Asyl aktuell Staatsbürgerschaft
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asyl 1 • 2021 aktuell Zeitschrift der asylkoordination österreich Staatsbürgerschaft Lehrlinge – Vor der Abschiebung? Bleiberecht – Interview mit Kevin Fredy Hinterberger Sozialhilfe Neu – Organisierte Desintegration
übersicht Inhalt 01 Editorial 03 Der steinige Weg zur Staatsbürgerschaft in Österreich Michael Mayböck 05 Wer hier geboren ist, ist von hier Anna Warnung 08 MA 35 – Zwischen Überlastung und Reform(versuch) Michael Mayböck und Anna Warnung 10 Österreichische Staatsbürgerschaft als „hohes Gut“ Kommentar von Gerd Valchars 12 Abschiebung für Fachkräfte Herbert Langthaler 18 Mehr Pragmatik, weniger Willkür Interview mit Kevin Fredy Hinterberger 26 Kein sicherer Weg Maria Fellinger und Elisabeth Sarah Steiner 30 Organisierte Desintegration Isabella Maurer 38 Mädchen auf der Flucht Christina Steyskal 44 Landschaft – Seebrücke in Österreich 46 Kurzmeldungen 53 Bücher asyl aktuell 1/2021
editorial 1 EUROPA MUSS VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN Heuer jährt sich die Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention zum 70. Mal. 1951 war den meisten Politiker*innen klar, dass nie mehr Menschen, die Schutz vor Verfolgung brau- chen, vor verschlossenen Grenzbalken stehen sollen, nie mehr schutzlos ihren Mörder*innen ausgeliefert werden dürfen, nie mehr um den halben Globus irren dürfen, um vielleicht Schutz gewährt zu bekommen. Millionen haben seither internationalen Schutz – Asyl – bekommen, leben in Sicherheit und sind den Bürger*innen der schutzgewährenden Staaten weitestgehend gleichgestellt. Der Internationale Flüchtlingstag (20. Juni) könnte also ein Tag des Feierns sein. Leider ist er das nicht. Heute hat sich in EUropa eine neue Politiker*innengeneration breitgemacht. Gewissenlose Populist*innen, die Ängste schüren und geflüchtete Menschen dämonisieren. Nicht nur, dass diese Politiker*innen die unbedingte Notwendigkeit eines Instruments zum Flüchtlingsschutz in Frage stellen, sie setzen sich in der Praxis längst über ihre vertraglichen Verpflichtungen hinweg, verweigern Schutzsuchenden die Aufnahme, lassen Menschen im Mittelmeer ertrin- ken und schieben sie in Staaten ab, in denen ihnen Gefahr, Folter und Tod drohen. Gleichzeitig tun diese EUropäischen Politiker*innen nichts, um die Ursachen für die globalen, grenzüberschreitenden Fluchtbewegungen, von denen – wie das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge dokumentiert – heute mehr als 20 Millionen Menschen betroffen sind, zu bekämp- fen. Weiter werden Konflikte angeheizt, die Waffenproduktion gesteigert und Kriegsschau- plätze im globalen Süden (aber auch zuletzt im Kaukasus) als Versuchslabor für die Rüstungs- industrie verwendet. Gerade in den letzten Wochen haben – so zu sagen als vergiftetes Geschenk zum 70 Geburts- tag der GFK – zwei Staaten schier unglaubliche Maßnahmen angekündigt. Griechenland den Einsatz von Schallkanonen gegen Geflüchtete an der griechisch-türkischen Grenze, eine Hand- lung die, wenn sie tatsächlich stattfinden sollte, ganz klar gegen die Antifolterkonvention ver- stößt. Und Dänemark ein Gesetz, das es ermöglichen würde Geflüchtete während ihrer Asylverfahren in Lager in Staaten außerhalb der EU zu internieren. Die Europäische Union als Ganzes plant mit dem zurzeit diskutierten Asylpaket die Legalisie- rung der menschenverachtenden Praxis an den EU-Außengrenzen: Zurückweisungen, Lager und kon-zertierte Abschiebungen sollen in Zukunft die gemeinsame EUropäische Asylpolitik bestimmen. Wir fordern die Rückkehr auf den Boden der internationalen Flüchtlings- und Menschenrechte: • Bewegungsfreiheit und faire Asylverfahren für Geflüchtete innerhalb der Europäischen Union, • Verbot von Zurückweisungen in Drittländer und Abschiebungen in Krisenregionen, • Substantielle Ausweitung von Resettlement- und Relocation-Programmen, • Untersuchung der Übergriffe an den EU-Außengrenzen und Sanktionen für die Verant- wortlichen, • Bekämpfung von Fluchtursachen: Stopp der EUropäischen Rüstungsexporte und Repa- ra-tionszahlungen an die Opfer von Kolonialismus und Sklavenhandel. Herbert Langthaler (Rede anlässlich des Internationalen Flüchtlingstages 2021) asyl aktuell 1/2021
2 staatsbürgerschaft I Der steinige Weg zur Staatsbürgerschaft in Österreich Laut Migration Bertholt Brecht schrieb vom Pass als dem edelsten Teil des Integration Policy Index 2020 liegt Österreich Menschen. In Österreich scheint sich daran nichts geändert am letzten Platz der über 50 analysierten zu haben. Politiker*innen schwadronieren von der Länder, wenn es um den Zugang zur Staats- Staatbürgerschaft als dem „Gipfel der Integration“ und viele bürgerschaft geht. Betroffene können über die Hürden berichten, die es zu überwinden gibt, um sie zu erlangen. Von Michael Mayböck Die Staatsbürgerschaft: Eine Anerken- borenen hinzugewonnen werden und nung verbunden mit politischen und ge- auch im Jahr 2021 gilt die Verleihung der sellschaftlichen Rechten, eine Garantie für Staatsbürgerschaft in Österreich als „Gip- Sicherheit und Freiheit. Eine Idee, ent- fel der Integration“. standen im antiken Griechenland, die un- Diese Interpretation von Staatsbür- ser aller Leben noch heute prägt. Schon gerschaft schließt jedoch einen erheb- damals konnten diese Rechte und Sicher- lichen Teil der in Österreich lebenden und heiten von Nicht-mit-diesen-Rechten-Ge- sehr oft schon hier geborenen Menschen asyl aktuell 1/2021
staatsbürgerschaft I 3 aus und führt die zugrundeliegende Idee sellschaft, vor allem einkommensschwa- der Inklusion ad absurdum. che Migrant*innen und Schutzberech- Bemühen sich all diese Menschen tigte. Diese Entwicklung bringt ein demo- nicht darum? Um die Staatsbürgerschaft kratisches Defizit für Österreich mit sich des Landes, in dem sie leben? Was hin- und stiehlt Menschen ihre Stimme inner- dert sie daran und warum ist ein angeb- halb ihrer Gesellschaft. lich inklusiver Prozess so restriktiv gestal- tet? #2 – Menschen, die das Recht auf Im Folgenden durchleuchten wir den die österreichische Staatsbürgerschaft Weg zur Staatsbürgerschaft, und wollen hätten und dieses Recht nicht so mit Vorurteilen und Halbwahrheiten beanspruchen, fühlen sich nur ihrem zum Thema Staatsbürgerschaft und Ein- Herkunftsland zugehörig. bürgerung aufräumen. Zuallererst haben auch Menschen, die in #1 – Menschen, die das Recht auf Österreich geboren wurden und ihr gan- die österreichische Staatsbürgerschaft zes Leben hier verbracht haben, durch die hätten und dieses Recht nicht aktuelle Gesetzeslage im Prinzip keinen beanspruchen, sind selbst schuld. Anspruch auf den Erwerb der österreichi- schen Staatsbürgerschaft. Die Folgen die- Wichtig zu wissen: Österreich hat die re- ser Regelung und das damit erzeugte Ge- striktivsten Bestimmungen für die Verlei- hung der Staatsbürgerschaft in ganz Eur- opa. Laut Migration Integration Policy In- „Ein Mensch kann überall zustande dex (MIPEX) 2020 liegt Österreich sogar am letzten Platz der über 50 analysierten kommen, auf die leichtsinnigste Länder, wenn es um den Zugang zur Staatsbürgerschaft geht. Art, aber ein Pass niemals. Dafür Konkret heißt das: Fast nirgends ist der Weg zur Staatsbürgerschaft so auf- wird er auch anerkannt, wenn er wendig und kostspielig wie in Österreich. gut ist. Während ein Mensch noch Die Voraussetzungen reichen von hohen Richtwerten für regelmäßige Einkünfte so gut sein kann und nicht aner- über hohe Anforderungen im Bereich von Sprachkenntnissen bis hin zu einer inhalt- kannt wird.“ (Bertholt Brecht, 1940) lich realitätsfernen Staatsbürgerschafts- prüfung. Unterstützung für die Bewälti- gung dieser Hürden gibt es keine. Dazu fühl des Ausgeschlossenwerdens werden kommen ungewöhnlich lange Fristen, von massiv unterschätzt. bis zu zehn Jahren, bis überhaupt ein An- Neben den bereits erwähnten Vo- trag gestellt werden kann. raussetzungen und Anforderungen für Die Folge dessen ist eine strukturelle die Erlangung der österreichischen Diskriminierung durch den Ausschluss Staatsbürgerschaft sind die hohen finan- von demokratischen Rechten für einen ziellen Kosten ein ausschlaggebender erheblichen Teil der österreichischen Ge- Grund für die Verhinderung der Einbürge- asyl aktuell 1/2021
4 staatsbürgerschaft I rung. Das durchschnittlich niedrige Ein- betrachten. Auch die zuvor genannten kommen von Menschen mit Migrations- Voraussetzungen zur Einbürgerung sind hintergrund und Neueingewanderten kein Garant für „gelungene Integration“ schließt aufgrund unrealistisch hoher fi- und die Staatsbürgerschaft als „Krönung nanzieller Voraussetzungen eine erheb- der Integration“ ein nationalistischer My- liche Gruppe der österreichischen Gesell- thos. Einen sichtbaren Beweis für den Wunsch nach politischer Partizipation die- „Dass es so etwas gibt wie ein ser ausgeschlossenen Gruppe der Gesell- schaft bietet die von SOS Mitmensch ab- Recht, Rechte zu haben, wissen gehaltene „Pass Egal Wahl“. Dabei sind in Österreich lebende Menschen, die durch wir erst, seitdem Millionen von ihre fehlende österreichische Staatsbür- gerschaft von den offiziellen Wahlen aus- Menschen dieses Recht verloren geschlossen sind, aufgerufen, ihre Stim- haben und nicht imstande sind, me abzugeben. Sie wird in Wien seit 2013 parallel zu österreichischen Wahlgängen es wiederzugewinnen.“ veranstaltet und erfreut sich steigender Beliebtheit. (Hannah Arendt, 1955) Trotz dieses unverständlichen Aus- schlusses von politischer Mitbestimmung engagieren sich allein in Wien hunderte schaft von ihren Mitbestimmungsrechten Vereine – gegründet und organisiert von aus. Migrant*innen – für bildungs- und inte- Diese diskriminierte Bevölkerungs- grationsfördernde Maßnahmen und bie- gruppe setzt sich zum großen Teil aus ten dazu Kurse, Orientierung und Zusam- Menschen zusammen, die entweder ihr menhalt an. Herkunftsland lediglich als regelmäßige Urlaubsdestination kennen, seit Jahr- zehnten nicht mehr oder manchmal noch nie betreten haben. Für sie ist Österreich seit jeher ihr Lebensmittelpunkt, dem sie sich auch zugehörig fühlen. #3 – Menschen, die das Recht auf die österreichische Staatsbürgerschaft hätten und dieses Recht nicht beanspruchen, haben kein Interesse an Integration und Partizipation. Wichtig erscheint erstmal, das abstrakte, ideologisch und politisch aufgeladene Konstrukt „Integration“ von den Privile- gien der Staatsbürgerschaft getrennt zu asyl aktuell 1/2021
staatsbürgerschaft II 5 So müssen beispiels- weise sogar hier gebo- rene Kinder für ihre Einbürgerung ein Mindesteinkommen über ihre Eltern nach- weisen. Wer hier geboren ist, ist von hier Die #hiergeboren-Kampagne und die Petition „JA zur Einbürgerung hier geborener Kinder!“ von SOS Mitmensch wollen Bewusstsein für die Unhaltbarkeit des Ausschlusses eines Teils der Bevölkerung schärfen und Druck für ein faires Einbürgerungsrecht in Österreich erzeugen. Von Anna Warnung In Österreich leben derzeit mehr als müssen beispielsweise sogar hier gebore- 220.000 hier geborene Menschen ohne ös- ne Kinder für ihre Einbürgerung ein Min- terreichische Staatsbürgerschaft. Das sind desteinkommen über ihre Eltern nachwei- mehr als doppelt so viele wie 2007. Mehr sen. Obwohl diese Kinder und Jugend- als 80.000 weitere Menschen haben keine lichen hier leben, gelten sie für den Staat österreichische Staatsbürgerschaft, leben als „Fremde“, wodurch es zur massiven jedoch seit sie Kleinkinder sind in Österrei- Ungleichbehandlung und Einschränkung ch. Insgesamt sind das 3,4 Prozent der ös- von Rechten kommt. Der Fall der geor- terreichischen Bevölkerung. gischen (!) Schülerin Tina hat gezeigt, dass Diese Ausgrenzung wird durch hohe die Folgen dieser systematischen Ausgren- Einbürgerungshürden vorangetrieben. So zung bis hin zur brutalen Abschiebung hier asyl aktuell 1/2021
6 staatsbürgerschaft II Die Einkommenser- fordernisse in Öster- reich stellen eine ex- trem hohe Hürde auf dem Weg zur Einbür- gerung dar. geborener Kinder und Jugendlicher führen tend mit dem Verlust der Menschenrechte“ können. Durch ein Recht auf Einbürgerung ist, wie es Hannah Arendt schon 1955 for- durch Geburt in Österreich könnte so et- muliert. was verhindert werden. In Österreich müssen für eine Chance auf Einbürgerung ein langjähriger legaler Hartnäckiges Blutrecht Aufenthalt, ein Mindesteinkommen und un- In Österreich gilt das sogenannte „ius san- ter anderem Deutschkenntnisse und Unbe- guinis“ (Blutrecht). Nach dieser extrem aus- scholtenheit nachgewiesen werden. Die schließenden Logik zählt für die Staatbür- Einkommenserfordernisse in Österreich gerschaft ausschließlich die Abstammung stellen eine extrem hohe Hürde auf dem der Eltern und deren Vorfahren, nicht der Weg zur Einbürgerung dar und unterschei- Ort der Geburt. Hier geborene Kinder und den sich teils stark von jenen in anderen Jugendliche gelten somit oft als „Fremde“ Ländern. So gibt es beispielweise in Schwe- für den Staat, selbst wenn sie von hier den, Portugal und den Niederlanden über- sind. haupt keine Einkommensbedingungen. An- Während in den USA Kinder, die dort dere Staaten, so wie Deutschland, setzen geboren werden, automatisch eingebür- auf deutlich niedrigere erforderliche Min- gert werden, erhält in Österreich jedes desteinkommen. Das derzeitige Recht fünfte Neugeborene keine österreichische schließt Personen mit einem dauerhaft zu Staatsbürgerschaft. Das sind täglich 49 niedrigen Einkommen oder einer zu gerin- Kinder, die hier als „Fremde“ geboren wer- gen Pension für den Rest ihres Lebens von den. Nicht einmal staatenlose in Österreich der Möglichkeit, die österreichische Staats- geborene Kinder werden automatisch ein- bürgerschaft zu erlangen, aus. Laut AMS- gebürgert. Doch keine Staatszugehörigkeit Gehaltskompass reicht das Einstiegsgehalt zu besitzen, bedeutet das Fehlen bürgerli- in über 800 Berufen bei Vollzeitbeschäfti- cher Rechte, was „politisch gleichbedeu- gung nicht dafür aus, um als asyl aktuell 1/2021
staatsbürgerschaft II 7 Alleinerhalter*in einer Familie die absurde lose und kostenfreie Einbürgerung von Einkommenshürde für die Einbürgerung zu hier geborenen Kindern, deren Eltern bei überspringen. der Geburt erst kurz im Land sind, späte- stens im Alter von sechs Jahren und aller Gefürchtete Doppelstaatsbürgerschaft jungen Menschen, die als Kinder nach Ös- Eine weitere Hürde stellt der österrei- terreich gekommen sind, damit sie mit 16 chische Grundsatz der Vermeidung mehr- wählen können. facher Staatsangehörigkeit dar. Österreich lässt im Allgemeinen keine Doppel- oder Mehrfachstaatsbürgerschaften zu. Bis auf wenige Ausnahmen müssen Menschen, die Eine weitere Hürde stellt der die österreichische Staatsbürgerschaft österreichische Grundsatz der durch Verleihung erwerben wollen, aus dem bisherigen Staatsverband ausschei- Vermeidung mehrfacher den. Einige Länder verweigern bezie- hungsweise erschweren ihren Staatsangehörigkeit dar. Bürger*innen jedoch regelmäßig die Ent- lassung aus der Staatsangehörigkeit. Ge- genwärtig sind das Afghanistan1, Algerien, Die #hiergeboren-Kampagne erfreut 1 Für Afghanistan Eritrea, Iran, Kuba, Libanon, Marokko, Sy- sich auch prominenter Unterstützer*innen, stimmt das so nicht mehr. Österreich ver- rien und Tunesien, wie auf der Website der wie beispielsweise Anja Plaschg, Manuel langt inzwischen die deutschen Bundesregierung zu lesen ist. Rubey, Karl Markovics, Mavie Hörbiger Entlassung aus der af- ghanischen Staatsbür- Dies führt dazu, dass die Betroffenen mit oder Zeynep Buyraç. Sie alle fordern die gerschaft, die von den besonderen Problemen auf dem Weg zur Staatsbürgerschaft für in Österreich gebo- Behörden in Kabul Einbürgerung konfrontiert werden. rene und aufgewachsene Kinder und Ju- auch bescheinigt wird – allerdings mit erheb- gendliche. Denn: „Wer hier geboren ist lichen Verzögerungen. Kein Pass, keine Stimme oder hier aufgewachsen ist, ist von hier.“ „Diese Frist kann man Ohne die österreichische Staatsbürger- nur einhalten, indem man die Behörden be- schaft ist man* von demokratischer Mitbe- Um Genaueres zu den Forderungen und sticht und damit die stimmung und politischen Prozessen weit- Hintergründen zu erfahren, empfiehlt sich Korruption fördert“, gehend ausgeschlossen. Das Wahlrecht ist ein Blick auf die Homepage von SOS Mit- schreibt ein Betrof- fener in einer Stellung- an die Staatsbürgerschaft gekoppelt, wo- mensch, auf der auch die Petition „JA zur nahme an die MA 35 durch über die Köpfe derer, die betroffen Einbürgerung hier geborener Kinder!“ un- (Magistratsabteilung sind, entschieden wird. SOS Mitmensch terschrieben werden kann: für Einwanderung und Staatsbürgerschaft der möchte die wachsende Ausgrenzung von www.sosmitmensch.at/hiergeboren Stadt Wien) . in Österreich lebenden Menschen beenden und fordert daher im Rahmen der #hierge- boren-Kampagne und der Petition „JA zur Einbürgerung hier geborener Kinder!“ die automatische Verleihung der österreichi- schen Staatsbürgerschaft an alle, die hier geboren wurden bzw. hier zur Welt kom- men, wenn zumindest ein Elternteil schon sechs Jahre hier lebt und die bedingungs- asyl aktuell 1/2021
8 staatsbürgerschaft III MA 35 – Zwischen Überlastung und Reform(versuch) Die Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftsbehörde der Stadt Wien steht erneut in der Kritik. Einblicke in die bestehenden Probleme mit der Behörde und konkrete Pläne zu deren Lösung. Von Michael Mayböck und Anna Warnung Die Magistratsabteilung 35 – Einwande- im Stande, würde das die Arbeits- und rung und Staatsbürgerschaft gilt laut Zu- Wartezeit für alle Seiten erheblich reduzie- ständigkeitszuordnung der Stadt Wien als ren“, berichtet Fremdenrechtsexperte Tho- Hüterin und Helferin für Menschen ohne mas Neugschwendtner aus seiner Erfah- österreichische Staatsbürgerschaft, die rung. Dass es nach diesem ersten Schritt sich im Bundesland beziehungsweise der keineswegs schneller vorangeht, zeigen Gemeinde Wien niederlassen möchten und dokumentierte Verfahrensverzögerungen im Allgemeinen auch für jene, die gerne von mehr als vier Jahren, welche wiede- die österreichische Staatsbürgerschaft er- rum dazu führen, dass zu Beginn der Pro- halten würden. Daher haben sehr viele zedur übermittelte Unterlagen veraltet Menschen, die in Wien leben und leben sind und ersetzt werden müssen. Ein fru- möchten, einmal oder des Öfteren mit die- strierender Teufelskreis für alle Beteiligten. ser Magistratsabteilung zu tun. Die Arbeit und die Entscheidungen In den meisten Fällen wohl eher lang- der MA 35 beeinflussen das Leben vieler fristig und des Öfteren, da die einzelnen Menschen sehr stark, gab der Klubobmann Verfahrensschritte meist mit für die Be- der Wiener Grünen David Ellensohn Mitte troffenen unverständlich langen Bearbei- April in einer Presseaussendung zu beden- tungsphasen einhergehen. Im letzten Prü- ken: „Darunter leiden Menschen nicht nur, fersuchen an den Stadtrechnungshof ist zu sondern das ist vertane Lebenszeit, und lesen, dass es selbst bei Verfahren mit op- viele Menschen werden ihrer Zukunft be- timalen Erteilungsvoraussetzungen bis raubt – mit Folgen für die ganze Stadt.“ zum ersten Verfahrensschritt Monate bis Die Abteilung bewältigt rund 150.000 hin zu einem Dreivierteljahr dauern kann, Verfahren pro Jahr, die mit einer Million bis etwas geschieht. „Es fehlt innerhalb der Kund*innenkontakten einhergehen. Durch Behörde in großen Teilen an der Fähigkeit die Kontakteinschränkungen aufgrund der der Einschätzung zur Unterscheidung von Pandemie und weiterer zusätzlicher Auf- problematischen oder unproblematischen gaben wie der Brexit-Verfahren erleichter- Unterlagen. Wären die Beamt*innen dazu te sich das Aufgabenspektrum der Behör- asyl aktuell 1/2021
staatsbürgerschaft III 9 de keineswegs und zusätzliche Unterstüt- Die Prüfenden sollen erheben, wie lange zung ist mehr als notwendig. Verfahren dauern, ob gesetzliche Fristen Die Zuständigkeit für die MA 35 liegt eingehalten werden und außerdem wie in der neuen Stadtregierung in den Hän- häufig Beschwerden gegen die Behörde den des neuen Koalitionspartners NEOS, erhoben werden. Die Kritik von anderer konkret in denen des Vizebürgermeisters Seite über das plötzliche Empören der Grü- Christoph Wiederkehr. Als Oppositionspoli- nen kommt wiederum auch nicht uner- tiker kritisierte er die Behörde regelmäßig wartet. Waren es doch die Grünen selbst, scharf. Nun stellt er sich vor die die in den letzten zehn Jahren für Re- Mitarbeiter*innen und verspricht mehr formen in der Behörde hätten sorgen kön- Ressourcen. Im rot-pinken Regierungspro- nen. gramm kündigte man* personelle Aufsto- Für Integrationsstadtrat Wiederkehr ckung sowie Fortschritte in der Digitalisie- sei „eine Reform des österreichischen rung an, was durch den Beschluss von 50 Fremden- und Staatsbürgerschaftsrechts zusätzlichen Mitarbeiter*innen und einer längst überfällig. Aus meiner Sicht sollte neuen Servicestelle langsam an Fahrt auf- offen diskutiert werden, warum die Tatsa- nimmt. „Wir haben uns daher eine grund- sätzliche Neuausrichtung der Abteilung vorgenommen, die mehrere Jahre in An- spruch nehmen wird, mit dem Ziel, die MA Die Ambitionen zur Verbesserung 35 nachhaltig zu einer serviceorientierten der Situation in der Magistrats- Behörde weiterzuentwickeln“, so Wieder- kehr gegenüber asyl aktuell. behörde sind durchaus erkennbar. „Nur mehr Personal wird sicher nicht ausreichend sein, auch die Arbeitsweise muss sich ändern. Die Kommunikation mit che, dass jemand in Österreich geboren der Behörde ist de facto unmöglich, weil und aufgewachsen ist, im Staatsbürger- man dort in der Regel telefonisch nie- schaftsrecht noch immer nicht berücksich- manden erreicht und auch nach Auskunft tigt wird“. Eine Änderung des rechtlichen keine klaren Vorgaben kommuniziert wer- Rahmens auf Bundesebene wäre ohne den, die man mit längerfristiger Sicherheit Zweifel ein wichtiger Schritt, um sowohl den Mandant*innen weitergeben könnte“, für Betroffene als auch für Behörden wie meint Fremdenrechtsexperte Neug- die MA 35 eine Vereinfachung der Verfah- schwendtner. Der Sprecher für Menschen- ren zu erreichen. Die Ambitionen zur Ver- rechte der Wiener Grünen, Niki Kunrath, besserung der Situation in der Magistrats- fordert in der Presseaussendung Mitte behörde sind durchaus erkennbar, aller- April ebenfalls in erster Linie einen struktu- dings gab es diese auch schon in früheren rellen Wandel: „Die MA 35 ist die Behörde Jahren. NGOs und mit der höchsten Personalfluktuation in Migrant*innenorganisationen werden auf- Wien. Es braucht nicht immer mehr neues merksam beobachten, ob unter dem neu- Personal, sondern besser geschultes Per- en Stadtrat merkliche Verbesserungen zu sonal.“ Aufgrund der Missstände in der MA beobachten sind. 35 haben sie eine neue Untersuchung durch den Stadtrechnungshof beantragt. asyl aktuell 1/2021
10 kommentar Österreichische K O MME N TAR Staatsbürgerschaft als „hohes Gut“ Von Gerd Valchars Als im Dezember letzten Jahres das Up- fernte sich so schrittweise von den üb- date des Migrant Integration Policy Index rigen westeuropäischen Staaten mit ver- (MIPEX) veröffentlicht wurde, war die gleichbarem Migrationsgeschehen und Überraschung mit Blick auf Österreich ge- rückte an das restriktive Ende des Ver- ring: Der Index misst und vergleicht die gleichsspektrums. nationalen Integrationspolitiken ausge- Der ausschließende Charakter des wählter Staaten in unterschiedlichen Poli- Gesetzes zieht sich heute wie ein roter Fa- tikfeldern. Beim Zugang zur Staatsbürger- den quer durch die Paragraphen und er- schaft landete Österreich bei diesem Ver- fasst die unterschiedlichsten Bereiche. Da gleich von insgesamt 52 Ländern auf fünf ist zuallererst freilich die Einbürgerung zu Kontinenten mit 13 von 100 Punkten (ge- nennen, bei der eine ganze Reihe von ver- meinsam mit Bulgarien) am letzten Platz. gleichsweise strengen Voraussetzungen In keinem anderen Land der Studie (darun- mit wenigen Ausnahmen und exorbitant ter alle europäischen Staaten) ist es hohen Gebühren für Antragsteller*innen schwieriger, die nationale Staatsbürger- oft zu unüberwindbaren Hürden werden. schaft zu erwerben. Staaten wie die Ausschluss produziert aber auch die Rege- Schweiz (28 Punkte) und Deutschland (42) lung für den Erwerb der österreichischen liegen weit entfernt, ebenso der EU-Durch- Staatsbürgerschaft bei Geburt. Kinder er- schnittswert (40); Schweden und Portugal halten die Staatsbürgerschaft durch Ab- (83 bzw. 86), die europäischen Vorzeige- stammung von österreichischen Eltern. länder, oder etwa Neuseeland (92), das das Kinder nicht-österreichischer Eltern, die in Ranking insgesamt anführt, gar Lichtjahre. Österreich zur Welt kommen, gelten hin- Österreichs Staatsbürgerschaftspoli- gegen rechtlich als „fremd“. Das trifft tik ist eine der restriktivsten, das wurde mehr als ein Fünftel aller Neugeborenen in einmal mehr eindrucksvoll empirisch be- Österreich – seit 2002 sind das in Summe legt. Und das ist nicht erst seit gestern so: knapp 230.000 Kinder. Wollen sie Seit den 1990er-Jahren wurde das öster- Österreicher*innen werden, bleibt ihnen reichische Staatsbürgerschaftsgesetz nur der Weg über die Einbürgerung und wiederholt novelliert und dabei fast aus- sie müssen dabei (abgesehen von einer schließlich verschärft. Österreich ent- verkürzten Aufenthaltsfrist) im Wesent- asyl aktuell 1/2021
kommentar 11 lichen dieselben strengen Kriterien erfül- Geburt in Deutschland automatisch auch K O MME N TAR len, wie sie für Migrant*innen gelten. die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben Ganz besonders betroffen von die- und die Entstehung von Doppelstaatsbür- sem Zusammenspiel von restriktiver Ein- gerschaften bei der Einbürgerung ist heu- bürgerung und restriktivem Erwerb bei te in der Mehrheit aller Staaten weltweit Geburt sind in Österreich staatenlos gebo- akzeptiert. Allein der politische Wille fehlt. rene Kinder. Sie erben die Staatenlosigkeit Die Verschärfungen im Staatsbürger- meist von ihren Eltern. Eine erleichterte schaftsgesetz der letzten zwanzig Jahre Einbürgerung, bei der sie (bzw. ihre El- erfolgten unter verschiedenen Regie- tern) beispielsweise das hohe Einkom- rungskonstellationen: von rot-schwarz, menskriterium nicht erfüllen müssen, über schwarz-blau/orange und erneut räumt ihnen Österreich aber erst ab rot-schwarz bis hin zu türkis-blau. In der 18 Jahren und dann nur für zwei Jahre ein. aktuellen türkis-grünen Koalition sind laut Bis dahin – und wer das knappe Zeitfen- Regierungsübereinkommen keine weite- ster verpasst, darüber hinaus – droht Be- ren Verschärfungen, aber auch keinerlei Gerd Valchars ist troffenen, in der Staatenlosigkeit stecken Erleichterungen geplant. Die politische Politikwissenschafter und Länderexperte zu bleiben. Konstante über all diese Zeit war und ist Österreich des Global Restriktiv ist Österreich schließlich die rechtskonservative ÖVP, und mit ihr Citizenship bei Doppelstaatsbürgerschaften. Die die Vorstellung von der österreichischen Observatory (GLOBALCIT) am Rücklegung der bisherigen Staatsbürger- Staatsbürgerschaft als „hohes Gut“, das Europäischen schaften gilt im Regelfall als Bedingung man sich als Migrant*in erst verdienen Hochschulinstitut für eine Einbürgerung und wer als müsse. Auf Kritik war man geradezu stolz. (EUI) Florenz. Aktuelle Publikation: Österreicher*in eine weitere Staatsbür- Studienergebnisse, die das Gesetz zuerst Gerd Valchars/Rainer gerschaft annimmt, verliert die österrei- als eines der restriktivsten Europas und Bauböck (2021, im chische. Migrant*innen müssen also Rech- später als das restriktivste schlechthin Erscheinen): Migration und te in ihrer alten Heimat aufgeben, um auswiesen, nahm man als Auszeichnung Staatsbürgerschaft. Rechte in der neuen Heimat zugestanden und Bestätigung. Damit einher geht zwei- Wien, Verlag der Österreichischen zu bekommen. Der Zwang zum Entweder- erlei: Staatsbürgerschaftspolitik wurde zu- Akademie der oder, wo auch ein Sowohl-als-auch leicht nehmend zu einem Instrument symbo- Wissenschaften. möglich wäre, erzeugt eine weitere Hürde lischer Politik, mit der man glaubte, rechte bei der Einbürgerung und damit Aus- Wähler*innen halten oder zurückgewinnen schluss. zu können und mit der man sich selbst Lösungen für all diese Probleme lie- auf- und andere abwerten konnte. Auf der gen auf dem Tisch und sind anderswo anderen Seite gerieten grundsätzliche de- zum Teil schon lange Gesetz. Eine ganze mokratietheoretische und gesamtgesell- Reihe europäischer Staaten beispielsweise schaftliche Überlegungen völlig aus dem kommt ohne jegliches Einkommenskriteri- Blick. Zum Schaden aller: Der Betroffenen, um – das in Österreich eine so große Hür- die durch den Restriktivismus des Ge- de darstellt – oder mit einer deutlich kür- setzes unmittelbar Ausschluss erfahren zeren Aufenthaltsfrist aus. Deutschland und denen Rechte vorenthalten werden, hat bereits 1999 seine Abstammungsregel und der Demokratie, die kein Abbild der durch eine Geburtslandregel ergänzt, so- Gesellschaft und ihrer Interessen mehr dass unter bestimmten Bedingungen auch sein kann, sondern zu einem krassen sozi- Kinder nicht-deutscher Eltern bei einer alen Zerrbild verkommen ist. asyl aktuell 1/2021
12 lehrlinge Abschiebung für Fachkräfte? In ganz Österreich fiebern Lehrlinge ihrer Abschlussprüfung entgegen. Für etwas mehr als 300 von ihnen könnte diese Prüfung das Ende ihres Aufenthalts in Österreich bedeuten. Für diese geflüchteten Lehrlinge gibt es nach wie vor keine pauschale Lösung. Von Herbert Langthaler Können Sie mir helfen, dass ich endlich eine Lehrstelle in einem großen österrei- 1 Der wirkliche Namen einen Bescheid bekomme?“ Karl1 ist ver- chischen Unternehmen angetreten. Da- ist uns bekannt zweifelt. Im kommenden Sommer soll er mals war es noch möglich, dass Asyl- seine Lehrabschlussprüfung machen, werbe-r*innen unter 25 Jahren eine Lehre aber er weiß nicht, ob diese Prüfung nicht in einem Mangelberuf beginnen durften. der Anfang vom Ende seines Lebens in Österreich ist. Der Abschluss der Lehrzeit, Ende des Lehrlingserlasses für andere Jugendliche in seinem Alter Dass so womöglich Flüchtlinge über die Grund zur Freude, ist für ihn mit existen- „Hintertüre“ Arbeitsmarkt trotz negativen zieller Angst besetzt. Karl ist Asylwerber Asylverfahrens doch noch eine Möglich- aus Afghanistan und hat vor drei Jahren keit finden könnten, in Österreich zu blei- asyl aktuell 1/2021
lehrlinge 13 ben, führte zu regen Aktivitäten seitens vom Nationalrat eine Novelle zum Frem- der im Dezember 2017 angelobten denpolizeigesetz beschlossen (§ 55a FPG). rechts-rechten Bundesregierung. Zuerst Inhalt dieses neuen Unterparagraphen, (2017) wurden Lehrlinge aus der Arbeit der für vier Jahre in Kraft bleiben soll, ist abgeholt und abgeschoben. Als es dage- die Hemmung der Frist zur Ausreise nach gen Proteste gab, wurde die 2013 erlas- einem negativen Asylverfahren bis zum sene Regelung nach der junge Asylwer- Lehrabschluss. ber*innen bis zum 25. Geburtstag eine Betreffend dieser Erleichterung wur- Lehre antreten konnten, am 11. Septem- den damals kritische Stimmen laut, auch ber 2018 aufgehoben. Den Betroffenen von der asylkoordination. Wir bezeichne- sollte auch keine Gelegenheit geboten ten die Regelung als „kafkaesken Pfusch“ werden, bei negativem Ausgang des und merkten an, dass „die ÖVP offenkun- Asylverfahrens die begonnene Lehre dig die Betroffenen und andere Parteien beenden zu dürfen. an die Wand laufen lässt und scheinbar Aber in weiten Teilen der Bevölke- keine Lösung will, die für die Betroffenen rung fand die Maßnahme wenig anklang, und auch ihre Lehrherr*innen Rechtssi- allen voran bei Wirtschaftstreibenden, die cherheit bringen könnte. Man lässt alle ohnehin schwer Lehrlinge finden. Argu- Beteiligten in der Luft hängen“. mentiert wurde der Schritt damals in einem internen Arbeitspapier des Innen- Die in der Luft hängen ministeriums mit der Begründung, dass Tatsächlich wissen Karl und 320 weitere „jede Sonderlösung für Lehrlinge, die ein Lehrlinge, die im April 2021 noch in die gesichertes Bleiberecht bis zum Ende des § 55a-Regelung fallen, nicht wie es nach Lehrverhältnisses enthält (...) weitere For- ihrer Lehrabschlussprüfung weitergehen derungen nach Ausnahmen nach sich zie- wird. An der einmal gefundenen „Lösung“ hen würde“. Im Klartext hieß das: keine neuen Lehrlinge und Abschiebungen trotz aufrechtem Lehrverhältnis. Im Klartext hieß das: keine neuen Es regte sich Widerstand: Die vom damaligen oberösterreichischen Sozial- Lehrlinge und Abschiebungen trotz landesrat Rudolf Anschober initiierte Peti- aufrechtem Lehrverhältnis. tion „Ausbildung statt Abschiebung“ wur- de von 80.000 Menschen unterschrieben. Prominente und Wirtschaftstreibende wagt niemand zu rütteln. Bekommen die setzten sich für ein Bleiberecht für Lehr- Lehrlingsfrage oder einzelne Fälle zu viel linge ein. Öffentlichkeit, könnte sich die ÖVP, allen Dann kam Ibiza und die Grünen in voran der angeschlagene Kanzler und die Regierung. Anschober wurde Sozial- sein Innenminister, wie zuletzt bei den minister, was es nicht leichter machte, Kinder-Abschiebungen, als Vertreter einer die ÖVP zu überzeugen. Nach zähen Ver- harten Linie profilieren und von anderen handlungen konnte zwar das Ziel einer Problemen ablenken. Eine Pauschallösung generellen Bleiberechtsregelung für alle für alle Betroffenen scheint also ausge- Betroffenen nicht erreicht werden, aber schlossen, auch wenn aus dem Grünen zumindest wurde am 11. Dezember 2019 Parlamentsklub auf Anfrage zu hören ist, asyl aktuell 1/2021
14 lehrlinge dass es nach dem Teilerfolg zur Jahres- Abschluss des Asylverfahrens beim BFA wende 2019/20 (gemeint ist der § 55a einen Antrag nach § 56 AsylG (humani- FPG) jetzt einen nächsten Schritt brauche, täres Bleiberecht) eingebracht. Markus ist „deshalb setzen wir uns gegenüber un- beliebt. Etliche Kurgäste haben schon serem Koalitionspartner weiterhin dafür Briefe aufgesetzt, in denen sie seine Lie- ein, dass die Betroffenen auch nach ab- benswürdigkeit, sein gutes Deutsch und solvierter Lehre eine dauerhafte Bleibe- sein professionelles Auftreten loben. Der perspektive in Österreich erhalten“. Man* Arbeitgeber hat sich den Kopf zerbro- werde aber eher hinter den Kulissen tätig, chen, wie er Markus behalten könne und damit „die entsprechenden Verfahren zü- ist auf den Gedanken gekommen, dass er gig und pragmatisch abgewickelt wer- noch ein Jahr an seine Lehrzeit anhängen und auch gleich seinen Abschluss als Koch machen könnte. Zentraler Punkt bleibt die Vorlage Am meisten Rückenstärkung be- kommt er aber von seiner „österreichi- eines Originaldokuments aus dem schen Familie“, bei der er seit vier Jahren lebt und die versucht, ihn aus dem Herkunftsland Afghanistan. schwarzen Loch, in das der ansonsten sonnige Markus angesichts seiner unsi- cheren Zukunft von Zeit zu Zeit zu kippen den“, heißt es aus dem Grünen Parla- droht, herauszuziehen. In den letzten Mo- mentsclub. Auch bei den NGOs vertraut naten war das allerdings nicht mehr ohne man* eher auf die geltenden Gesetze, die therapeutische Unterstützung möglich. für Menschen nach fünfjährigem Aufent- „Die Psychotherapie hat sehr geholfen. halt in Österreich, wenn sie „selbsterhal- Jetzt geht es ihm wieder besser und er ist tungsfähig“ sind und über eine „schu- zuversichtlich, dass er eine Zukunft in Ös- lische und berufliche Ausbildung, und die terreich haben wird“, erzählt seine öster- Kenntnisse der deutschen Sprache“ ver- reichische „Ersatzmutter“. fügen, die Möglichkeit eines Aufenthalts- Inzwischen hat auch die zuständige titels (nach § 56 AsylG) vorsehen. BFA-Regionaldirektion auf den Antrag auf Etliche Fälle sind auch schon positiv „humanitäres Bleiberecht“ reagiert und abgeschlossen worden. Die Betroffenen einen „Verbesserungsauftrag“ erteilt. können mit einer Aufenthaltsberechti- Zentraler Punkt dabei ist die Vorlage eines gung plus weiter in ihrem erlernten Beruf Originaldokuments/Passes aus dem Her- arbeiten und sich, von nagenden Sorgen kunftsland Afghanistan. befreit, dem Aufbau einer Existenz in Ös- terreich widmen. Tabuzone Botschaft Markus hat zwar keinen afghanischen Im schwarzen Loch Reisepass, aber eine Tazkira (afghanischer 2 Auch seinen Namen Für viele geht das Zittern allerdings wei- Staatsbürgerschaftsnachweis). Diese liegt kennen wir. ter. Markus2, ein weiterer junger Mann, allerdings in seinem Akt beim BFA. Dank der seine Lehre als Restaurantfachkraft in Unterstützung durch Markus’ österreichi- einem Kurhotel im September abschlie- scher „Familie“ wird ihm das Originaldo- ßen wird, hat zwei Jahre nach negativem kument problemlos ausgehändigt. Der asyl aktuell 1/2021
lehrlinge 15 Die Papiere müssen nach Kabul ins Ministerium geschickt werden und auch wenn es keine Probleme gibt, kann der Pass frühestens in acht Monaten in Wien abgeholt werden. nächste Schritt ist ein Termin bei der af- Also wird vorerst nur ein E-Mail an ghanischen Botschaft in Wien. Abgesehen die afghanische Botschaft gerichtet, das davon, dass Markus’ Zeit zwischen Arbeit zunächst unbeantwortet bleibt. Auskünfte und Berufsschule dicht getaktet ist und werden letztlich nur telefonisch gegeben eine Reise nach Wien nicht so leicht un- und auch ein in Wien lebender Cousin, der terzubringen ist, lässt die Vorstellung, die mit den Dokumenten ausgeschickt wird, afghanische Botschaft aufzusuchen, Mar- bekommt nur die gleiche Antwort: Die Pa- kus erschrecken. Eigentlich wollte er mit piere müssen nach Kabul ins Ministerium dem Land, in dem er keine Sicherheit und geschickt werden und auch wenn es keine Zukunft gesehen hatte, nichts mehr zu Probleme bei der Ausstellung gibt, kann tun haben. Außerdem war klar, dass der Pass frühestens in acht Monaten in während des laufenden Asylverfahrens Wien abgeholt werden. jeder Kontakt mit der Botschaft des Her- Die Frist für den Verbesserungsauf- kunftslandes von den Asylbehörden da- trag beim BFA läuft inzwischen. Markus hingehend ausgelegt wird, dass man* ist verunsichert. Seine österreichischen sich wieder in den Schutz des Herkunfts- Unterstützer*innen schreiben der Bot- landes begeben habe, ergo keinen inter- schaft, telefonieren mit NGOs und dem nationalen Schutz benötige. Er ist kein BFA. Vor Ablauf der Frist werden alle vor- Einzelfall und auch österreichische handenen Unterlagen nebst der E-Mail- Unterstützer*innen befürchten, dass es Empfangsbestätigung der Botschaft beim Probleme geben könnte, wenn Kontakt BFA eingereicht und weiter gewartet – in- mit der Botschaft aufgenommen wird. zwischen hat Markus gehört, dass es Fälle Manche glauben, die Polizei lauere vor gegeben hat, bei denen das BFA eine Auf- der Botschaft, um Geflüchtete in Schub- enthaltsberechtigung plus auch ohne haft zu nehmen. Pass ausgestellt hat. asyl aktuell 1/2021
16 lehrlinge Prinzipiell ist das auch möglich, wenn – auch in diesem Fall Afghanistan – beizu- klar ist, dass den*die Antragsteller*in kei- bringen war und die Frist für den Verbes- ne Schuld an der Verzögerung trifft. serungsauftrag abgelaufen war. Manchmal wird dafür ein Schreiben der Botschaft verlangt. Es kann auch ein „Hei- Fachkräfte für den großen Bruder lungsantrag“ gestellt werden. Dass in ähnlichen Konstellationen schon Karl hat das Problem mit dem feh- junge Männer in Panik Österreich verlas- lenden Pass zwar nicht und in dem Bun- sen haben und in anderen EU-Staaten ihr desland, in dem er lebt und arbeitet, hat Heil versuchten, gehört ebenso zu den es in den letzten Monaten schon einige Resultaten der absurden österreichischen positive Bleiberechtsentscheidungen (§ 56 Politik wie der Fall von Horst, dessen ös- AsylG) gegeben, trotzdem macht ihn das terreichische „Ersatzmutter“ mit besonde- Warten auf eine Entscheidung des BFA rer Hartnäckigkeit nicht nur die österrei- knapp zwei Monate vor seiner Abschluss- chische Rechtslage, sondern auch jene prüfung mehr als nervös. Sich auf die der deutschen Nachbar*innen studiert Prüfung vorzubereiten, fällt schwer. Täg- hat. Dort hat sie in dem im März 2020 in lich führt er Telefonate mit österreichi- Kraft getretenen Fachkräfteeinwande- schen Freund*innen, NGO-Beratungsstel- rungsgesetz eine Möglichkeit für Horst len und der Anwaltskanzlei, die ihn ver- gefunden, seine in Österreich erwor- tritt. Auch die Personalvertretung des benen Qualifikationen einzusetzen. Konzerns, bei dem er seine Lehre absol- Zwar war sein Asylverfahren in Öster- viert hat, wurde schon aktiv. Die allge- reich schon negativ abgeschlossen und ein meine Einschätzung, es werde schon gut Antrag auf humanitäres Bleiberecht er- gehen, bringt in der angespannten Lage schien zum damaligen Zeitpunkt wenig nur wenig Beruhigung. aussichtsreich, aber da er sich noch in Nicht in allen Regionaldirektionen Österreich aufhielt, zwar mit einer auf- des BFA haben die Beamt*innen einen rech-ten Rückkehrentscheidung aber ohne Aufenthaltsverbot (das für alle EU-Länder gilt, also auch für Deutschland), stand der Das Warten auf eine Entscheidung Einleitung eines beschleunigten Fachkräf- teverfahrens nichts im Wege. des BFA knapp zwei Monate vor Allerdings ist dieses alles andere als einfach. Der*die potentielle Arbeitgebe- seiner Abschlussprüfung macht ihn r*in muss den Antrag einbringen. Die Qua- mehr als nervös. lifikation muss überprüft und anerkannt werden und schließlich von der deutschen Botschaft in Österreich ein Visum zur lega- serviceorientierten Zugang und informie- len Einreise ausgestellt werden. Erleich- ren die Klient*innen über ihre Möglich- ternd erwies sich für Horst, dass sein ös- keiten. So ist der asylkoordination auch terreichischer Arbeitgeber ein Tochterun- ein Fall bekannt, bei dem ein Antrag eines ternehmen des deutschen Unternehmens Lehrlings auf eine Aufenthaltsberechti- ist, das den Antrag einbrachte. gung plus (AB+) negativ beschieden wur- Trotz zwischenzeitlicher Probleme mit de, weil kein Pass aus dem Herkunftsland einigen österreichischen Behörden – ande- asyl aktuell 1/2021
lehrlinge 17 re erwiesen sich als durchaus kooperativ den. Selbst wenn keine dieser in Österrei- – und Hürden bei der Anerkennung der in ch ausgebildeten Fachkräfte abgeschoben Österreich erworbenen Qualifikation stand werden sollte, bleibt der Ärger und die der Übersiedlung Horsts ins benachbarte Kritik an der völlig unflexiblen, nur von EU-Ausland schließlich nichts im Wege. politischer Opportunität gesteuerten Dass es dann doch noch gelungen ist, in Österreich ein Aufenthaltsrecht zu er- wirken, ist eine andere Geschichte. Der Fall zeigt neben der Absurdität Manche glauben, die Polizei lauere der österreichischen Praxis, die pragma- vor der Botschaft, um Geflüchtete tische und an den volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten (wahrscheinlich weni- in Schubhaft zu nehmen. ger, aber auch an menschenrechtlichen Standards) orientierte deutsche Praxis. Zu hoffen ist, dass die Probleme der Asyl- und Fremdenpolitik der österreichi- noch immer von existenzieller Unsicher- schen Regierung und der erbarmungs- heit betroffenen jungen Männer zumin- losen Praxis der ausführenden Behörden. dest als Einzelfälle gelöst werden können. Die Gelegenheit, rechtliche Möglichkeiten Die psychischen Schäden, die verlorenen für die Regularisierung bestimmter Grup- Jahre und die Frustration der Betroffenen pen illegalisierter Geflüchteter zu schaf- können nicht aus der Welt geschafft wer- fen, wurde wieder einmal versäumt. asyl aktuell 1/2021
18 interview I N TE R VI E W Mehr Pragmatik, weniger Willkür Im Frühjahr erregte die Abschiebung mehrerer Familien nach jahrelangem Aufenthalt in Österreich mediales Aufsehen. Besondere Empörung verursachten Bilder von Kindern, die trotz heftiger Proteste, bei Nacht und Nebel außer Landes gebracht wurden. Im Zuge dieser Vorfälle gab es verschiedene Vorschläge, wie solche „Fälle“ in Zukunft menschlich und juristisch befriedigend gelöst werden könnten. Die asylkoordination forderte: „Wir brauchen ein neues Bleiberecht.“ Wie könnte ein solches aussehen? Mit Kevin Fredy Hinterberger sprach Herbert Langthaler. asyl aktuell 1/2021
interview 19 aa: Sie haben in Ihrer Dissertation die Re- KFH: Nein. In der Asylstatistik wird I N TE R VI E W gularisierungspolitiken in Deutschland, immer nur von humanitären Aufenthalts- Österreich und Spanien verglichen. Kann titeln gesprochen. Dort ist aber nicht auf- man bei den aktuellen Regelungen über- geschlüsselt, welche Tatbestände darun- haupt von einer Regularisierungsmöglich- keit in Österreich sprechen? KFH: Das hängt zuerst einmal von „Es gibt wenige Menschen, die der Definition ab, was man überhaupt als Regularisierung verstehen kann. Ich lange irregulär aufhältig in habe Regularisierung als jede adminis- trative oder verwaltungsgerichtliche Österreich bleiben und nie einen Entscheidung definiert, die irregulär aufhältigen Migrant*innen bei Antrag Asylantrag stellen.“ gemäß der Mindesterteilungsvorausset- zungen ein Aufenthaltsrecht gewährt. Was mir bei der Definition von Regu- terfallen. Grundsätzlich sind die „Aufent- larisierung wichtig ist, dass ich Regulari- haltstitel aus berücksichtigungswürdigen sierung nicht aus dem Asylverfahren he- Gründen“ in Österreich in den §§ 54ff raus denke. In Österreich und Deutsch- AsylG geregelt. Darunter fallen das schon land gibt es eine sehr starke Verquickung angesprochene Bleiberecht (§ 55 AsylG des Asylrechts mit Regularisierungen und „Aufenthaltstitel aus Gründen des Art.8 Bleiberechtstatbeständen. Mir war aber EMRK“), der „Aufenthaltstitel in besonders wichtig, dass ich Tatbestände nur als Re- berücksichtigungswürdigen Fällen“ (§ 56 gularisierung definiere, wenn es auch ei- AsylG) und die „Aufenthaltsberechtigung ne Antragsmöglichkeit gibt, die irregulär besonderer Schutz“ (§ 57 AsylG). Man aufhältigen Migrant*innen zur Verfügung kann wohl davon ausgehen, dass die mei- steht und nicht, wie es in Österreich oft sten dem § 55 AsylG zuzuordnen sind. §§ ist, Asylverfahren durchlaufen werden 56-57 spielen wohl nur eine untergeord- und die Migrant*innen am Ende mit nete Rolle. einem Bleiberecht dastehen. Unter diese Definition fällt der Bleibe- aa: Weiß man*, wie viele Migrant*innen, rechtstatbestand, also der § 55 AsylG je- die langjährig illegalisiert sind, also jene, denfalls, weil es ein Antragsverfahren die nicht aus dem Asylverfahren kommen, gibt und teilweise wird das natürlich auch solche Anträge stellen? im Asylrechtsverfahren geprüft. Ich wür- KFH: Aus der eigenen Beratungspra- de auf jeden Fall sagen, dass § 55 AsylG xis, die zwar schon mehrere Jahre zurück- der wichtigste Regularisierungstitel in Ös- liegt, würde ich vorsichtig sagen, dass es terreich ist. wenige Menschen gibt, die lange irregulär aufhältig in Österreich bleiben und nie aa: Weiß man*, wie viele von den „Auf- einen Asylantrag stellen. Das ist sicher die enthaltstiteln aus berücksichtigungswür- absolute Ausnahme, aber ich kenne keine digen Gründen“ aufgrund von Antrags- Studien dazu. Ich würde aber sagen, dass verfahren erteilt wurden und wie viele die meisten Betroffenen zumindest ein aus dem Asylverfahren kommen? Asylverfahren durchlaufen und ein asyl aktuell 1/2021
20 interview schutzwürdiges Privat- und/oder Famili- KFH: Auch in Spanien hat es eine I N TE R VI E W enleben oder gewisse Bindungen vorwei- Rechtsprechung zu Ausweisungsent- sen, die eine Ausweisung oder Rückkehr- scheidungen gegeben, die auf Grund von entscheidung unzulässig machen. Art. 8 EMRK unzulässig sind. Dort hat sich allerdings ein Aufenthaltstitel herauskri- aa: Was ist das Problem an der derzei- stallisiert, der sich „soziale Verwurze- tigen österreichischen Konstruktion? lung“ nennt. Der Aufenthaltstitel baut auf harten Kriterien auf – nicht wie das öster- reichische Recht, das auf einem flexiblen „Aus Sicht der Betroffenen ist System aufbaut – in dem es eine Abwä- gungsentscheidung gibt. Erstens muss problematisch, dass die Voraus- man* drei Jahre in Spanien gewesen sein, irregulär oder regulär aufhältig. Zweitens setzungen oftmals sehr schwierig muss ein unterzeichneter Arbeitsvertrag zu erfüllen sind.“ vorgelegt werden. Dieser Ansatz ist ganz anders und funktioniert in der Praxis, zu- mindest laut spanischen Berichten, sehr KFH: Das muss man historisch be- gut und ist quantitativ sicher die wich- trachten. Aus der Rechtsprechung des tigste Regularisierung in Spanien. Verfassungsgerichtshofes wurden im Zu- aa: Spanische NGO-Kolleg*innen haben sammenhang mit Art. 8 EMRK, also dem erzählt, dass in Spanien viele Menschen „Recht auf Achtung des Privat- und Fami- nicht über das Asylsystem kommen, weil lienlebens“, gewisse Kriterien entwickelt. es diese Möglichkeit der Regularisierung Diese sind mittlerweile auch im § 9 BFA- gibt. Würde es eine Entlastung für das ös- Verfahrensgesetz vorgegeben. Das BFA terreichische Asylsystem bedeuten, wenn bzw. das BVwG wäge nun die Interessen es andere Möglichkeiten gebe, einen Auf- der Betroffenen an einem geschützten enthaltstitel zu erlangen, oder kann man Privat- und Familienleben gegen die Inte- Österreich und Spanien bezüglich dieses ressen Österreichs an der Aufenthaltsbe- Themas nicht miteinander vergleichen? endigung ab. Aus Sicht der Betroffenen KFH: Eins zu eins vergleichen lassen ist problematisch, dass die Vorausset- sich die Systeme natürlich nicht. Aber zungen oftmals sehr schwierig zu erfüllen wenn es in Österreich ein Aufenthalts- sind. In der Praxis zeigt sich, dass es recht für irregulär aufhältige Personen Menschen gibt, die die Kriterien nicht er- gebe, das niederschwelliger wäre als der füllen können und man deshalb, anden- Bleiberechtstitel, dann glaube ich schon, ken könnte, § 55 AsylG abzuändern, um dass das Asylverfahren entlastet werden Personen, die diese relativ hohe Schwelle könnte. Denn es gibt Asylanträge, wo die zum Bleiberecht nicht überschreiten, die Betroffenen unter Umständen besser Erlangung eines anderen Aufenthaltstitels dran wären, wenn es einen anderen Auf- zu ermöglichen. enthaltstitel gebe, weil keine Gründe für Verfolgung im Sinne der GFK vorliegen. Regularisierung im Ländervergleich Das müsste natürlich immer in einem aa: Könnten wir aus den Regelungen in rechtsstaatlichen Verfahren geprüft wer- Spanien etwas lernen? den und jede*r muss natürlich die Mög- asyl aktuell 1/2021
interview 21 Ein wichtiger Punkt ist, I N TE R VI E W dass irregulär aufhäl- tige Migrant*innen in Österreich kein Recht auf Sozialleistungen oder Gesundheits- versorgung haben. lichkeit haben, einen Asylantrag zu stel- Arbeitskräfte hintanhält und dass zwei- len. tens das Asylverfahren entlastet werden Umgekehrt muss man* sagen, dass könnte. in Spanien die Asylzuerkennungen derart niedrig sind, dass es nicht den Regelfall aa: Viele Migrant*innen müssen einen darstellt, einen Asylantrag zu stellen, weil Asylantrag stellen, auch wenn es Leute meist keine Chance auf die Zuerkennung aus dem Balkan sind oder aus Moldawien, internationalen Schutzes besteht. Außer- die sich mit Fluchtgründen nach der GFK dem sind die Personengruppen, die in schwer tun. Diese Personen sind oft Spanien und Österreich irregulär einrei- schon lange in Österreich. Sie könnten die sen und sich aufhalten, sehr unterschied- „soziale Verwurzelung“ wahrscheinlich lich. In Spanien gibt es Migrant*innen, schon nachweisen. Wäre das ein gang- die, weil sie aus Südamerika kommen, barer Ansatz für Österreich? schon Spanisch sprechen. Diese Personen KFH: Ein wichtiger Punkt ist diesbe- haben natürlich auch leichter die Mög- züglich, dass irregulär aufhältige lichkeit, sich vorab in den Arbeitsmarkt zu Migrant*innen in Österreich kein Recht integrieren, dort undokumentiert be- auf Sozialleistungen oder Gesundheits- schäftigt zu sein und anschließend den versorgung haben, wohingegen in Spani- Aufenthaltstitel der „sozialen Verwurze- en dieser Zugang schon gegeben ist. Das lung“ zu erlangen. heißt, dass diese Personen kontextuell Im Ländervergleich sind ein paar viel bessergestellt sind, auch während Faktoren zu berücksichtigen. Gebe es ei- der Zeit, in der sie irregulär aufhältig sind nen niederschwelligen Aufenthaltstitel, und bis zu dem Moment, wo sie einen der irregulär aufhältigen Personen zu- Aufenthaltstitel bekommen. Spanien geht gänglich wäre, würde das wohl dazu füh- hier einen eigenen Weg. Das ganze Sys- ren, dass man* erstens undokumentierte tem ist anders und hat auch andere An- Beschäftigung und die Ausbeutung dieser sprüche. In Österreich ist es hingegen so, asyl aktuell 1/2021
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