, genauer: Die Ver-
sein. Dazu müssen wir die Interessenkonstellation genauer                                             ringerung der Ansteckungsgefahr. Anders als in Dilem-
betrachten. Wer die Abstandsnorm einhält, schützt zu-                                                 masituationen gibt es bei Koordinationsnormen keinen
nächst einmal sich selbst vor einer Tröpfcheninfektion,                                               Anreiz zum Trittbrettfahren. Eigeninteresse hindert nicht,
Andreas Diekmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen     243

sondern befördert die kollektive Wohlfahrt. Welcher                        Beim Maskentragen in Situationen, in denen das Ab-
Abstand eingehalten werden soll, ist ein Koordinations-               standsgebot nicht eingehalten werden kann, etwa in Ge-
problem. Gleiches gilt für die Form der Begrüßung bei                 schäften oder im öffentlichen Nahverkehr, wird das Risiko
einer persönlichen Begegnung.                                         einer Infektion vermindert, wenn sehr viele, möglichst
     Ganz anders beim Maskentragen. Die Botschaft lautet,             alle Personen eine Maske tragen. Ähnlich einer Masern-
Alltagsmasken schützen hauptsächlich andere Personen                  impfung ist eine Person geschützt, wenn alle oder mög-
in der Nähe vor einer Tröpfcheninfektion. In welchem                  lichst viele andere sich kooperativ verhalten. Jetzt „lohnt“
Ausmaß sie auch den Träger schützen, ist umstritten.                  sich aber Trittbrettfahren, denn bei einer Normverletzung
Zudem wird von vielen das Tragen einer Maske als nicht                wird der Schutz durch kooperative Mitmenschen zuteil.
sehr angenehm empfunden und die Masken haben auch                     Eigeninteresse und kollektives Wohl fallen auseinander,
einen Preis, der erst mit wachsender Nachfrage gesunken               wie in so vielen Situationen in Wirtschaft und Gesell-
ist. Weltgesundheitsorganisation und Robert-Koch-In-                  schaft.
stitut haben anfangs das Maskentragen in der Öffent-                       Wie beim Umweltschutz oder Organspenden lässt
lichkeit nicht gefördert. Später wurde kommuniziert, der              sich auch die Diskrepanz zwischen Einstellung und Ver-
Eigenschutz sei geringer als der Fremdschutz. Gemäß                   halten beobachten, die immer wieder thematisiert wird,
einer Stellungnahme des Robert-Koch-Instituts schützt                 weil das Kollektivgutproblem eben oft nicht erkannt wird.
der Mund-Nasen-Schutz primär andere Personen vor dem                  Vor Einführung der Maskenpflicht wird das Aufsetzen von
Virus.8                                                               Schutzmasken beim Einkaufen von mehr als 60 %, im
     Handlungserklärungen müssen, das ist geradezu ein                öffentlichen Nahverkehr sogar von mehr als 80 % befür-
Axiom der Soziologie, die subjektive Perspektive berück-              wortet (Wagner et al. 2020). Tatsächlich haben aber sehr
sichtigen, die „Situationsdefinition“ der handelnden                  viel weniger Kunden und Verkehrsteilnehmer vom Mund-
Akteure (umfassend Esser 1999). Objektive Anreize und                 Nasen-Schutz Gebrauch gemacht, wie auch die von Cosmo
Risiken können unterschiedlich wahrgenommen werden.                   (2020) ermittelten Zahlen belegen. Erst aufgrund der
Dies gilt um so mehr, wenn nicht nur bei Laien, sondern               Maskenpflicht ist die Kooperationsrate steil angestiegen,
auch in der Medizin zumindest zu Beginn der Epidemie                  die Empfehlung hat sich dagegen als wenig verhaltens-
die Schutzwirkungen der einfachen „Alltagsmasken“                     relevant erwiesen.
umstritten waren. So könnte der Selbstschutz stark über-                   Masken tragen in der Öffentlichkeit an Orten, an
schätzt worden sein. Eine „Selbstschutzillusion“, die den             denen das Abstandsgebot nicht realisierbar ist, zum Kol-
Schutz des Trägers priorisiert, wird durch Umfrageergeb-              lektivgut Gesundheit bei. Die soziale Norm ist eine Koope-
nisse allerdings nicht gestützt. So zeigt die Cosmo-Studie,           rationsnorm. Im Unterschied zur Koordinationsnorm ist
dass in der Bevölkerung von Masken mehr Fremdschutz                   eine Verletzung im Eigeninteresse, sofern sich die anderen
als Eigenschutz erwartet wird (Cosmo 2020).                           Menschen kooperativ verhalten. Statt Rechtsfahrgebot ist
     Beim neuen Corona-Virus ist das Maskentragen be-                 es eine Norm vergleichbar mit einem Parkverbot, das das
sonders deshalb sinnvoll, weil die Krankheit stark an-                Kollektivgut des knappen öffentlichen Raums schützt.
steckend ist (stärker als Influenza) und vor allem, wie               So würde auch ein Appell an die Freiwilligkeit oder eine
man heute weiß, auch dann ansteckend ist, wenn die                    dringende Empfehlung kaum helfen, dass Autofahrer in
infizierte Person keine Symptome verspürt. Diese asymp-               Innenstädten Parkverbote befolgen, wenn dies sanktions-
tomatischen Infektionen stellen ein besonderes Risiko für             los möglich wäre.
die Mitmenschen dar, denn die Überträger der Krankheit                     Es sei hinzugefügt, dass weitere Gründe für den Ver-
wissen nicht um die Infektion und haben keinen Grund,                 zicht auf das Maskentragen vor Einführung der Pflicht
sich vom sozialen Leben fernzuhalten.                                 eine Rolle spielen mögen. So war die Botschaft der Behör-
                                                                      den zum Maskentragen anfangs eher ablehnend. Neben-
                                                                      wirkungen und Risiken wurden überbetont. Wie schon in
                                                                      Diskussionen über Helmpflicht im Zweiradverkehr wurde
8 „Während ein MNS primär andere Personen vor feinen Tröpf-           das Argument der „Risikokompensation“ herangezogen.
chen und Partikeln in der Ausatemluft desjenigen schützen soll, der   Durch das Aufsetzen der Maske würden sich Personen in
einen MNS trägt (Fremdschutz), ist das Ziel von FFP2-/FFP3-Masken     falscher Sicherheit wiegen und entsprechend riskanter
der persönliche Schutz des Trägers vor Infektionen, einschließlich
                                                                      verhalten, war auf der Webseite des Robert-Koch-Insti-
solche, die durch mikroskopisch kleine Tröpfchen (Aerosole) über-
tragen werden.“ (Robert-Koch-Institut 2020) MNS sind die sogenann-
                                                                      tuts zu lesen. Maskenpflicht und Abstandsnorm würden
ten Alltagsmasken oder auch OP-Masken, um die es primär bei der       somit im Konflikt stehen. Risikokompensation z. B. bei
Maskenpflicht geht.                                                   Motorradhelmen wurde empirisch eindeutig widerlegt
244         Andreas Diekmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen

(Thompson, Thompson & Rivara 2009).9 Beim Masken-                       4 Tracing Apps als Kollektivgut und
tragen scheint eine Mehrheit in der Bevölkerung aber
anzunehmen, dass infolge des Maskentragens die Ab-
                                                                           „Contribution Game“
standsregel weniger stark eingehalten wird (Cosmo 2020).
                                                                        Die Tracing App zur anonymen, dezentralen Nachver-
Systematische Evidenz über Verhaltensänderungen liegt
                                                                        folgung von Kontakten mit Virusträgern wurde wieder-
dazu allerdings nicht vor. Es ist demnach sehr fraglich,
                                                                        holt angekündigt. Die App basiert auf der Bluetooth-
ob das Aufsetzen einer einfachen Schutzmaske tatsäch-
                                                                        Technologie und soll Datenschutzbedenken Rechnung
lich dazu führt, dass die Abstandsnorm häufiger verletzt
                                                                        tragen. Ziel ist, dass eine Person, die die App auf ihrem
wird. Auch Unbequemlichkeit, mangelnde Kenntnis und
                                                                        Smartphone installiert, gewarnt wird, wenn sie über eine
Gewohnheit könnten das Maskentragen erschwert haben.
                                                                        gewisse Zeitspanne in geringer Distanz mit einer infizier-
Wenn nur wenige eine Maske tragen, mag es eher peinlich
                                                                        ten Person Kontakt hatte. Der Vorteil der App ist dabei ins-
sein, selbst eine Maske aufzusetzen. Die in asiatischen
                                                                        besondere auch die Geschwindigkeit, die rasche Benach-
Ländern in epidemischen Situationen übliche Norm
                                                                        richtigung von Kontaktpersonen.
wurde in Europa eher belächelt. Tragen viele Menschen
                                                                            Im Unterschied zur dezentralen Tracing App werden
eine Maske, ist es leichter, sich dem Verhalten anzuschlie-
                                                                        Tracking Apps mit zentraler Datenspeicherung in China,
ßen. Hypothesen und Feldexperimente aus der Sozial-
                                                                        aber auch in demokratisch verfassten Staaten wie Südko-
psychologie unterstreichen das Argument. Die Theorie
                                                                        rea oder Island verwendet. In einigen Ländern ist Nicht-
der Normbefolgung (Cialdini et al. 1990) verweist auf den
                                                                        Kooperation mit erheblichen Nachteilen verbunden. Die
Einfluss deskriptiver Normen. Je mehr Menschen sichtbar
                                                                        in China entwickelte App war zwar nicht verpflichtend,
eine Norm befolgen, umso eher sind Menschen bereit,
                                                                        aber Mobilität zwischen Stadtvierteln oder mit öffent-
sich anzuschließen. Labor- und Feldexperimente zeigen
                                                                        lichen Verkehrsmitteln war nur mit „grün“ signalisieren-
zudem ein hohes Ausmaß prosozialen Verhaltens in der
                                                                        der App möglich (Ferretti et al. 2020). Das europäische
Bevölkerung. Dies ist sicher eine gute Grundlage dafür,
                                                                        Projekt beruht dagegen auf Freiwilligkeit und Anonymität.
dass generell die Bereitschaft vorliegt, Kooperationsnor-
                                                                        Damit erhofft man sich, Vertrauen zu stiften, Datenschutz-
men zu folgen, wenn weitere Bedingungen gegeben sind.
                                                                        normen zu erfüllen und eine genügend hohe Kooperation
Insbesondere handeln viele Menschen „bedingt koope-
                                                                        zu erzielen.
rativ“, d. h. sie sind bereit, eine Kooperationsnorm zu be-
                                                                            Je mehr Menschen die App verwenden, umso größer
folgen, wenn dies auch andere Personen tun (Fischbacher,
                                                                        ist die Wahrscheinlichkeit, zusätzlich zur manuellen
Gächter & Fehr 2001). Wenn Normverletzungen wie beim
                                                                        Arbeit der Gesundheitsämter Infektionsketten aufzuspü-
Maskentragen leicht erkennbar sind und die Norm ak-
                                                                        ren. Das Ausmaß der allgemeinen Nutzung der App ist
zeptiert wird, kommt es auch zu sozialen Sanktionen der
                                                                        mithin ein Kollektivgut, dessen Wert mit der Zahl der
Missbilligung. Allerdings sind Kooperationsnormen fragil,
                                                                        Nutzer steigt. Allerdings ist der Anstieg nicht linear, wie
wenn sie nicht verpflichtend sind, nicht internalisiert und
                                                                        es bei den meisten Kollektivgutexperimenten der Fall ist.10
keine Sanktionsdrohungen existieren. Bei anfänglich
                                                                        Die Kooperationsbereitschaft hängt dann aber auch vom
relativ hoher Normbefolgung kommt es leicht zu einer Ab-
                                                                        Verlauf der „Produktionsfunktion“ des Kollektivguts ab,
wärtsspirale; die Norm erodiert (Fehr und Gächter 2002).
Noch nicht etablierte Normen werden sich auf der anderen
Seite kaum entwickeln, wenn sich zunächst nur wenige
„Außenseiter“ kooperativ verhalten. Deshalb hat die Emp-                10 Die ersten Kollektivgutexperimente wurden von den Soziologen
fehlung, Masken zu tragen, auch kaum Wirkung entfaltet;                 Marwell und Ames (1979) durchgeführt; ihr Spielmodell wurde später
erst die Maskenpflicht hat der Kooperationsnorm Geltung                 in der Verhaltensökonomie aufgegriffen. Heute kann man feststellen,
verschafft.                                                             dass das (lineare) Kollektivgutexperiment zu einer Art „Drosophila“
                                                                        der Verhaltensökonomie mutiert ist (zu einem frühen Survey Led-
                                                                        yard 1995). Im Gegensatz zum linearen Kollektivgutspiel erfordert
                                                                        ein „contribution game“, dass ein Schwellenwert kooperierender
9 Auch wenn die unbeabsichtigte Nebenwirkung riskanteren Verhal-        Akteure erreicht werden muss, um das kollektive Gut zu erzeugen.
tens auftritt, bedeutet dies noch nicht, dass vollständige Risikokom-   Wird der Schwellenwert nicht erreicht, sind die Beiträge aller Spie-
pensation zu erwarten ist, wie es die Theorie der Risikohomöostase      ler vergeudet. Ist der Schwellenwert erreicht worden, sind weitere
behauptet. Verminderung des passiven Risikos durch Schutzmaß-           Beiträge nutzlos. Weder Trittbrettfahren noch Kooperation sind do-
nahmen kann zwar das aktive Risiko durch Verhaltensanpassung            minierende Strategien. Die Kooperationsentscheidung einer Person
erhöhen. Daraus folgt aber nicht, dass der „Netto-Effekt“ der Schutz-   ist mithin durch starke Unsicherheit geprägt. Erste Experimente mit
maßnahme null ist. Gurtpflicht für Autofahrer und Helmpflicht für       dieser strategischen Situation wurden von van de Kragt, Orbell und
Motorradfahrer haben das Unfallrisiko insgesamt vermindert.             Dawes (1983) berichtet.
Abbildung 3

                                                                  Andreas Diekmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen   245

        Grad der Eindämmung der Epidemie

                                               Schwellenwert x%                  % Bevölkerung, die
                                                                                 die App verwenden.

       Abbildung 3: Hypothetische Verläufe der Produktionsfunktion des Kollektivguts

       wie Oliver, Marwell und Teixera (1985) in der „Theory of               60 % werden auf freiwilliger Basis auch kaum erreicht.
       Critical Mass“ argumentieren.                                          Abgesehen von den zahlreichen technischen Problemen
            Simulationsstudien nennen einen Schwellenwert von                 sind bei einer dezentralen, auf Freiwilligkeit basierenden
       60 %, in einem weiteren Bericht werden 42 % genannt                    App zudem zwei Hürden zu überwinden. Zunächst muss
       (University of Oxford 2020a, 2020b). Im Extremfall könnte              die App auf dem Smartphone aufgeschaltet werden. Im
       es sich um eine Stufenfunktion handeln: Unter dem                      zweiten Schritt muss aber auch ein infizierter Nutzer die
       Schwellenwert von x% ist die App wenig hilfreich, über                 Diagnose angeben, so dass die Kontakte anonym alarmiert
       dem Schwellenwert wird die Epidemie eingedämmt (Ab-                    werden können.
       bildung 3). Das würde dann bedeuten, dass die Koope-                        Es wird nicht leicht sein, zu einer hohen Kooperati-
       rationsbereitschaft einer Person nutzlos wäre, wenn der                onsbereitschaft zu motivieren. Im Unterschied zum Mas-
       Schwellenwert nicht erreicht wird. Paradoxerweise wäre                 kentragen, zum Abstandsgebot und zur Vermeidung von
       der Beitrag auch nutzlos, wenn der Schwellenwert über-                 Menschenansammlungen ist das Aufschalten einer App
       schritten wird. Den Simulationsmodellen zufolge wird                   nicht sichtbar. Soziale Sanktionen wie beim sichtbaren
       ab Erreichen des Schwellenwerts die Infektion abflauen;                Maskentragen greifen nicht. Kommunikation über das
       weitere Nutzer der App würden dann nur noch einen sehr                 Aufschalten der App in sozialen Netzwerken kann das Ver-
       geringen oder keinen nennenswerten zusätzlichen Beitrag                halten von Freunden und Bekannten erkennbar machen,
       leisten.                                                               aber nach außen hin sichtbar – wie das Maskentragen –
            „Contribution games“ kennt man, wenn auch nicht                   ist die App nicht. Eine verpflichtende Kooperationsnorm
       unter diesem Namen, bei demokratischen Abstimmungen                    wäre politisch chancenlos, kaum durchsetzbar und würde
       mit einem Quorum. Bei kleinen Gruppen ist die Wahr-                    massiven Widerstand hervorrufen. Man könnte positive
       scheinlichkeit groß, dass die eigene Stimme einen Unter-               Anreize setzen, aber nährt dadurch möglicherweise Miss-
       schied macht, damit überhaupt ein Ergebnis erzielt wird.               trauen und zerstört intrinsische Motivation. Man könnte
       Bei großen Gruppen, wie z. B. einem Volksentscheid mit                 aber die App mit weiteren Funktionen anreichern, etwa
       einem Quorum von 20 %, sind alle Stimmen unter 20 %                    anonymisierte Informationen über das Infektionsgesche-
       verschenkt; über der Schwelle von 20 % wiederum wird                   hen im Umkreis und der Region mitteilen oder andere
       eine einzelne Stimme selten den Ausschlag geben. Die                   wichtige Informationen, so dass das Interesse potentiel-
       Produktionsfunktion ist eine Stufenfunktion.                           ler Nutzer steigen könnte. Immerhin gibt es einen positi-
            So extrem wird die Produktionsfunktion aber nicht                 ven, individuellen Anreiz, die App zu verwenden: Denn
       verlaufen. Auch die Oxford-Studie macht darauf auf-                    der Nutzer wird alarmiert, wenn die Kontaktgeschichte
       merksam, dass zumindest die Epidemie gehemmt werden                    einen infektiösen Kontakt anzeigt. Die meisten Menschen
       könnte, falls die Beteiligung unter 60 % liegen würde.                 werden diese Information schätzen, weil sie dann die
       Vermutlich wird der Verlauf der Produktionsfunktion eher               Ansteckungsgefahr in ihrem sozialen Umfeld verringern
       S-förmig sein. Je weiter „links“ der Wendepunkt, desto                 können. In Umfragen im April 2020 gaben 56 % der Be-
       größer ist offensichtlich der Nutzen der App. Werte von                fragten an, eine App zur Nachverfolgung von Corona-In-
246        Andreas Diekmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen

fektionen zu verwenden, wenn sie denn angeboten würde           masken eher einer Kooperationsnorm. Erst die Verpflich-
(Wagner et al. 2020). Von der Meinungsäußerung bis zum          tung zum Maskentragen hat der neuen Norm Geltung
tatsächlichen Verhalten ist es allerdings bei Kollektivgü-      verschafft. Aus der zentralen These dieses Artikels folgt
tern erfahrungsgemäß ein langer Weg.                            auch, dass Empfehlungen und Appelle bei Kooperati-
     Die Corona-Warn-App wurde nach Verzögerungen ab            onsnormen wenig hilfreich sind. Bis zur Einführung der
dem 16. Juni zur Verfügung gestellt. In der Praxis hat sich     Maskenpflicht Ende April 2020 haben sich Bund, Länder
gezeigt, dass der Anteil der Bevölkerung, der die Corona-       und Robert-Koch-Institut mit Empfehlungen begnügt.
Warn-App herunterlädt, weit unter den Angaben der Um-           Obwohl Deutschland im europäischen Vergleich (bisher)
fragen liegt. Dies ist auch nicht überraschend, denn zu der     noch relativ gut durch die Krise gekommen ist, hätten
Einstellungs-Verhaltensdiskrepanz kommt hinzu, dass die         durch eine frühere Einführung der Maskenpflicht sehr
App nur auf neue Smartphone-Versionen geladen werden            wahrscheinlich viele Infektionsfälle verhindert werden
kann. Immerhin haben 17,2 Mio. Personen oder 21 % der Be-       können.
völkerung in Deutschland die App auf ihrem Smartphone                Auffallend ist auch, wie rasch und stark die Masken-
installiert (Stand 17.8.2020, Robert-Koch-Institut 2020b),      pflicht das tatsächliche Verhalten verändert hat. Nicht
vermutlich eben auch, weil viele Nutzer interessiert sind,      selten wurde die kollektive Mentalität der Asiaten gegen-
bei einem infektiösen Kontakt alarmiert zu werden. Wie          über der individualistischen Einstellung der Europäer
viele Personen konnten nun gewarnt werden? Darüber              vorgebracht, um die unterschiedlichen Verhaltensweisen
gibt es aufgrund des einprogrammierten Datenschutzes            bei Infektionen zu erklären (z. B. Zheng 2020). Womöglich
keine Auskunft. Allerdings kann die Obergrenze aller            sind kulturelle Unterschiede aber ein geringeres Hemmnis
positiv Getesteten, die potentiell in das System eingespeist    bei der Wirkung von Interventionen zur Eindämmung der
werden konnten, angegeben werden. Denn eine positiv             Corona-Pandemie als angenommen. Denn mit der Wahr-
getestete Person erhält eine TAN-Nummer, die freiwillig         nehmung der Risiken und der Änderung der Situations-
und anonym weitergeleitet werden kann. Die Anzahl der           bedingungen wurde die Maskenpflicht sehr schnell ak-
TAN-Nummern beträgt 1679 (Robert-Koch-Institut 2020b),          zeptiert und befolgt.
die Anzahl maximal möglicher Warnungen kann höher                    Die Befolgung sozialer Normen hängt natürlich von
liegen, da eine infizierte Person mehrere Kontakte haben        weiteren Bedingungen ab, wie einer umfangreichen Lite-
dürfte. Außerdem könnte die App bei einer eventuell auf-        ratur zu entnehmen ist (z. B. Biccieri 2006; Bicchieri 2017;
tretenden zweiten Welle helfen, denn bei einer geringen         Cialdini, Reno & Kallgren 1990; Diekmann 1980; Hechter &
Infektionsrate sind natürlich auch die über die App gemel-      Opp 2001; Opp 1983, 2020). Hier wurde vor allem mit Blick
deten Fälle gering. Allerdings ist mittlerweile klar gewor-     auf die Corona-Krise ein Aspekt herausgearbeitet: der ver-
den, dass eine Tracing App kein digitales Wundermittel          haltensrelevante Einfluss des Typs sozialer Normen. Wer
ist. Sie kann aber, insbesondere bei vermehrter Nutzung         die Wirkung sozialer Normen erforscht, ist gut beraten,
und steigenden Infektionszahlen, hilfreich sein, um die         zunächst die Handlungsstruktur zu untersuchen. Spiel-
konventionellen Methoden der Aufspürung von Infek­              theoretische Modelle können bei dieser Aufgabe hilfreich
tionsketten durch die Gesundheitsämter zu ergänzen.             sein, um die genaue Struktur der Interaktion aufzuklären.
                                                                Eine Kernfrage ist dann, ob es sich um eine Handlungs-
                                                                struktur vom Typ „soziales Dilemma“ oder um ein Koor-

5 Diskussion                                                   dinationsproblem handelt. Weitere Hypothesen lassen
                                                                sich ableiten, wenn man die subjektive Wahrnehmung
                                                                der einzelnen Elemente der Interaktion (die Situations-
Soziale Normen können sich auf Konfliktsituationen
                                                                definition) berücksichtigt. Dazu zählen zwei Komponen-
vom Typ Koordination oder Kooperation beziehen.
                                                                ten: Die Wahrnehmung der in der Handlungsstruktur vor-
Diese Unterscheidung ist zentral, vor allem weil Koor-
                                                                liegenden materiellen und immateriellen Anreize und die
dinationsnormen im Eigeninteresse befolgt, während
                                                                Heterogenität der Risikowahrnehmung (der „beliefs“).
Kooperationsnormen im Eigeninteresse verletzt werden.
                                                                     Wer kein Risiko für sich wahrnimmt, wird allenfalls
Deshalb sind Koordinationsnormen leichter durchsetz-
                                                                aus altruistischen Motiven, dem Schutz von Familie und
bar als Kooperationsnormen. Das Rechtsfahrgebot ist
                                                                Bezugspersonen oder wegen Sanktionsdrohungen die
selbsterzwingend, ein Parkverbot dagegen muss über-
                                                                neuen Corona-Normen befolgen. Je geringer das Risiko
wacht und bei Verletzung sanktioniert werden. Die neue
                                                                einer Ansteckung wahrgenommen wird, desto geringer
entstandene Norm des Abstandsgebots entspricht eher
                                                                ist der Grad der Befolgung der sozialen Normen, ins-
einer Koordinationsregel, das Aufsetzen von Schutz-
                                                                besondere auch der Koordinationsnormen. Je jünger und
Sie können auch lesen