Schwarz-weiß wird bunt - 70 Jahre NRW 1946 -2016 - Land NRW
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Inhalt Seite Grußwort der Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen, Hannelore Kraft 4 Grußwort des Oberbürgermeisters der Landeshauptstadt Düsseldorf, Thomas Geisel 6 Grußwort des Präsidenten des Landesarchivs NRW, Dr. Frank M. Bischoff 7 Einleitung 8 NRW-Staatlichkeit 10 Arbeitswelten 38 Bildung 18 Sport 42 Freizeit Mobilität 22 Konsum 46 Verkehr Toursimus Energie 26 Schwieriges Erbe 52 Migration 30 Städte in NRW 56 Kultur 34 Landeshauptstadt 60 Brauchtum Düsseldorf Literatur und Bildnachweis 64 Impressum 66
Stadttor Düsseldorf (2015) Sitz der Staatskanzlei und erste Station der Ausstellung 5 Foto: Klein und Neumann Grußwort der Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen Wer sich heute Filmaufnahmen oder Fotos aus der Grün- dungszeit unseres Landes ansieht, könnte meinen, die Welt sei damals schwarz-weiß gewesen. Das ist natürlich nicht so, aber ein bisschen Wahrheit ist doch daran. Denn tat- sächlich war der Alltag der allermeisten Menschen so kurz nach Kriegsende und Nazi-Barbarei düster und grau. Zu Das Landeskabinett von Nordrhein-Westfalen 2016 den täglichen Sorgen um Nahrung, Kleidung und Wohnung Wie das neue Land „bunt“ wurde, zeigt diese Ausstellung Um an all das erinnern und all das zu würdigen, was unser Foto: Land NRW, R. Sondermann kam die Angst vor einer ungewissen Zukunft, ja vor der „Ra- – in schwarz-weiß und in kräftigen Farben. Sie passen zu un- Land so besonders macht, braucht man ein gutes Gedächt- V.l.n.r.: Johannes Remmel, Rainer Schmeltzer, Franz-Josef Lersch-Mense, Svenja Schulze, che“ der Siegermächte für Weltkrieg und Holocaust. Doch serem Land, das über die Jahre trotz – oder wegen? – seiner nis. Das Gedächtnis unseres Landes ist sein Archiv. Den Garrelt Duin, Barbara Steffens, Hannelore Kraft, dann bekam der westliche Teil Deutschlands die Chance Vielfalt zu einer Einheit zusammengewachsen ist. „Wir in Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unseres Landesarchivs Thomas Kutschaty, Svenja Löhrmann, Dr. Norbert Walter-Borjans, Michael Groschek, auf einen Neubeginn: eine parlamentarische Demokratie Nordrhein-Westfalen“ sagen seine Bürgerinnen und Bür- und des Stadtarchivs Düsseldorf danke ich dafür, dass sie Christina Kampmann, Horst Becker, Ralf Jäger in einem freiheitlichen Rechtsstaat und die Aufnahme in ger heute mit großem Stolz. Dieses Bekenntnis sagt alles diese Ausstellung zum Geburtstag unseres Landes möglich die europäische Staatengemeinschaft. Früh wurden neue über das angebliche „Bindestrich-Land“, dessen Menschen gemacht haben. Ihren Besucherinnen und Besuchern wün- Länder gegründet, die Bundesrepublik Deutschland nahm über sieben Jahrzehnte hinweg gemeinsam viele Heraus sche ich eine spannende Zeitreise. Gestalt an. Nordrhein-Westfalen bekam sogar den Segen forderungen und einige Krisen bewältigt haben, die Mut der britischen Krone, denn es entstand durch die legendä- zu Neuem gezeigt, Großes geleistet und manchmal wah- re „Operation Marriage“, die – wenig romantisch – per Ver- re Wunder vollbracht haben. Nordrhein-Westfalen steht ordnung der britischen Besatzungsmacht vom 23. August längst für wirtschaftliche Stärke, sozialen Zusammenhalt Hannelore Kraft 1946 das Rheinland und Westfalen zusammenbrachte. Nur und kulturelle Vielfalt. Wir sind stolz auf unsere Geschichte fünf Monate später kam Lippe dazu. Erst jetzt war Nord- und auf unsere Traditionen. Wir erhalten Bewährtes und ge- rhein-Westfalen komplett. stalten Neues. Wir sind Nordrhein-Westfalen.
Blick auf den Düsseldorfer Neubau des Landesarchivs Marktplatz mit dem NRW im Duisburger Alten Rathaus (1570-1573) Innenhafen (2015) 7 und dem Jan Wellem Foto: Klein und Neumann Reiterstandbild (1711) Foto: Landeshauptstadt Düsseldorf Grußwort des Oberbürgermeisters Grußwort des Präsidenten der Landeshauptstadt Düsseldorf hierfür die wichtigsten Beispiele. Der Bau des Landtags im des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen Die vielfältigen Aspekte der Geschichte des Landes und die Mit der Gründung des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen Berger Hafen wirkte sich ebenfalls positiv auf die Stadt aus, Das Land Nordrhein-Westfalen wurde 1946 durch die Ver- Fülle der Bildzeugnisse dazu konnten auf den Ausstellungs- wurde Düsseldorf Landeshauptstadt. Diese Würde war der denn dadurch kam die Idee des Rheinufertunnels ins Spiel, ordnung Nr. 46 der britischen Militärregierung gegründet. tafeln nicht den nötigen Raum finden. Deshalb werden die Stadt nicht in den Schoß gefallen, sie hatte sich nachweislich jenes Bauwerks, das die Düsseldorfer Rheinfront wieder Seine 70-jährige Geschichte steht im Fokus der Ausstellung, Möglichkeiten der digitalen Technik zur Erweiterung der um diese Aufgabe bemüht. Dies ist umso bemerkenswerter, erlebbar machte – für alle Bürgerinnen und Bürger, und zu- die das Landesarchiv in Kooperation mit dem Stadtarchiv Ausstellung gleich in zweifacher Hinsicht genutzt. Auf dem als doch die meisten stark zerstörten Städte an Rhein und gleich für die zahlreichen Gäste. Düsseldorf und der Staatskanzlei erarbeitet hat. in die Ausstellung integrierten Display werden weitere Bild- Ruhr so kurz nach dem Krieg andere Sorgen hatten. Aber Das Ende der Geschichte ist noch lange nicht erreicht, und Was in der schwierigen, an Not und Entbehrung reichen dokumente zu den Themenschwerpunkten gezeigt. Parallel die städtischen Entscheidungsträger erkannten die große es gibt immer neue Herausforderungen und Chancen – so Nachkriegszeit ‘schwarz-weiß‘ begann, entwickelte sich werden Präsentationsmöglichkeiten des Internet genutzt, Chance einer solchen Funktion, stellte sie doch einen Pres- etwa die nach wie vor nicht gänzlich realisierte Idee eines zum bunten und bevölkerungsreichsten deutschen Bun- in die zusätzliche Quellen eingebunden sind. Auf diese Wei- tigegewinn dar, der für den zügigen Wiederaufbau nutzbar „Regierungsviertels der kurzen Wege“. desland. Aus der Vielzahl wichtiger Ereignisse der letzten se ist die Ausstellung selbst ein Beispiel für die multimedia- gemacht werden konnte. Düsseldorf wird weiterhin ein verlässlicher Partner des Lan- 70 Jahre werden in der Ausstellung herausragende oder ex- le Vielfalt und den digitalen Wandel in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf war und ist gerne ein weltoffener Repräsentant des bleiben und seiner Verantwortung als starke Stimme im emplarische Beispiele herausgegriffen und grundlegende Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Landesarchivs, des Landes. Hier finden sich 46 konsularische Vertretungen; Chor der nordrhein-westfälischen Städte gerecht werden. Entwicklungen nachgezeichnet. des Stadtarchivs Düsseldorf und der Staatskanzlei, die am die Vielfalt Nordrhein-Westfalens spiegelt sich nicht zuletzt Wir freuen uns auf (mindestens) 70 weitere Jahre als Lan- Es versteht sich von selbst, dass der erste Ort, an dem die Gelingen der Ausstellung mitgewirkt haben, möchte ich in den rund 180 Nationalitäten, die in dieser Stadt friedlich deshauptstadt, und ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei Ausstellung präsentiert wird, die Landeshauptstadt Düssel- meinen herzlichen Dank für die geleistete Arbeit und die zusammenleben. der Lektüre dieser Publikation, deren Entstehung das Stadt- dorf als politisches Zentrum Nordrhein-Westfalens ist. Da gute Kooperation aussprechen. Allen Besuchern der Aus- Stadt und Land haben es verstanden, die Hauptstadt des archiv Düsseldorf tatkräftig unterstützt hat. aber Nordrhein-Westfalen als eines der großen Flächenlän- stellung, real an den verschiedenen Ausstellungsorten oder geschichtsträchtigen und gleichzeitig relativ jungen Bun- der der Bundesrepublik von Bonn bis Rheine und von Kleve virtuell im Internet, wünsche ich interessante Einblicke in deslandes zu einem sehenswerten Schaufenster Nord- bis Höxter reicht, wird die Ausstellung im Laufe des Jubilä- die Geschichte unseres Bundeslandes. rhein-Westfalens zu machen. Die Kunstsammlung NRW mit umsjahres auch an anderen Standorten gezeigt, in jedem den auch architektonisch wertvollen Standorten und das der fünf Regierungsbezirke sowie in der Ständigen Vertre- gemeinsam betriebene Düsseldorfer Schauspielhaus sind Thomas Geisel tung des Landes in Berlin. Dr. Frank M. Bischoff
Die Idee Die historische Entwicklung des Bundeslandes von seiner Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Bildungskrise, Struk- Gründung im Jahr 1946 an bis heute beleuchtet die Ausstel- 8 schwarz-weiß wird bunt – 70 Jahre NRW – 1946–2016 turwandel, Integration, Kultur- und Sportevents – all dies lung in Schlaglichtern. Ein Schlaglicht ist (laut Duden-De- 9 und vieles mehr haben die Bewohnerinnen und Bewohner finition) ein Licht, das einen bestimmten Gegenstand von Nordrhein-Westfalen in den letzten 70 Jahren erlebt, leuchtend aus einer dunkleren Umgebung heraushebt. Im z.T. durchlitten, gemeinsam bewältigt und gefeiert. Dabei übertragenen Sinne bedeutet das, dass wichtige Aspekte gewann das neugegründete Land nach und nach an Kontur der Landesgeschichte aufgegriffen, andere, die bestimmt und konnte eine eigene, vielgestaltige Identität ausbilden. nicht weniger bedeutend oder interessant wären, hier je- Heute steht NRW für eine moderne, vielfältige und toleran- doch nicht oder allenfalls am Rande thematisiert werden. te Gesellschaft, die liebgewonnene Traditionen bewahrt, Die Quellen, die der Ausstellung zugrunde liegen, werden zu aber auch neuen Tendenzen offen gegenübersteht. Aus einem großen Teil im Landesarchiv NRW an den regionalen „schwarz-weiß“ ist „bunt“ geworden! Südtribüne „Die gelbe Wand“ im Signal-Iduna-Park Dortmund (2014) Foto: Klein und Neumann Fußballtrikots auf einer Wäscheleine im Ruhrgebiet (1960-1965) LAV NRW R RWB 4427/17
Standorten Duisburg, Münster und Detmold aufbewahrt und sind auch dort einzusehen. Besonders hervorzuheben ist die Fotosammlung des Landesarchivs, aus der die meis- 11 ten Abbildungen stammen und deren weite Spannbreite und Bedeutung für die Forschung hier deutlich werden; ge- nauso wichtige, themenspezifische Quellen sind im Stadt- archiv Düsseldorf zu finden. Das Anliegen der Ausstellung ist es, einen ersten Einstieg in die Landesgeschichte zu bieten und dazu einzuladen, sich mit dem ein oder anderen Thema vielleicht intensiver zu beschäftigen. Dazu seien allen Interessierten die Literatur- hinweise im Begleitband zur Ausstellung empfohlen, der kostenlos erhältlich ist. Die Ausstellung richtet sich an alle interessierten Bürgerin- nen und Bürger, vor allem auch an Schülerinnen und Schüler, die möglicherweise im Unterricht von verschiedenen The- men bereits gehört haben, neugierig geworden sind und ihr Wissen vertiefen möchten. Für sie steht auf der Homepage des Landesarchivs (www.lav.nrw.de) archivpädagogisches Material in Form von Originalquellen zu verschiedenen As- pekten der Landesgeschichte zum Download zur Verfügung. Nach dem NRW-Tag, an dem die Ausstellung in den Räumen der Staatskanzlei zu sehen ist, wird sie auf „Wanderschaft“ geschickt werden, d.h. in allen fünf Regierungsbezirken des Riesenrad auf der Mendener Landes an mindestens einem zentralen Ort zu sehen sein Pfingstkirmes (2013) Foto: Klein und Neumann und am Ende des Jahres in der Vertretung des Landes NRW in Berlin. Die Stationen werden ebenfalls auf der Home- page des Landesarchivs bekannt gegeben. Neben der phy- sischen wird auch eine Internetpräsentation eingerichtet Die Kooperationspartner (www.google.com/culturalinstitute/collection/landesar- Die Ausstellung wurde unter Federführung des Landesar- chivnrw), so dass möglichst viele Bürgerinnen und Bürger chivs NRW in Kooperation mit dem Stadtarchiv Düsseldorf die Gelegenheit haben, sich über die Landesgeschichte zu und der Staatskanzlei NRW entwickelt und realisiert. informieren. Alle Beteiligten freuen sich auf ein interessiertes Publikum Aufbau des Radioteleskops Effelsberg in der Eifel (1969) In der Ausstellung werden so weit wie möglich die weibli- und stehen für Rückfragen, Erläuterungen und Anregungen LAV NRW R RWB 9485/15, chen und männlichen Personen-, Berufs- und sonstigen Be- gern zur Verfügung. Foto: Landespresse- und Informationsamt NRW zeichnungen verwendet.
Ein Bundesland entsteht mit den Menschen genug Kraft geben, die Städte und Industrien „ … dem inneren und äußeren Frieden zu dienen, Freiheit, Gerech- wieder aufzubauen. Auch deshalb entschloss sich das „Overseas 12 NRW-Staatlichkeit tigkeit und Wohlstand für alle zu schaffen, haben sich die Männer Reconstruction Committee“ im britischen Außenministerium 13 und Frauen des Landes Nordrhein-Westfalen diese Verfassung ge- am 21. Juni 1946 für die Zusammenlegung der Nordrheinprovinz geben:“ So lauten die weiteren Staatszielbestimmungen, wie sie mit der Provinz Westfalen. Operation Marriage war also eine Ver- in einem Volksentscheid am 18. Juni 1950 bejaht wurden und in nunfthochzeit! Ihre Veröffentlichung in der Verordnung Nr. 46 der der Präambel (dem Vorspruch) als „integraler Teil der Verfassung“ britischen Militärregierung am 23. August 1946, dem eigentlichen bezeichnet sind. Landesgeburtstag, war nur noch Formsache. Im Sommer 1950, als die Landesverfassung in Kraft trat, gab es das Land Nordrhein-Westfalen schon fast vier Jahre. Die Landesregierung Die Briten übernahmen nach Kriegsende, wie die anderen alli- Die Landesgründung ierten Siegermächte, die Befugnisse aller Verwaltungen in ihrem Der 23. August 1946 ist das offizielle Gründungsdatum des Bun- Besatzungsgebiet. Ausgehend von den Gemeinden, Städten und deslandes, veröffentlicht in der Verordnung Nr. 46 der britischen Kreisen ernannten Sie auch in den Provinzen Nordrhein und West- Militärregierung über die Neubildung der Länder in der britischen falen Verwaltungsspitzen. Davon leiteten sie (die Besatzungs- Zone. macht) auch das Recht ab, einen Ministerpräsidenten und eine Doch es musste viel passieren bis es zu dieser Entscheidung kam. Landesregierung zu ernennen. So wurde der Verwaltungschef der Nachdem das Deutsche Reich mit der Nazi-Diktatur unter Adolf Provinz Westfalen Rudolf Amelunxen (1888-1969) schon am 24. Hitler 1939-1945 vielen Ländern Krieg und Zerstörung gebracht Juli 1946 – vier Wochen vor der eigentlichen Gründung des Landes hatte, wendeten sich Verwüstung und Besetzung in den letzten – mit der Regierungsbildung beauftragt und zum ersten Minister- Kriegsjahren gegen die Verursacher, gegen Deutschland und sei- präsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen ernannt. Gleichzei- ne Bevölkerung. Der militärischen Niederlage folgte der staatli- tig gab die britische Militärregierung ihm klare Vorgaben, welche che Zusammenbruch. Die Siegermächte übernahmen die Staats- Ministerien einzurichten waren und wie viele Ministerämter die gewalt und lösten auch die deutschen Länder, wie Preußen auf. wieder oder neu entstehenden Parteien und gesellschaftlichen Briten, Amerikaner, Franzosen und Russen teilten das eroberte Gruppen erhalten sollten. Ziel war eine Allparteienregierung. Gebiet in Besatzungszonen auf. Die Briten erhielten Nordwest- Daraufhin wurden zwischen dem 29. August und dem 10. Septem- deutschland mit der preußischen Provinz Westfalen. Die Provinz ber 1946 zehn Minister ernannt. Der erste Ministerpräsident, der Rheinland wurde geteilt. Großbritannien beherrschte die Regie- auf der Grundlage einer Landtagswahl vom Landtag gewählt wur- rungsbezirke Köln, Aachen und Düsseldorf und machte am 21. de, war Karl Arnold (1901-1958). Er wurde am 17. Juni 1947 von den Juni 1945 daraus die Provinz Nordrhein. Abgeordneten gewählt, die am 20. April 1947 erstmals direkt von den Bürgerinnen und Bürgern bestimmt aus einer Landtagswahl Das Ruhrgebiet, dass sich über beide Besatzungsprovinzen er- hervorgingen. Die erste Frau in einem Ministeramt war Christine streckte, war trotz aller Zerstörung wirtschaftliches Kernland mit Teusch, die am 18. Dezember 1947 als Kultusministerin berufen Das Landeskabinett von NRW unter Rudolf Amelunxen vielen Menschen, die wegen der zerstörten Verkehrswege Hunger wurde. Sie war damit die zweite Frau überhaupt, die in der Bun- sitzend v.l.n.r.: (wahrscheinlich) Maria Amlunxen, Dr. Rudolf Amelunxen (Ministerpräsident), Regional Commissioner NRW William Asbury, Dr. Walter Menzel (stv. Ministerpräsident und Innenminister), (wahrscheinlich) Emmy Menzel); litten. Nahrungsmittel wurden dafür in anderen Gebieten des desrepublik Deutschland ein Amt als Ministerin bekleidete. stehend v.l.n.r.: Hermann Wandersleb (Chef der Staatskanzlei), Prof. Dr. Erik Nölting (Wirtschaftsminister), Heinz Renner (Sozialminister), Rheinlands und besonders Westfalens produziert. Also überleg- Seit 14. Juli 2010 ist Hannelore Kraft erste Ministerpräsidentin des Dr. Hermann Heukamp (Landwirtschaftsminister), Hugo Paul (Wiederaufbauminister), Franz Blücher (Finanzminister), Dr. Fritz Stricker (Verkehrsminister), te die britische Regierung, Nordrhein und Westfalen zusammen Landes Nordrhein-Westfalen. August Halbfell (Arbeitsminister), Eduard Kremer (Justizminister) (1946), LAV NRW R RWB 4114/3, Foto: Pressebilderdienst C.A. Stachelscheid könnten sich gegenseitig mit Nahrungsmitteln versorgen und da-
Der Landtag Gemessen an der Ernennung der Landesregierung trat der eben- Nordrhein-Westfalen nach den Grundsätzen einer allgemeinen, falls von der britischen Besatzungsmacht ernannte Landtag „erst“ gleichen, unmittelbaren, freien und geheimen Wahl durchgeführt 15 am 2. Oktober 1946 zu seiner feierlichen Eröffnung im Opernhaus wurden. Sie sollten nach dem Verständnis der Briten vor allem der in der neuen, ebenfalls von den Briten bestimmten Landeshaupt- Demokratieerziehung (Reeducation) der Deutschen dienen und stadt Düsseldorf zusammen. einen Aufbau der Demokratie „von unten“ befördern. Seine 200 Abgeordneten wurden im Wesentlichen aus den Ab- Auf dieser Basis wurde auch der Landtag erstmals am 20. April geordneten der beiden Provinzialräte Nordrhein und Westfalen 1947 gewählt. berufen. Die Zusammensetzung des Landtages änderte sich be- Seit der jüngsten Landtagswahl am 13. Mai 2012 vertreten 237 Ab- reits im November. Nun sollte der Landtag in seiner Zusammen- geordnete die Bürgerinnen und Bürger. Der Landtag ist das höchs- setzung das Ergebnis der Kommunalwahlen vom 13. Oktober te Staatsorgan des Landes und wird als einziges Verfassungsorg- 1946 wiederspiegeln. Diese Wahlen waren die ersten, die in ganz an für fünf Jahre direkt vom Volk gewählt. Land Nordrhein-Westfalen, Regierungsbezirke im Flächenkolorit Stand 1. September 1947, Feierliche Eröffnung des Landtags im Düsseldorfer Opernhaus (1946) Festakt „25 Jahre Landtag am Rhein“ im Plenarsaal (2013) LAV NRW R RW Karten 4291 LAV NRW R RWB 1440/13, Foto: Pressebilderdienst C.A. Stachelscheid Foto: Bildarchiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, B. Schälte
Lippe kommt hinzu Seine heutige Gestalt erhielt das Bundesland durch die Verord- nung Nr. 77 der britischen Militärregierung vom 21. Januar 1947. 17 Das bis dahin selbstständige Land Lippe, das seit dem 12. Jahr- hundert auf eine eigenständige staatliche und verwaltungstech- nische Tradition zurückgreifen konnte, wurde mit diesem Papier, nicht ohne Diskussion und Gegenwind, nach Nordrhein-Westfalen eingegliedert. Dafür hatte die nordrhein-westfälische Landesre- gierung dem ehemaligen Freistaat eine Reihe von Zugeständnis- sen gemacht, die in den Lippischen Punktationen vom 5. Dezem- ber 1946 niedergelegt sind. Zu den wesentlichen Vereinbarungen gehörte, dass das ehemalige Landesvermögen nicht an das Land Nordrhein-Westfalen fiel, sondern von einer eigenen Institution Karte der Britischen (ab 1949 Landesverband Lippe) verwaltet werden sollte. Das Ho- Besatzungszone mit Lippe heitssymbol des eingegliederten Landesteils, die lippische Rose, als Teil des entstehenden Nordrhein-Westfalens (1946) fand Eingang in das Wappen des Landes Nordrhein-Westfalen, wo LAV NRW OWL L 80 NR. 116 es neben Rhein (für das Rheinland) und Westfalenross (für Westfa- len) an die ehemalige Eigenständigkeit erinnert. Das Gesetzgebungsverfahren des Landes NRW Gesetz tritt in Kraft Stadttor Düsseldorf (2015) Ministerpräsidentin verkündet Foto: Klein und Neumann ggf. 3. Lesung Landesverfassung Elemente direkter Demokratie Landtagsplenum berät und verändert das Gesetz 2. Lesung und Landesverfassungsgerichtshof Nach Artikel 2 der Landesverfassung bekundet das Volk seinen Die Landesverfassung trat erst am 11. Juli 1950 über ein Jahr nach Willen nicht nur durch Wahl, sondern auch durch Volksbegehren, beraten und bearbeiten der Verabschiedung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 in Kraft. Volksentscheid oder Volksinitiative. Fachausschüsse den Gesetzesentwurf Dennoch ist die nordrhein-westfälische Landesverfassung kein bloßes Organisationsstatut über das Zusammenwirken der Ver- Damit haben alle Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfa- fassungsorgane des Landes. Sie erfasst vielmehr mit ihren Rege- len die Möglichkeit, direkten Einfluss auf das Gesetzgebungsver- Landtagsplenum 1. Lesung lungen viele Lebenskreise von Gesellschaft und Staat, Arbeit und fahren des Landes zu nehmen. Sozialem, des Schulwesens, der Wissenschaft und Kultur. Hüterin Landes- Landtags- Abgeordnete Bürgerinnen der Verfassung ist der Verfassungsgerichtshof, der seinen Sitz seit bringen den Gesetzesentwurf ein 1952 in Münster hat. Sieben Verfassungsrichterinnen und Richter regierung fraktion Gruppe von mind. 7 und Bürger nehmen diese Aufgabe wahr.
Schulwesen in NRW Nach dem Zweiten Weltkrieg standen im Schulwesen vor allem 18 Bildung praktische Herausforderungen im Vordergrund. Viele Gebäude 19 waren durch den Krieg beschädigt – an der Busenbergschule in Dortmund beispielsweise gab es zunächst nur vier Räume für 500 Schüler – und die wenigen noch verfügbaren Räume muss- ten optimal genutzt werden. Da viele Lehrer als Soldaten einge- zogen waren, die Schüler Flak-Dienste leisten mussten oder aus den bombengefährdeten Gebieten evakuiert waren, hatten viele Kinder und Jugendliche in den letzten Kriegsjahren keinen oder nur wenig Schulunterricht erhalten. Für sie mussten Sammel- und Sonderklassen eingerichtet werden, um sie auf einen ihrem Alter entsprechenden Stand zu bringen. Zudem erhielten viele Lehrer im Rahmen der Entnazifizierung zunächst ein Berufsverbot, um zu verhindern, dass ideologische Vorstellungen der NS-Zeit wei- Englischunterricht in einer Schulklasse (1970) ter unterrichtet wurden. Die Schulpolitik beschränkte sich darauf, LAV NRW R RWB 9576/3, Foto: Landespresse- und Informationsamt NRW die überkommene Schulstruktur der Weimarer Republik mit ih- rem gegliederten System aus Volksschule, Realschule und Gym- nasium wiederherzustellen. Konfessionelles Schulwesen Zur Wiederherstellung der alten Ordnung gehörte auch die Wie- derbelebung der Konfessionalität. Volksschulen wurden daher überwiegend als katholische oder evangelische eingerichtet. Vie- lerorts war es so wie in Dortmund-Marten: auf Wunsch der Eltern bestanden ab 1947 eine evangelische und eine katholische Be- kenntnisschule sowie eine christliche Gemeinschaftsschule. Die Aufteilung der verfügbaren Räume auf die verschiedenen Konfes- sionen führte nicht selten zum Streit – und manchmal sogar zum Schulstreik. Die Landesverfassung von 1950 verankerte dieses Recht auf Bekenntnisschulen. Darüber hinaus entstanden zahl- reiche weiterführende Schulen in privater, d. h. vor allem kirchli- cher Trägerschaft. Luftbildaufnahme der Bildungsreformen Ruhr-Universität Bochum Zu Beginn der 1960er Jahre wurden Defizite des Bildungssystems mit der im Bau befindlichen Mensa (1969) Schüler in einer Montessori Schule erkennbar. Die überwiegende Zahl der Bevölkerung besaß ledig- beim selbstständigen Lernen (1960) LAV NRW R RW 524 Nr. 1059, Foto: M. Frank lich einen Volksschulabschluss, Abitur und Studium waren nur LAV NRW R RWB 879/1, Foto: A. Schmidt
einer Minderheit vorbehalten. Das Schlagwort von der „Bildungs- bildet, inzwischen können an nordrhein-westfälischen Schulen mund (1968) und Bielefeld (1969) sowie den Gesamthochschulen katastrophe“ machte die Runde und verlangte nach Reformen. fast 20 Sprachen gelernt werden. Neu hinzugekommen ist auch Duisburg, Essen, Paderborn, Siegen und Wuppertal (1972). Als Bildung gewann einen neuen Stellenwert – für die gestiegenen der staatliche Islam-Unterricht. Die Initiative „Schulen ans Netz“ Letztes kamen die Fernuniversität Hagen (1972) sowie die private 21 Anforderungen der Wirtschaft, für die politische Teilhabe in der bemühte sich Mitte der 1990er Jahre darum, den Schulen den An- Universität Witten/Herdecke (1983) hinzu. Die Neugründungen er- Demokratie und für den sozialen Aufstieg. schluss an das digitale Zeitalter zu ermöglichen. Der PISA-Schock folgten ganz bewusst in Regionen mit auffallendem Bildungsdefi- Zur Behebung des offensichtlichen Lehrermangels öffnete Kul- im Jahre 2000 feuerte die Reformdebatten neu an. Die individu- zit, allein im Ruhrgebiet entstanden auf diese Weise sechs neue tusminister Paul Mikat 1963 den Lehrerberuf für Quereinsteiger. elle Förderung und die Vermittlung von Kompetenzen anstelle Hochschulen. Seit Anfang der 1970er Jahre ergänzten zudem Mit den so genannten „Mikätzchen“ und „Mikater“ gelang es, die von festen Lerninhalten rückten ins Zentrum. Der überparteiliche Fachhochschulen die akademischen Ausbildungsmöglichkeiten. Schulversorgung zu garantieren. Das Modell war umstritten, aber schulpolitische Konsens aus dem Jahre 2011 schließlich durch- Dank dieser Bildungsexpansion entwickelte sich Nordrhein-West- so erfolgreich, dass es von anderen Bundesländern übernommen brach die Dreigliedrigkeit des Schulsystems und ermöglichte eine falen aus der Rückständigkeit zu einer der hochschulreichsten wurde. neue Vielfalt an Schulformen. Seit 2014 werden Kinder mit und Regionen Deutschlands und Europas. Es folgten strukturelle Reformen. Im Jahre 1968 wurde die acht- ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet. „Inklusion“ ist dabei klassige Volksschule in Grund- und Hauptschule aufgelöst. Fortan mehr als nur ein Schlagwort. Es ist Kennzeichen einer werteori- Wissenschaft und Forschung besuchten die nordrhein-westfälischen Schüler nach der Grund- entierten Gesellschaft, die Verschiedenheit anerkennt und Men- Zunächst unabhängig und viel früher als der Ausbau des Hoch- schule eine der drei weiterführenden Schulen – Hauptschule, Re- schen ihren individuellen Bedürfnissen nach fördert. schulwesens hatte sich durch gezielte Förderung in den 1950er alschule oder Gymnasium. In diesem Zusammenhang wurde auch Jahren eine dichte Forschungslandschaft entwickelt. An vierzig die Konfessionalität des Schulwesens gelockert. Hochschulen vornehmlich außeruniversitären Instituten wurde bereits Anfang Die Bildungsreform wurde schnell zu einem Politikum. Die Stu- Wie im Schulwesen ging es auch an den Hochschulen nach 1945 der 1960er Jahre Grundlagenforschung betrieben, schwerpunkt- dentenbewegung der 1968er Jahre trug weitergehende Forde- vorrangig um den Wiederaufbau statt um Neugestaltungen. Bis mäßig im naturwissenschaftlich-technologischen Bereich. An der rungen in die Schulen, unter den Schülern entwickelte sich in den weit in die 1950er Jahre bestanden Universitäten nur an drei Entwicklung der ursprünglichen „Kernforschungsanlage“ Jülich 1970er Jahren eine eigene Protestbewegung. Orten in Nordrhein-Westfalen, in Bonn, Köln und Münster. Da- von 1956 zum heutigen interdisziplinären „Forschungszentrum“ Unterricht im Sprachlabor der Waldschule Leverkusen-Schlehbusch (1968) neben gab es spezialisierte Hoschulen und Akademien, wie die lässt sich die ständige Neuausrichtung des Forschungslandes LAV NRW R RWB 9050/22, Foto: Landespresse- und Informationsamt NRW Debatte um die Gesamtschule Technische Hochschule in Aachen, die Musikhochschulen oder NRW ablesen. Die Reformbereitschaft der 1970er Jahre stieß jedoch auch an die Kunstakademie in Düsseldorf. In vielen Regionen des Landes Schrägluftbild Universität Duisburg (1987) Schrägluftbild Universität Dortmund (1986) ihre Grenzen. Die Einführung der Gesamtschule, gedacht als und vor allem im Ruhrgebiet bestanden kaum höhere Bildungs- LAV NRW R RWB 524/2213, Foto: M. Frank LAV NRW R RWB 524/3666, Foto: M. Frank Überwindung des dreigliedrigen Schulsystems, blieb zunächst einrichtungen. auf einige wenige Schulversuche – wie etwa die 1974 gegründete Laborschule Bielefeld – beschränkt. Ein Vorstoß der soziallibera- Bildungsreform und Neugründungen len Landesregierung zur Einführung der „Kooperativen Schule“ Angesichts dieser Beharrungen drohte eine zunehmende Rück- 1978 entfachte einen breiten Widerstand. Eltern- und Lehrerver- ständigkeit. Es fehlte an Studienplätzen und Akademikerinnen bände, CDU und Kirchen initiierten unter dem Motto „Stopp Koop“ und Akademikern. Auf Empfehlung des Wissenschaftsrates kam ein Volksbegehren gegen die Einführung der neuen Schulform. Im es in den 1960er Jahren zu einer Umorientierung der Hochschul- April 1978 zog der Landtag das neue Schulgesetz zurück. politik. Bestehende Hochschulen, wie Düsseldorf und Aachen, wurden zu Voll-Universitäten ausgebaut, zudem sollten Neu- Neue Herausforderungen und neue Vielfalt gründungen die dringend benötigten Studienplätze schaffen und Mit der Gesellschaft wandelte sich auch der Anspruch an Schule gleichzeitig den akademischen Betrieb reformieren. Den Auftakt und Bildung. Die Integration von Migrantenkindern erweiterte machte 1965 die Gründung der Ruhr-Universität Bochum, es folg- das Fächerangebot. Türkisch-Lehrer werden seit 1995 ausge- te eine regelrechte Gründungswelle mit den Universitäten Dort-
A 46-Seilerseebrücke Iserlohn (2011) 22 Mobilität und Verkehr Foto: Klein und Neumann 23 Wiederaufbau der im 2. Weltkrieg beschädigten Hohenzollernbrücke in Köln LAV NRW R RWB 1638/35, Foto: Pressebilderdienst C.A. Stachelscheid Verkehrsland NRW ländischen Grenze zusammengelegt; seitdem gibt es sie als A 40. Die Auswirkungen des 2. Weltkriegs waren vor allem in der Zusammen mit diesem linksrheinischen Teilstück ist die A 40 Rhein-Ruhr-Region verheerend: Wichtige Verkehrswege waren heute zentraler Teil einer europäischen Verkehrsachse. Über die unbenutzbar, die meisten Brücken über große Flüsse zerstört und Grenze zu den Niederlanden bei Venlo führen ihre Fortsetzungen Verkehrsadern gelähmt, wodurch es zu massiven Versorgungs- direkt nach Antwerpen und Rotterdam. Im Rahmen des Projekts Die „Tausendfüßler“ engpässen kam. Ab 1947 legte die Militärregierung ein Programm „Still-Leben Ruhrschnellweg“ der RUHR.2010-Kulturhauptstadt genannte Hochstraße am Jan-Wellem-Platz zur Wiederherstellung des Verkehrswesens auf, das dringend zur wurden am 18. Juli 2010 die A 40 sowie Teile der A 52 und der B 1 in Düsseldorf (1963) Ankurbelung der Wirtschaft benötigt wurde. Damals wurde der für den motorisierten Verkehr gesperrt und für Besucher freigege- LAV NRW R RWB 23413/516, Grundstein für eine Entwicklung gelegt, die Nordrhein-Westfalen ben. An 20.000 Biergarnituren feierten Gruppen, Vereine, Famili- Foto: I. Goertz-Bauer zu einem regelrechten Verkehrsland gemacht hat: Zu Lande, zu en, Nachbarschaften und Institutionen ein fröhliches Fest. Wasser und in der Luft sorgt heutzutage ein gut ausgebautes Netz Nicht nur der motorisierte Verkehr prägt das Bundesland wie aus Straßen, Radwegen, Schienen, Wasserwegen und Flughäfen kein zweites, Nordrhein-Westfalen ist auch das Fahrradland für moderne Mobilität. Nr. 1 in Deutschland. In den vergangenen drei Jahrzehnten wur- den rund 9.400 Kilometer Radwege angelegt. Seit 2007 ist das Straßenverkehr Radverkehrsnetz mit einer einheitlichen Wegweisung beschildert. Nordrhein-Westfalen ist ein Stau- und Pendlerland; mit seinen Nordrhein-Westfalen ist das erste Bundesland mit einem solchen knapp 18 Millionen Einwohnern ist es unter den Bundesländern flächendeckenden Netz. der Flächenstaat mit der höchsten täglichen Belastung im Stra- ßenverkehr. Durch die geografisch zentrale Lage im Herzen Eu- Schienenverkehr ropas fließen auf nordrhein-westfälischen Bundesautobahnen, Spätestens seit Eröffnung der ersten Teilstrecke (Deutz-Düssel- Bundes- und Landesstraßen insgesamt mehr als 25 Prozent des dorf) der Köln-Mindener-Eisenbahn im Jahr 1845 begann die gesamtdeutschen Straßenverkehrs. Als „Ruhrschnellweg“ führt Erfolgsgeschichte des Schienenverkehrs auf dem Gebiet des die A 40 zum Teil mitten durch die Revierstädte und ist damit die heutigen Nordrhein-Westfalen. Von der historischen Bedeutung „Schlagader des Ruhrgebiets“. Sie ist die älteste und wichtigste des Verkehrsmittels Eisenbahn für die Region zeugt noch heute Verkehrsachse des größten Ballungsraums in Nordrhein-Westfa- die Hohenzollernbrücke in Köln. Diese wurde zwischen 1907 und len, die über ihre regionale Ausnahmestellung (als „B 1“) hinaus- 1910 erbaut, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die 1859 gewachsen ist. In den frühen 1990er Jahren wurde die Strecke in Betrieb genommene Dombrücke für das stark angestiegene mit einem älteren Abschnitt der A 2 von Duisburg bis zur nieder- Verkehrsaufkommen unzureichend ausgebaut war. Die feierliche
Die erste Landung einer Boeing 747 Flughäfen in Nordrhein-Westfalen in den zurückliegenden Jahr- auf dem Düsseldorfer Flughafen (1972) zehnten rasant entwickelt und enorme Steigerungsraten bei den LAV NRW RWB 21529/6A, Foto: W. Göllner Passagierzahlen verzeichnet; ebenso hat der Gütertransport im 25 Luftverkehr einen starken Aufschwung genommen. Wasserstraßen Der Gütertransport auf dem Wasserweg hat in Nordrhein-West- falen eine lange Tradition. Über den Rhein, einen der wichtigsten schiffbaren Flüsse Europas, ist das Land mit den großen Nord- seehäfen Belgiens und der Niederlande verbunden. Der Zugang zu den deutschen Nordseehäfen wird der Schifffahrt über das gut ausgebaute Kanalnetz ermöglicht. Das sind in Nordrhein-Westfa- len der schiffbare Teil der Ruhr, der Rhein-Herne-Kanal, der Dort- mund-Ems-Kanal, der Wesel-Datteln- und der Datteln-Hamm-Ka- nal sowie in Ostwestfalen der Mittellandkanal. Unter den zahlreichen Häfen der Wasserstraßen besitzt der Duisburger Raddampfschlepper im Duisburger Hafen (1949) Einweihung durch Kaiser Wilhelm II. erfolgte 1911. Die Hohen- schließlich zu militärischen Zwecken. Im Folgejahr konnte der zivi- Rhein-Ruhr-Hafen eine herausgehobene Stellung. Er liegt an der LAV NRW R RWB 3482/13, Foto: B. Müller-Schwanneke zollernbrücke verbindet seitdem als Eisenbahn- und Fußgänger- le Flugverkehr wieder aufgenommen werden. Das erste Flugzeug Mündung der Ruhr in den Rhein und ist mit einer Gesamtfläche brücke den Kölner Stadtteil Deutz mit dem Hauptbahnhof und der Air France landete am 29. Juni 1950 am „Rhein-Ruhr-Flugha- von 10 Quadratkilometern der größte Binnenhafen Europas und prägt mit ihrer auf den Chor des Doms verweisenden Ausrichtung fen“ in Düsseldorf. Mit wachsender internationaler Bedeutung wichtiger Umschlagplatz für Waren und Güter, die von den See- das Stadtbild Kölns. Gegen Kriegsende von der Deutschen Wehr- des Düsseldorfer Flughafens seit Beginn der 1970er Jahre wurde häfen, wie Hamburg und Amsterdam, über Duisburg in das eu- macht zerstört, konnte der Wiederaufbau der Brücke nach meh- das Gelände in Lohausen stetig erweitert und ausgebaut, u. a. ropäische Hinterland weiter transportiert werden. Seinen histo- reren Provisorien 1959 abgeschlossen werden. Seitdem ist die wurden Start- und Landebahnen bis zu 3.000 m verlängert und rischen Ursprung hat der Duisburger Hafen im Stadtteil Ruhrort, Hohenzollernbrücke ein bedeutender Verkehrsknotenpunkt im das Terminalgebäude vergrößert. Der Anschluss an den regiona- von wo aus er sich bis in die Vorkriegszeit zu einem bedeutenden nordrhein-westfälischen Eisenbahnnetz. len S-Bahn- und überregionalen Fernbahnverkehr sowie die Eröff- Handelshafen für Holz und Getreide entwickelte. Nach schwerer Dessen Bedeutung ist in den letzten Jahrzehnten enorm gewach- nung der Kabinen-Hängebahn „Sky Train“ im Jahr 2002 bildeten Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und Wiederaufbau während sen. Insgesamt 4.700 Kilometer Gleise durchziehen heute das den vorläufigen Abschluss dieser Entwicklung. des deutschen Wirtschaftswunders der 1950er Jahre erlangte er Bundesland. Rund 3.800 Züge, vom ICE bis zur kleinen Privatbahn, Die Landesregierung setzt auf ein dezentrales Konzept für seine alte Bedeutung als Binnenhafen zurück. Als Folge der Krise befahren sie täglich – und alle prägen ein Stück Verkehrsgeschich- die Luftfahrtinfrastruktur. Neben Düsseldorf gibt es in Nord- in der Stahl- und Eisenindustrie der 1980er Jahre vollzog sich im te in Nordrhein-Westfalen. rhein-Westfalen noch fünf weitere Verkehrsflughäfen: Köln-Bonn, Rhein-Ruhr-Hafen ein Strukturwandel, der mit der Eröffnung des Münster-Osnabrück, Paderborn-Lippstadt, Dortmund und Weeze ersten deutschen Freihafens im Binnenland 1990 einen bedeu- Luftverkehr (Niederrhein). Für die strukturpolitische Entwicklung des Landes tenden Höhepunkt fand. Der Flughafen „Düsseldorf International“ ist das internationale ist die Anbindung aller Regionen Nordrhein-Westfalens an das Flughafendrehkreuz in Nordrhein-Westfalen und zugleich der internationale Luftverkehrsnetz von besonderer Bedeutung. Die Mit seiner dichten Verkehrsinfrastruktur bewältigt Nord- drittgrößte Flughafen in der Bundesrepublik Deutschland. Diese Standortgunst einer Region wird durch leistungsfähige Luftver- rhein-Westfalen täglich riesige Personen- und Warenströme. Entwicklung war nach der Gründung des Landes Nordrhein-West- kehrsangebote „vor der Haustür“ deutlich verbessert. Damit ist das Bundesland der größte Absatz- und Beschaffungs- falen im Jahr 1946 nicht absehbar. Bis 1949 nutzte die britische Fliegen ist längst trotz aller Umweltproblematik zum Fortbewe- markt in Europa. Mittellandkanal (1950-1960) Militäradministration den Flughafen in Düsseldorf-Lohausen aus- gungsmittel der Massen geworden. Entsprechend haben sich die LAV NRW R RWB 738/7, Foto: R. Holtappel
Energieland NRW Kohle Nordrhein-Westfalen war und ist das Energieland schlechthin, Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dominierte – nach einer 26 Energie das „Energieland Nummer eins“. Allein zwei der vier großen in Ära der Stagnation in den ersten Nachkriegsjahren und einer in- 27 Deutschland tätigen Energieversorger haben ihren Sitz in Nord- tensiveren Beschäftigung mit Steinkohle und Wasserkraft – seit rhein-Westfalen: E.ON (Essen) und RWE (Rheinisch-Westfälisches Mitte der 1950er Jahre wieder die Braunkohle. Diese ließ die RWE Elektrizitätswerk AG, Essen). AG wieder günstiger Strom produzieren. Dieser Strom war billi- Folglich hatte Energiepolitik in Nordrhein-Westfalen seit jeher ger als der vom Konkurrenten VEW (Vereinigte Elektrizitätswerke einen hohen Stellenwert. Sie barg stets ein hohes Maß an Kon- Westfalen AG, Dortmund), der aus Steinkohle produziert wurde. fliktpotential. In der Koalitionskrise des Jahres 2003 zählte die Deshalb übernahm im Jahr 2000 die RWE die VEW. Das Braunkoh- Energiefrage zu den „Soll-Bruchstellen“ der rot-grünen Koalition. lekraftwerk Frimmersdorf II avancierte im Jahr 1964 mit 2.000 Me- Der Förderung von Weiterentwicklungen in der Braunkohletech- gawatt Leistung zum größten Kraftwerk der Welt. nologie und der weiteren sozialverträglichen Subventionierung Im Landtag existierte in Energiefragen lange Zeit eine parteiüber- des Steinkohleabbaus stand der Wunsch nach dem Ausbau rege- greifende „Kohlefraktion“, die sich stets für den Erhalt des Koh- nerativer Energien gegenüber. leabbaus sowie der damit verbundenen Arbeitsplätze einsetzte. Die Energiewirtschaft steht in starker Abhängigkeit von dem tech- nischen Entwicklungsstand einer Gesellschaft. In dieser Hinsicht Braunkohle darf NRW insbesondere bei den erneuerbaren Energien als füh- Der Kohleabbau, insbesondere der ab den 1950er Jahren ein- rend gelten. setzende Tieftagebau, brachte im Rheinischen Braunkohlerevier zwischen Köln, Aachen und Mönchengladbach massive Eingriffe EnergieAgentur.NRW in die Naturlandschaft mit sich. Dies führte zu einer leidenschaft- Die EnergieAgentur.NRW (EA.NRW) arbeitet im Auftrag der Lan- lichen öffentlichen Debatte und früh einsetzenden Überlegungen desregierung als Partner im Energiebereich für Unternehmen, bezüglich einer Rekultivierung. Auf der anderen Seite war und ist Kommunen und Privatleute. Zu ihrem Aufgabenfeld gehört neben der Braunkohleabbau ein bedeutender Wirtschaftsfaktor im Land Energieforschung und technischer Weiterentwicklung insbeson- Nordrhein-Westfalen. dere die Energieberatung. Sie gibt Tipps, wie man ökonomischer mit Energie umgehen oder erneuerbare Energien sinnvoll einset- zen kann. Die Entwicklung innovativer Energietechnologien in NRW ist in Zeiten hoher Energiepreise besonders hervorzuheben. Energieformen Im Laufe der Zeit wechselten sich im Raum des heutigen Bundes- landes NRW die vorherrschenden Energieträger ab. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von wechselnden „Energieregi- men“. Schaufelradbagger Kernforschungsanlage Jülich, Mitarbeiter bei Wartungsarbeiten (1960) im Braunkohletagebau LAV NRW R RWB 619/35, Foto: KFA (verm. Kernforschungsanlage) in Frechen (1963) LAV NRW R RWB 775/9
teil der Steinkohle am deutschen Energieverbrauch (Primärener- gien) von ca. 70 auf knapp 20 Prozent. Auch der Steinkohleabbau hatte für Natur und Umwelt gravieren- 29 de Folgen: Das Ruhrgebiet wurde regelrecht „untertunnelt“, die Oberfläche der Landschaft senkte sich mancherorts um mehrere Meter ab. An diesen „Ewigkeitslasten“ trägt die Region, trägt das Land NRW noch heute – und auch in Zukunft. Atomkraft Die zunächst als „saubere“ Zukunftsenergie gefeierte Atomkraft fand seit Mitte der 1950er, konkreter und intensiver dann ab den Windpark bei Paderborn (2012) 1970er Jahren auch in Nordrhein-Westfalen ihren Niederschlag, Foto: Klein und Neumann mit namhaften und kostspieligen Versuchsprojekten. Diese wa- ren letztlich jedoch zum Scheitern verurteilt und wurden nicht Erneuerbare Energien Demonstration in Dortmund gegen die Schließung der Zechen weiterverfolgt – insbesondere deshalb, weil sich die Einstellung Wasserkraft „Hansa“ (Dortmund) und „Pluto“ (Wanne-Eickel) (1967) der Landesregierung zur Atomkraft zwischenzeitlich grundlegend Die Wasserkraft kann als „Klassiker“ unter den erneuerbaren der Stromerzeugung des Landes von vier Prozent im Jahr 2015 auf LAV NRW R RWB 236/1, Foto: Landespresse- und Informationsamt NRW gewandelt hatte. So endete der 1985 fertiggestellte „Schnelle Energien gelten. Dieser „Strom, der immer fließt“, liefert seit über 15 Prozent im Jahr 2020 zu steigern. Dann könnten die ca. 3.000 Brüter Kalkar“ ebenso als Milliardengrab wie der 1989 deaktivier- hundert Jahren zuverlässig, tageszeitunabhängig und CO2-frei Windkraftanlagen (2015) fünf Millionen Haushalte versorgen. Kri- Während im April 2015 15.000 Bergleute aus Nordrhein-Westfalen te, ursprünglich als Innovation gefeierte Hochtemperaturreak- Energie. Anders als Solaranlagen und Windkraft ist die Wasser- tiker monierten eine voranschreitende „Verspargelung“ der Land- und ostdeutschen Braunkohlerevieren für den Erhalt dieser Ener- tor Hamm-Uentrop. Die 1956 konzipierte Kernforschungsanlage kraft grundlastfähig. Energieversorger wie RWE unterhalten diver- schaft sowie eine Vernachlässigung des Vogelschutzes. gieform demonstrierten, befürwortete eine Protestveranstaltung Jülich wurde 1990 in ein „Forschungszentrum“ umgewandelt, bei se Wasserkraftwerke in Nordrhein-Westfalen, vor allem an oberer in Form einer „Anti-Kohle-Kette“ am Tagebau Garzweiler mit dem die Atomkraft zunehmend in den Hintergrund trat. Ruhr, Lippe, Sieg und im Münsterland. Wasserkraftanlagen sind Solarenergie 6.000 Teilnehmern den baldigen Ausstieg aus der Kohleverstro- wesentlich kleiner als solche für Gas oder Kohle. Sie sind daher Wenngleich der deutschlandweite Zubau von Photovoltaik-Anla- mung. auch für kommunale Versorger – etwa für Stadtwerke – attraktiv. gen (PV) zuletzt rückläufig war, stieg die Solarstromproduktion Allein RWE kann mit seinen Kraftwerken an Flüssen und Stauseen weiter an. 2014 erzeugten die deutschen PV-Anlagen ca. 35 Mrd. Steinkohle ca. 400.000 Haushalte mit Strom versorgen. Kilowattstunden Strom. Sie deckten rechnerisch den Jahres- Während die Braunkohle dem Land bis auf Weiteres erhalten strombedarf von rund 10 Mio. Haushalten. Nordrhein-Westfalen bleibt, wird der Steinkohleabbau, der nach der Ende 2015 erfolg- Windenergie hatte 2014 eine installierte PV-Leistung von fast 4.200 Megawatt- ten Stilllegung der Zeche in Marl 2016 nur noch in Bottrop (Zeche 2014 wurden deutschlandweit Windräder mit einer Leistung von peak und belegte damit unter den Bundesländern den dritten Prosper-Haniel) und Ibbenbüren betrieben wird, Ende 2018 end- 4.750 Megawatt installiert. Dies entspricht etwa der Leistung von Platz. gültig auslaufen. 2014 förderten die drei genannten Bergwerke 7,6 vier Atomkraftwerken. Mit mehr als einem Zehntel des bundes- Millionen Tonnen Steinkohle. Damit lag der Anteil der heimischen weiten Zubaus von Windkraftanlagen lag Nordrhein-Westfalen Der Energiebedarf in Nordrhein-Westfalen wird weiter wachsen. Steinkohle an der deutschen Primärenergiegewinnung in diesem 2015 unter den Bundesländern an vierter Stelle. Die Landesregie- Alternative Energieträger und Gewinnungsverfahren, wie z. B. das Jahr bei knapp 6 Prozent. Die Beschäftigtenzahl im Steinkohlen- rung öffnete Ende 2015 die Wälder für Windkraftanlagen mit einer umstrittene Fracking, müssen entwickelt und hinterfragt werden. bergbau NRW lag Ende 2014 noch bei 12.400. Dies belegt die Be- Höhe von bis zu über 180 Metern. Außerhalb der Wälder wurde die Dabei liegen die Herausforderungen im Spannungsfeld zwischen deutung, welche die Steinkohle für Land und Bund einst besaß. Anlagenhöhe auf 150 Meter begrenzt. In Naturschutz- und Gewer- der Vereinbarkeit von wirtschaftlichen Interessen, der Versorgung Andererseits erfolgte der Abstieg dieses Energieträgers kontinu- Das im Bau befindliche Kernkraftwerk in Kalkar (1977) begebieten blieb das Aufstellen von Windrädern untersagt. Das der Haushalte mit ressourcenschonender Energie und dem Um- ierlich und unaufhaltsam: Zwischen 1950 und 1990 sank der An- LAV NRW R RW 524 Nr. 2441, Foto: M. Frank Umweltministerium beabsichtigt, den Anteil der Windenergie an weltschutz.
mittelbaren Nachkriegszeit nahm die britische Besatzungszone, in der das Land Nordrhein-Westfalen entstehen sollte, nur wenige 30 Migration Flüchtlinge und Vertriebene auf, da die großen Zerstörungen in 31 den industriellen Ballungsräumen einen weiteren Zuzug von Men- schen sehr erschwerten. Mit dem Wiederaufbau und Erstarken der Wirtschaft im neuen Bundesland wurden jedoch viele Arbeitsplätze geschaffen. Nord- rhein-Westfalen wurde damit zu einem attraktiven Zuwande- rerland, in das viele Flüchtlinge und Vertriebene strömten, die zunächst in Bayern, Schleswig-Holstein und Niedersachsen ange- siedelt worden waren. In den 1950er Jahren hatte NRW bundes- weit den höchsten Anteil an Flüchtlingen und Vertriebenen, die sich hier eine neue Existenz aufbauten. „Gastarbeiter“ Die Flüchtlinge und Vertriebenen deckten schon bald nicht mehr Kommunion in einer Flüchtlingssiedlung in Espelkamp LAV NRW R RWB 4054/7, Foto: Schneegans den Arbeitskräftebedarf der Industrie. Ende 1955 wurde ein ers- tes Abkommen mit Italien zur Anwerbung von italienischen Ar- beitskräften für die deutsche Industrie geschlossen. Un- und an- Migration in Nordrhein-Westfalen gelernte Arbeiter, vor allem für schmutzige und schwere Arbeiten, Es war immer schon viel Bewegung im Rheinland, in Westfalen und in Lippe. Bis ins 20. Jahrhundert hinein verließen viele Men- schen, wie etwa die Amerikaauswanderer oder die Hollandgänger, ihre Heimat im heutigen NRW. Andererseits hat sich das spätere Bundesland besonders seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im- mer mehr zu einem Einwanderungsland entwickelt, das durch die aufstrebende Industrie und den Bergbau Menschen aus vielen Nationen anzog. Flüchtlinge und Vertriebene Das Ende des Zweiten Weltkriegs zwang Millionen Menschen, ihre Heimat zu verlassen. Ab Januar 1945 setzte der große Flücht- Türkische Schüler lingsstrom aus dem Osten ein, der vor der heranrückenden Roten zu Besuch im Büro Armee Richtung Westen zog. Diejenigen, die im Osten geblieben des Ministerpräsidenten Johannes Rau (1985) waren, wurden interniert und nach Kriegsende vertrieben. Die LAV NRW R RWB 14129/30A, Flüchtlinge und Vertriebenen erlebten diese Phase als eine von Foto: Landespresse- und Arbeiternehmer aus Spanien oder Portugal in einem Betrieb großer Gewalt und noch größeren persönlichen Verlusten gepräg- im Ruhrgebiet vermutlich bei der Glasherstelltung (1960) Informationsamt NRW te Zeit, die ihre Biografie einschneidend mit bestimmte. In der un- LAV NRW R RWB 4756/8, Foto: J.A. Slominski
wurden über die Arbeitsverwaltungen in Deutschland und der beitsmigranten zum Alltag der Bürgerinnen und Bürger in Nord- Partnerländer (Italien, Portugal, Spanien, Griechenland, Türkei, rhein-Westfalen. Mancherorts haben sich Subkulturen gebildet, Jugoslawien) angeworben. 1964 stieg mit dem Portugiesen Ar- die die Stadtbilder nachhaltig prägen. In den Ruhrgebietsstädten 33 mando Rodrigues de Sá der millionste sogenannte „Gastarbeiter“ sind ganze Stadtteile wie z. B. Duisburg-Marxloh kulturell vom in Köln aus dem Zug und erhielt als Willkommensgeschenk ein Phänomen der Migration geprägt. Zündapp-Mokick. Der Familiennachzug der ersten Zuwanderer – überlagert seit Im Zuge der Ölkrise von 1973, die auch weitreichende arbeits- Ende der 1980er Jahre durch den Zuzug von Asylbewerbern marktpolitische Auswirkungen hatte, kam es zu einem Anwer- und Aussiedlern – hat dazu geführt, dass Deutschland zum Ein- bestopp für ausländische Arbeitskräfte. Mit Zunahme der Arbeits- wanderungsland geworden ist. 2014 hatten 23,6 % der Bürger in losigkeit in Deutschland wurde 1983 das Rückkehrhilfegesetz Nordrhein-Westfalen einen sogenannten „Migrationshintergrund“ geschaffen, das finanzielle Anreize für die Rückwanderung der (Quelle: IT.NRW). Dieser sperrige Begriff – ursprünglich als Ord- Arbeiter in ihre Herkunftsländer bieten sollte. Die meisten auslän- nungskriterium der amtlichen Statistik eingeführt – bezeichnet dischen Beschäftigten blieben jedoch auf Dauer und integrierten heute ein komplexes gesellschaftliches Phänomen mit einer brei- sich in die deutsche Gesellschaft. ten Diskussion und großen politischen Herausforderungen. Aus dem anfänglichen Nebeneinander wurde im Laufe der Jahre immer öfter ein Miteinander, das jedoch nicht immer konfliktfrei Spätaussiedler verlief. So hat die zweite und dritte Generation, die Kinder und In den ehemals deutschen Gebieten östlich von Oder und Neiße Enkel der ehemaligen „Gastarbeiter“ versucht, sich die eigene waren nach 1945 zahlreiche deutsche Staatsbürger verblieben, Kultur zu bewahren. Heute gehören mitgebrachte Traditionen aber auch viele Nachfahren deutscher Einwanderer des 18. und wie die kulinarischen Angebote (Pizza, Döner) der früheren Ar- 19. Jahrhunderts lebten dort. Sie waren aufgrund ihrer Herkunft in den sozialistischen Staaten des früheren Ostblocks Repressali- en ausgesetzt und nutzten schon seit den 1950er Jahren Ausreise- möglichkeiten, wenn sie sich ihnen boten. Vor dem Fall der Mauer kamen die Aussiedler überwiegend aus Polen und Rumänien, seit 1989 vor allem aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjet- union. Die Landesstelle für Aussiedler, Zuwanderer und ausländi- Bildunterschrift fehlt sche Flüchtlinge in Nordrhein-Westfalen (auch Landesstelle Un- (Foto: Landeshauptstadt Düsseldorf) na-Massen genannt) mit Sitz in Unna war bis zu ihrer Schließung ein. Denn nur als integrierte Mitbürgerinnen und Mitbürger kön- 2009 zuständig für die Aufnahme, Betreuung und Verteilung von nen die Geflüchteten ein Leben in Frieden und Freiheit führen und Spätaussiedlern auf Städte und Gemeinden im gesamten Bundes- die kulturelle Vielfalt des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen be- land. Mittlerweile ist die Einrichtung wieder in Betrieb genommen reichern. Integrationsminister Rainer Schmeltzer formulierte die worden und dient der Unterbringung von Flüchtlingen. rungsstrom setzt sich unter immer neuen, sich ständig verän- Herausforderungen auf dem diesjährigen Integrationskongress dernden Bedingungen fort. Nordrhein-Westfalen nimmt aktuell in Solingen, der ganz im Zeichen der Flüchtlinge stand, so: „2016 Flüchtlinge 2016 eine große Zahl von Flüchtlingen auf, die hier eine neue Heimat muss das Jahr der Integration werden. Die Integration und Teil- Flüchtlingsfamilie kurz nach der Aushändigung Zwangen politische Ereignisse die deutsche Bevölkerung nach finden sollen. Ihre Integration ist das große Ziel – dafür setzen habe von Geflüchteten ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. der Gesundheitskarte 1945 aus ihrer angestammten Heimat, sind es heute vor allem die sich nicht nur Politik und Verwaltung, sondern auch die Kirchen, Das sind große Herausforderungen. Es gibt aber keinen Grund für Foto: Landeshauptstadt Länder im Nahen Osten, in denen viele Menschen ihr Leben nicht die verschiedenen Wohlfahrtsverbände und nicht zuletzt Tausen- Pessimismus. NRW ist ein Land mit einer erfolgreichen Einwande- Düsseldorf mehr in Sicherheit gestalten können. Der internationale Wande- de von ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern im ganzen Land rungsgeschichte.“
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