Endgültiger Titel Manipulation und Verführung - fuks eV

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Endgültiger Titel Manipulation und Verführung - fuks eV
ISSN
ISSN   0937-0803
     0937-0803             2014
                  | März 2014
               | November

                                    TITELTHEMA IN POLITIK, GESELLSCHAFT UND FORSCHUNG
                                  MANIPULATION IN POLITIK, GESELLSCHAFT UND WISSENSCHAFT

                Manipulation und Verführung
                                  Endgültiger Titel          Herausgegeben von fuks e.V.
                                            fachübergreifendeHerausgegeben von fuks e.V.
                                                              Unternehmensberatung   Karlsruher Studenten
                                           fachübergreifende Unternehmensberatung Karlsruher Studenten
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BERUFSSTART BEI ANDRENA
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                                                                                                                    TDD
   Einsteigen und
                                   Agilität
   Professional Agile Software
                            Productivity
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K A R LSRUHER TR A NSFER

Editorial

Manipulation und Verführung
         Unsere tatsächliche Gegenwart wird         Wahren entspricht. Fraglich ist selbst, ob
    regelmäßig durch unsere Wahrnehmung             dies objektiv überhaupt erfassbar sein
    verzerrt. Denn die Wirklichkeit, welche         kann.
    wir erfassen, ist lückenhaft, subjektiv, oft         Ähnlich der optischen Täuschungen
    trügerisch oder auch einfach nur falsch.        blendet uns die Umwelt und führt uns irre,
         Ganze Regierungen verschleiern Tat-        sodass wir uns gezwungen sehen auf unser
    sachen und Geschehnisse, die niemals ans        subjektives Bewusstsein zurückzugreifen.
    Tageslicht treten werden. Die Presse als ein         Bedenkt man all diese Dinge, so muss
    homogenes Informationsinstrument hat            man zwangläufig sämtliche Informationen,
    längst ausgedient, sofern sie es denn jemals    Berichte und Eindrücke, ja sogar unsere
    vermochte objektive Berichterstattung zu        eigene Meinung hinterfragen und sich ge-
    betreiben. Gleichsam kreative, wie auch         legentlich auch mit Kontrapositionen aus-
    gerissene Künstlerköpfe drängen uns dazu        einandersetzen, um so unter Umständen
    Dinge zu kaufen, die wir im Grunde gar          dann das etwas klarer zu sehen, was uns
    nicht wollen, geschweige denn brauchen          die Scheuklappen der Umwelt sonst so ge-
    und die in der Realität nichts mehr mit         konnt verwehren.
    dem perfekt mittels Photoshop in Szene               Schließlich ist es genau diese bewusste
    gesetzten Produkten gemein haben, die           Individualität, welche den Menschen vom
    uns ursprünglich doch so penetrant an-          Tiere unterscheidet, sodass wir im Stande
    gepriesen wurden. Bereits kleine Kinder         sind unser Weltbild von dem der anderen
    haben ein ausgeklügeltes System zu wel-         zu differenzieren, sollte unsere Wahrneh-
    chem Zeitpunkt und in welchem Winkel            mung uns triftige Gründe hierfür liefern.
    sie ihren Schmollmund ziehen und die                 Letztendlich sind wir trotz allem auf
    Kulleraugen glänzen lassen müssen, um           unsere Sinne sowie die damit verbundenen
    das Objekt der Begierde von den Eltern zu       Sinneseindrücke angewiesen, denn ohne
    bekommen und selbst gegen die Täuschun-         sie sind wir lediglich der Mensch, welcher
    gen der Natur sind wir nicht gefeit. So lässt   in der Wüste mit geschlossenen Augen den
    beispielsweise die afrikanische Wunderbee-      Versuch unternimmt geradeaus zu gehen.
    re Süßes sauer schmecken und verwirrt da-            Und kommen vom Weg ab.
    mit unseren Geschmackssinn.
         Im Grunde kann einem Niemand ge-
    nau sagen, ob das, was wir in einem Au-                            Anastasia Evsyukova
    genblick erfahren dem Tatsächlichen, dem                           Chefredakteurin
Endgültiger Titel Manipulation und Verführung - fuks eV
Im Detail                                                     04
    Wahrnehmung
Meister der (Ent-)Fesselung                                   06
     Harry Houdini
Wählen, aber wie?                                             10
      Die schwierige Entscheidung der „richtigen“
Wahl. Wie gerecht ist eine Wahl?

              Politik und Macht - Eine
              gefährliche Verbindung?                              16
                      Ist die Demokratie eine
              schlechte Regierungsform?

              Das Gehirn malt - Die Mechanismen der
              menschlichen Sinne                                   20
                  Wie manipulieren uns die Sinne?
              Ist Einfluss messbar?                                24
                    Wie erstellen Forbes etc. ihre Rankings
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   Inhalt

                                        Zwischen den Welten                                 26
                                             Im Gespräch mit Sebastian Fitzek
                                             über das Dasein als Autor
                                        Lügen enttarnen                                     30
                                             Wie erkennt man Lügen
                                        Auf den Spuren des Sandmanns                        34
                                             Im Gespräch mit Prof. Maximilian Bergengruen über
                                        Manipulation und Verfolgungswahn in der Literatur
                                        Hormone und Manipulation                            36
                                              Wie können Hormone
                                        den Körper manipulieren?

                                      Die Kunst der Verführung                         38
                                            Ist Verführung lernbar?
                                         Er ist nicht süchtig                          40
                                             Eine fiktive Geschichte über Spielsucht
                                        Verführerischer Flimmerkasten                  44
                                            Die tägliche Versuchung

Karlsruher Transfer / November 2014                                                              3
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Im Detail
Unsere Wahrnehmung entsteht als ein      Die vom Auge weitergegebene Infor-
Zusammenspiel von dem, was unsere        mation versucht das Gehirn aufzube-
Augen erfassen und dem, was unser Ge-    reiten, indem es Objekte mithilfe der
hirn an Informationen verarbeitet. Ge-   Erfahrung miteinander vergleicht und
rade die wichtigen Faktoren für diesen   dementsprechend zuordnet. Visuelle
Prozess, nämlich die Erinnerung und      Täuschungen kommen zustande, weil
die Erfahrung, sind es jedoch, die uns   das Gehirn durch den Vergleichsprozess
trügerisch eine Illusion vorzugaukeln    versucht das wahrgenommene Objekt
vermögen.                                zu erkennen.
                                         Und verkennt es dann paradoxerweise.
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                      Meister der
                  (Ent-)Fesselung
                       Mit seinen gleichermaßen sensa-
                       tionellen wie lebensgefährlichen
                       Vorstellungen zieht Harry Houdini
                       im frühen 20. Jahrhundert die
                         Welt in seinen Bann. Die Massen
                           sind begeistert, die Medien
                           gelüstet es nach immer neuen
                             aufsehenerregenden          Darbie-
                              tungen. Keine Herausforderung
                               ist ihm zu groß – bis sein Ehrgeiz
                               ihn schließlich das Leben kostet.
                                Der Karlsruher Transfer blickt
                                zurück auf das Leben des wohl
                                 größten Illusionisten aller
                                 Zeiten.
                                                    von Christian Füllner

6                                            Karlsruher Transfer / November 2014
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Das Publikum hält den Atem an - die Span-         Ein echter Magier mit paranormalen Fähig- eine Vielzahl an Münzen verteilt sich auf
nung steigt ins Unermessliche.                    keiten? Ein Mann, der seine außergewöhn- dem Boden.
In wenigen Momenten wird sich auf der Büh-        lichen Leistungen einer besonderen, aber
ne Dramatisches abspielen.                        natürlichen Begabung verdankte? Oder ein
                                                                                                Erfolglose Anfänge als Magier
Genau in ihrem Zentrum befindet sich ein aus      Scharlatan, der sein Publikum nach Strich
Mahagoni und Metall gefertigter Tank, von         und Faden belog und manipulierte?                  Nachdem Erik Weisz in seiner Kind-
unten bis oben mit Wasser gefüllt. Doch nicht                                                   heit als Zeitungsverkäufer, Schuhputzer,
dieser Tank zieht die Blicke der Zuschauer auf                                                  aber auch als Zirkusakrobat Geld für die
                                                  Kindheit in Armut
sich, sondern das, was sich in diesem Moment                                                    Familie verdient hat, beginnt er im Alter
noch darüber abspielt. Denn mit den Füßen              Als am 24. März 1874 in Budapest der von 17 Jahren damit als Zauberkünstler
in einer Metallplatte verankert hängt dort        junge Erik Weisz als vierter Sohn eines un- aufzutreten. Fortan nennt sich der junge
kopfüber eine menschliche Gestalt, bekleidet      garischen Rabbis geboren wird, ahnt noch Mann Harry Houdini – Harry wohl als
nur mit einem Schwimmanzug. Direkt neben          niemand, welche große Karriere ihm ein- Anlehnung daran, dass ihn seine amerika-
dem Tank steht eine vermummte Person, eine        mal bevorstehen wird. Und auch als er im nischen Freunde statt „Erik“ eher „Ehrie“
Axt in der Hand und bereit, sofort einzugrei-     Alter von vier Jahren mit seiner Familie in oder eben „Harry“ rufen, und Houdini aus
fen, sollte eintreten, was wohl jeder im Publi-   die Vereinigten Staaten auswandert, ist er Bewunderung für den französischen Ma-
kum befürchtet.                                                                                 gier Jean-Eugène Robert-Houdin, der sein
Langsam aber sicher wird die Gestalt in den                                                     großes Idol geworden ist.
Tank hinabgelassen, bis sie sich vollständig                                                         Doch auch der Zauberkünstler Houdi-
                                                       „They were not magicians,
unter Wasser befindet; sodann wird der Tank                                                     ni hat es zu Beginn nicht leicht. Er versucht
mithilfe der Metallplatte von oben verschlos-
                                                       they were illusionists.“                 sich an der gesamten Bandbreite der Zau-
sen.                                                                                            berei, von Kartentricks über Illusionen bis
Die Glasfront des Tanks gibt einen letzten                                                      zu seinen ersten Entfesselungstricks, tritt
Blick auf die gefangene Gestalt frei, dann        von Ruhm und Geld noch weit entfernt.         zunächst mit seinem Bruder, später dann
verbirgt ein Vorhang das weitere Geschehen.            Zunächst in Wisconsin, später in New mit seiner Frau Bess in Wanderzirkussen
                                                  York wächst der junge Erik in ärmlichen und auf Jahrmärkten auf – ohne großen
                                                  Verhältnissen auf; schon früh muss er dazu Erfolg.

Z
         u Beginn des 20. Jahrhunderts wa-             beitragen, den Lebensunterhalt der Fa-        Nach fünf schwierigen Jahren steht
         ren Situationen wie die geschilder-      milie zu sichern. An seinem Antrieb, den Houdini kurz davor, die Künstlerkarriere
         te kein Einzelfall. Mit seinen un-       Eltern das Leben zu erleichtern, wird sich an den Nagel zu hängen. Für 20 Dollar ist
glaublichen, spektakulären und nicht selten       bis zu seinem Lebensende nichts ändern: er sogar sein Geheimnis der Befreiung aus
riskanten Auftritten hielt der Amerikaner         Auch in den erfolgreichsten Jahren geht der Handschellen zu verraten bereit, und schal-
Harry Houdini die ganze Welt in Atem.             größte Teil des verdienten Geldes an seine tet eigens dafür ein Inserat in der Zeitung.
Doch so recht erklären, wie es Houdini ge-        Mutter.                                       Dass niemand darauf eingeht, verdeutlicht
lang, aus den schier ausweglosesten Situati-           Bereits in jungen Jahren entwickelt nur Houdinis Scheitern.
onen mit fast spielerischer Leichtigkeit zu       Erik Weisz ein großes Interesse für die Zau-
entkommen, konnte sich niemand. Nicht             berei. Eines Tages, so heißt es, erbettelt er
                                                                                                Meister der Vermarktung
wenige behaupteten deshalb, er besäße             Geld auf der Straße und versteckt es in sei-
übersinnliche Kräfte und entkäme dem              nem Haar und seinen Kleidungsstücken.              Im Nachhinein erweist es sich als gro-
Wassertank oder anderen Gefängnissen, in-         Als er zu Hause von seiner Mutter begrüßt ßes Glück, denn Houdini gibt nun doch
dem er sich dematerialisiere.                     wird, sagt er „Schüttele mich, ich bin ma- nicht auf und bald stellen sich erste Ach-
     Wer war der Große Houdini wirklich?          gisch“. Die Mutter tut, wie geheißen, und tungserfolge ein. Seine Kunst, sich aus

 Karlsruher Transfer / November 2014                                                                                                            7
Endgültiger Titel Manipulation und Verführung - fuks eV
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                                                  Handschellen zu befreien, beeindruckt

Houdinis größte                                   1899 Martin Beck, einen Theatermanager,
                                                  der ihm zu regelmäßigen Auftritten in an-
Coups                                             gesehenen Theatern und im Folgejahr sogar
                                                  zu einer Europatour verhilft. Er ist es auch,
                                                  der Houdini überzeugt, sich künftig auf
Buried Alive:                                     die Entfesselungs- und Befreiungstricks zu
Houdini lässt sich lebendig sechs Fuß un-         konzentrieren.
ter der Erde begraben. Auch weil ihn die               Houdini avanciert zum „Handcuff

                                                                                                                               H O
Durchführung 1915 fast das Leben kostet,          King“, der in der Lage ist, sich jedem Paar
wählt er später andere Varianten, zum Bei-        Handschellen zu entledigen. Seine wach-
spiel das „Begräbnis“ in einer versiegelten       sende Popularität verdankt er auch einer
Kiste.                                            ausgeklügelten Vermarktung. In einer Zeit,
                                                  in der Mund-zu-Mund-Propaganda enor-
                                                  me Bedeutung zukommt, sorgt Houdini
Milk Can Escape:                                  vor seinen Auftritten für mächtige Rekla-
Houdini entkommt, obwohl gefesselt, ei-           me, indem er beispielsweise sein Publikum
ner mit Wasser gefüllten, verschlossenen,         oder die örtliche Polizei herausfordert, sich
überdimensionierten Milchkanne.                   mit ihren Handschellen an ihm zu versu-
                                                  chen. Befreien kann er sich immer.
                                                       Schon bald tritt er in den größten The-
Chinese Water Torture Cell:                       atern und Zirkussen Europas und der Ver-
Houdini    wird    kopfüber     in    einem       einigten Staaten auf. Auch auf der Bühne
Wassertank versenkt, wobei – zumin-               ist er ein Meister der Show. Manchmal hat
dest bei späteren Auftritten – die Füße           er sich schon nach wenigen Minuten befreit
am Deckel des Tanks arretiert sind.               und wartet genüsslich hinter dem Vorhang,
                                                  während das Publikum den Atem anhält.
                                                       Ständig stellt sich Houdini neuen her-         „Mein Gehirn ist der
Strait Jacket Escape:                             ausfordernden Befreiungsaktionen – auch,            Schlüssel, der meinen
Houdini befreit sich ohne Hilfsmittel aus ei-     um seinen Imitatoren immer einen Schritt            Verstand freisetzt.“
ner Zwangsjacke, wobei er zur Steigerung          voraus zu sein. Bis zu 40.000 Zuschauer
des Schwierigkeitsgrades häufig kopfüber          wohnen seinen spektakulären Auftritten
gefesselt an einem Kran oder einem Wol-           bei – Houdini ist ein Star, omnipräsent in      überzeugt Houdini nicht, er wähnt einen
kenkratzer hängt. Auf dem Höhepunkt sei-          den Medien, erhält sogar mehrere Rollen in      Betrug dahinter und gerät mit Doyle in
nes Schaffens benötigt er für eine derartige      Hollywood.                                      Streit. Auch die Spiritisten sind erbost, sind
Befreiung lediglich etwa drei Minuten.                                                            sie doch der Auffassung, dass Houdini in
                                                                                                  seinen Vorführungen echte magische Fä-
                                                  Kampf den Spiritisten
                                                                                                  higkeiten einsetzt, öffentlich aber leugnet,
Overboard Box Escape:                                  Als 1913 seine geliebte Mutter stirbt,     diese zu besitzen.
Mit Handschellen und Fußfesseln verse-            ohne dass er sich von ihr verabschieden              Houdini wird so zum größten Kriti-
hen begibt sich Houdini in eine Kiste, die        kann, gerät Houdinis Leben an einen             ker der Spiritisten und startet eine Aufklä-
anschließend mit Gewichten beschwert im           Wendepunkt. Nichts wünscht er sich sehn-        rungstournee. Er platzt in Séancen oder
New Yorker East River versenkt wird. Nach         licher als noch einmal mit ihr in Kontakt       nimmt verkleidet an ihnen teil, nur um
weniger als drei Minuten taucht er bereits        treten zu können. Sein Freund Sir Arthur        im richtigen Moment die Betrüger zu ent-
wieder an der Wasseroberfläche auf –              Conan Doyle lädt ihn ein, an einer Séance       larven. Er schreibt A Magician Among the
natürlich ohne Fesseln.                           teilzunehmen, um den Geist der Mutter zu        Spirits, ein Buch, in dem er die Tricks und
                                                  beschwören. Doch das Ergebnis der Séance        Effekte selbst ernannter Medien verrät, und

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O U D I N I

widmet sich diesem Thema ausführlich in         Stundenlang macht er sich mit den neus-            Sein Ehrgeiz und sein Übermut sind es
seinen eigenen Vorstellungen: In den letz-      ten Schlösser- und Handschellen-Modellen      schlussendlich auch, die zu seinem frühen
ten 13 Jahren seines Lebens macht die Auf-      vertraut, bis er ihre Funktionsweise hun-     Tod mit 52 Jahren beitragen. Immer wieder
klärungsarbeit mehr als ein Drittel seines      dertprozentig verstanden hat und jede ihrer   propagiert er, seine stählerne Bauchmusku-
Bühnenprogramms aus.                            Schwächen kennt. Im Alltag nutzt er jede      latur könne jedem Schlag standhalten. Als
     Zugleich ist Houdini aber auch sehr        freie Sekunde für Kartentricks oder das Lö-   dann im Oktober 1926 ein Student plötz-
fasziniert von Tod und Übersinnlichem.          sen von Knoten, um seine Fingerfertigkeit     lich mehrmals zuschlägt, ohne Houdini
Nach seinem Tod, so haben sie es vorab          zu erhalten und zu verbessern: Die linke      Zeit zur Vorbereitung zu lassen, verschlech-
besprochen, versucht seine Frau Bess jähr-      Hand trainiert Houdini so lange, bis er       tert sich sein Zustand dramatisch. Die
lich mit ihm Kontakt aufzunehmen. Erst          beidhändig ist. Er besitzt sogar eine große   Schläge verstärken schon länger anhaltende
nach zehn Jahren gibt sie es auf. Die Fesseln   Badewanne im eigenen Haus, in der er täg-     Bauchschmerzen, es kommt zu einer aku-
des Jenseits bleiben wohl die einzigen, die     lich trainieren kann, die Luft anzuhalten     ten Blinddarmentzündung.
Houdini nicht zu lösen vermag.                  – am Ende schafft er es mehrere Minuten            Houdini jedoch kann sich nicht in
                                                lang.                                         Zaum halten und sagt seinen Auftritt zwei
                                                     Houdinis Ehrgeiz nimmt jedoch fast       Tage später nicht ab. The show must go on.
Alles für die Show
                                                krankhafte Züge an: Er ist sehr egozent-      Schon während der Vorstellung verliert er
    Houdini ist ein Perfektionist. Para-        risch und den Konkurrenten gegenüber          erstmals das Bewusstsein, wenige Tage spä-
normale Fähigkeiten besitzt er nicht. Sei-      unnachgiebig. Sogar Fehler seines einsti-     ter verstirbt er – welch tragischer Zufall –
ne beeindruckenden Auftritte sind das           gen Vorbilds Houdin macht er öffentlich,      an Halloween, dem Tag der Geister.
Ergebnis harten und intensiven Trainings.       beschuldigt ihn außerdem des Plagiats.

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                                                     Wählen, aber wie?
                                                                               Eine kleine Reise durch die Geschichte
                                                                                            der Social Choice Theorie.

        Für Anregungen und hilfreiche Kommentare bei der Abfassung dieses Artikels bin ich
                                         Anselma Wörner und Tobias Dittrich sehr dankbar.

                                                                        von Professor Clemens Puppe Institut für Volkswirtschaftslehre
                                                                                           Karlsruher Institut für Technologie (KIT)

 W
                 ir treffen unentwegt gemein-   1 Warum nicht einfache                        Vor allem aber kann es passieren, dass be-
                 same Entscheidungen und        Mehrheitswahl?                                stimmte Parteien im Unterhaus “überre-
                 müssen dabei verschiedene                                                    präsentiert” sind, d.h. dass Parteien mit
 individuelle Interessen und Vorlieben an-            Im Mai 2011 fand im Vereinigten Kö-     einer niedrigeren Gesamtunterstützung in
 gemessen berücksichtigen: bei der Wahl         nigreich ein Wahlrechtsreferendum zur Fra-    der Bevölkerung dennoch einen größeren
 der Abendunternehmung im Freundeskreis         ge statt, ob die bestehende einfache Mehr-    Anteil der Sitze im Unterhaus erhalten.
 (Kino, Theater, oder lieber in die Kneipe?),   heitswahlregel (dort unter dem Namen          Aus diesen Gründen wurde eine Reform
 bei der Wahl des Urlaubsortes der Familie      “First-Pass-The-Post” (FPTP) bekannt) in      hin zum “Alternative Vote” Verfahren vor-
 (ans Meer, in die Berge, oder eine Städter-    ein Rangfolgewahlrecht (“Alternative Vote”    geschlagen. Bei diesem Verfahren müssen
 eise?), bei der Bestellung eines neuen Vor-    (AV), auch als “Instant-Runoff-Voting” be-    die Wähler eine vollständige Rangfolge
 standsmitglieds der Fachschaft (den jungen     kannt) geändert werden soll.                  aller Kandidaten abgeben (im Gegensatz
 dynamischen, aber unerfahrenen Erstse-         Das Vereinigte Königreich ist in Wahlkreise   zur einfachen Mehrheitswahl, bei der es ge-
 mester, die Feten-geprüfte Aktivistin aus      mit etwa gleicher Bevölkerungszahl unter-     nügt, dass jeder Wähler seinem jeweiligen
 dem 9. Semester, oder lieber den Kompro-       teilt. In jedem Wahlkreis wird genau ein      Lieblingskandidaten eine Stimme gibt). In
 misskandidaten?) und schließlich natürlich     Kandidat für das Unterhaus in Westmins-       einem ersten Schritt scheidet der Kandidat
 auch bei der Bestimmung der generellen         ter gewählt. Die einfache Mehrheitswahl-      mit den wenigsten ersten Plätzen in den
 politischen Richtung des Landes anlässlich     regel (“First-Past- The-Post”) besagt, dass   Rangfolgen der Wähler aus. Man betrachtet
 allgemeiner demokratischer Wahlen.             der Kandidat mit der einfachen Mehrheit       dann die um diesen Kandidaten reduzier-
 Was aber heißt es, die “individuellen In-      im Wahlkreis den entsprechenden Sitz im       ten aber ansonsten unveränderten Rangfol-
 teressen und Vorlieben angemessen zu           Parlament gewinnt, während alle anderen       gen und bestimmt, welcher Kandidat unter
 berücksichtigen”? Wie sollen die Regeln        Kandidaten in diesem Wahlkreis leer ausge-    diesen die wenigsten ersten Plätze erzielt,
 ausgestaltet werden, nach denen in diesen      hen. Dies kann natürlich dazu führen, dass    dieser wird wieder gestrichen usw. Sieger ist
 und ähnlichen Situationen gemeinsame           im britischen Unterhaus Kandidaten ver-       der Kandidat, der zuletzt verbleibt. Die Be-
 Entscheidungen getroffen werden?               treten sind, die nur geringe Unterstützung    fürworter dieser Methode haben im
 In diesem kurzen Artikel soll ausgeführt       in ihrem jeweiligen Wahlkreis erhalten        Jahre 2011 die folgende Werbetafel benutzt.
 werden, dass dies ein interessantes und        haben (aber eben immer noch die relativ
 keinesfalls triviales Problem ist.             größte).

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                                                                                               den anderen Kandidaten in einem
                                                                                               paarweisen Vergleich geschlagen hätte.
                                                                                               Man nennt einen Kandidaten, der jeden
                                                                                               anderen Kandidaten im paarweisen Ver-
                                                                                               gleich schlägt, einen “Condorcet Gewin-
                                                                                               ner”.
                                                                                               Beachte, dass ein solcher Condorcet Ge-
                                                                                               winner nicht in jeder Situation
                                                                                               existieren muss. Man könnte nun argumen-
                                                                                               tieren, dass, wenn es schon einen
                                                                                               Condorcet Gewinner gibt, dieser auch im-
                                                                                               mer gewählt werden sollte. Tatsächlich
                                                                                               gab und gibt es einige Autoren, die diese
                                                                                               Ansicht vertreten (unter anderem auch
                                                                    Figur 1: FPTP versus AV    Condorcet selbst, von dem weiter unten
                                                                                               noch zu berichten sein wird). Der Stand-
                                                                                               punkt ist aber durchaus anfechtbar.
     In der dargestellten Situation würden      würden im ersten Wahlgang eines der Pubs       Nehmen wir zum Beispiel an, 51% der
die Kaffeeliebhaber gewinnen, nur weil          und das Kaffeehaus die meisten Stimmen         Wähler besitzt unter den drei Kandidaten
sich die 70 % Biertrinker nicht einigen         erhalten. In der anschließenden Stichwahl      A, B und C die Rangfolge A > B > C
können, in welche der Kneipen man gehen         käme das Kaffeehaus jedoch nur auf 30%         (“A vor B vor C”) während die restlichen
soll. Je nach genauer Gestalt der vollstän-     der Stimmen und das Pub würde mit 70%          49% die Rangfolge B > C > A (“B
digen individuellen Rangfolgen über die         der Stimmen gewinnen.                          vor C vor A”) haben, wie im folgenden Bei-
verschiedenen Alternativen würden ver-          Aber auch diese verfeinerte Wahlregel birgt    spiel gezeigt.
schiedene Kandidaten nach der Alternative       Probleme. Im ersten Wahlgang der fran-
                                                                                               Beispiel 1
Vote Methode gewinnen. Geht man aller-          zösischen Präsidentschaftswahlen im April
dings davon aus, dass “Kaffee” in den Rang-     2007 erhielt der Kandidat der
folgen der Biertrinker immer an letzter Stel-   konservativen UMP, Nicolas Sarkozy, etwa        51% der              49% der
le steht, würde sich das Kaffeehaus niemals     31% der Stimmen, die Kandidatin                 Wähler               Wähler
als Sieger durchsetzen können.                  der sozialistischen Partei, Ségolène Royal,     A                    B
Eine andere (und einfachere) Methode, die       etwa 26%, der Kandidat der liberalen            B                    C
das beschriebene Problem lösen kann, ist        Zentrumspartei, François Bayrou, etwa
                                                                                                C                    A
die einfache Mehrheitsregel mit Stichwahl       19% und der rechtsextreme Kandidat
(“Plurality with Runoff”).                      Jean-Marie Le Pen etwa 10% der Stimmen.
Bei dieser Methode, die unter anderem bei       Kein anderer der zwölf zugelassenen            In dieser Situation ist Kandidat A zwar ein
den französischen Präsidentschaftswahlen        Kandidaten erhielt mehr als 5% der Stim-       Condorcet Gewinner, wird aber
zum Einsatz kommt, wird zunächst eine           men. Im Mai 2007 gewann Sarkozy                auch von 49% der Wähler als schlechtester
einfacheMehrheitswahl durchgeführt,             die Stichwahl gegen Royal mit ca. 53% der      Kandidat eingestuft. Dagegen kann
d.h. jeder Wähler gibt seinem Lieblingskan-     Stimmen. Das Ergebnis wurde von                Kandidat B den Status eines “Kompromiss-
didaten eine Stimme. Die beiden Kandida-        vielen Franzosen bedauert, insbesondere        kandidaten” für sich beanspruchen.
ten, die im ersten Wahlgang die meisten         weil Meinungsumfragen vor der Wahl             Die Wahl des Condorcet Gewinners A
Stimmen bekommen haben, treten dann             darauf hindeuteten, dass der liberale Kandi-   kann in dieser Situation also nicht ohne
in einer Stichwahl gegeneinander an. Sie-       dat Bayrou sowohl Royal als auch               Weiteres als unanfechtbar betrachtet wer-
ger ist, wer in diesem zweiten Wahlgang         Sarkozy im paarweisen Mehrheitsvergleich       den. Wir werden weiter unten darauf
die meisten Stimmen bekommt. Verwendet          geschlagen hätte. In der Tat spricht           zurückkommen.
man dieses Verfahren im obigen Beispiel,        vieles dafür, dass Bayrou zu dieser Zeit je-   Es gibt aber ein stärkeres Argument, das

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 gegen die einfache Mehrheitsregel mit an-     Mit anderen Worten, die größere Unter-         Weise die Heldin des Buches, Natana, zur
 schließender Stichwahl spricht: diese Regel   stützung für Kandidat A schadet diesem         Äbtissin eines Klosters gewählt wird
 verstößt nämlich gegen ein sehr grundle-      Kandidat und sorgt nun dafür, dass ein an-     (“En qual manera Natana fo eleta abades-
 gendes Monotonieprinzip, die sogenannte       derer Kandidat (in diesem Fall C)              sa”). Dabei spielen paarweise Mehrheitsver-
 “Positive Responsiveness”.                    gewinnt!                                       gleiche
 Betrachten wir das folgende Beispiel:         Verletzungen der Positive Responsiveness       zwischen den verschiedenen Kandidatin-
                                               oder ähnlicher Monotonie Bedingungen           nen eine entscheidende Rolle.
 Beispiel 2
                                               werden als sehr problematisch angesehen.
 Es gäbe 17 Wähler mit folgenden Rangfol-      So hat das Bundesverfassungsgericht
 gen zwischen den drei Kandidaten A,           im Jahre 2008 das Deutsche Bundestags-
 B und C:                                      wahlrecht wegen des verwandten
                                               Phänomens des “negativen Stimmgewichts”
     6        5        4          2            als verfassungswidrig erklärt und
     Wähler   Wähler   Wähler     Wähler
                                               eine Neuregelung des Bundestagswahl-
     A        C        B          B
                                               rechts veranlasst.2
     B        A        C          A            In Frankreich gibt es gegenwärtig ebenfalls
     C        B        A          C            eine Reihe von Initiativen mit
                                                                                                        Figur 2: Ramon Llull
                                               dem Ziel, das französische Präsidentschafts-
 In dieser Situation erhalten A und B im       wahlrecht zu reformieren.3 Bislang             Etwa 160 Jahre nach Lullus hat sich der
 ersten Wahlgang (einfache Mehrheitswahl)      war allerdings keine dieser Initiativen er-    Philosoph, Theologe, Jurist, Mathematiker
 die meisten Stimmen (beide Kandidaten er-     folgreich, übrigens genauso wenig wie          und Astronom Nikolaus von Kues (Nico-
 halten 6 Stimmen). Die Stichwahl zwischen     das Wahlrechtsreferendum im Vereinigten        laus Cusanus, 1401 – 1464)
 diesen beiden gewinnt A mit 11 zu 6 Stim-     Königreich.                                    mit dem Problem der Ausgestaltung von
 men (da sich die fünf Wähler mit C > A >                                                     Wahlverfahren beschäftigt. In seiner
                                               2 Von Lullus über Cusanus zu
 B in einer Stichwahl zwischen A und B für                                                    Schrift De concordantia catholica (1433)
                                               Borda und
 A entscheiden).                                                                              entwickelt er eine Methode, wie die
 Nehmen wir nun an, die beiden Wähler          Condorcet                                      römisch-deutschen Kaiser gewählt werden
 mit der Rangfolge B > A > C ändern ihre            Die “Social Choice Theory”, wie die       sollten. Die von Nikolaus vorgeschlagene
 Meinung zu A > B > C, d.h. diese beiden       Theorie kollektiver Entscheidungen im an-      Methode war ein Punkteverfahren, das die
 Wähler sehen nun den                          gelsächsischen                                 gleich zu beschreibende “Borda-
 vorherigen Sieger A sogar noch vor Kandi-     Sprachraum heißt, hat seit jeher einige der    Regel” vorwegnahm.
 dat B. Wenn sich ansonsten nichts             originellsten und
 weiter verändert, erhalten wir die folgende   klügsten Köpfe angezogen und zu interes-
 Situation:                                    santen Beiträgen inspiriert. Die frühesten
                                               überlieferten theoretischen Abhandlungen
     6        5        4          2            zu dem Thema stammen von
     Wähler   Wähler   Wähler     Wähler       dem mallorquinischen Schriftsteller, Philo-
     A        C        B          A            sophen, Poeten, Logiker, Martyrer
     B        A        C          B            und Begründer der katalanischen Literatur,
     C        B        A          C            Ramon Llull, auch bekannt unter
                                               seinem lateinischen Namen Lullus (ca.
                                                                                                        Figur 3: Nicolaus Cusanus
                                               1232 – 1315/16). Im 24. Kapitel seines
 Nun erhalten A und C die meisten Stim-        berühmten Werkes Blanquerna (1283),            Der Streit, der zwischen Jean-Charles Che-
 men im ersten Wahlgang (8 Stimmen             nach allgemeiner Auffassung der erste          valier de Borda (1733 – 1799),
 für A und 5 Stimmen für C), die Stichwahl     Roman der europäischen Literaturge-            Mathematiker, Ingenieur, Seefahrer und
 gewinnt aber C mit 9 zu 8 Stimmen.            schichte, beschreibt Lullus, auf welche        Mitglied der französischen Akademie

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der Wissenschaften, und dem Marquis de          Kandidat A ist mit 4 Stimmen der Gewin-
                                                                                               3             2             Borda
Condorcet (1743 – 1794), Philosoph,             ner bei einfacher Mehrheitswahl, wird
                                                                                               Wähler        Wähler        Punkte
Mathematiker, Revolutionär und ebenfalls        aber von einer absoluten Mehrheit als
Mitglied der Akademie der Wissenschaften,       schlechtester Kandidat eingeschätzt (anders    A             B             3
mehr als dreihundert Jahre später stattfand,    als in Beispiel 1 oben). Vergibt man den       B             C             2
gehört zu den intellektuellen                   drei Kandidaten Punkte nach Bordas Me-
                                                                                               C             A             1
Sternstunden der modernen Wissenschaft.         thode, so gehen 4*3+3*1+2*1= 17 Punkte
Es ging dabei um die Aufnahme                   an Kandidat A, 4*2+3*3+2*2=21 Punk-
neuer Mitglieder in die Akademie, die bis       te an Kandidat B und 4*1+3*2+2*3=16           Kandidat B ist der Borda Gewinner (mit
dahin die einfache Mehrheitswahlregel           Punkte an C. In diesem Fall ist also B der    32+23 Punkten), aber der Condorcet
benutzte. Borda schlug dabei ein spezielles     sogenannte “Borda Gewinner.”                  Gewinner ist A. Insbesondere würde also
Punkteverfahren, die sogenannte                                                               bei einer paarweisen Mehrheitsabstimmung
“Borda Regel” vor. Bei einem Punktever-                                                       der Borda Gewinner B gegen Kandidat A
fahren bringt jeder Wähler                                                                    verlieren, was im Übrigen genau
die Kandidaten in eine Rangfolge. Die je-                                                     Condorcets Argument gegen die Borda Re-
weils besten Kandidaten erhalten eine                                                         gel war.
feste Punktezahl, die jeweils zweitbesten                                                     Ein weiteres Argument, das gegen die Wahl
eine geringere Punktezahl usw. Sieger ist                                                     von B in diesem Beispiel spricht,
der Kandidat, der die höchste Summe er-                                                       lässt sich aus der folgenden Beobachtung
hält, wobei über die entsprechenden                                                           ableiten. Alle Wähler sind sich einig,
Punktezahlen aller Wähler addiert wird.                                                       dass Kandidat C von Kandidat B dominiert
Ein solches Verfahren wird z.B. beim                                                          wird. Die entscheidende Frage
Eurovision Song Contest verwendet. Die                                                        lautet also “A oder B?” während C für den
                                                 Figur 4: Jean-Charles Chevalier de Borda
Borda Regel entspricht einer äquidistanten                                                    Ausgang der Wahl keine Rolle
Verteilung der Punkte, also bei m Kandida-      Das Borda Verfahren erfüllt die Bedingung     spielt. Streicht man nun Kandidat C in al-
ten z.B. m Punkte für die                       der Positive Responsiveness, d.h. rückt der   len Rangfolgen ergibt sich die folgende
jeweils Erstplatzierten, m - 1 Punkte für die   Borda Gewinner in der Rangfolge eines         Situation:
jeweils Zweitplatzierten, usw., und             Wählers um einen Platz
schließlich 1 Punkt für die jeweils Letzt-      nach vorne (bei ansonsten unveränderten
                                                                                               3             2             Borda
platzierten.                                    Rangfolgen), so bleibt dieser Kandidat
                                                                                               Wähler        Wähler        Punkte
Das folgende Beispiel erläutert Borda’s Mo-     der Borda Gewinner. Außerdem wählt das
tivation für sein Verfahren.                    Borda Verfahren in Beispiel 3 auch den         A             B             2
                                                Condorcet Gewinner. Wie man anhand             B             A             1
Beispiel 3
                                                von Beispiel 1 allerdings leicht sehen
     Es gäbe 9 Wähler mit folgenden Rang-       kann, wählt die Borda Regel keineswegs
folgen zwischen den drei Kandidaten A,          immer den Condorcet Gewinner; in der               Nun ist A sowohl der Borda als auch
B und C.                                        Tat ist dort der Borda Gewinner der “Kom-     der Condorcet Gewinner. Mit anderen
                                                promisskandidat” B. Betrachten wir dazu            Worten, die Tatsache, dass B der Borda
 4            3             2         Borda     die folgende Variante von Beispiel 1.         Gewinner in der ursprünglichen Situation
 Wähler       Wähler        Wähler    Punkte                                                       ist, hängt entscheidend vom Vorhan-
                                                Beispiel 4
 A            B             C         3                                                       densein des Kandidaten C ab, der aber
 B            C             B         2              Es gäbe 5 Wähler mit folgenden Rang-          für den Ausgang der Wahl keine Rolle
 C            A             A         1         folgen zwischen den drei Kandidaten A, B      spielen sollte.
                                                und C.

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                                              zaggregationsregeln” bezeichnen, die nicht       den letzten Platz abgerutscht ist). Dies ist
                                              nur jeweils einen kollektiven Gewinner,          eine Verletzung von IIA; insbesondere zeigt
                                              sondern eine ganze kollektive Rangfolge          das Beispiel also, dass die Borda Aggregati-
                                              bestimmen.8 Arrow formuliert nun einige          onsregel diese Bedingung verletzt.
                                              plausible Mindestanforderungen an solche         Die letzte von Arrow’s Forderungen ist un-
                                              Präferenzaggregationsregeln und zeigt, dass      umstritten: es darf nicht sein, dass
                                              diese nicht miteinander vereinbar sind.          die kollektive Rangfolge in jeder möglichen
                                              Die erste Forderung lautet, dass die Aggre-      Situation mit der Rangfolge eines festen
                                              gationsregel in jeder denkbaren Situation,       Wählers übereinstimmt (“No Dictator-
                                              d.h. für jede mögliche Verteilung individu-      ship”). Man beachte, dass diese Forderung
                                              eller Rangfolgen, anwendbar sein soll (“Un-      durchaus damit verträglich ist, dass die kol-
                                              restricted Domain”, im folgenden UD).            lektive Rangfolge immer
                                              Die zweite Forderung ist, dass ein Kandidat      mit der individuellen Rangfolge eines Wäh-
                                              einem anderen Kandidaten in der kollek-          lers übereinstimmt, es darf nur nicht immer
          Figur 5: Marquis de Condorcet
                                              tiven Rangfolge vorgezogen werden muss,          derselbe Wähler sein.
                                              falls dies in allen individuellen Rangfolgen
 Die Kontroverse zwischen dem Chevalier       gilt (“Weak Pareto Principle”, im folgenden      Arrows Unmöglichkeitstheorem: Falls es
 de Borda und dem Marquis de                  WP).                                             mehr als zwei Kandidaten gibt, so
 Condorcet wurde zwar bald vergessen,         Die dritte Forderung ist die berühmte “In-       ist jede Präferenzaggregationsregel, die UD,
 spielt aber in der gegenwärtigen wissen-     dependence of Irrelevant Alternatives”           WP und IIA erfüllt, diktatorisch in dem
 schaftlichen Diskussion immer noch eine      (im folgenden IIA) Bedingung: die Anord-         Sinne, dass die kollektive Rangfolge immer
 wichtige Rolle.                              nung zweier Kandidaten in der                    mit der individuellen Rangfolge eines fes-
                                              kollektiven Rangfolge darf nur von der An-       ten Wählers übereinstimmt. Insbesondere
                                              ordnung dieser beiden Kandidaten in den          gibt es also im Fall von drei oder mehr Kan-
 3 Es gibt kein Wahlverfahren
                                              individuellen Rangordnungen abhängen.            didaten keine Präferenzaggregationsregel,
 ohne Nachteile:                              Um diese Bedingung zu verstehen, können          die alle vier obigen Forderungen erfüllt.
 Das Unmöglichkeitsresultat von               wir wieder Beispiel 4 betrachten. Das Bei-
 Arrow                                        spiel zeigt nämlich, dass die Borda Regel die
                                              Bedingung der Independence of Irrelevant
      Es dauerte etwa weitere 100 Jahre bis   Alternatives verletzt.9 Wie bereits bemerkt,
 der Mathematiker E. J. Nanson im Jahre       ist Kandidat B der Borda Gewinner in
 1883 eine erste systematische Untersu-       der ursprünglichen Situation, in der drei
 chung verschiedener Wahlverfahren ver-       Wähler die Rangfolge A> B >C und zwei
 öffentlichte (und seine eigene, heute nach   Wähler die Rangfolge B > C > A besitzen.
 ihm benannte Methode entwickelte).7          Insbesondere liegt also Kandidat B in der
 Eine entscheidende Wende nahm die Soci-      Borda Rangfolge vor Kandidat A. Nehmen
 al Choice Theorie aber im Jahre 1951 mit     wir nun an, die beiden Wähler mit der
 der Veröffentlichung von Kenneth Arrows      Rangfolge B > C > A ändern ihre Meinung
                                                                                                      Figur 6: Kenneth J. Arrow
 “Social Choice and Individual Values”. In    zur neuen Rangfolge B > A > C.
 seinem Buch, das aus seiner Dissertation     Dann wird A der Borda Gewinner und steht
 erwuchs, beweist Arrow sein berühmtes        nun in der kollektiven Borda Rangfolge           Es gibt verschiedene mögliche Lesarten die-
 Unmöglichkeitstheorem (eine Lücke im         vor B, obwohl sich die relative Anordnung        ses fundamentalen Resultats. Eine ist die
 ursprünglichen Beweis berichtigte Arrow      zwischen A und B in keiner individuellen         folgende: Wenn es kein universell akzepta-
 in der zweiten Auflage 1963). Arrow be-      Rangfolge geändert hat (was sich geändert        bles Wahl- bzw. Aggregationsverfahren
 trachtet verallgemeinerte Wahlverfahren,     hat, ist ja nur, dass der “irrelevante” Kandi-   gibt, dann wird eine kollektive Entschei-
 im Folgenden werden wir sie als “Präferen-   dat C in zwei Rangfolgen vom zweiten auf         dung nicht nur von den individuellen

14                                                                                                             Karlsruher Transfer / November 2014
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Rangfolgen der Wähler sondern immer               chen kann. Nehmen wir wieder wie dort         folgen und ein Wähler derart, dass dieser
auch vom gewähltenWahlverfahren abhän-            an, drei Wähler besitzen die Rangfolge A >    Wähler durch nicht-wahrheitsgemäße
gen. Diese Interpretation gibt zum Beispiel       B > C und zwei Wähler die Rangfolge B >       Angabe der Rangfolge einen für ihn güns-
Wolfgang Leininger in seinem Artikel “The         C > A. Der Borda Gewinner ist nach wie        tigeren Wahlausgang erzeugen kann. Die
Fatal Vote: Berlin versus Bonn”, in dem er        vor Kandidat B, d.h. die drei Wähler mit      Konsequenz des Gibbard-Satterthwaite
die historische Abstimmung im Deutschen           der Rangfolge A > B > C erhalten bei wahr-    Theorems ist, dass Wahlen im
Bundestag zur Hauptstadtfrage nach der            heitsgemäßer Angabe der Rangfolgen ihren      allgemeinen als interaktive, strategische
Wiedervereinigung analysiert. Er kommt            jeweils zweitliebsten Kandidaten. Wenn        Entscheidungssituationen aufgefasst wer-
dabei zu dem Schluss, dass man – bei un-          diese drei Wähler nun aber wissen, dass       den müssen, d.h. als strategische Spiele.
veränderten Rangfolgen der Bundestagsab-          die Borda Regel zur Anwendung kommt,          Und zwar als recht komplexe: denn wenn
geordneten – zu einem anderen Ergebnis            haben sie einen Anreiz, statt der wahren      manche Wähler (manchmal) einen Anreiz
gekommen wäre (nämlich Bonn als Haupt-            Rangfolge jeweils die Rangfolge A > C > B     zur strategischen Stimmabgabe haben,
stadt des wiedervereinigten Deutschlands),        anzugeben (also Kandidat B auf den letzten    falls die anderen Wähler wahrheitsgemäß
wenn ein anderes Wahlverfahren benutzt            Platz zu verweisen), denn dann lautet der     abstimmen, wie sollen sie sicher sein, dass
worden wäre.                                      Borda Gewinner A, der Lieblingskandidat       jene nicht auch einen Anreiz haben, stra-
                                                  dieser drei Wähler.                           tegisch zu wählen? Und die Angabe wel-
                                                  Diesen durchaus gravierenden Nachteil         cher Rangfolge ist dann optimal? Welche
4 Jedes Wahlverfahren ist                         der Borda Regel hat der Chevalier übrigens    gemeinsamen Angaben führen zu “gleich-
manipulierbar:                                    selbst gekannt und dazu bemerkt:              gewichtigen” Zuständen, in denen keiner
Das Gibbard-Satterthwaite                         “Meine Methode ist nur für ehrliche Men-      einen weiteren Anreiz hat, sich abweichend
Theorem                                           schen bestimmt”. Aber gibt es nicht-dikta-    zu verhalten?
                                                  torischeWahlverfahren, die immun gegen-       Und wie verhalten sich wirkliche Wähler in
     Sollten wir unter diesen Umständen           über solcher strategischer Manipulation       realen Entscheidungssituationen? Nun sind
nicht einfach auf die problematischste der        sind? Der geneigte Leser wird es an dieser    wir mitten in der Spieltheorie, dem
Forderungen von Arrow, Bedingung IIA,             Stelle sicher schon ahnen: Nein, solche       Mechanism Design und der Verhaltensöko-
verzichten und z.B. Bordas Regel benutzen         Wahlverfahren gibt es nicht! Dies ist der     nomie angekommen. Das sind auch
(die ja die anderen Forderungen von Ar-           Inhalt des folgenden berühmten Theorems,      sehr spannende Themen, aber für ein ande-
rows Theorem erfüllt)?                            das unabhängig voneinander von dem            res Mal.
Ein gewichtiger Einwand gegen die Bor-            Mathematiker und Philosophen Alan
da Regel ist, dass sie manipulierbar ist in       Gibbard und dem Ökonomen Mark Sat-
dem Sinne, dass es manchmal von Vorteil           terthwaite bewiesen wurde.
sein kann, die individuelle Rangfolge nicht
wahrheitsgemäß sondern “strategisch”              Gibbard-Satterthwaite Theorem: Falls es
anzugeben. Dies hängt eng mit der Ver-            mehr als zwei Kandidaten gibt,
letzung von IIA zusammen, wie man sich            so existiert für jedes nicht-diktatorische-
wiederum anhand des Beispiels 4 klarma-           Wahlverfahren eine Verteilung von Rang-

                                                                    PROFESSOR CLEMENS PUPPE
                             studierte Mathematik und Philosophie in Heidelberg und Berlin. Seine Promoti-
                              on absolvierte er an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität
                               Karlsruhe. Nach einem Forschungsaufenthalt als Post-Doctoral Fellow an der
                                Harvard University habilitierte er sich im Jahre 1997 an der Universität Wien.
                                  Im selben Jahr erhielt er einen Ruf als C3-Professor an die Universität Bonn.
                              Seit 2003 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftstheorie an der Universität
                                                                                                     Karlsruhe.

Karlsruher Transfer / November 2014                                                                                                      15
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                   Politik und Macht – Eine
                    gefährliche Verbindung?
                      Winston Churchill sagte einmal „Die Demokratie ist die schlechteste aller
              Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit
               ausprobiert worden sind.“ Welche Bedeutung haben diese Worte heute für uns?

                                                                                                                      von Timotheus Stark

D
             ie Macher der er-                                                                            chen Floskeln der handelnden
             folgreichen     Web-                                                                         Akteure, deren Antworten mit
             TV-Serie „House of                                                                           ein Lächeln und einem lapidaren
 Cards“ lassen Politik im Lichte                                                                          „Glauben Sie mir“.
 des Churchill-Zitats erscheinen.
 In düsterer Atmosphäre verfolgt                                                                          Doch wirklich substantielle Kri-
 der Zuschauer wie Kevin Spacey,                                                                          tik am etablierten Politikbetrieb
 in der Hauptrolle des machia-                                                                            geht über das übliche Politiker-
 vellistischen Demokraten Frank                                                                           „Bashing“ hinaus. Bereits 1962
 Underwood, seinen intriganten                                                                            begründete der spätere Wirt-
 Weg vom „Majority Whip“ bis                                                                              schaftsnobelpreisträger     James
 zum Präsidentenamt der USA                                                                               Buchanan zusammen mit Gor-
 geht. Skrupellos tut er alles um                                                                         don Tullock die Public-Choice-
 seine Position zu verbessern.                                                                            Schule mit der Veröffentlichung
 So manipuliert er Gegner und                                                                             des Buches „The Calculus of
 Kollegen oder tauscht frühere                                                                            Consent“. Damit begann ein
 Gefallen gegen Gefolgschaft ein.                                                                         Umdenken bei der Betrach-
 Vertrauen wird ersetzt durch                                                                             tung der Politik. Berühmt ist
 Druckmittel in der Hinterhand.                                                                           Buchanans Umschreibung des
 Im weiteren Verlauf erklärt er                                                                           Forschungsfeldes als „politics wi-
 zum Amtsantritt als Vizepräsi-                                                                           thout romance“. Da er im letz-
 dent süffisant „Demokratie ist                                                                           ten Jahr im Alter von 93 Jahren
 sowas von überschätzt“, weil er                                                                          verstarb, werden wir nie erfah-
 es schließlich ohne eine einzige Stimme ge-   die Serie die Realität in Washington zu 99      ren, was er von der Serie „House of Cards“
 schafft hat, nur einen „Herzschlag entfernt   Prozent abbilde. Das ist sicherlich etwas       gehalten hätte.
 vom Präsidentenamt“ anzukommen.               übertrieben, doch Spacey konnte sich den
                                               Politikbetrieb in den USA ansehen. Sein         Politik ohne Romantik. In den Wirt-
 Der Hauptdarsteller zu den Hintergrün-        Fazit: Politiker beneide er nicht. Aus diesem   schaftswissenschaften bedeutet dies, die
 den: Abgeordnete hätten ihm erzählt, dass     Alltag übernahm er für die Serie die übli-      handelnden Personen als rationale Men-

16                                                                                                             Karlsruher Transfer / November 2014
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schen wahrzunehmen. Diese haben ihr ei-        Wunsch nach Interessenvertretung wieder-        man sich auch den mit Abstand häufigsten
genes Interesse im Blick: Sie wollen nicht     geben. Für den Durchschnittswähler spie-        Beruf der Abgeordneten an, so passt der
nur Geld, sondern auch Macht, Ansehen          len also Erwägungen wie „Was ist gut für        Jurist vermeintlich gut in das Schema. Er
und Wiederwahl. Das Bild vom gütigen           mein Land?“ durchaus eine Rolle und der         ist dazu trainiert, für Fälle unabhängig von
und wohlmeinenden Politiker wird von           Einfluss des Einkommens wird weit über-         seinen eigenen Ansichten „aufrichtig“ und
der Public-Choice-Schule hinterfragt, das      schätzt.                                        überzeugend einzutreten und erfüllt damit
Geschehen mit Modellen der Nutzenmaxi-                                                         perfekte Voraussetzungen für die Politik in
mierung analysiert und die Auswirkungen        Statistiken in den USA haben zudem ge-          Partei und Parlament.
auf das politische System betrachtet. Was      zeigt, dass die Wahlentscheidungen von
bedeutet das für die Demokratie?               Ökonomen und Nicht-Ökonomen zu                  Doch was wäre, wenn eine Wahl am Ende
Die Basis der Demokratie besteht aus den       verschiedenen Themen weit auseinander           doch eine perfekte Interessenvertretung
Wählern. Wie trifft er seine Wahlentschei-     gehen, solange der Wähler uninformiert          hervorbrächte? Wären die Probleme gelöst?
dungen und wie nimmt er Einfluss auf das       ist. Informiert er sich unabhängig von sei-     Mitnichten.
politische Geschehen?                          ner sozialen Schicht und seinem Alter sind
                                               seine Wahlentscheidungen meist nah an           Buchanan zeigt uns, dass wir uns von der
                                               denen der Ökonomen. Was bedeutet das            These verabschieden müssen, dass Politiker
    Das Bild vom gütigen und                   für die Politik und die Parteien, wenn der      wohlwollend seien. Etwas, das vielen nicht
     wohlmeinenden Politiker                   schlecht informierte Durchschnittswähler        gefällt, ist insbesondere bei Politikern om-
                                               zur Wahl geht? Dieser Wähler entschei-          nipräsent: Die eigene Nutzenmaximierung.
    wird von der Public-Choice-
                                               det nach Bauchgefühl und somit meist in         Und selbst wenn wir vom Wohlwollen der
        Schule hinterfragt.
                                               Übereinstimmung mit einem aktuellen             Politiker ausgingen, müssten wir uns den-
                                               Stimmungstrend. Dies sind unter anderem         noch von der Vorstellung der Politiker als
Die Public-Choice-Ökonomen gehen da-           Vorurteile gegen Ausländer, eine pessimis-      platonische „Philosophenkönige“ verab-
von aus, dass Menschen – in ihrem Sinne        tische Sicht auf die Zukunft, Angst vor der     schieden. Platon ging davon aus, dass Phi-
– rational handeln. Sei es, um ihren Nutzen    Entwicklung des Arbeitsmarktes und Be-          losophen an der Macht die Gesellschaft in
zu maximieren, oder nach einem altruisti-      fürchtungen über die Allmacht der Märkte        die richtige Richtung lenken könnten. Wir
schen Ideal anderen Menschen zu helfen.        und Unternehmen.                                sollten uns aber davor hüten, die Fehlbar-
Doch was passiert an der Wahlurne tatsäch-                                                     keit von Politikern zu unter- und ihre In-
lich?                                          Politiker sind sich dieser Neigungen wohl       telligenz zu überschätzen. Schaut man sich
                                               bewusst und gehen gerne darauf ein. Ideo-       die ökonomische Bildung der Politiker an,
Der Ökonom Bryan Caplan stellt in seinem       logien, starke Persönlichkeiten und Grup-       so kann man nicht davon ausgehen, dass
Buch „The Myth of the Rational Voter“ die      penzwänge können die Wähler stark beein-        sie sich großartig vom Durchschnitt un-
These auf, dass Wähler rational irrational     flussen. Angela Merkel hat beispielsweise als   terscheiden. Zudem mangelt es den staat-
handeln.                                       „vertrauenserweckende Mutti“ beeindru-          lichen Institutionen erheblich an Informa-
                                               ckenden Erfolg, wobei kaum einer weiß,          tionen, die in ihrer Dezentralität nur am
Für den Wähler sind die Kosten einer           wofür sie eigentlich politisch steht. Schaut    Markt bestmöglich gesammelt werden kön-
Wahlentscheidung verschwindend gering
und eine Haftung für daraus resultierende
Wahlergebnisse gibt es nicht. Da der direk-                                         TIMOTHEUS STA R K
te Einfluss des Wählers auf das Wahlergeb-                      studiert am Karlsruher Institut für Technologie
nis ebenfalls verschwindend gering ist und                                  Technische Volkswirtschaftslehre.
gleichzeitig der Preis für Altruismus an der
                                                           Er ist Local Coordinator der European Students for
Wahlurne gegen null geht, entscheidet am
                                                                    Liberty und hat den Hayek-Club Karlsruhe
Ende meist das Bauchgefühl. Im Ergebnis                                                           gegründet.
sagen Wahlen so mehr über Stimmun-
gen aus als dass hier Wählerstimmen den

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 nen. Individuelle Präferenzen und Qualitä-       ohne Einmischung der höheren Ebene wür-        Rechts gleichen, was auch durch vermehrt
 ten sind und bleiben privates Wissen, auf        den die Haushaltsdisziplin fördern und die     vorgeschriebene, qualifizierte Mehrheiten
 das kein staatlicher Zentralplaner Zugriff       Einbeziehung der Wähler stärken. Zudem         gestützt werden könnte. Durchaus zielfüh-
 hat. Schaut man sich beispielsweise die Ab-      kann der Wettbewerb von Ländern und            rend ist auch ein Verbot von öffentlichen
 wrackprämie an, kann man erkennen, dass          Kommunen dazu führen, dass Willkür re-         Schulden bzw. Schuldenbremsen.
 Wunsch und Wirklichkeit einer staatlichen        duziert und Wohlstand gefördert wird, weil
 Handlung weit auseinander liegen. Gekauft        Bürger nun mehr Wahlfreiheit in Bezug auf      Mehr denn je sind aber auch privates Enga-
 wurden nämlich meist Autos aus Asien.            ihre Regierung bzw. Mandatsträger haben.       gement und Unternehmergeist gefragt. In
                                                                                                 Deutschland gibt es beispielsweise Solidar-
 Gingen wir nun trotzdem vom Wohlwol-                                                            gemeinschaften zur Krankenvorsorge, die
 len und Allwissen der Politiker aus, so stellt                                                  sowohl günstiger sind als die Krankenkas-
 sich die Frage, ob die Instrumente des Staa-
                                                        „Macht hat die Tendenz                   sen, als auch mehr und bessere Leistungen
 tes überhaupt in der Lage sind, die hehren            zu korrumpieren, absolute                 anbieten. Einkommen und Krankenvorge-
 Ziele der Politiker durchzusetzen. Hier tref-        Macht korrumpiert absolut!“                schichte spielen keine Rolle. Durch freiwil-
 fen wir auf eine Vielzahl von Problemen,                                    Lord Acton          liges Engagement ist so eine effiziente und
 die das staatliche Handeln stark behindern.                                                     patientennahe Alternative zu den Kranken-
 Das fängt an bei der Tatsache, dass Politiker                                                   kassen entstanden, die leider um politische
 Aufgaben delegieren müssen – hinein in die                                                      Anerkennung kämpfen muss.
 vielen Ebenen staatlicher Bürokratie. Stets      Ebenfalls können direktdemokratische Ele-
 gibt es eine Menge Spielraum und dieser          mente vor allem auf der kleineren Ebene        Demokratie unterscheidet uns heute von
 wächst von Ebene zu Ebene. Auch hier tritt       eine disziplinierende Wirkung haben. Per-      den unfreien Gesellschaften in unserer
 der Eigennutz zu Tage: Die Abteilungen           fekte Wahlentscheidungen sind zwar auch        Welt. Wir sollten froh sein, dass wir den
 möchten möglichst viel Geld und Zustän-          hier nicht zu erwarten, jedoch zwingt die      Weg von der Diktatur zu einer Demokratie
 digkeiten an sich reißen. Lobbyisten kön-        direkte Demokratie den Bürger sich mehr        mit Rechtsstaat und freier Meinungsäuße-
 nen hier Gesetze und Subventionen ohne           zu informieren und den Diskussionen zu         rung geschafft haben. Jedoch sollten wir
 großes Aufsehen beeinflussen, gerade wenn        folgen. Je kleiner die Ebene, desto stärker    uns davor hüten, inhärente Probleme der
 es sich um „kleine“ Änderungen und Geld-         kann man der Irrationalität des Wählers        Demokratie zu ignorieren. Staatliches Han-
 beträge handelt, die in den Medien kaum          durch institutionelle Kongruenz entgegen-      deln erscheint deshalb nötig, weil es auch
 thematisiert werden. Außerdem sind staat-        wirken. Das bedeutet, dass Nutznießer,         scheinbares Marktversagen gibt, welches
 liche Institutionen und ihre Bürokratien im      Entscheidungsträger und Steuerzahler eine      uns nicht gefällt. Jedoch verlieren wir bei
 Vergleich zu Unternehmen am Markt träge          stärkere Einheit bilden. Das Konzept der       Marktversagen „Staatsversagen“ aus dem
 und beratungsresistent. Der Wettbewerb           Haftung wird hierdurch bei der Stimmen-        Blickwinkel und schaffen hierbei Proble-
 fehlt hier meist völlig und die Anreize zur      abgabe gestärkt und die Erfahrungen in der     me und Kosten, welche das Marktversagen
 Verbesserung sind niedrig.                       Schweiz zeigen, dass überproportional die-     meist deutlich übertreffen. Reden wir von
                                                  jenigen zur Wahl gehen, die sich informiert    einer „Macht der Märkte“ oder einzelner
 Wie lassen sich diese Probleme vermeiden?        haben oder die von dem Gesetz betroffen        Unternehmen, so wollen wir dieser gerne
 Gibt es sinnvolle Instrumente, um staatli-       sind.                                          mit dem Staat begegnen. Doch wirtschaft-
 che Willkür zu reduzieren und das Eigen-                                                        liche und staatliche Macht unterscheiden
 interesse der Politiker auf die Interessenver-   Eine starke Rolle könnten auch Verfassungs-    sich gewaltig. Wirtschaftliche Macht wird
 tretung zu lenken? Im Kontrast zur weiter        regeln spielen, die den Handlungsraum der      durch den Wettbewerb attackiert, staatli-
 voranschreitenden Harmonisierung Euro-           Politiker einen klar begrenzen. Dazu gehö-     che Macht ist absolut und erlaubt keinen
 pas sollten Subsidiarität und Systemwett-        ren beispielsweise das Verbot für staatliche   Wettbewerb. Der große Historiker Lord
 bewerb gestärkt werden. Steuer- und Haus-        Stellen diskriminierende Zwangsmaßnah-         Acton ergänzte diese Erkenntnis mit deut-
 haltskompetenzen müssen auf die kleinen          men zu ergreifen, sei es aufgrund von Ver-     lichen Worten: „Macht hat die Tendenz zu
 Ebenen klar verteilt werden. Klare Zustän-       mögen, Einkommen oder Herkunft. Die            korrumpieren, absolute Macht korrumpiert
 digkeiten für die Länder und Kommunen            Politik würde so mehr einer Herrschaft des     absolut!“

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M A NIPUL ATION V ER FÜHRU NG

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Karlsruher Transfer / November 2014                                        Wir freuen uns auf Euch!                                                                            19
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