Asyl aktuell Staatsbürgerschaft

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Asyl aktuell Staatsbürgerschaft
asyl      1 • 2021         aktuell
                                                      Zeitschrift der
                                                      asylkoordination
                                                      österreich

Staatsbürgerschaft

                                       Lehrlinge –
                            Vor der Abschiebung?
                                     Bleiberecht –
           Interview mit Kevin Fredy Hinterberger
                                  Sozialhilfe Neu –
                      Organisierte Desintegration
übersicht

                         Inhalt
                      01 Editorial

                      03 Der steinige Weg zur Staatsbürgerschaft in Österreich
                          Michael Mayböck

                      05 Wer hier geboren ist, ist von hier
                          Anna Warnung

                      08 MA 35 – Zwischen Überlastung und Reform(versuch)
                          Michael Mayböck und Anna Warnung

                      10 Österreichische Staatsbürgerschaft als „hohes Gut“
                          Kommentar von Gerd Valchars

                      12 Abschiebung für Fachkräfte
                          Herbert Langthaler

                      18 Mehr Pragmatik, weniger Willkür
                          Interview mit Kevin Fredy Hinterberger

                      26 Kein sicherer Weg
                          Maria Fellinger und Elisabeth Sarah Steiner

                      30 Organisierte Desintegration
                          Isabella Maurer

                      38 Mädchen auf der Flucht
                          Christina Steyskal

                      44 Landschaft – Seebrücke in Österreich

                      46 Kurzmeldungen

                      53 Bücher

asyl aktuell 1/2021
editorial                                                                                                                1

EUROPA MUSS VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN
                      Heuer jährt sich die Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention zum 70. Mal. 1951 war
                      den meisten Politiker*innen klar, dass nie mehr Menschen, die Schutz vor Verfolgung brau-
                      chen, vor verschlossenen Grenzbalken stehen sollen, nie mehr schutzlos ihren Mörder*innen
                      ausgeliefert werden dürfen, nie mehr um den halben Globus irren dürfen, um vielleicht
                      Schutz gewährt zu bekommen. Millionen haben seither internationalen Schutz – Asyl –
                      bekommen, leben in Sicherheit und sind den Bürger*innen der schutzgewährenden Staaten
                      weitestgehend gleichgestellt. Der Internationale Flüchtlingstag (20. Juni) könnte also ein Tag
                      des Feierns sein. Leider ist er das nicht.
                      Heute hat sich in EUropa eine neue Politiker*innengeneration breitgemacht. Gewissenlose
                      Populist*innen, die Ängste schüren und geflüchtete Menschen dämonisieren. Nicht nur, dass
                      diese Politiker*innen die unbedingte Notwendigkeit eines Instruments zum Flüchtlingsschutz
                      in Frage stellen, sie setzen sich in der Praxis längst über ihre vertraglichen Verpflichtungen
                      hinweg, verweigern Schutzsuchenden die Aufnahme, lassen Menschen im Mittelmeer ertrin-
                      ken und schieben sie in Staaten ab, in denen ihnen Gefahr, Folter und Tod drohen.
                      Gleichzeitig tun diese EUropäischen Politiker*innen nichts, um die Ursachen für die globalen,
                      grenzüberschreitenden Fluchtbewegungen, von denen – wie das UN-Hochkommissariat für
                      Flüchtlinge dokumentiert – heute mehr als 20 Millionen Menschen betroffen sind, zu bekämp-
                      fen. Weiter werden Konflikte angeheizt, die Waffenproduktion gesteigert und Kriegsschau-
                      plätze im globalen Süden (aber auch zuletzt im Kaukasus) als Versuchslabor für die Rüstungs-
                      industrie verwendet.
                      Gerade in den letzten Wochen haben – so zu sagen als vergiftetes Geschenk zum 70 Geburts-
                      tag der GFK – zwei Staaten schier unglaubliche Maßnahmen angekündigt. Griechenland den
                      Einsatz von Schallkanonen gegen Geflüchtete an der griechisch-türkischen Grenze, eine Hand-
                      lung die, wenn sie tatsächlich stattfinden sollte, ganz klar gegen die Antifolterkonvention ver-
                      stößt. Und Dänemark ein Gesetz, das es ermöglichen würde Geflüchtete während ihrer
                      Asylverfahren in Lager in Staaten außerhalb der EU zu internieren.
                      Die Europäische Union als Ganzes plant mit dem zurzeit diskutierten Asylpaket die Legalisie-
                      rung der menschenverachtenden Praxis an den EU-Außengrenzen: Zurückweisungen, Lager
                      und kon-zertierte Abschiebungen sollen in Zukunft die gemeinsame EUropäische Asylpolitik
                      bestimmen.
                      Wir fordern die Rückkehr auf den Boden der internationalen Flüchtlings- und
                      Menschenrechte:
                      •    Bewegungsfreiheit und faire Asylverfahren für Geflüchtete innerhalb der Europäischen
                           Union,
                      •    Verbot von Zurückweisungen in Drittländer und Abschiebungen in Krisenregionen,
                      •    Substantielle Ausweitung von Resettlement- und Relocation-Programmen,
                      •    Untersuchung der Übergriffe an den EU-Außengrenzen und Sanktionen für die Verant-
                           wortlichen,
                      •    Bekämpfung von Fluchtursachen: Stopp der EUropäischen Rüstungsexporte und Repa-
                           ra-tionszahlungen an die Opfer von Kolonialismus und Sklavenhandel.

                      Herbert Langthaler (Rede anlässlich des Internationalen Flüchtlingstages 2021)

asyl aktuell 1/2021
2   staatsbürgerschaft I

    Der steinige Weg zur
    Staatsbürgerschaft in Österreich
    Laut Migration             Bertholt Brecht schrieb vom Pass als dem edelsten Teil des
    Integration Policy Index
    2020 liegt Österreich      Menschen. In Österreich scheint sich daran nichts geändert
    am letzten Platz der
    über 50 analysierten       zu haben. Politiker*innen schwadronieren von der
    Länder, wenn es um
    den Zugang zur Staats-     Staatbürgerschaft als dem „Gipfel der Integration“ und viele
    bürgerschaft geht.
                               Betroffene können über die Hürden berichten, die es zu
                               überwinden gibt, um sie zu erlangen. Von Michael Mayböck

                               Die Staatsbürgerschaft: Eine Anerken-       borenen hinzugewonnen werden und
                               nung verbunden mit politischen und ge-      auch im Jahr 2021 gilt die Verleihung der
                               sellschaftlichen Rechten, eine Garantie für Staatsbürgerschaft in Österreich als „Gip-
                               Sicherheit und Freiheit. Eine Idee, ent-    fel der Integration“.
                               standen im antiken Griechenland, die un-         Diese Interpretation von Staatsbür-
                               ser aller Leben noch heute prägt. Schon     gerschaft schließt jedoch einen erheb-
                               damals konnten diese Rechte und Sicher-     lichen Teil der in Österreich lebenden und
                               heiten von Nicht-mit-diesen-Rechten-Ge-     sehr oft schon hier geborenen Menschen

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staatsbürgerschaft I                                                                         3

aus und führt die zugrundeliegende Idee         sellschaft, vor allem einkommensschwa-
der Inklusion ad absurdum.                      che Migrant*innen und Schutzberech-
       Bemühen sich all diese Menschen          tigte. Diese Entwicklung bringt ein demo-
nicht darum? Um die Staatsbürgerschaft          kratisches Defizit für Österreich mit sich
des Landes, in dem sie leben? Was hin-          und stiehlt Menschen ihre Stimme inner-
dert sie daran und warum ist ein angeb-         halb ihrer Gesellschaft.
lich inklusiver Prozess so restriktiv gestal-
tet?                                            #2 – Menschen, die das Recht auf
       Im Folgenden durchleuchten wir den       die österreichische Staatsbürgerschaft
Weg zur Staatsbürgerschaft, und wollen          hätten und dieses Recht nicht
so mit Vorurteilen und Halbwahrheiten           beanspruchen, fühlen sich nur ihrem
zum Thema Staatsbürgerschaft und Ein-           Herkunftsland zugehörig.
bürgerung aufräumen.
                                                Zuallererst haben auch Menschen, die in
#1 – Menschen, die das Recht auf                Österreich geboren wurden und ihr gan-
die österreichische Staatsbürgerschaft zes Leben hier verbracht haben, durch die
hätten und dieses Recht nicht                   aktuelle Gesetzeslage im Prinzip keinen
beanspruchen, sind selbst schuld.               Anspruch auf den Erwerb der österreichi-
                                                schen Staatsbürgerschaft. Die Folgen die-
Wichtig zu wissen: Österreich hat die re-       ser Regelung und das damit erzeugte Ge-
striktivsten Bestimmungen für die Verlei-
hung der Staatsbürgerschaft in ganz Eur-
opa. Laut Migration Integration Policy In-      „Ein Mensch kann überall zustande
dex (MIPEX) 2020 liegt Österreich sogar
am letzten Platz der über 50 analysierten       kommen, auf die leichtsinnigste
Länder, wenn es um den Zugang zur
Staatsbürgerschaft geht.                        Art, aber ein Pass niemals. Dafür
       Konkret heißt das: Fast nirgends ist
der Weg zur Staatsbürgerschaft so auf-
                                                wird er auch anerkannt, wenn er
wendig und kostspielig wie in Österreich.       gut ist. Während ein Mensch noch
Die Voraussetzungen reichen von hohen
Richtwerten für regelmäßige Einkünfte           so gut sein kann und nicht aner-
über hohe Anforderungen im Bereich von
Sprachkenntnissen bis hin zu einer inhalt-      kannt wird.“ (Bertholt Brecht, 1940)
lich realitätsfernen Staatsbürgerschafts-
prüfung. Unterstützung für die Bewälti-
gung dieser Hürden gibt es keine. Dazu          fühl des Ausgeschlossenwerdens werden
kommen ungewöhnlich lange Fristen, von massiv unterschätzt.
bis zu zehn Jahren, bis überhaupt ein An-           Neben den bereits erwähnten Vo-
trag gestellt werden kann.                      raussetzungen und Anforderungen für
       Die Folge dessen ist eine strukturelle   die Erlangung der österreichischen
Diskriminierung durch den Ausschluss            Staatsbürgerschaft sind die hohen finan-
von demokratischen Rechten für einen            ziellen Kosten ein ausschlaggebender
erheblichen Teil der österreichischen Ge-       Grund für die Verhinderung der Einbürge-

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4   staatsbürgerschaft I

                           rung. Das durchschnittlich niedrige Ein-     betrachten. Auch die zuvor genannten
                           kommen von Menschen mit Migrations-          Voraussetzungen zur Einbürgerung sind
                           hintergrund und Neueingewanderten            kein Garant für „gelungene Integration“
                           schließt aufgrund unrealistisch hoher fi-    und die Staatsbürgerschaft als „Krönung
                           nanzieller Voraussetzungen eine erheb-       der Integration“ ein nationalistischer My-
                           liche Gruppe der österreichischen Gesell-    thos.
                                                                            Einen sichtbaren Beweis für den
                                                                        Wunsch nach politischer Partizipation die-
    „Dass es so etwas gibt wie ein                                      ser ausgeschlossenen Gruppe der Gesell-
                                                                        schaft bietet die von SOS Mitmensch ab-
    Recht, Rechte zu haben, wissen                                      gehaltene „Pass Egal Wahl“. Dabei sind in
                                                                        Österreich lebende Menschen, die durch
    wir erst, seitdem Millionen von                                     ihre fehlende österreichische Staatsbür-
                                                                        gerschaft von den offiziellen Wahlen aus-
    Menschen dieses Recht verloren                                      geschlossen sind, aufgerufen, ihre Stim-
    haben und nicht imstande sind,                                      me abzugeben. Sie wird in Wien seit 2013
                                                                        parallel zu österreichischen Wahlgängen
    es wiederzugewinnen.“                                               veranstaltet und erfreut sich steigender
                                                                        Beliebtheit.
    (Hannah Arendt, 1955)                                                   Trotz dieses unverständlichen Aus-
                                                                        schlusses von politischer Mitbestimmung
                                                                        engagieren sich allein in Wien hunderte
                           schaft von ihren Mitbestimmungsrechten       Vereine – gegründet und organisiert von
                           aus.                                         Migrant*innen – für bildungs- und inte-
                                  Diese diskriminierte Bevölkerungs-    grationsfördernde Maßnahmen und bie-
                           gruppe setzt sich zum großen Teil aus        ten dazu Kurse, Orientierung und Zusam-
                           Menschen zusammen, die entweder ihr          menhalt an.
                           Herkunftsland lediglich als regelmäßige
                           Urlaubsdestination kennen, seit Jahr-
                           zehnten nicht mehr oder manchmal noch
                           nie betreten haben. Für sie ist Österreich
                           seit jeher ihr Lebensmittelpunkt, dem sie
                           sich auch zugehörig fühlen.

                           #3 – Menschen, die das Recht auf
                           die österreichische Staatsbürgerschaft
                           hätten und dieses Recht nicht
                           beanspruchen, haben kein Interesse
                           an Integration und Partizipation.

                           Wichtig erscheint erstmal, das abstrakte,
                           ideologisch und politisch aufgeladene
                           Konstrukt „Integration“ von den Privile-
                           gien der Staatsbürgerschaft getrennt zu

    asyl aktuell 1/2021
staatsbürgerschaft II                                                                                                   5

                                                                                               So müssen beispiels-
                                                                                               weise sogar hier gebo-
                                                                                               rene Kinder für ihre
                                                                                               Einbürgerung ein
                                                                                               Mindesteinkommen
                                                                                               über ihre Eltern nach-
                                                                                               weisen.

Wer hier geboren ist,
ist von hier
Die #hiergeboren-Kampagne und die Petition „JA zur
Einbürgerung hier geborener Kinder!“ von SOS Mitmensch
wollen Bewusstsein für die Unhaltbarkeit des Ausschlusses
eines Teils der Bevölkerung schärfen und Druck für ein
faires Einbürgerungsrecht in Österreich erzeugen.
Von Anna Warnung

In Österreich leben derzeit mehr als            müssen beispielsweise sogar hier gebore-
220.000 hier geborene Menschen ohne ös-         ne Kinder für ihre Einbürgerung ein Min-
terreichische Staatsbürgerschaft. Das sind      desteinkommen über ihre Eltern nachwei-
mehr als doppelt so viele wie 2007. Mehr        sen. Obwohl diese Kinder und Jugend-
als 80.000 weitere Menschen haben keine         lichen hier leben, gelten sie für den Staat
österreichische Staatsbürgerschaft, leben       als „Fremde“, wodurch es zur massiven
jedoch seit sie Kleinkinder sind in Österrei-   Ungleichbehandlung und Einschränkung
ch. Insgesamt sind das 3,4 Prozent der ös-      von Rechten kommt. Der Fall der geor-
terreichischen Bevölkerung.                     gischen (!) Schülerin Tina hat gezeigt, dass
     Diese Ausgrenzung wird durch hohe          die Folgen dieser systematischen Ausgren-
Einbürgerungshürden vorangetrieben. So          zung bis hin zur brutalen Abschiebung hier

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    Die Einkommenser-
    fordernisse in Öster-
    reich stellen eine ex-
    trem hohe Hürde auf
    dem Weg zur Einbür-
    gerung dar.

                             geborener Kinder und Jugendlicher führen      tend mit dem Verlust der Menschenrechte“
                             können. Durch ein Recht auf Einbürgerung ist, wie es Hannah Arendt schon 1955 for-
                             durch Geburt in Österreich könnte so et-      muliert.
                             was verhindert werden.                            In Österreich müssen für eine Chance
                                                                           auf Einbürgerung ein langjähriger legaler
                             Hartnäckiges Blutrecht                        Aufenthalt, ein Mindesteinkommen und un-
                             In Österreich gilt das sogenannte „ius san-   ter anderem Deutschkenntnisse und Unbe-
                             guinis“ (Blutrecht). Nach dieser extrem aus- scholtenheit nachgewiesen werden. Die
                             schließenden Logik zählt für die Staatbür-    Einkommenserfordernisse in Österreich
                             gerschaft ausschließlich die Abstammung       stellen eine extrem hohe Hürde auf dem
                             der Eltern und deren Vorfahren, nicht der     Weg zur Einbürgerung dar und unterschei-
                             Ort der Geburt. Hier geborene Kinder und      den sich teils stark von jenen in anderen
                             Jugendliche gelten somit oft als „Fremde“     Ländern. So gibt es beispielweise in Schwe-
                             für den Staat, selbst wenn sie von hier       den, Portugal und den Niederlanden über-
                             sind.                                         haupt keine Einkommensbedingungen. An-
                                     Während in den USA Kinder, die dort   dere Staaten, so wie Deutschland, setzen
                             geboren werden, automatisch eingebür-         auf deutlich niedrigere erforderliche Min-
                             gert werden, erhält in Österreich jedes       desteinkommen. Das derzeitige Recht
                             fünfte Neugeborene keine österreichische      schließt Personen mit einem dauerhaft zu
                             Staatsbürgerschaft. Das sind täglich 49       niedrigen Einkommen oder einer zu gerin-
                             Kinder, die hier als „Fremde“ geboren wer- gen Pension für den Rest ihres Lebens von
                             den. Nicht einmal staatenlose in Österreich der Möglichkeit, die österreichische Staats-
                             geborene Kinder werden automatisch ein-       bürgerschaft zu erlangen, aus. Laut AMS-
                             gebürgert. Doch keine Staatszugehörigkeit Gehaltskompass reicht das Einstiegsgehalt
                             zu besitzen, bedeutet das Fehlen bürgerli-    in über 800 Berufen bei Vollzeitbeschäfti-
                             cher Rechte, was „politisch gleichbedeu-      gung nicht dafür aus, um als

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Alleinerhalter*in einer Familie die absurde   lose und kostenfreie Einbürgerung von
Einkommenshürde für die Einbürgerung zu hier geborenen Kindern, deren Eltern bei
überspringen.                                 der Geburt erst kurz im Land sind, späte-
                                              stens im Alter von sechs Jahren und aller
Gefürchtete Doppelstaatsbürgerschaft          jungen Menschen, die als Kinder nach Ös-
Eine weitere Hürde stellt der österrei-       terreich gekommen sind, damit sie mit 16
chische Grundsatz der Vermeidung mehr-        wählen können.
facher Staatsangehörigkeit dar. Österreich
lässt im Allgemeinen keine Doppel- oder
Mehrfachstaatsbürgerschaften zu. Bis auf
wenige Ausnahmen müssen Menschen, die
                                              Eine weitere Hürde stellt der
die österreichische Staatsbürgerschaft
                                              österreichische Grundsatz der
durch Verleihung erwerben wollen, aus
dem bisherigen Staatsverband ausschei-        Vermeidung mehrfacher
den. Einige Länder verweigern bezie-
hungsweise erschweren ihren                   Staatsangehörigkeit dar.
Bürger*innen jedoch regelmäßig die Ent-
lassung aus der Staatsangehörigkeit. Ge-
genwärtig sind das Afghanistan1, Algerien,         Die #hiergeboren-Kampagne erfreut    1 Für Afghanistan
Eritrea, Iran, Kuba, Libanon, Marokko, Sy-    sich auch prominenter Unterstützer*innen, stimmt das so nicht
                                                                                           mehr. Österreich ver-
rien und Tunesien, wie auf der Website der wie beispielsweise Anja Plaschg, Manuel         langt inzwischen die
deutschen Bundesregierung zu lesen ist.       Rubey, Karl Markovics, Mavie Hörbiger        Entlassung aus der af-
                                                                                           ghanischen Staatsbür-
Dies führt dazu, dass die Betroffenen mit     oder Zeynep Buyraç. Sie alle fordern die
                                                                                           gerschaft, die von den
besonderen Problemen auf dem Weg zur          Staatsbürgerschaft für in Österreich gebo-   Behörden in Kabul
Einbürgerung konfrontiert werden.             rene und aufgewachsene Kinder und Ju-        auch bescheinigt wird
                                                                                           – allerdings mit erheb-
                                              gendliche. Denn: „Wer hier geboren ist
                                                                                           lichen Verzögerungen.
Kein Pass, keine Stimme                       oder hier aufgewachsen ist, ist von hier.“   „Diese Frist kann man
Ohne die österreichische Staatsbürger-                                                     nur einhalten, indem
                                                                                           man die Behörden be-
schaft ist man* von demokratischer Mitbe- Um Genaueres zu den Forderungen und
                                                                                           sticht und damit die
stimmung und politischen Prozessen weit-      Hintergründen zu erfahren, empfiehlt sich    Korruption fördert“,
gehend ausgeschlossen. Das Wahlrecht ist      ein Blick auf die Homepage von SOS Mit-      schreibt ein Betrof-
                                                                                           fener in einer Stellung-
an die Staatsbürgerschaft gekoppelt, wo-      mensch, auf der auch die Petition „JA zur
                                                                                           nahme an die MA 35
durch über die Köpfe derer, die betroffen     Einbürgerung hier geborener Kinder!“ un-     (Magistratsabteilung
sind, entschieden wird. SOS Mitmensch         terschrieben werden kann:                    für Einwanderung und
                                                                                           Staatsbürgerschaft der
möchte die wachsende Ausgrenzung von          www.sosmitmensch.at/hiergeboren
                                                                                           Stadt Wien) .
in Österreich lebenden Menschen beenden
und fordert daher im Rahmen der #hierge-
boren-Kampagne und der Petition „JA zur
Einbürgerung hier geborener Kinder!“ die
automatische Verleihung der österreichi-
schen Staatsbürgerschaft an alle, die hier
geboren wurden bzw. hier zur Welt kom-
men, wenn zumindest ein Elternteil schon
sechs Jahre hier lebt und die bedingungs-

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                             MA 35 – Zwischen
                             Überlastung und
                             Reform(versuch)
                             Die Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftsbehörde der
                             Stadt Wien steht erneut in der Kritik. Einblicke in die
                             bestehenden Probleme mit der Behörde und konkrete Pläne
                             zu deren Lösung. Von Michael Mayböck und Anna Warnung

                             Die Magistratsabteilung 35 – Einwande-        im Stande, würde das die Arbeits- und
                             rung und Staatsbürgerschaft gilt laut Zu-     Wartezeit für alle Seiten erheblich reduzie-
                             ständigkeitszuordnung der Stadt Wien als      ren“, berichtet Fremdenrechtsexperte Tho-
                             Hüterin und Helferin für Menschen ohne        mas Neugschwendtner aus seiner Erfah-
                             österreichische Staatsbürgerschaft, die       rung. Dass es nach diesem ersten Schritt
                             sich im Bundesland beziehungsweise der        keineswegs schneller vorangeht, zeigen
                             Gemeinde Wien niederlassen möchten und        dokumentierte Verfahrensverzögerungen
                             im Allgemeinen auch für jene, die gerne       von mehr als vier Jahren, welche wiede-
                             die österreichische Staatsbürgerschaft er-    rum dazu führen, dass zu Beginn der Pro-
                             halten würden. Daher haben sehr viele         zedur übermittelte Unterlagen veraltet
                             Menschen, die in Wien leben und leben         sind und ersetzt werden müssen. Ein fru-
                             möchten, einmal oder des Öfteren mit die-     strierender Teufelskreis für alle Beteiligten.
                             ser Magistratsabteilung zu tun.                    Die Arbeit und die Entscheidungen
                                 In den meisten Fällen wohl eher lang-     der MA 35 beeinflussen das Leben vieler
                             fristig und des Öfteren, da die einzelnen     Menschen sehr stark, gab der Klubobmann
                             Verfahrensschritte meist mit für die Be-      der Wiener Grünen David Ellensohn Mitte
                             troffenen unverständlich langen Bearbei-      April in einer Presseaussendung zu beden-
                             tungsphasen einhergehen. Im letzten Prü-      ken: „Darunter leiden Menschen nicht nur,
                             fersuchen an den Stadtrechnungshof ist zu sondern das ist vertane Lebenszeit, und
                             lesen, dass es selbst bei Verfahren mit op-   viele Menschen werden ihrer Zukunft be-
                             timalen Erteilungsvoraussetzungen bis         raubt – mit Folgen für die ganze Stadt.“
                             zum ersten Verfahrensschritt Monate bis            Die Abteilung bewältigt rund 150.000
                             hin zu einem Dreivierteljahr dauern kann,     Verfahren pro Jahr, die mit einer Million
                             bis etwas geschieht. „Es fehlt innerhalb der Kund*innenkontakten einhergehen. Durch
                             Behörde in großen Teilen an der Fähigkeit     die Kontakteinschränkungen aufgrund der
                             der Einschätzung zur Unterscheidung von       Pandemie und weiterer zusätzlicher Auf-
                             problematischen oder unproblematischen        gaben wie der Brexit-Verfahren erleichter-
                             Unterlagen. Wären die Beamt*innen dazu        te sich das Aufgabenspektrum der Behör-

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de keineswegs und zusätzliche Unterstüt-       Die Prüfenden sollen erheben, wie lange
zung ist mehr als notwendig.                   Verfahren dauern, ob gesetzliche Fristen
     Die Zuständigkeit für die MA 35 liegt     eingehalten werden und außerdem wie
in der neuen Stadtregierung in den Hän-        häufig Beschwerden gegen die Behörde
den des neuen Koalitionspartners NEOS,         erhoben werden. Die Kritik von anderer
konkret in denen des Vizebürgermeisters        Seite über das plötzliche Empören der Grü-
Christoph Wiederkehr. Als Oppositionspoli- nen kommt wiederum auch nicht uner-
tiker kritisierte er die Behörde regelmäßig    wartet. Waren es doch die Grünen selbst,
scharf. Nun stellt er sich vor die             die in den letzten zehn Jahren für Re-
Mitarbeiter*innen und verspricht mehr          formen in der Behörde hätten sorgen kön-
Ressourcen. Im rot-pinken Regierungspro-       nen.
gramm kündigte man* personelle Aufsto-                Für Integrationsstadtrat Wiederkehr
ckung sowie Fortschritte in der Digitalisie-   sei „eine Reform des österreichischen
rung an, was durch den Beschluss von 50        Fremden- und Staatsbürgerschaftsrechts
zusätzlichen Mitarbeiter*innen und einer       längst überfällig. Aus meiner Sicht sollte
neuen Servicestelle langsam an Fahrt auf-      offen diskutiert werden, warum die Tatsa-
nimmt. „Wir haben uns daher eine grund-
sätzliche Neuausrichtung der Abteilung
vorgenommen, die mehrere Jahre in An-
spruch nehmen wird, mit dem Ziel, die MA
                                               Die Ambitionen zur Verbesserung
35 nachhaltig zu einer serviceorientierten     der Situation in der Magistrats-
Behörde weiterzuentwickeln“, so Wieder-
kehr gegenüber asyl aktuell.                   behörde sind durchaus erkennbar.
     „Nur mehr Personal wird sicher nicht
ausreichend sein, auch die Arbeitsweise
muss sich ändern. Die Kommunikation mit        che, dass jemand in Österreich geboren
der Behörde ist de facto unmöglich, weil       und aufgewachsen ist, im Staatsbürger-
man dort in der Regel telefonisch nie-         schaftsrecht noch immer nicht berücksich-
manden erreicht und auch nach Auskunft         tigt wird“. Eine Änderung des rechtlichen
keine klaren Vorgaben kommuniziert wer-        Rahmens auf Bundesebene wäre ohne
den, die man mit längerfristiger Sicherheit    Zweifel ein wichtiger Schritt, um sowohl
den Mandant*innen weitergeben könnte“,         für Betroffene als auch für Behörden wie
meint Fremdenrechtsexperte Neug-               die MA 35 eine Vereinfachung der Verfah-
schwendtner. Der Sprecher für Menschen-        ren zu erreichen. Die Ambitionen zur Ver-
rechte der Wiener Grünen, Niki Kunrath,        besserung der Situation in der Magistrats-
fordert in der Presseaussendung Mitte          behörde sind durchaus erkennbar, aller-
April ebenfalls in erster Linie einen struktu- dings gab es diese auch schon in früheren
rellen Wandel: „Die MA 35 ist die Behörde      Jahren. NGOs und
mit der höchsten Personalfluktuation in        Migrant*innenorganisationen werden auf-
Wien. Es braucht nicht immer mehr neues        merksam beobachten, ob unter dem neu-
Personal, sondern besser geschultes Per-       en Stadtrat merkliche Verbesserungen zu
sonal.“ Aufgrund der Missstände in der MA beobachten sind.
35 haben sie eine neue Untersuchung
durch den Stadtrechnungshof beantragt.

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10 kommentar

                                      Österreichische
K O MME N TAR

                                      Staatsbürgerschaft
                                      als „hohes Gut“
                                      Von Gerd Valchars

                                      Als im Dezember letzten Jahres das Up-       fernte sich so schrittweise von den üb-
                                      date des Migrant Integration Policy Index    rigen westeuropäischen Staaten mit ver-
                                      (MIPEX) veröffentlicht wurde, war die        gleichbarem Migrationsgeschehen und
                                      Überraschung mit Blick auf Österreich ge-    rückte an das restriktive Ende des Ver-
                                      ring: Der Index misst und vergleicht die     gleichsspektrums.
                                      nationalen Integrationspolitiken ausge-          Der ausschließende Charakter des
                                      wählter Staaten in unterschiedlichen Poli-   Gesetzes zieht sich heute wie ein roter Fa-
                                      tikfeldern. Beim Zugang zur Staatsbürger-    den quer durch die Paragraphen und er-
                                      schaft landete Österreich bei diesem Ver-    fasst die unterschiedlichsten Bereiche. Da
                                      gleich von insgesamt 52 Ländern auf fünf     ist zuallererst freilich die Einbürgerung zu
                                      Kontinenten mit 13 von 100 Punkten (ge-      nennen, bei der eine ganze Reihe von ver-
                                      meinsam mit Bulgarien) am letzten Platz.     gleichsweise strengen Voraussetzungen
                                      In keinem anderen Land der Studie (darun- mit wenigen Ausnahmen und exorbitant
                                      ter alle europäischen Staaten) ist es        hohen Gebühren für Antragsteller*innen
                                      schwieriger, die nationale Staatsbürger-     oft zu unüberwindbaren Hürden werden.
                                      schaft zu erwerben. Staaten wie die          Ausschluss produziert aber auch die Rege-
                                      Schweiz (28 Punkte) und Deutschland (42)     lung für den Erwerb der österreichischen
                                      liegen weit entfernt, ebenso der EU-Durch- Staatsbürgerschaft bei Geburt. Kinder er-
                                      schnittswert (40); Schweden und Portugal     halten die Staatsbürgerschaft durch Ab-
                                      (83 bzw. 86), die europäischen Vorzeige-     stammung von österreichischen Eltern.
                                      länder, oder etwa Neuseeland (92), das das Kinder nicht-österreichischer Eltern, die in
                                      Ranking insgesamt anführt, gar Lichtjahre.   Österreich zur Welt kommen, gelten hin-
                                           Österreichs Staatsbürgerschaftspoli-    gegen rechtlich als „fremd“. Das trifft
                                      tik ist eine der restriktivsten, das wurde   mehr als ein Fünftel aller Neugeborenen in
                                      einmal mehr eindrucksvoll empirisch be-      Österreich – seit 2002 sind das in Summe
                                      legt. Und das ist nicht erst seit gestern so: knapp 230.000 Kinder. Wollen sie
                                      Seit den 1990er-Jahren wurde das öster-      Österreicher*innen werden, bleibt ihnen
                                      reichische Staatsbürgerschaftsgesetz         nur der Weg über die Einbürgerung und
                                      wiederholt novelliert und dabei fast aus-    sie müssen dabei (abgesehen von einer
                                      schließlich verschärft. Österreich ent-      verkürzten Aufenthaltsfrist) im Wesent-

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kommentar                                                                                                              11

lichen dieselben strengen Kriterien erfül-    Geburt in Deutschland automatisch auch

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len, wie sie für Migrant*innen gelten.        die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben
     Ganz besonders betroffen von die-        und die Entstehung von Doppelstaatsbür-
sem Zusammenspiel von restriktiver Ein-       gerschaften bei der Einbürgerung ist heu-
bürgerung und restriktivem Erwerb bei         te in der Mehrheit aller Staaten weltweit
Geburt sind in Österreich staatenlos gebo- akzeptiert. Allein der politische Wille fehlt.
rene Kinder. Sie erben die Staatenlosigkeit   Die Verschärfungen im Staatsbürger-
meist von ihren Eltern. Eine erleichterte     schaftsgesetz der letzten zwanzig Jahre
Einbürgerung, bei der sie (bzw. ihre El-      erfolgten unter verschiedenen Regie-
tern) beispielsweise das hohe Einkom-         rungskonstellationen: von rot-schwarz,
menskriterium nicht erfüllen müssen,          über schwarz-blau/orange und erneut
räumt ihnen Österreich aber erst ab           rot-schwarz bis hin zu türkis-blau. In der
18 Jahren und dann nur für zwei Jahre ein. aktuellen türkis-grünen Koalition sind laut
Bis dahin – und wer das knappe Zeitfen-       Regierungsübereinkommen keine weite-
ster verpasst, darüber hinaus – droht Be-     ren Verschärfungen, aber auch keinerlei        Gerd Valchars ist
troffenen, in der Staatenlosigkeit stecken    Erleichterungen geplant. Die politische        Politikwissenschafter
                                                                                             und Länderexperte
zu bleiben.                                   Konstante über all diese Zeit war und ist      Österreich des Global
     Restriktiv ist Österreich schließlich    die rechtskonservative ÖVP, und mit ihr        Citizenship
bei Doppelstaatsbürgerschaften. Die           die Vorstellung von der österreichischen       Observatory
                                                                                             (GLOBALCIT) am
Rücklegung der bisherigen Staatsbürger-       Staatsbürgerschaft als „hohes Gut“, das        Europäischen
schaften gilt im Regelfall als Bedingung      man sich als Migrant*in erst verdienen         Hochschulinstitut
für eine Einbürgerung und wer als             müsse. Auf Kritik war man geradezu stolz.      (EUI) Florenz.
                                                                                             Aktuelle Publikation:
Österreicher*in eine weitere Staatsbür-       Studienergebnisse, die das Gesetz zuerst       Gerd Valchars/Rainer
gerschaft annimmt, verliert die österrei-     als eines der restriktivsten Europas und       Bauböck (2021, im
chische. Migrant*innen müssen also Rech-      später als das restriktivste schlechthin       Erscheinen):
                                                                                             Migration und
te in ihrer alten Heimat aufgeben, um         auswiesen, nahm man als Auszeichnung           Staatsbürgerschaft.
Rechte in der neuen Heimat zugestanden        und Bestätigung. Damit einher geht zwei-       Wien, Verlag der
                                                                                             Österreichischen
zu bekommen. Der Zwang zum Entweder- erlei: Staatsbürgerschaftspolitik wurde zu-
                                                                                             Akademie der
oder, wo auch ein Sowohl-als-auch leicht      nehmend zu einem Instrument symbo-             Wissenschaften.
möglich wäre, erzeugt eine weitere Hürde      lischer Politik, mit der man glaubte, rechte
bei der Einbürgerung und damit Aus-           Wähler*innen halten oder zurückgewinnen
schluss.                                      zu können und mit der man sich selbst
     Lösungen für all diese Probleme lie-     auf- und andere abwerten konnte. Auf der
gen auf dem Tisch und sind anderswo           anderen Seite gerieten grundsätzliche de-
zum Teil schon lange Gesetz. Eine ganze       mokratietheoretische und gesamtgesell-
Reihe europäischer Staaten beispielsweise     schaftliche Überlegungen völlig aus dem
kommt ohne jegliches Einkommenskriteri-       Blick. Zum Schaden aller: Der Betroffenen,
um – das in Österreich eine so große Hür-     die durch den Restriktivismus des Ge-
de darstellt – oder mit einer deutlich kür-   setzes unmittelbar Ausschluss erfahren
zeren Aufenthaltsfrist aus. Deutschland       und denen Rechte vorenthalten werden,
hat bereits 1999 seine Abstammungsregel       und der Demokratie, die kein Abbild der
durch eine Geburtslandregel ergänzt, so-      Gesellschaft und ihrer Interessen mehr
dass unter bestimmten Bedingungen auch sein kann, sondern zu einem krassen sozi-
Kinder nicht-deutscher Eltern bei einer       alen Zerrbild verkommen ist.

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12 lehrlinge

    Abschiebung für Fachkräfte?
                            In ganz Österreich fiebern Lehrlinge ihrer Abschlussprüfung
                            entgegen. Für etwas mehr als 300 von ihnen könnte diese
                            Prüfung das Ende ihres Aufenthalts in Österreich bedeuten.
                            Für diese geflüchteten Lehrlinge gibt es nach wie vor keine
                            pauschale Lösung.
                            Von Herbert Langthaler

                            Können Sie mir helfen, dass ich endlich         eine Lehrstelle in einem großen österrei-
    1 Der wirkliche Namen   einen Bescheid bekomme?“     Karl1   ist ver-   chischen Unternehmen angetreten. Da-
    ist uns bekannt
                            zweifelt. Im kommenden Sommer soll er           mals war es noch möglich, dass Asyl-
                            seine Lehrabschlussprüfung machen,              werbe-r*innen unter 25 Jahren eine Lehre
                            aber er weiß nicht, ob diese Prüfung nicht      in einem Mangelberuf beginnen durften.
                            der Anfang vom Ende seines Lebens in
                            Österreich ist. Der Abschluss der Lehrzeit,     Ende des Lehrlingserlasses
                            für andere Jugendliche in seinem Alter          Dass so womöglich Flüchtlinge über die
                            Grund zur Freude, ist für ihn mit existen-      „Hintertüre“ Arbeitsmarkt trotz negativen
                            zieller Angst besetzt. Karl ist Asylwerber      Asylverfahrens doch noch eine Möglich-
                            aus Afghanistan und hat vor drei Jahren         keit finden könnten, in Österreich zu blei-

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lehrlinge                                                                                      13

ben, führte zu regen Aktivitäten seitens       vom Nationalrat eine Novelle zum Frem-
der im Dezember 2017 angelobten                denpolizeigesetz beschlossen (§ 55a FPG).
rechts-rechten Bundesregierung. Zuerst         Inhalt dieses neuen Unterparagraphen,
(2017) wurden Lehrlinge aus der Arbeit         der für vier Jahre in Kraft bleiben soll, ist
abgeholt und abgeschoben. Als es dage-         die Hemmung der Frist zur Ausreise nach
gen Proteste gab, wurde die 2013 erlas-        einem negativen Asylverfahren bis zum
sene Regelung nach der junge Asylwer-          Lehrabschluss.
ber*innen bis zum 25. Geburtstag eine               Betreffend dieser Erleichterung wur-
Lehre antreten konnten, am 11. Septem-         den damals kritische Stimmen laut, auch
ber 2018 aufgehoben. Den Betroffenen           von der asylkoordination. Wir bezeichne-
sollte auch keine Gelegenheit geboten          ten die Regelung als „kafkaesken Pfusch“
werden, bei negativem Ausgang des              und merkten an, dass „die ÖVP offenkun-
Asylverfahrens die begonnene Lehre             dig die Betroffenen und andere Parteien
beenden zu dürfen.                             an die Wand laufen lässt und scheinbar
     Aber in weiten Teilen der Bevölke-        keine Lösung will, die für die Betroffenen
rung fand die Maßnahme wenig anklang,          und auch ihre Lehrherr*innen Rechtssi-
allen voran bei Wirtschaftstreibenden, die     cherheit bringen könnte. Man lässt alle
ohnehin schwer Lehrlinge finden. Argu-         Beteiligten in der Luft hängen“.
mentiert wurde der Schritt damals in
einem internen Arbeitspapier des Innen-        Die in der Luft hängen
ministeriums mit der Begründung, dass          Tatsächlich wissen Karl und 320 weitere
„jede Sonderlösung für Lehrlinge, die ein      Lehrlinge, die im April 2021 noch in die
gesichertes Bleiberecht bis zum Ende des       § 55a-Regelung fallen, nicht wie es nach
Lehrverhältnisses enthält (...) weitere For-   ihrer Lehrabschlussprüfung weitergehen
derungen nach Ausnahmen nach sich zie-         wird. An der einmal gefundenen „Lösung“
hen würde“. Im Klartext hieß das: keine
neuen Lehrlinge und Abschiebungen trotz
aufrechtem Lehrverhältnis.                     Im Klartext hieß das: keine neuen
     Es regte sich Widerstand: Die vom
damaligen oberösterreichischen Sozial-
                                               Lehrlinge und Abschiebungen trotz
landesrat Rudolf Anschober initiierte Peti-    aufrechtem Lehrverhältnis.
tion „Ausbildung statt Abschiebung“ wur-
de von 80.000 Menschen unterschrieben.
Prominente und Wirtschaftstreibende            wagt niemand zu rütteln. Bekommen die
setzten sich für ein Bleiberecht für Lehr-     Lehrlingsfrage oder einzelne Fälle zu viel
linge ein.                                     Öffentlichkeit, könnte sich die ÖVP, allen
     Dann kam Ibiza und die Grünen in          voran der angeschlagene Kanzler und
die Regierung. Anschober wurde Sozial-         sein Innenminister, wie zuletzt bei den
minister, was es nicht leichter machte,        Kinder-Abschiebungen, als Vertreter einer
die ÖVP zu überzeugen. Nach zähen Ver-         harten Linie profilieren und von anderen
handlungen konnte zwar das Ziel einer          Problemen ablenken. Eine Pauschallösung
generellen Bleiberechtsregelung für alle       für alle Betroffenen scheint also ausge-
Betroffenen nicht erreicht werden, aber        schlossen, auch wenn aus dem Grünen
zumindest wurde am 11. Dezember 2019           Parlamentsklub auf Anfrage zu hören ist,

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14 lehrlinge

                          dass es nach dem Teilerfolg zur Jahres-      Abschluss des Asylverfahrens beim BFA
                          wende 2019/20 (gemeint ist der § 55a         einen Antrag nach § 56 AsylG (humani-
                          FPG) jetzt einen nächsten Schritt brauche,   täres Bleiberecht) eingebracht. Markus ist
                          „deshalb setzen wir uns gegenüber un-        beliebt. Etliche Kurgäste haben schon
                          serem Koalitionspartner weiterhin dafür      Briefe aufgesetzt, in denen sie seine Lie-
                          ein, dass die Betroffenen auch nach ab-      benswürdigkeit, sein gutes Deutsch und
                          solvierter Lehre eine dauerhafte Bleibe-     sein professionelles Auftreten loben. Der
                          perspektive in Österreich erhalten“. Man*    Arbeitgeber hat sich den Kopf zerbro-
                          werde aber eher hinter den Kulissen tätig, chen, wie er Markus behalten könne und
                          damit „die entsprechenden Verfahren zü-      ist auf den Gedanken gekommen, dass er
                          gig und pragmatisch abgewickelt wer-         noch ein Jahr an seine Lehrzeit anhängen
                                                                       und auch gleich seinen Abschluss als Koch
                                                                       machen könnte.
     Zentraler Punkt bleibt die Vorlage                                    Am meisten Rückenstärkung be-
                                                                       kommt er aber von seiner „österreichi-
     eines Originaldokuments aus dem                                   schen Familie“, bei der er seit vier Jahren
                                                                       lebt und die versucht, ihn aus dem
     Herkunftsland Afghanistan.                                        schwarzen Loch, in das der ansonsten
                                                                       sonnige Markus angesichts seiner unsi-
                                                                       cheren Zukunft von Zeit zu Zeit zu kippen
                          den“, heißt es aus dem Grünen Parla-         droht, herauszuziehen. In den letzten Mo-
                          mentsclub. Auch bei den NGOs vertraut        naten war das allerdings nicht mehr ohne
                          man* eher auf die geltenden Gesetze, die     therapeutische Unterstützung möglich.
                          für Menschen nach fünfjährigem Aufent-       „Die Psychotherapie hat sehr geholfen.
                          halt in Österreich, wenn sie „selbsterhal-   Jetzt geht es ihm wieder besser und er ist
                          tungsfähig“ sind und über eine „schu-        zuversichtlich, dass er eine Zukunft in Ös-
                          lische und berufliche Ausbildung, und die    terreich haben wird“, erzählt seine öster-
                          Kenntnisse der deutschen Sprache“ ver-       reichische „Ersatzmutter“.
                          fügen, die Möglichkeit eines Aufenthalts-        Inzwischen hat auch die zuständige
                          titels (nach § 56 AsylG) vorsehen.           BFA-Regionaldirektion auf den Antrag auf
                              Etliche Fälle sind auch schon positiv    „humanitäres Bleiberecht“ reagiert und
                          abgeschlossen worden. Die Betroffenen        einen „Verbesserungsauftrag“ erteilt.
                          können mit einer Aufenthaltsberechti-        Zentraler Punkt dabei ist die Vorlage eines
                          gung plus weiter in ihrem erlernten Beruf    Originaldokuments/Passes aus dem Her-
                          arbeiten und sich, von nagenden Sorgen       kunftsland Afghanistan.
                          befreit, dem Aufbau einer Existenz in Ös-
                          terreich widmen.                             Tabuzone Botschaft
                                                                       Markus hat zwar keinen afghanischen
                          Im schwarzen Loch                            Reisepass, aber eine Tazkira (afghanischer
    2 Auch seinen Namen   Für viele geht das Zittern allerdings wei-   Staatsbürgerschaftsnachweis). Diese liegt
    kennen wir.
                          ter. Markus2, ein weiterer junger Mann,      allerdings in seinem Akt beim BFA. Dank
                          der seine Lehre als Restaurantfachkraft in   Unterstützung durch Markus’ österreichi-
                          einem Kurhotel im September abschlie-        scher „Familie“ wird ihm das Originaldo-
                          ßen wird, hat zwei Jahre nach negativem      kument problemlos ausgehändigt. Der

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lehrlinge                                                                                                            15

                                                                                            Die Papiere müssen
                                                                                            nach Kabul ins
                                                                                            Ministerium geschickt
                                                                                            werden und auch
                                                                                            wenn es keine
                                                                                            Probleme gibt, kann
                                                                                            der Pass frühestens in
                                                                                            acht Monaten in Wien
                                                                                            abgeholt werden.

nächste Schritt ist ein Termin bei der af-         Also wird vorerst nur ein E-Mail an
ghanischen Botschaft in Wien. Abgesehen        die afghanische Botschaft gerichtet, das
davon, dass Markus’ Zeit zwischen Arbeit       zunächst unbeantwortet bleibt. Auskünfte
und Berufsschule dicht getaktet ist und        werden letztlich nur telefonisch gegeben
eine Reise nach Wien nicht so leicht un-       und auch ein in Wien lebender Cousin, der
terzubringen ist, lässt die Vorstellung, die   mit den Dokumenten ausgeschickt wird,
afghanische Botschaft aufzusuchen, Mar-        bekommt nur die gleiche Antwort: Die Pa-
kus erschrecken. Eigentlich wollte er mit      piere müssen nach Kabul ins Ministerium
dem Land, in dem er keine Sicherheit und       geschickt werden und auch wenn es keine
Zukunft gesehen hatte, nichts mehr zu          Probleme bei der Ausstellung gibt, kann
tun haben. Außerdem war klar, dass             der Pass frühestens in acht Monaten in
während des laufenden Asylverfahrens           Wien abgeholt werden.
jeder Kontakt mit der Botschaft des Her-           Die Frist für den Verbesserungsauf-
kunftslandes von den Asylbehörden da-          trag beim BFA läuft inzwischen. Markus
hingehend ausgelegt wird, dass man*            ist verunsichert. Seine österreichischen
sich wieder in den Schutz des Herkunfts-       Unterstützer*innen schreiben der Bot-
landes begeben habe, ergo keinen inter-        schaft, telefonieren mit NGOs und dem
nationalen Schutz benötige. Er ist kein        BFA. Vor Ablauf der Frist werden alle vor-
Einzelfall und auch österreichische            handenen Unterlagen nebst der E-Mail-
Unterstützer*innen befürchten, dass es         Empfangsbestätigung der Botschaft beim
Probleme geben könnte, wenn Kontakt            BFA eingereicht und weiter gewartet – in-
mit der Botschaft aufgenommen wird.            zwischen hat Markus gehört, dass es Fälle
Manche glauben, die Polizei lauere vor         gegeben hat, bei denen das BFA eine Auf-
der Botschaft, um Geflüchtete in Schub-        enthaltsberechtigung plus auch ohne
haft zu nehmen.                                Pass ausgestellt hat.

asyl aktuell 1/2021
16 lehrlinge

                              Prinzipiell ist das auch möglich, wenn – auch in diesem Fall Afghanistan – beizu-
                          klar ist, dass den*die Antragsteller*in kei-   bringen war und die Frist für den Verbes-
                          ne Schuld an der Verzögerung trifft.           serungsauftrag abgelaufen war.
                          Manchmal wird dafür ein Schreiben der
                          Botschaft verlangt. Es kann auch ein „Hei- Fachkräfte für den großen Bruder
                          lungsantrag“ gestellt werden.                  Dass in ähnlichen Konstellationen schon
                              Karl hat das Problem mit dem feh-          junge Männer in Panik Österreich verlas-
                          lenden Pass zwar nicht und in dem Bun-         sen haben und in anderen EU-Staaten ihr
                          desland, in dem er lebt und arbeitet, hat      Heil versuchten, gehört ebenso zu den
                          es in den letzten Monaten schon einige         Resultaten der absurden österreichischen
                          positive Bleiberechtsentscheidungen (§ 56 Politik wie der Fall von Horst, dessen ös-
                          AsylG) gegeben, trotzdem macht ihn das         terreichische „Ersatzmutter“ mit besonde-
                          Warten auf eine Entscheidung des BFA           rer Hartnäckigkeit nicht nur die österrei-
                          knapp zwei Monate vor seiner Abschluss-        chische Rechtslage, sondern auch jene
                          prüfung mehr als nervös. Sich auf die          der deutschen Nachbar*innen studiert
                          Prüfung vorzubereiten, fällt schwer. Täg-      hat. Dort hat sie in dem im März 2020 in
                          lich führt er Telefonate mit österreichi-      Kraft getretenen Fachkräfteeinwande-
                          schen Freund*innen, NGO-Beratungsstel-         rungsgesetz eine Möglichkeit für Horst
                          len und der Anwaltskanzlei, die ihn ver-       gefunden, seine in Österreich erwor-
                          tritt. Auch die Personalvertretung des         benen Qualifikationen einzusetzen.
                          Konzerns, bei dem er seine Lehre absol-            Zwar war sein Asylverfahren in Öster-
                          viert hat, wurde schon aktiv. Die allge-       reich schon negativ abgeschlossen und ein
                          meine Einschätzung, es werde schon gut         Antrag auf humanitäres Bleiberecht er-
                          gehen, bringt in der angespannten Lage         schien zum damaligen Zeitpunkt wenig
                          nur wenig Beruhigung.                          aussichtsreich, aber da er sich noch in
                              Nicht in allen Regionaldirektionen         Österreich aufhielt, zwar mit einer auf-
                          des BFA haben die Beamt*innen einen            rech-ten Rückkehrentscheidung aber ohne
                                                                         Aufenthaltsverbot (das für alle EU-Länder
                                                                         gilt, also auch für Deutschland), stand der
     Das Warten auf eine Entscheidung                                    Einleitung eines beschleunigten Fachkräf-
                                                                         teverfahrens nichts im Wege.
     des BFA knapp zwei Monate vor                                           Allerdings ist dieses alles andere
                                                                         als einfach. Der*die potentielle Arbeitgebe-
     seiner Abschlussprüfung macht ihn                                   r*in muss den Antrag einbringen. Die Qua-

     mehr als nervös.                                                    lifikation muss überprüft und anerkannt
                                                                         werden und schließlich von der deutschen
                                                                         Botschaft in Österreich ein Visum zur lega-
                          serviceorientierten Zugang und informie-       len Einreise ausgestellt werden. Erleich-
                          ren die Klient*innen über ihre Möglich-        ternd erwies sich für Horst, dass sein ös-
                          keiten. So ist der asylkoordination auch       terreichischer Arbeitgeber ein Tochterun-
                          ein Fall bekannt, bei dem ein Antrag eines ternehmen des deutschen Unternehmens
                          Lehrlings auf eine Aufenthaltsberechti-        ist, das den Antrag einbrachte.
                          gung plus (AB+) negativ beschieden wur-            Trotz zwischenzeitlicher Probleme mit
                          de, weil kein Pass aus dem Herkunftsland       einigen österreichischen Behörden – ande-

    asyl aktuell 1/2021
lehrlinge                                                                                 17

re erwiesen sich als durchaus kooperativ     den. Selbst wenn keine dieser in Österrei-
– und Hürden bei der Anerkennung der in      ch ausgebildeten Fachkräfte abgeschoben
Österreich erworbenen Qualifikation stand    werden sollte, bleibt der Ärger und die
der Übersiedlung Horsts ins benachbarte      Kritik an der völlig unflexiblen, nur von
EU-Ausland schließlich nichts im Wege.       politischer Opportunität gesteuerten
     Dass es dann doch noch gelungen ist,
in Österreich ein Aufenthaltsrecht zu er-
wirken, ist eine andere Geschichte.
     Der Fall zeigt neben der Absurdität
                                             Manche glauben, die Polizei lauere
der österreichischen Praxis, die pragma-     vor der Botschaft, um Geflüchtete
tische und an den volkswirtschaftlichen
Notwendigkeiten (wahrscheinlich weni-        in Schubhaft zu nehmen.
ger, aber auch an menschenrechtlichen
Standards) orientierte deutsche Praxis.
     Zu hoffen ist, dass die Probleme der    Asyl- und Fremdenpolitik der österreichi-
noch immer von existenzieller Unsicher-      schen Regierung und der erbarmungs-
heit betroffenen jungen Männer zumin-        losen Praxis der ausführenden Behörden.
dest als Einzelfälle gelöst werden können.   Die Gelegenheit, rechtliche Möglichkeiten
Die psychischen Schäden, die verlorenen      für die Regularisierung bestimmter Grup-
Jahre und die Frustration der Betroffenen    pen illegalisierter Geflüchteter zu schaf-
können nicht aus der Welt geschafft wer-     fen, wurde wieder einmal versäumt.

asyl aktuell 1/2021
18 interview
I N TE R VI E W

                       Mehr
                       Pragmatik,
                       weniger
                       Willkür

                                        Im Frühjahr erregte die Abschiebung mehrerer
                                        Familien nach jahrelangem Aufenthalt in Österreich
                                        mediales Aufsehen. Besondere Empörung verursachten
                                        Bilder von Kindern, die trotz heftiger Proteste,
                                        bei Nacht und Nebel außer Landes gebracht wurden.
                                        Im Zuge dieser Vorfälle gab es verschiedene Vorschläge,
                                        wie solche „Fälle“ in Zukunft menschlich und
                                        juristisch befriedigend gelöst werden könnten.
                                        Die asylkoordination forderte: „Wir brauchen ein
                                        neues Bleiberecht.“ Wie könnte ein solches aussehen?
                                        Mit Kevin Fredy Hinterberger sprach
                                        Herbert Langthaler.
                  asyl aktuell 1/2021
interview                                                                                       19

aa: Sie haben in Ihrer Dissertation die Re-        KFH: Nein. In der Asylstatistik wird

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gularisierungspolitiken in Deutschland,       immer nur von humanitären Aufenthalts-
Österreich und Spanien verglichen. Kann       titeln gesprochen. Dort ist aber nicht auf-
man bei den aktuellen Regelungen über-        geschlüsselt, welche Tatbestände darun-
haupt von einer Regularisierungsmöglich-
keit in Österreich sprechen?
     KFH: Das hängt zuerst einmal von         „Es gibt wenige Menschen, die
der Definition ab, was man überhaupt als
Regularisierung verstehen kann. Ich           lange irregulär aufhältig in
habe Regularisierung als jede adminis-
trative oder verwaltungsgerichtliche          Österreich bleiben und nie einen
Entscheidung definiert, die irregulär
aufhältigen Migrant*innen bei Antrag
                                              Asylantrag stellen.“
gemäß der Mindesterteilungsvorausset-
zungen ein Aufenthaltsrecht gewährt.
     Was mir bei der Definition von Regu-     terfallen. Grundsätzlich sind die „Aufent-
larisierung wichtig ist, dass ich Regulari-   haltstitel aus berücksichtigungswürdigen
sierung nicht aus dem Asylverfahren he-       Gründen“ in Österreich in den §§ 54ff
raus denke. In Österreich und Deutsch-        AsylG geregelt. Darunter fallen das schon
land gibt es eine sehr starke Verquickung     angesprochene Bleiberecht (§ 55 AsylG
des Asylrechts mit Regularisierungen und      „Aufenthaltstitel aus Gründen des Art.8
Bleiberechtstatbeständen. Mir war aber        EMRK“), der „Aufenthaltstitel in besonders
wichtig, dass ich Tatbestände nur als Re-     berücksichtigungswürdigen Fällen“ (§ 56
gularisierung definiere, wenn es auch ei-     AsylG) und die „Aufenthaltsberechtigung
ne Antragsmöglichkeit gibt, die irregulär     besonderer Schutz“ (§ 57 AsylG). Man
aufhältigen Migrant*innen zur Verfügung       kann wohl davon ausgehen, dass die mei-
steht und nicht, wie es in Österreich oft     sten dem § 55 AsylG zuzuordnen sind. §§
ist, Asylverfahren durchlaufen werden         56-57 spielen wohl nur eine untergeord-
und die Migrant*innen am Ende mit             nete Rolle.
einem Bleiberecht dastehen.
     Unter diese Definition fällt der Bleibe- aa: Weiß man*, wie viele Migrant*innen,
rechtstatbestand, also der § 55 AsylG je-     die langjährig illegalisiert sind, also jene,
denfalls, weil es ein Antragsverfahren        die nicht aus dem Asylverfahren kommen,
gibt und teilweise wird das natürlich auch solche Anträge stellen?
im Asylrechtsverfahren geprüft. Ich wür-           KFH: Aus der eigenen Beratungspra-
de auf jeden Fall sagen, dass § 55 AsylG      xis, die zwar schon mehrere Jahre zurück-
der wichtigste Regularisierungstitel in Ös- liegt, würde ich vorsichtig sagen, dass es
terreich ist.                                 wenige Menschen gibt, die lange irregulär
                                              aufhältig in Österreich bleiben und nie
aa: Weiß man*, wie viele von den „Auf-        einen Asylantrag stellen. Das ist sicher die
enthaltstiteln aus berücksichtigungswür-      absolute Ausnahme, aber ich kenne keine
digen Gründen“ aufgrund von Antrags-          Studien dazu. Ich würde aber sagen, dass
verfahren erteilt wurden und wie viele        die meisten Betroffenen zumindest ein
aus dem Asylverfahren kommen?                 Asylverfahren durchlaufen und ein

asyl aktuell 1/2021
20 interview

                                        schutzwürdiges Privat- und/oder Famili-           KFH: Auch in Spanien hat es eine
I N TE R VI E W

                                        enleben oder gewisse Bindungen vorwei-       Rechtsprechung zu Ausweisungsent-
                                        sen, die eine Ausweisung oder Rückkehr-      scheidungen gegeben, die auf Grund von
                                        entscheidung unzulässig machen.              Art. 8 EMRK unzulässig sind. Dort hat sich
                                                                                     allerdings ein Aufenthaltstitel herauskri-
                                        aa: Was ist das Problem an der derzei-       stallisiert, der sich „soziale Verwurze-
                                        tigen österreichischen Konstruktion?         lung“ nennt. Der Aufenthaltstitel baut auf
                                                                                     harten Kriterien auf – nicht wie das öster-
                                                                                     reichische Recht, das auf einem flexiblen
                  „Aus Sicht der Betroffenen ist                                     System aufbaut – in dem es eine Abwä-
                                                                                     gungsentscheidung gibt. Erstens muss
                  problematisch, dass die Voraus-                                    man* drei Jahre in Spanien gewesen sein,
                                                                                     irregulär oder regulär aufhältig. Zweitens
                  setzungen oftmals sehr schwierig                                   muss ein unterzeichneter Arbeitsvertrag

                  zu erfüllen sind.“                                                 vorgelegt werden. Dieser Ansatz ist ganz
                                                                                     anders und funktioniert in der Praxis, zu-
                                                                                     mindest laut spanischen Berichten, sehr
                                             KFH: Das muss man historisch be-        gut und ist quantitativ sicher die wich-
                                        trachten. Aus der Rechtsprechung des         tigste Regularisierung in Spanien.
                                        Verfassungsgerichtshofes wurden im Zu-       aa: Spanische NGO-Kolleg*innen haben
                                        sammenhang mit Art. 8 EMRK, also dem         erzählt, dass in Spanien viele Menschen
                                        „Recht auf Achtung des Privat- und Fami-     nicht über das Asylsystem kommen, weil
                                        lienlebens“, gewisse Kriterien entwickelt.   es diese Möglichkeit der Regularisierung
                                        Diese sind mittlerweile auch im § 9 BFA-     gibt. Würde es eine Entlastung für das ös-
                                        Verfahrensgesetz vorgegeben. Das BFA         terreichische Asylsystem bedeuten, wenn
                                        bzw. das BVwG wäge nun die Interessen        es andere Möglichkeiten gebe, einen Auf-
                                        der Betroffenen an einem geschützten         enthaltstitel zu erlangen, oder kann man
                                        Privat- und Familienleben gegen die Inte-    Österreich und Spanien bezüglich dieses
                                        ressen Österreichs an der Aufenthaltsbe-     Themas nicht miteinander vergleichen?
                                        endigung ab. Aus Sicht der Betroffenen            KFH: Eins zu eins vergleichen lassen
                                        ist problematisch, dass die Vorausset-       sich die Systeme natürlich nicht. Aber
                                        zungen oftmals sehr schwierig zu erfüllen wenn es in Österreich ein Aufenthalts-
                                        sind. In der Praxis zeigt sich, dass es      recht für irregulär aufhältige Personen
                                        Menschen gibt, die die Kriterien nicht er-   gebe, das niederschwelliger wäre als der
                                        füllen können und man deshalb, anden-        Bleiberechtstitel, dann glaube ich schon,
                                        ken könnte, § 55 AsylG abzuändern, um        dass das Asylverfahren entlastet werden
                                        Personen, die diese relativ hohe Schwelle    könnte. Denn es gibt Asylanträge, wo die
                                        zum Bleiberecht nicht überschreiten, die     Betroffenen unter Umständen besser
                                        Erlangung eines anderen Aufenthaltstitels dran wären, wenn es einen anderen Auf-
                                        zu ermöglichen.                              enthaltstitel gebe, weil keine Gründe für
                                                                                     Verfolgung im Sinne der GFK vorliegen.
                                        Regularisierung im Ländervergleich           Das müsste natürlich immer in einem
                                        aa: Könnten wir aus den Regelungen in        rechtsstaatlichen Verfahren geprüft wer-
                                        Spanien etwas lernen?                        den und jede*r muss natürlich die Mög-

                  asyl aktuell 1/2021
interview                                                                                                                   21

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                                                                                                                          I N TE R VI E W
                                                                                               dass irregulär aufhäl-
                                                                                               tige Migrant*innen in
                                                                                               Österreich kein Recht
                                                                                               auf Sozialleistungen
                                                                                               oder Gesundheits-
                                                                                               versorgung haben.

lichkeit haben, einen Asylantrag zu stel-      Arbeitskräfte hintanhält und dass zwei-
len.                                           tens das Asylverfahren entlastet werden
       Umgekehrt muss man* sagen, dass         könnte.
in Spanien die Asylzuerkennungen derart
niedrig sind, dass es nicht den Regelfall      aa: Viele Migrant*innen müssen einen
darstellt, einen Asylantrag zu stellen, weil   Asylantrag stellen, auch wenn es Leute
meist keine Chance auf die Zuerkennung         aus dem Balkan sind oder aus Moldawien,
internationalen Schutzes besteht. Außer-       die sich mit Fluchtgründen nach der GFK
dem sind die Personengruppen, die in           schwer tun. Diese Personen sind oft
Spanien und Österreich irregulär einrei-       schon lange in Österreich. Sie könnten die
sen und sich aufhalten, sehr unterschied-      „soziale Verwurzelung“ wahrscheinlich
lich. In Spanien gibt es Migrant*innen,        schon nachweisen. Wäre das ein gang-
die, weil sie aus Südamerika kommen,           barer Ansatz für Österreich?
schon Spanisch sprechen. Diese Personen             KFH: Ein wichtiger Punkt ist diesbe-
haben natürlich auch leichter die Mög-         züglich, dass irregulär aufhältige
lichkeit, sich vorab in den Arbeitsmarkt zu Migrant*innen in Österreich kein Recht
integrieren, dort undokumentiert be-           auf Sozialleistungen oder Gesundheits-
schäftigt zu sein und anschließend den         versorgung haben, wohingegen in Spani-
Aufenthaltstitel der „sozialen Verwurze-       en dieser Zugang schon gegeben ist. Das
lung“ zu erlangen.                             heißt, dass diese Personen kontextuell
       Im Ländervergleich sind ein paar        viel bessergestellt sind, auch während
Faktoren zu berücksichtigen. Gebe es ei-       der Zeit, in der sie irregulär aufhältig sind
nen niederschwelligen Aufenthaltstitel,        und bis zu dem Moment, wo sie einen
der irregulär aufhältigen Personen zu-         Aufenthaltstitel bekommen. Spanien geht
gänglich wäre, würde das wohl dazu füh-        hier einen eigenen Weg. Das ganze Sys-
ren, dass man* erstens undokumentierte         tem ist anders und hat auch andere An-
Beschäftigung und die Ausbeutung dieser sprüche. In Österreich ist es hingegen so,

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