Europa erforschen - Europa gestalten - Bamberger Beiträge zur europäischen Idee Studying Europe - Shaping Europe - Uni Bamberg
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Das Magazin der Otto-Friedrich-Universität Bamberg uni.vers Forschung Mai 2017 Europa erforschen – Europa gestalten Bamberger Beiträge zur europäischen Idee Studying Europe – Shaping Europe With English Bamberg Researchers on the European Idea abstracts
Zum Geleit Bamberg genießen 10 Euro Liebe Leserinnen und Leser, Prof. Dr. Dr. habil. Godehard Ruppert Präsident der Universität Bamberg Wo kann man gut frühstücken? Europa steht vor großen Herausforderungen: Was Wo gibt es Brunch? wird aus der Europäischen Union? Wie entwickelt Wer bereitet einen echt fränkischen Krustenbraten zu? sich die Finanzkrise? Welchen Einfluss hat der Aus- Dieser Gastronomieführer verrät es! gang der Wahlen in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden auf die Entwicklung Europas? Einerseits hat sich Endzeitstimmung eingeni- Um die Sache „rund“ zu 7 stet in den Europa-Analysen, seit Umfragen bele- machen, haben wir um den Wis- gen: Das Vertrauen der Europäerinnen und Euro- senschaftstag am 28. Juli herum päer in den Staatenbund, seine Währung und in die ein Themenjahr gewoben, in dem Idee einer freiheitlichen Gemeinschaft lässt nach. sich Veranstaltungen und Publi- Andererseits gehen die Bürger erstmals für Europa kationen unterschiedlicher Art auf die Straße, schlägt der Pulse of Europe plötzlich Europa widmen. – Allen voran unser 21 Wandervorschläge stark, weil vielen deutlich geworden ist, dass sich uni.vers, für das sich Philologen, Historiker, führen zu 75 Biergärten Terrorbekämpfung, Flüchtlingskrise und wirtschaft- Geographen, Sozial- und Wirtschaftswissenschaft- und Bierkeller in der Region. Hier liche Stabilisierung nicht im nationalstaatlichen ler Gedanken über die europäische Idee gemacht findet man Wandertouren mit Alleingang bewältigen lassen. haben. detaillierten Karten und genauen Als wir gebeten wurden, 2017 den Wissen- Aber lesen Sie selbst! Sie werden überrascht Hinweisen auf Gaststätten schaftstag der Europäischen Metropolregion auszurich- sein, was es jenseits der üblichen Themen und Fra- 10 Euro mit schönen Gärten und auf ten, haben wir daher nicht gezögert. Das Thema lag gestellungen alles über Europa zu wissen und zu ländliche Kleinbrauereien. auf der Hand: Zum einen geht Europa alle an und sagen gibt. ist Gegenstand zahlreicher Disziplinen. Zum ande- ren und vor allem sind wir aufgrund unseres breiten Viele neue Erkenntnisse über Europa geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächerspek- wünscht Ihnen trums prädestiniert, die Frage nach der Zukunft Europas zu stellen, unterschiedliche Akteure mitei- Überall im Buchhandel oder bei nander ins Gespräch zu bringen und Szenarien für Heinrichs-Verlag GmbH · Bayerische Verlagsanstalt Bamberg seine Zukunft mit zu entwerfen! Heinrichsdamm 32 · 96047 Bamberg · Tel. 09 51/5192 31 · Internet: www.heinrichs-verlag.de · E-Mail: bvb@heinrichs-verlag.de uni.vers 3
Inhaltsverzeichnis Wer wir sind Philosophische Tauchgänge in unsere Identität Dass wir existieren, scheint ganz offensichtlich: Jeder weiß, dass es ihn gibt. Aber was es genau heißt, Mensch zu sein mit einer eigenen Identität, bleibt ein Rätsel. Denn wir sind vieles zugleich – und anderes nicht, zum Beispiel ein Individuum, Mann oder Frau, Bayer und Deutscher, Europäer Europa ist das, 6 Migration nach Europa 30 oder Nicht-Europäer und Weltbürger. Aus dem was wir daraus machen Die umstrittene These der großen Fragenbündel um unsere Identität greift Ein Magazin über den Facettenreichtum dritten demographischen Transition BAMBERGER sich die Hegelwoche drei heraus: Wer ist Ich? Was heißt es, Deutscher zu sein? Gibt es eine europä- einer großen Idee von Martin Beyer von Daniel Göler, Bernhard Köppen und Stefan Bloßfeld HEGELWOCHE ische Identität? Was der Okzident 10 Bürger erster Klasse? 34 dem Orient verdankt Die politische Repräsentation vom 27. bis 29. Juni 2017 www.uni-bamberg.de/events/hegelwoche Über die Anfänge Europas von Menschen mit Migrationshintergrund in der EU im antiken Griechenland von Sabine Vogt von Lucas Geese und Thomas Saalfeld Latein – 14 Die Vermessung des Wandels 38 die Sprache Europas? Die europäische Hochschullandschaft I TA L I E N I S C H STEAKHOUSE FRÄNKISCH Hommage an eine totgesagte zwischen Brüssel und Bologna quicklebendige Weltsprache von Jörg Dötsch und Stefan Okruch PIZZA PIZZA SPORTSBAR von Markus Schauer Europa verteidigen? 42 PASTA PASTA BRÄTEN Die Bamberger Germanistik und Europas geliehene Heere 18 SALATE STEAKS BURGER das ETA Hoffmann Theater Die Internationalisierung von Sicherheit und Gewalt im 17. und 18. Jahrhundert auf literarischer Spurensuche von Andreas Flurschütz da Cruz von Martin Beyer „Man kann nicht an einem Tag 22 Europa im Wettlauf um 44 Schillerplatz 11 • Bamberg Rodezstraße 7 • Bamberg Pfahlplätzchen 4 • Bambger einen Europäer erschaffen“ neue digitale Geschäftsmodelle Fon (0951) 5 79 80 • salino-bamberg.de Fon (0951) 93 50 50 • rodez-sieben.de Fon (0951) 5 77 35 • brasserie-bamberg.de Ein Gespräch mit der Europaforscherin Welche Denkmuster bremsen europäische MEXIKANISCH S PA N I S C H N E W Y O R K I TA L I A N Unternehmen im digitalen Wandel aus? Ariadna Ripoll Servent von Björn Ivens und Alexander Leischnig STA TACOS TAPAS HOMEMADE PA Kann, soll, muss man 26 SPARE RIBS STEAKS PIZZA Europa lieben? Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 48 BURGER COCKTAILBAR CROSSOVER Über die Krise der Europäischen Union aus soziologischer Perspektive Impressum 50 von Elmar Rieger Lange Straße 8 • Bamberg Judenstr. 7-9 • Bamberg Pfahlplätzchen 4-6 • Bamberg Fon (0951) 20 11 72 • calimeros.de Fon (0951) 50 90 290 • bolero-bamberg.de Fon (0951) 50 90 73 77 • littleitaly-bamberg.de uni.vers 5
Europa ist das, was wir daraus machen Was der Okzident dem Orient verdankt Von Martin Beyer Europa ist das, Europa wird auf dem weißen Stier über das Meer getra- gen. Die Meeresmonster Dieses Heft ermöglicht wertvolle Blicke hinter Latein – die Sprache Europas? Skylla (links, mit Dreizack) und Triton (rechts, mit Ruderblatt) grüßen sie. Rotfiguriger Kelchkrater aus die europäischen Kulissen – denn viele der beschrie- Paestum, signiert vom Maler Asteas, um 340 v. Chr. benen Aspekte sind nicht Bestandteil alltäglicher und nur deshalb dem Stier folgt – jedoch auf Kreta turelles und technologisches Wissen Verbreitung was wir nach brutaler Vergewaltigung durch Zeus, allein und Anwendung findet, ist in allen Zeiten üblich. und verlassen, in allen Hoffnungen enttäuscht, aus Die Kultur des frühen Griechenland ist besonders dem Leben scheiden will. Küspert deutet Europas reich an adaptierten Einflüssen aus dem Orient: in Debatten. Entführung als Migrationsgeschichte und damit als Schöpfungsmythen und Weisheitslehren ebenso Prototyp heutiger Flüchtlingsbewegungen: Ist doch wie in Motiven und Erzählweisen epischer Dichtung Europas Heimat Phoinikien genau jener Küsten- oder bemalter Keramik, und in vielem mehr. Allem streifen am östlichen Rand des Mittelmeeres, auf voran aber verdanken die Griechen eben jenen Im historischen Teil geht es nach der Erkun- dem heute die Staaten Syrien und Libanon liegen Phoinikern auch die Kenntnis der semitischen Europas geliehene Heere Latein – – so dass ihre Reise mit dem Stier Teil der östlichen Mittelmeerroute ist, die derzeit so viele Menschen auf der Flucht vor Bürgerkrieg und Terror unter Alphabetschrift, die sie im 8. Jahrhundert v. Chr. auf ihre eigene Sprache anwandten. dung der europäischen Anfänge um das Lateinische die Sprache Europas? höchsten Gefahren auf sich nehmen. daraus machen Der Orient als Impulsgeber und Bewahrer Der Europa-Mythos spiegelt eine Realität von Migra- Hommage an eine tionsbewegungen totgesagte und Handelskontakten wider, die als, wie Markus Schauer schreibt, die ‚europäischste‘ vom Vorderen Orient ausgehend im gesamten Mit- quicklebendige Weltsprache telmeerraum in der Bronzezeit nachweisbar sind: durch Rohstoff- und Warenhandel ebenso wie durch Vergleichbarkeiten in Ackerbau- und Militärgeräten, Sprache, die vor allem in Zeiten der Kleinstaaterei als Von Markus Schauer Keramikformen, Mal- und Webtechniken. Dass auf Handelswegen nicht nur Waren, sondern auch kul- Latein ist eine tote Sprache, sagt man, in vielen Kontexten ist Schematische Darstellung der Handelskontakte im Mittelmeerraum in der Bronzezeit es jedoch quicklebendig. Es verändert sich kaum mehr und er- uni.vers 11 verbindendes Element, als Bildungssprache Bedeu- möglicht so Kommunikation über die Zeiten hinweg. Daher zählt Latein zu den klassischen Sprachen und ist ebenso viel oder ebenso wenig Weltsprache wie Sanskrit oder das klassi- Ab 1645 belagerten ein sche Chinesisch. Allerdings gibt es gute Gründe, Latein für die tung hatte und noch immer hat. Andreas Flurschütz circa 50.000 Mann starkes europäischste Sprache zu halten. osmanisches Heer für rund 25 Jahre die damals Latein ist tot, es lebe Latein – so lautet der Titel des venezianische Insel Candia Buches, mit dem der Münchner Latinist Wilfried da Cruz thematisiert die Zeit nach dem Dreißigjäh- (Kreta). Die Republik Venedig mietete zahlreiche Stroh 2007 einen Bestseller gelandet hat. In seinem deutsche Regimenter an, Buch erzählt er die Kleine Geschichte einer großen unter anderem aus Bayern, Sprache und untermauert damit die These, dass Das Magazin der Otto-Friedric h-Universitä Braunschweig-Lüneburg und Latein „die erfolgreichste Sprache der Welt sei“. In rigen Krieg, nach dessen Ende ein Machtvakuum t Bamberg Münster. der Tat ist die Nachfrage – um es marktwirtschaft- lich zu formulieren – nach Latein auch heute noch groß: Nach Englisch und Französisch ist es die Von Andreas Flurschütz da Cruz Fremdsprache, die an deutschen Schulen an dritter entstand, das findige Fürsten zu nutzen wussten. Europas geliehene Heere Stelle steht. Dass Latein, mehr als man glauben mag, auch in der heutigen Zeit präsent ist, zeigt auch der Alltag eines Lateinprofessors: Fast jede Woche kommen Sie hielten sich Berufsarmeen und verliehen ihre Anfragen, etwa für den Direktor einer mittelstän- 14 uni.vers Die Internationalisierung Deutsche Soldaten kämpften die Kriege der Anderen: Nach Ende des Dreißigjäh- Soldaten an andere Machthaber, wodurch sich ihr von Sicherheit und Gewalt im 17. und 18. Jahrhundert rigen Kriegs (1618–1648) strebten deutsche Fürsten wie der Landgraf von Hessen-Kassel oder die Fürsten von Braunschweig oder Ein Magazin über Württemberg danach, auf Augenhöhe mit Einfluss vergrößerte. den europäischen Dynastien zu agieren. Um dieses Ziel zu erreichen, stellten sie Truppen von enormer Stärke zusammen – mit Solda- ten, die aus dem Dreißigjährigen Krieg üb- riggeblieben waren. Stehende Heere wurden Europa zu erforschen bedeutet immer auch, den Facettenreichtum aufgebaut, die an die Könige von England, die Niederlande oder die Republik Venedig ausgeliehen wurden. Diese Kooperationen vergangene Zeiten in den Blick zu nehmen. erhöhten den Status der deutschen Fürsten, manche wurden selbst zu Königen. Europa begann zusammenzuwachsen. einer großen Idee 18 uni.vers uni.vers Forschung Mai 2017 Europa erforschen – Europa gestalten Bamberger Beiträge zur europäischen Idee Studying Europe – Shaping Europe Bamberg Researchers on the European With English Idea abstracts Trotz aller Krisensymptome schlägt der Puls Europas noch immer stark und regelmäßig. In den europäischen Städten gehen tausende Menschen auf die Straße, um Europa zu verteidi- gen. Aber stehen diese Menschen für dasselbe ein? Was macht Europa aus und wie wird es gemacht? Und von wem? Diese Ausgabe von uni.vers beleuchtet verschiedene Facetten der europäischen Idee, untersucht ihre Geschichte und ihre aktuelle Situation. Welches Europa wollen wir sein? Diese Frage mag verändert. Für viele ist es noch immer die Idee eines zunächst irritieren. Haben wir denn eine Wahl? Die Völkerbundes, der für Frieden und offene Grenzen P F L A N ZL ICH E N AT U R KRAFT FTT unterschiedlichen Perspektiven auf das Konstrukt steht; gleichzeitig ist Europa eine Militär- und Wirt- ‚Europa‘ in diesem Heft belegen eindrucksvoll, dass schaftsmacht. Europa bedeutet Frieden; historisch bewährt bei Europa nichts Naturgegebenes ist. Seine Wurzeln reichen bis in den alten Orient zurück, wie Sabine Vogt in ihrem Beitrag nachweist. Seit diesen frühen gesehen aber auch häufig: Krieg. Verschiedene, teil- weise konträre Definitionen und Diskurse stehen sich gegenüber, Europa wird geliebt und gleichzeitig Heiserkeit & Hustenreiz Anfängen hat Europa sein Gesicht immer wieder vehement abgelehnt. 6 uni.vers uni.vers 7
Europa ist das, was wir daraus machen Europa ist das, was wir daraus machen Europa zwischen Liebe Wenn dieser neue Nationalismus überhaupt lange Tradition, nach den großen Hochschulre- und populistischer Abneigung wissenschaftlich unterfüttert wird, dann wird häu- formen sind sie aber auch Konkurrenten um Studie- einen Europäer erschaffen“ Dann der Sprung in die Gegenwart: Ariadna Ripoll fig auf die sogenannte dritte demografische Transi- rendenzahlen, Exzellenzkriterien und Drittmittel. Servent äußert sich in einem Interview zu aktuellen tion zurückgegriffen, die belegen soll, dass Europa Stefan Okruch und Jörg Dötsch hinterfragen, ob die denken – sie lernen Sprachen, finden Freunde über den gesamten Kontinent verstreut. Es ist diese Art persön- sich durch solche nationalistischen Ausfälle nicht gleich bedroht fühlen. Hinzu kommt, dass der Nationalismus Kann, soll, muss man Europa lieben? europäischen Konflikten und Entscheidungsprozes- durch Migrationsbewegungen „überfremdet“ wird. Bologna-Reform der europäischen Idee nützt oder licher Erfahrung, die ein Zugehörigkeitsgefühl erzeugt politisch attraktiv ist: Es ist leichter, ein Zusammenge- sen. Sie macht deutlich, dass es eine hohe Erwar- Dass diese These kaum haltbar ist, Migration im schadet. – fühlend, das Leute aus Finnland oder Bulgarien keine hörigkeitsgefühl zu erzeugen, wenn man Fremde zu Fremde sind, sondern Leute, mit denen man etwas teilt, Sündenböcken macht. Auf Kooperation und Solidarität mit denen man eine enge Beziehung aufbauen kann. zu setzen, hat weitaus größere Anstrengungen zur Folge – und dass solche Anstrengungen in einem europäischen tungshaltung gegenüber der EU als Problemlöser Gegenteil starke positive Effekte erzeugt, zeigt ein Europa ist schließlich ein bedeutender Wirt- uni.vers: Die europäische Union hat für eine bei- Kontext Resultate bringen, ist nicht immer erkennbar. spiellose Periode des Friedens in der europäischen Schließlich ist der Nationalismus eine Antwort auf Region gesorgt – warum ist dieser Fakt nicht stark fehlende Wahlmöglichkeiten: Wenn ‚rechts‘ und ‚links‘ genug, nationalistische Tendenzen in die Schranken als Orientierung nicht mehr viel bedeuten, erscheinen gibt – und dass allzu schnell nationale Konflikte Beitrag von Daniel Göler, Bernhard Köppen und Ste- schaftsraum. Aber kann er schritthalten mit den zu weisen? Populisten und Nationalisten als eine Alternative, die Ariadna Ripoll Servent: Dass die Europäische ihre Botschaften mit einem starken, aber falschen Wir- Union als Friedensprojekt begann, haben viele Men- Gefühl transportieren. schen sicher vergessen. Das mag eine Generationenfrage auf die europäische Ebene verschoben werden. fan Bloßfeld. aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen wie Digi- sein – diejenigen, die schon immer in einer Friedenszeit uni.vers: Die EU-Institutionen genießen keinen gelebt haben, halten es für selbstverständlich, dass es so guten Ruf – Stichwort: Bürokratisierung. Zu Recht? ist. Dasselbe beobachten wir in vielen jungen Demo- Oder sind ihre Strukturen und Arbeitsweisen für kratien, in denen die Menschen schnell vergessen, wie den Großteil der Bevölkerung nur noch nicht aus- Weiter gedacht: Wie werden die Geflüchteten talisierung oder Industrie 4.0? Björn Ivens und es war, nicht wählen zu dürfen. Auf eine paradoxe reichend transparent? Weise ist der Friede mit dem Trend zu stärkeren Nati- onalismen verbunden: Es ist leichter, mit dem Feuer zu spielen, wenn man umgeben ist von Freunden, die Ariadna Ripoll Servent: Eines der größten Pro- bleme, worunter die EU-Institutionen leiden, ist eine schiefe Informationslage und daraus entstehende Stig- Dass aus soziologischer Perspektive die Einfluss- uni.vers 23 möglichkeiten der EU als genuin wirtschaftlicher politisch vertreten, wenn sie in einem europäischen Alexander Leischnig untersuchen in einem euro- aufmerksam zu machen, dass die Union gerade nicht demokratisch und sozial sein sollte, zumindest nicht in dem gleichen Sinne, wie es die Mitglied- Zweckverband auf drängende Fragen wie Jugendar- Land angekommen sind? Sind sie Bürger erster oder päischen Forschungsverbund, welche Denkmuster staaten für sich in Anspruch nehmen, sondern ganz im Gegenteil bei der Gründung der verschiedenen Europäischen Gemeinschaften, die inzwischen unter dem Namen der Union zusammengefasst beitslosigkeit verkannt werden, macht Elmar Rieger zweiter Klasse? Diesen Fragen gehen Thomas Saal- Firmen oftmals im Wege stehen, um im globalen sind, demokratiekritische Motive eine entscheidende € deutlich – und erklärt gleichzeitig das Aufkommen feld und Lucas Geese nach und stellen mit pathways Wettbewerb zu bestehen. Rolle spielten. Das Europa der Gegenwart stecke in einer Die EU – ein Zweckverband oder ein Gefühlsverband? des neuen europafeindlichen Nationalismus, der ein aktuelles Forschungsprojekt vor. Welches Europa wollen wir also sein? Die Bei- Der Union und ihren Einrichtungen der Integration Krise, ist vielerorts zu hören. Doch was scheinen bestimmte Regelmäßigkeiten der Einstellung sozialen Handelns zu fehlen, die zu jener Art von ßiger Hingabe oder einem Glauben an eine höhere Eingelebtheit führt, die eine eigene normative Kraft oder gar absolute Geltung der Union als Verkörpe- seine Kraft aus der sozialen Enttäuschung vieler träge in diesem Heft lassen erkennen, dass Europa gewinnen und mit eigenem Pathos aufgeladen wer- rung letzter verpflichtender Werte kann nicht die Rede können die europäischen Institutionen den kann. Damit fehlen auch die entscheidenden Voraussetzungen, die Union zu einem wirkungs- sein. Wenn man von den Sonderfällen der Montan- und der Atomunion absieht, waren die ersten Ziele vollen Protagonisten von sozialer Gerechtigkeit einer europäischen Integration die Zollunion, dann überhaupt leisten? machen zu können. Die Union als Wirtschafts- macht und die Integration als Binnenmarktprojekt konnten zwar für ihre Wirtschaftsbürger neue Inte- ressenlagen begründen; diese führen allerdings zu der Binnenmarkt, und schließlich die Wirtschafts- und Währungsunion. Diese Schwerpunktsetzungen sind nicht zufällig – die Europäischen Gemeinschaf- ten seien Zweckverbände, nicht „Gefühlsverbände“, Menschen gewinnt. Europa kulturell und als Wirtschaftsraum letztlich das ist, was wir daraus machen. Es ist nichts Europa wird auch zwischen Buchdeckeln und Festgeschriebenes, es ist ein Prozess. Ein Prozess, einem allein zweckrationalen Handeln und zu einer schreibt der Rechtswissenschaftler Hans Peter bloß instrumentellen Orientierung. Von gefühlsmä- Ipsen. uni.vers 27 auf Theaterbühnen gemacht. Ein weiterer Artikel an dem es sich lohnt weiterzuarbeiten und weiter- berichtet von einem Kooperationsseminar zwischen zudenken. Bürgernach Migration erster Klasse? Europa Europa verteidigen? Von Martin Beyer Die Bamberger Germanistik und das ETA Hoffmann Theater wah auf literarischer Spurensuche lber ech tigt Wie ist Europa eigentlich zu verteidigen? Und was ist es überhaupt, das da vertei- digt werden sollte? Ein Finanzsystem? Eine Aber lässt sich eine solche Argumentation mit Kultur? Eine Identität? Eine Grenze? Bam- Fakten belegen? Inwieweit stehen nationale Ent- berger Germanistikstudierende stellten sich wicklungspfade dem skizzierten Trend entgegen in einem Seminar diese Fragen und begaben und müssen auch andere Perspektiven berücksich- Von Lucas Geese und Thomas Saalfeld sich auf Spurensuche in literarischen Texten tigt werden? und Theaterinszenierungen. Bewertungsperspektiven Ein Zuwachs oder selbst das Halten der derzeitigen Einwohnerzahl ist in Deutschland ohne Zuwande- Bürger erster Klasse? Proaktiv statt reaktiv im digitalen Wandel chie und hohe Flexibilität auszeichnen, um so die Europa verteidigen? Die dritte demographische Transition, oder: rung nicht möglich. Ein grundlegender Wandel des Die Digitalisierung hat viele Facetten. Sie verändert Kooperation und den Informationsaustausch im Der Untergang des Abendlandes? generativen Verhaltens ist nicht in Sicht. Selbst die Die politische Repräsentation von Menschen nicht nur Technologien, sondern auch die Art, wie Unternehmen zu verbessern. Die These einer dritten demographischen Transi- Zuwanderung weiblicher Bevölkerung aus Regi- Menschen leben, denken, kommunizieren und tion geht auf den britischen Demographen David onen mit generell höheren Geburtenraten wird mit Migrationshintergrund in der EU arbeiten. Sie hat innerhalb kürzester Zeit neue Welt- Denkbarrieren und Tabus Coleman zurück. Angesichts der niedrigen Fertili- daran nichts ändern: Dafür ist deren Anteil an der marktführer im Onlinehandel, in sozialen Medien, Viele Beispiele suggerieren jedoch, dass europäische tätsraten in der westlichen Welt wird Migration dort Gesamtbevölkerung zu gering; zudem gleichen sich im Tourismus, in der Mobilität und in vielen ande- Firmen – sowohl bei der Digitalisierung als auch Seit ihrer Gründung ist Migration ein Kennzeichen der Europäischen mehr und mehr zur entscheidenden Steuergröße die generativen Verhaltensmuster der Mehrheitsbe- ren Branchen entstehen lassen. Früher führende hinsichtlich ihrer Agilität – weniger gut vorankom- Union. Die mit diesen Migrationsbewegungen einhergehende gesell- der Bevölkerungsentwicklung. Damit verändert sich völkerung an. Die Hypothese, dass ‚höchst fertile‘ Unternehmen sind verschwunden oder haben ihre men als ihre Wettbewerber aus den USA oder Asien. schaftliche Vielfalt stellt auch eine Herausforderung für die repräsen- zwangsläufig die ethnische und nationale Zusam- Zuwanderergruppen alleine durch ihr generatives Bedeutung weitgehend eingebüßt. Eingefahrene Denkraster im Management, die teils tativen Demokratien Europas dar. Aus normativer Sicht ist einer mensetzung einer Gesellschaft, selbst wenn von Verhalten kurzfristig von der ethnischen Minderheit Für Unternehmen bedeutet dies, dass sie als Tabus die Organisation tiefgreifend blockieren, der Vorzüge von repräsentativen Demokratien, dass gewählte Volks- einer sukzessiven Angleichung der Fertilität ausge- die Fähigkeit entwickeln müssen, sich rasch an verhindern immer wieder, dass eine Bedrohung vertreter die Bevölkerung fair und gleichbehandelnd repräsentieren. gangen wird. Das sei vor allem bei geringer kultu- „Europa existiert nicht.“ Mit diesem provokanten die unmittelbare Zukunft, in der sich die Lage an neue Wettbewerbssituationen und technologische erkannt und die Initiative ergriffen wird. Man denke Aber gilt dies auch für Menschen mit Migrationshintergrund? reller Distanz der Migranten zu erwarten. Zugleich Satz beginnt die Bamberger Germanistin Dr. Julia den ‚Außengrenzen‘ noch einmal verschärft hat. Standards anzupassen. Gerade für europäische nur daran, wie auf dem Markt für Lexika einst omni- geht Coleman aber bei fernen Zuwanderergrup- Schöll einen Essay zu Konstantin Küsperts Thea- Europa ist auch, wo geschossen wird und Schiffe Unternehmen, die auf Grund der fortschrittlichen präsente und etablierte Standardwerke dem Heraus- pen von Fertilität auf beziehungsweise knapp über terstück europa verteidigen, das 2016 im Bamberger nicht gerettet, sondern versenkt werden. Überhaupt Sozialstandards und hohen Lohnniveaus im inter- forderer Wikipedia weichen mussten. Nicht wenige Bestanderhaltungsniveau aus. Zuwanderung insbe- ETA Hoffmann Theater uraufgeführt wurde. Worauf kommt Europa nicht gut weg: Erzählt wird eine nationalen Vergleich erhebliche Kosten decken Redaktionen dachten, dass ein gemeinschaftlich sondere aus weit entfernten Kulturräumen des glo- Julia Schöll hinweisen möchte, ist der Konstruktcha- Gewaltgeschichte, geprägt von Glaubenskriegen, müssen, ist dies unverzichtbar. Höhere Kosten geschaffenes und international vernetztes elektro- balen Südens, so die These, wird die autochthone rakter Europas: Es ist nichts, das sich durch die Stel- Kolonialisierungen und Selbstverheerungen im lassen sich langfristig nur über Innovativität und nisches Nachschlagewerk ohne klassische redaktio- „Geh wählen!“ oder „Wählen gehen“ hießen in den Wahlen und Abstimmungen. Wer wahlberechtigt lung von Kontinentalplatten oder objektiver Grenz- 20. Jahrhundert. europa verteidigen birgt schon in Produktivität ausgleichen – und dies bedeutet, die nelle Kontrolle niemals eine ernsthafte Bedrohung Bevölkerung letztlich in die Minderheitenposition vergangenen Jahren verschiedene Kampagnen von ist, wird dabei zumeist durch die formale Staatsbür- ziehungen definieren ließe. Europa ist eine Idee, ein seinem Titel einen ambivalenten Kern; das Stück digitale Transformation proaktiv anzugehen und als darstellen würde. Sie irrten sich und verschwanden. bringen – eine Argumentationslinie, die hierzu- Parteien und Rundfunkanstalten, um die Beteili- gerschaft festgelegt. Einwanderer ohne Staatsbür- Prozess, eine Utopie und für viele gar eine Dystopie. klingt dennoch mit einem Plädoyer für Europa aus. Chance zu nutzen. Die Universität Bamberg verfügt seit 2014 über lande beispielsweise von Thilo Sarrazin bereitwil- gung an Wahlen zu erhöhen. Denn liberale demo- gerschaft sind vom aktiven und passiven Wahlrecht Küsperts Theaterstück führt dies beispiel- Konstantin Küspert bringt sich – vermittelt durch Daher organisieren sich viele Unternehmen ein gemeinsam mit dem Fraunhoferinstitut für lig aufgenommen wurde und an deren Ende gerne kratische Ordnungen sind durch Mitwirkungsrechte ausgeschlossen, selbst wenn sie schon lange in dem haft vor: In verschiedenen Szenen wird ein Bogen einen Schauspieler – selbst mit Europathesen auf um. Sie versuchen, sich von hierarchischen Struk- integrierte Schaltungen (IIS) geführtes Kompetenz- der Untergang des Abendlandes beschworen wird all derer legitimiert, die von einer Entscheidung betreffenden Land leben. geschlagen vom mythologischen Urgrund Euro- die Bühne, und er sorgt mit diesem Kniff für reich- turen zu lösen und schaffen stattdessen sogenannte zentrum (KGDW), das sich mit der Digitalisierung – Deutschland schafft sich ab betitelte Sarrazin sein betroffen sind. Dies geschieht überwiegend durch pas (siehe auch Seite 10) bis zu einem Blick in lich Diskussionsstoff. agile Strukturen, die sich durch eine flache Hierar- von Geschäftsmodellen befasst. Das Kompetenz- umstrittenes Buch. 34uni.vers uni.vers31 42 uni.vers uni.vers 45 Wie sieht das Europa der dem ETA Hoffmann Theater und der Bamberger Zukunft aus? Wie verändert Germanistik, in dem Europadiskurse in der Gegen- Migration die Gesellschafts- wartsliteratur verortet und diskutiert wurden. Vor strukturen? Wie verändert allem das Stück europa verteidigen von Konstantin die Digitalisierung unsere Küspert stand hier im Mittelpunkt – der Autor des Arbeitsprozesse? Stückes war im Seminar anwesend und stellte sich den Diskussionen. Universitäten stehen untereinander in einem Austausch – europaweit, weltweit. Das hat eine 8 uni.vers uni.vers 9
Was der Okzident dem Orient verdankt Was der Okzident dem Orient verdankt Von Sabine Vogt Was der Okzident dem Orient verdankt Über die Anfänge Europas im antiken Griechenland Was ist Europa und wann fängt es an? Diese Fragen sind schwer zu beantworten, denn Europa ist ein Konstrukt und damit in Bewegung. Ein solches Konstrukt ‚Europa‘ taucht erstmals im Mittelalter auf und formiert und definiert sich seither immer wieder neu. In Europa wird auf dem weißen den europäischen Bildungstraditionen wird als Wiege Europas gern das antike Grie- Stier über das Meer getra- chenland verstanden, da es als kulturelles Fundament auch das römische Reich und gen. Die Meeresmonster das frühe Christentum entscheidend geprägt hat – die beiden weiteren antiken Konsti- Skylla (links, mit Dreizack) und Triton (rechts, mit tuenten von Europa und europäischer Kultur. Doch entsprang dieses antike Griechen- Ruderblatt) grüßen sie. land nicht aus dem Nichts, sondern war seinerseits stark vom Orient beeinflusst – und Rotfiguriger Kelchkrater aus wurde in der Blütezeit Athens gleichwohl zu einem ‚Anfang Europas‘ ganz eigener Art. Paestum, signiert vom Maler Asteas, um 340 v. Chr. Am Anfang steht ein Mythos. Der griechische Göttervater Zeus, Herrscher über alle Götter des und nur deshalb dem Stier folgt – jedoch auf Kreta turelles und technologisches Wissen Verbreitung Olymp, verliebt sich in Europa, die schöne Königs- nach brutaler Vergewaltigung durch Zeus, allein und Anwendung findet, ist in allen Zeiten üblich. tochter aus Phoinikien. Er nähert sich ihr, als sie Soweit der Kern des antiken Mythos, der bereits und verlassen, in allen Hoffnungen enttäuscht, aus Die Kultur des frühen Griechenland ist besonders mit ihren Gefährtinnen am Strand Blumen pflückt, in der frühesten erhaltenen griechischen Dichtung, dem Leben scheiden will. Küspert deutet Europas reich an adaptierten Einflüssen aus dem Orient: in in Gestalt eines freundlichen weißen Stieres, dem der Ilias (um 700 v. Chr.), Erwähnung findet und Entführung als Migrationsgeschichte und damit als Schöpfungsmythen und Weisheitslehren ebenso Europa sich auf den Rücken setzt und dem sie einen nicht nur von griechischen und lateinischen Auto- Prototyp heutiger Flüchtlingsbewegungen: Ist doch wie in Motiven und Erzählweisen epischer Dichtung Kranz um die Hörner windet. Da erhebt er sich und ren bis in die christliche Spätantike immer wieder Europas Heimat Phoinikien genau jener Küsten- oder bemalter Keramik, und in vielem mehr. Allem entführt sie über das Meer nach Kreta, wo er mit ihr neu erzählt wird, sondern auch in der Kunst und streifen am östlichen Rand des Mittelmeeres, auf voran aber verdanken die Griechen eben jenen drei Söhne zeugt. Der bis dahin unbenannte Erdteil, Literatur der Neuzeit. Er lebt bis heute fort und dem heute die Staaten Syrien und Libanon liegen Phoinikern auch die Kenntnis der semitischen zu dem Kreta gehört, soll fortan den Namen Europa findet seit der Gründung der Europäischen Union – so dass ihre Reise mit dem Stier Teil der östlichen Alphabetschrift, die sie im 8. Jahrhundert v. Chr. auf tragen. neue Deutung und Verbreitung. Mittelmeerroute ist, die derzeit so viele Menschen ihre eigene Sprache anwandten. Die jüngste Variante schuf Konstantin Küspert auf der Flucht vor Bürgerkrieg und Terror unter in seinem Stück europa verteidigen, das 2016 am höchsten Gefahren auf sich nehmen. Bamberger ETA Hoffmann Theater uraufgeführt wurde (siehe auch Seite 46), und das die Aktualität Der Orient als Impulsgeber und Bewahrer dieses Gründungsmythos betont: Seine Europa ist Der Europa-Mythos spiegelt eine Realität von Migra- eine vom Alltag des ewigen Blumenpflückens und tionsbewegungen und Handelskontakten wider, die Kränzewindens gelangweilte Prinzessin, die dem vom Vorderen Orient ausgehend im gesamten Mit- Reiz der Neugier auf eine ungewisse Zukunft erliegt telmeerraum in der Bronzezeit nachweisbar sind: durch Rohstoff- und Warenhandel ebenso wie durch Szenenbild aus europa verteidigen von Konstantin Küspert, uraufgeführt Vergleichbarkeiten in Ackerbau- und Militärgeräten, am ETA Hoffmann Theater am 9. Oktober 2016: Europa (Ronja Losert) Keramikformen, Mal- und Webtechniken. Dass auf wird vom Stier (Bertram Maxim Gärtner) entführt. Handelswegen nicht nur Waren, sondern auch kul- Schematische Darstellung der Handelskontakte im Mittelmeerraum in der Bronzezeit 10 uni.vers uni.vers 11
Was der Okzident dem Orient verdankt Was der Okzident dem Orient verdankt und Technik zurückschlagen konnten; dieser in den Jahren 490 bis 479 v. Chr. errungene Sieg war ein Katalysator für verschiedene Prozesse, die als „das griechische Wunder“ in die Rezeptionsgeschichte eingegangen sind. Gemeint ist damit die Entste- Es ist ein Glücksfall der europäischen Kulturge- hung der attischen Demokratie und ihrer vielfäl- schichte, dass, mit der Renaissance des 14. Jahrhun- tigen kulturellen Hervorbringungen: glänzende derts – gerade noch rechtzeitig –, das Interesse an Neubauten auf der von den Persern zerstörten Akro- Inschrift zu Ehren der in der Schlacht bei Marathon Gefallenen auf der der antiken griechischen Literatur wieder erwachte. polis; das neue Idealbild des menschlichen Körpers Athener Agora. Waren die Keilschrift der Sumerer, Akkader und Babylo- So holte ‚der Westen‘ gelehrte Philologen und mit in der Plastik eines Polyklet; die Tragödie mit ihren nier und die Hieroglyphenschrift der Ägypter mit je mehreren hundert ihnen Buchexemplare in großer Zahl nach Italien, unübertroffenen und zeitlosen ‚Klassikern‘ von Ais- Zeichen noch so kompliziert, dass das Lesen und Schreiben einigen we- nigen Experten vorbehalten blieb, so ließ sich die Alphabetschrift aus von wo aus sie der neu entstehende Buchdruck für chylos, Sophokles und Euripides; das Aufblühen rund 25 Lautzeichen innerhalb kurzer Zeit erlernen. Mit dieser Kultur- die Neuzeit bewahrte. von Rhetorik und Prosa, Medizin und Technologie, revolution wurden Grundkenntnisse des Lesens und Schreibens weiten Vieles ist dennoch verloren – doch lässt sich um nur einiges zu nennen. Teilen der Bevölkerung zugänglich, und bildeten somit nicht zuletzt eine einiges aus arabischen oder syrischen Überset- In dieser Blütezeit des ‚klassischen‘ Athen wichtige soziohistorische Grundlage für Allgemeinbildung und Teilhabe zungen wiedergewinnen. Angefertigt wurden sie in setzte sich auch die Definition der eigenen Identität an Ökomonie und Demokratie. erster Linie von Gelehrten der Abassiden im frühen in der Abgrenzung der griechisch-sprechenden Hel- 9. Jahrhundert n. Chr., die sich vor allem für Texte zu lenen gegen die unverständliche Laute brabbelnden ein Neuanfang, und das nicht um der Herrschaft anwendbaren Wissenschaften: Astronomie, Mathe- Barbaren durch – denn diese lautmalerische Grund- willen, sondern um der Freiheit willen zustande matik, Medizin und Technologie interessierten, bedeutung hat das griechische Wort barbaros. kam. Sich an diese Tradition zu erinnern, könnte in Das Hauptcharakteristikum jedoch, über das der aktuellen Situation Europas hilfreich sein. Denn Doch war der Orient nicht nur Impulsgeber, sich die Griechen der attischen Demokratie defi- was ist Europa? Es ist ein Konstrukt, das sich immer sondern wurde auch zum Bewahrer griechischer nieren konnten, entsprang ebenfalls dem Krieg mit wieder neu formiert und nur durch Hinterfragen Kultur: Ohne die Rezeption im islamischen Orient den ‚Anderen‘, den asiatischen Persern: Sie hatten und aktives Mitgestalten lebendig bleibt. wären wichtige Texte der griechischen Literatur ihren Krieg nicht für einen Herrscher, sondern für für die Neuzeit verloren gegangen. Denn der latei- die eigene Freiheit geführt, ja, sie hatten daraus ihre nischsprachige christliche Westen interessierte Kultur, um der Freiheit willen geschaffen – so der Titel Literaturempfehlung sich im Mittelalter kaum für die heidnischen grie- eines Buches des Althistorikers Christian Meier, der chischen Texte – mit der Folge, dass man sie selten genau darin die Rechtfertigung sieht, bei allen Über- Christian Meier: Kultur um der Freiheit willen. in Schreibstuben kopierte, was Jahrhunderte lang nahmen aus dem Orient die Griechen des demokra- Griechische Anfänge – Anfang Europas? München: der einzige Weg für das physische Überleben von tischen Athen als Präludium Europas zu verstehen. Pantheon 2012. Schrifttum war. Zwar hatte man auch in Byzanz Ein Präludium, das keine Fortsetzung war, sondern zunächst wenig Interesse an den antiken Autoren, doch als im 9. Jahrhundert das geistige Leben neu erwachte und damit auch eine intensivere philolo- gische Beschäftigung mit der Literatur der griechi- What the Occident Owes the Orient schen Antike einsetzte, hatte man noch Zugriff auf so dass später viele bedeutende antike griechische On Europe’s beginnings in ancient Greece den Kanon der wichtigsten Texte. Dieses Interesse Werke aus diesen Bereichen nur über den ‚Umweg‘ blieb jedoch auf eine kleine Gruppe von Gelehrten lateinischer Übersetzungen aus dem Arabischen What is Europe, and when did it come to be? These are difficult questions to answer considering, Europe in Konstantinopel beschränkt. Hier, in den Klö- und Syrischen wieder in den Westen kamen. is a construct and is therefore continually in motion. The “Europe” construct emerged for the first time stern und dem Kaiserpalast der Hauptstadt, an der in the Middle Ages and has been forming and redefining itself ever since. In the various European geographischen Schnittstelle zwischen Orient und Athens Neuanfang nach den Perserkriegen educational traditions, ancient Greece is often regarded as the cradle of Europe, as it provided a cultural Okzident, konzentrierten sich die Buchexemplare als Präludium Europas foundation that had a crucial influence on the Roman Empire and early Christianity – the other two der antiken griechischen Autoren. Die Folge war, Der überraschende Sieg über die Perser, deren zah- classical constituents of Europe and European culture. But ancient Greece didn’t appear out of nowhere, dass viele Texte, die nicht rechtzeitig vor der Nie- lenmäßiger Übermacht von Heer und Flotte die rather it was itself strongly influenced by the Orient – and nevertheless, in Athens’ heyday it became its derbrennung Konstantinopels durch die Osmanen Griechen nur durch eine ungewohnte Vereinigung own kind of “origin of Europe”. 1453 in Originalen oder Abschriften in den Westen der Kräfte verschiedener Kleinstaaten – allen voran gelangt waren, verloren gingen. Athen und Sparta – und durch trickreiche Taktik 12 uni.vers uni.vers 13
Latein – die Sprache Europas? Latein – die Sprache Europas? Latein – eine Weltsprache? Was kaum jemand weiß, ist, dass nur ein minimaler Bruch- teil aller existierenden latei- nischen Texte in der römischen Antike geschrieben wurde. Der Tübinger Latinist Jürgen Leon- hardt hat es in seinem Buch Latein. Geschichte einer Welt- Latein – sprache ausgerechnet: Es sind nur 0,1 Promille aller überlie- ferten lateinischen Texte, die die Sprache Europas? aus der Antike bis zum Unter- gang des römischen Reiches stammen. Oder anders ausge- drückt: Die nachantiken Texte Hommage an eine totgesagte auf Latein übertreffen die anti- ken Texte um den Faktor 10.000! quicklebendige Weltsprache Der Löwenanteil entfällt auf Archivalien und Doku- mente, dann kommen die wis- Von Markus Schauer senschaftlichen Texte: Über alle Disziplinen hinweg wurden bis Latein ist eine tote Sprache, sagt man, in vielen Kontexten ist zum Beginn der Renaissance es jedoch quicklebendig. Es verändert sich kaum mehr und er- fast alle, bis ins 17. Jahrhundert Bis etwa 1600 wurde in jedem europäischen Land möglicht so Kommunikation über die Zeiten hinweg. Daher noch der größte und bis ins mehr Literatur auf Latein als zählt Latein zu den klassischen Sprachen und ist ebenso viel frühe 19. Jahrhundert immer in der jeweiligen Landesspra- oder ebenso wenig Weltsprache wie Sanskrit oder das klassi- noch ein beträchtlicher Teil der che geschrieben. sche Chinesisch. Allerdings gibt es gute Gründe, Latein für die wissenschaftlichen Schriften europäischste Sprache zu halten. auf Latein verfasst. Dafür drei beliebige Beispiele aus dem Latein ist tot, es lebe Latein – so lautet der Titel des dischen Firma ein Geburtstagsgedicht ins Latei- 18. Jahrhundert: Johann Wolfgang von Goethe for- Buches, mit dem der Münchner Latinist Wilfried nische zu übersetzen; oder eine Agentur fragt nach mulierte in Straßburg seine Dissertation zum Ver- Stroh 2007 einen Bestseller gelandet hat. In seinem einem lateinischen Werbespruch. Und da waren hältnis zwischen Kirche und Staat – auf Latein; der Buch erzählt er die Kleine Geschichte einer großen noch die sprechenden lateinischen Namen, um die Mathematiker Leonhardt Euler publizierte seine Sprache und untermauert damit die These, dass ein Fantasy-Autor für seinen neuen Roman bat, und Überlegungen zum Königsberger Brückenpro- Latein „die erfolgreichste Sprache der Welt sei“. In das Lebensmotto, das ein Teenager für sein Tattoo blem – auf Latein; Carl von Linné verfasste nicht der Tat ist die Nachfrage – um es marktwirtschaft- auf Latein haben wollte – schließlich der Schnecken- nur seine botanischen Schriften, sondern beschrieb lich zu formulieren – nach Latein auch heute noch liebhaber, der auf etymologische Erklärungen der auch seine Lapplandreise – auf Latein. Überhaupt groß: Nach Englisch und Französisch ist es die lateinischen Fachtermini seiner exotischen Aquari- war Latein Jahrhunderte lang die lingua franca der Fremdsprache, die an deutschen Schulen an dritter umsschnecken aus war ... Die ‚Lebensformen‘ der Gelehrten, der Diplomaten und der Adeligen auf Stelle steht. lateinischen Sprache sind also vielfältig und bunt. ihren Reisen durch Europa. Auch die Vorlesungen Dass Latein, mehr als man glauben mag, auch Aber kann man wirklich mit Wilfried Stroh behaup- an den Universitäten wurden lange Zeit in allen in der heutigen Zeit präsent ist, zeigt auch der Alltag ten, dass Latein die erfolgreichste Sprache der Welt Fächern auf Latein gehalten – erst um 1687 soll der eines Lateinprofessors: Fast jede Woche kommen sei? Oder zumindest Europas? Philosoph und Jurist Christian Thomasius in Halle Anfragen, etwa für den Direktor einer mittelstän- die erste Vorlesung auf Deutsch gehalten haben. 14 uni.vers uni.vers 15
Latein – die Sprache Europas? Latein – die Sprache Europas? Latein – die europäischste Sprache? Hier ist er also wieder, der Vorwurf, dass Latein Wenn man es so betrachtet, hätte Latein den Status eine tote Sprache sei. Dieser Vorwurf ist alt, und einer Weltsprache längst erlangt, wohingegen dieser schon der französische Humanist Muretus musste Status etwa für das Englische zum gegenwärtigen sich mit ihm auseinandersetzen. Er tat es offen- Zeitpunkt noch völlig ungewiss wäre. Leonhardt hat siv und schrieb im Jahr 1583: „Man sagt, die grie- daher den Aspekt einer „diachronen Kommunikati- chische und lateinische Sprache seien längst gestor- onsfähigkeit“ aufs Tapet gebracht. Dafür braucht es ben. Ich [Muretus] meine dagegen, daß sie jetzt erst aber Sprachen, die über die Zeiten hinweg – zumin- nicht nur kraftvoll leben, sondern sich sogar bester dest im Wesentlichen – gleich bleiben, wie Sanskrit, Gesundheit erfreuen, nachdem sie nicht mehr das klassische Chinesisch, das Altgriechische und Das Klassifizierungs-sys- der Gewalt des gewöhnlichen Volkes unterworfen eben Latein. tem der Pflanzen von sind.“ Muretus meint also, dass die wahre Stärke Latein ist also eine Schlüsselsprache, die – von Carl von Linné mit den des Lateins eben darin liege, dass sie nur noch als der Antike bis zur Neuzeit – die Türen zu vergan- bis heute typischen latei- Kunst- und Gelehrtensprache existiere und damit genen Zeiten und Epochen öffnet, in denen vieles nischen Bezeichnungen. „der Gewalt des gewöhnlichen Volkes“ entzogen Auch Jürgen Leonhardt postuliert im genann- gedacht und geschrieben wurde, das uns bis in die Die Zeichnung fertigte sei. Natürliche Sprecher tun einer Sprache, wenn Gegenwart prägt, das uns heute aber auch fremd ten Buch einen Zusammenhang zwischen Weltspra- Georg Dionysius Ehret an. man so will, Gewalt an: Sie verändern sie fortlau- chen und toten Sprachen: erscheinen kann. Beides, das uns vertraut Geblie- fend. Dieser natürliche Sprachwandel führt dazu, bene und das uns fremd Gewordene, gehört zu dass ein Text schon nach wenigen Generationen Die Lebensdauer einer Sprache ist sinn- unserer Bildungstradition, beides ist Bestandteil des Dies belegt eindrucksvoll, welch große Rolle Verständnisschwierigkeiten bereiten kann und nach voll nur zu beschreiben als Zeitraum, in europäischen Bildungsguts. Im gleichbleibenden Latein auch nach dem Untergang des römischen einigen Jahrhunderten nicht mehr verstanden wird. dem sich die Sprache soweit gleich bleibt, Medium Latein bleibt die geistige Vielfalt der Reichs im westlichen Europa spielte. Bis etwa 1600 Eine lebendige Sprache ist dem steten Sprachwan- daß eine Identität zu erkennen ist, und Geschichte Europas zugänglich. Ob die lateinische übertraf die lateinische Literaturproduktion die nati- del unterworfen und stirbt – so gesehen – unzählige auch eine diachrone Kommunikations- Sprache heute noch eine Weltsprache ist, darf offen onalsprachliche in jedem europäischen Land, in Tode. Latein hingegen bleibt, soweit sie Gelehrten- fähigkeit besteht. (…) Es ist eine wesent- bleiben, mit Sicherheit aber ist sie die europäischste. einigen Ländern sogar bis 1700 und später. Ange- und Literatursprache ist, als erstarrte Kunstspra- liche Leistung der lateinischen Sprache, sichts der vielen Fürstentümer, in die Europa zer- che im Kern unverändert, ist zeitlos und damit in daß man mit ihrer Kenntnis Zugriff auf fallen war, und angesichts der wiederum länderü- gewisser Weise unsterblich. Literatur, Wissenschaft und historische bergreifenden Herrschaftsbereiche europäischer Überlieferung nicht nur der Gegenwart, Literaturempfehlung Könige und Kaiser war Latein – samt seiner christ- sondern von Jahrtausenden erhält. Das- lich-antiken Tradition – die Sprache, die für eine Art selbe gilt für alle historischen Sprachen, Wilfried Stroh: Latein ist tot – es lebe Latein. Berlin: List 2007. ‚geistiges Europa‘ stand und eine entsprechende die als Weltsprachen bezeichnet werden Identität stiftete, mit der sich die Eliten Europas ver- können: das Altgriechische, die neubaby- Jürgen: Leonhardt: Latein. Geschichte einer Welt- bunden fühlten. Latein war eben etwa 2.000 Jahre lonische Literatursprache, Sanskrit oder sprache. München: C. H. Beck 2009. lang eine Weltsprache, bis das Englische, Franzö- auch die Schriftform des klassischen Chi- sische und andere Sprachen diese Funktion über- nesisch. nahmen. Latein – eine klassische Sprache? Ein anderes, sehr ambitioniertes Attribut wird der Latin – the Language of Europe? lateinischen Sprache zugewiesen: Latein gilt – An Homage to a thriving, yet reputedly dead world language neben dem Altgriechischen – als klassisch. Irgend- wie passt das zu dem, was manch einer mit dem Latin, as the story goes, is a dead language, but nevertheless it continues to thrive in many contexts. The Begriff des Klassischen verbinden mag: Etwas, das fact that it has almost completely ceased to change allows for communication across the ages. Thus, it keine Bedeutung mehr hat; etwas, das früher ein- is included among the classical languages and is just as much a world language as Sanskrit or Classical mal wichtig war; etwas, das nur in der Schule vor- Chinese. There is, however, good reason to regard Latin as the most European of languages. kommt – kurz: etwas, das eigentlich überholt, ver- staubt, tot ist. 16 uni.vers uni.vers 17
Europas geliehene Heere Europas geliehene Heere 1648 endete ein Krieg, der dreißig Jahre lang gewährt und weite Teile des heutigen Deutschlands entvölkert und verwüstet hatte. Was am Ende übrig Pröve zählte 2013 allein für das 17. Jahrhundert ins- blieb, waren zahllose gut ausgebildete, aber nun gesamt 5193 Kriege. Die deutschen Fürsten mach- arbeitslose Söldner, die während des Krieges in den ten daher aus ihrer Not eine Tugend und gingen Armeen der verschiedenen europäischen Mächte schon bald dazu über, ihre mehrere tausend Mann gekämpft hatten: Dänen, Schweden, Franzosen und starken Armeen an solvente ausländische Herrscher Spanier ebenso wie Söldner aus den verschiedenen zu vermieten. Sie schlugen damit zwei Fliegen mit deutschen Fürstentümern wie Hessen, Bayern und einer Klappe: Zum einen sicherten sie die Finanzie- Ab 1645 belagerten ein Sachsen. Doch was tun mit diesem buchstäblichen rung ihrer Truppen, zum anderen wurden sie im circa 50.000 Mann starkes Heer an kampferprobten Männern? Arbeitslos Handumdrehen zu Vertragspartnern europäischer osmanisches Heer für umher vagabundierend stellten sie eine nicht zu Mächte und waren somit dort angelangt, wo sie rund 25 Jahre die damals unterschätzende Gefahr für Sicherheit und Ord- lange bereits hinwollten: auf Augenhöhe mit den venezianische Insel Candia nung dar. Königen Europas, zu denen sie – stets im Schatten (Kreta). Die Republik Die deutschen Fürsten gingen nach dem Krieg des römisch-deutschen Königs beziehungsweise Venedig mietete zahlreiche daher dazu über, erstmals stehende Heere aufzu- Kaisers – bisher nicht gehört hatten. deutsche Regimenter an, bauen: Aus Söldnern, die man für konkrete mili- Die skizzierten zwischenstaatlichen Koope- unter anderem aus Bayern, tärische Konflikte angeworben und im Anschluss rationen schweißten die entstehende europäische Braunschweig-Lüneburg und wieder entlassen hatte, wurden Soldaten, die auch Staatengemeinschaft mit ihren ständig wechseln- Münster. in Friedenszeiten unter Vertrag blieben. Diese ste- den Konstellationen seit der Mitte des 17. Jahr- henden Heere waren nicht nur eine Möglichkeit, hunderts zusammen, und zwar zeitgleich in poli- Von Andreas Flurschütz da Cruz das militärische Potential zu kanalisieren und zu tischer, militärischer und ökonomischer Hinsicht. bündeln, das der Dreißigjährige Krieg freigesetzt hatte: Durch die neue und permanente militärische Europas geliehene Heere 30.000 Deutsche Soldaten Schlagkraft wurde auch der Staatsbildungsprozess kämpften zwischen 1776 und in den einzelnen deutschen Ländern vorangetrie- 1783 auf britischer Seite ge- ben, nicht zuletzt durch die administrativen Heraus- gen die um ihre Unabhängig- forderungen, die ein großes Heer an seinen Inhaber keit ringenden Amerikaner. stellte. Die deutschen Fürsten nutzten ihre neuen Die Internationalisierung Deutsche Soldaten kämpften die Kriege stehenden Heere außerdem dazu, zukünftig als der Anderen: Nach Ende des Dreißigjäh- sogenannte ‚armierte Stände‘ auch auf internatio- von Sicherheit und Gewalt rigen Kriegs (1618–1648) strebten deutsche naler Ebene ernst- und wahrgenommen zu werden. Fürsten wie der Landgraf von Hessen-Kassel Einem hessischen oder württembergischen Landes- im 17. und 18. Jahrhundert oder die Fürsten von Braunschweig oder fürsten mit einer tausende Mann starken Armee Württemberg danach, auf Augenhöhe mit etwa war die Aufmerksamkeit der europäischen den europäischen Dynastien zu agieren. Um Öffentlichkeit sicher: Solche Fürsten stellten ein dieses Ziel zu erreichen, stellten sie Truppen erhebliches Gewaltpotential, aber auch interessante von enormer Stärke zusammen – mit Solda- Kooperationspartner dar. ten, die aus dem Dreißigjährigen Krieg üb- riggeblieben waren. Stehende Heere wurden Europa als Summe aufgebaut, die an die Könige von England, militärischer Kooperationen die Niederlande oder die Republik Venedig Stehende Heere waren teuer, mussten sie doch in ausgeliehen wurden. Diese Kooperationen Friedenszeiten ebenso unterhalten werden wie im erhöhten den Status der deutschen Fürsten, Krieg. An Kriegen mangelte es in Europa indes manche wurden selbst zu Königen. Europa nicht. In wohl keiner anderen Epoche wurde begann zusammenzuwachsen. Europa so sehr von Gewalt und Krieg bestimmt. Ralf 18 uni.vers uni.vers 19
Europas geliehene Heere Europas geliehene Heere Württemberg nutzten die Gelegenheit und stellten Die Thematik der als Menschenhandel verrufenen Sub- unter erheblichem finanziellen Risiko in mitunter sidienprojekte wurde bereits Ende des 18. Jahrhunderts kürzester Zeit beachtliche Heere auf, um fortan literarisch verarbeitet und erheblich kritisiert: Friedrich Schiller, Kabale und Liebe, 2. Akt, 2. Szene: als „armiert“ zu gelten und ihr neues militärisches Potential als Subsidientruppen in den Dienst grö- Kammerdiener: Seine Durchlaucht der Herzog empfeh- ßerer Staaten zu stellen. Soldaten wurden zur zen- len sich Milady zu Gnaden und schicken Ihnen diese tralen Währung, mittels derer auch kleine Fürsten Brillanten zur Hochzeit. Sie kommen so eben erst aus Heer über die Jahre zu einem für den Kaiser nahezu mit ihren mächtigeren europäischen Standesgenos- Venedig. unkontrollierbaren Faktor geworden, was schließ- sen ins Geschäft kommen und dadurch politische Werbepatent des Fürsten lich zur Ermordung des „Friedländers“ geführt Bedeutung erlangen konnten. Lady (hat das Kästchen geöffnet und fährt erschrocken von Waldeck zur Verstärkung hatte; im England der 1650er Jahre hielt Oliver zurück): Mensch! was bezahlt dein Herzog für diese seiner Subsidienregimenter Cromwell das Land mit seinen Truppen unter Kon- Deutsche Soldaten als Verfechter Steine? für Großbritannien, 1777 trolle, das Parlament wurde aufgelöst. Seine Herr- britischer Ansprüche in Amerika schaft nahm bis zu seinem Tod und der Rückkehr Zu den bekanntesten dieser Subsidienprojekte zäh- Kammerdiener (mit finsterm Gesicht). Sie kosten ihn kei- nen Heller! […] Gestern sind siebentausend Landskinder Daraus erwuchs ein komplexes, von fragilen Abhän- zur Stuart-Monarchie militärdiktatorische Züge an. len mit Sicherheit die in den USA bis heute sprich- nach Amerika fort – die bezahlen Alles. gigkeiten geprägtes und behutsam austariertes Europäische Länder, vor allem solche parla- wörtlichen 30.000 deutschen, davon allein rund Staatengeflecht. Möglicherweise verkörpern Sub- mentarisch-republikanischer Prägung, strebten 20.000 hessischen Soldaten, die Ende des 18. Jahr- Lady: Mann! Was ist dir? Ich glaube, du weinst? sidienprojekte unter den internationalen Kommu- deshalb zunehmend danach, das Gewalt- und hunderts vom britischen König nach Amerika ver- nikations- und Kooperationsformen sogar diejenige, Sicherheitsmonopol nicht in die Hände Einzel- schifft wurden, um dort die gegen die Krone aufbe- Kammerdiener (wischt sich die Augen, mit schrecklicher die das europäische Staatensystem, wie wir es heute ner zu legen, sondern es der eigenen staatlichen gehrenden Amerikaner zu bezwingen. Dieses späte Stimme, alle Glieder zitternd). Edelsteine, wie diese da – kennen, besonders entscheidend vorgeprägt hat. Oberhoheit zu unterstellen und es zukünftig selbst Beispiel prägt bis heute das allgemeine Bild der ich hab’ auch ein paar Söhne drunter. Für die entstehenden deutschen Territori- zu verwalten, gleichzeitig aber nur eine möglichst deutschen Fürsten und ihres ‚Menschenhandels‘: alstaaten waren sie der Schlüssel zu machtpoli- Bis in die jüngste Zeit hinein hält sich in der deut- Lady (wendet sich bebend weg, seine Hand fassend). tischem Zugewinn und zum Aufstieg in die Reihe schen Öffentlichkeit und sogar in Teilen der geistes- Doch keinen gezwungenen? der europäischen Mächte: Dank einer Mischung aus wissenschaftlichen Forschung hartnäckig die Vor- Kammerdiener (lacht fürchterlich). O Gott! – Nein – lau- Subsidienprojekten und den oft damit verknüpften stellung, deutsche Soldaten seien von ihren Fürsten ter Freiwillige! Es traten wohl so etliche vorlaute Bursch’ Heiratsabreden wurden aus deutschen Fürsten über ins Ausland verkauft worden, wie es schon Schiller vor die Front heraus und fragten den Obersten, wie kurz oder lang Monarchen von europäischem Rang: in seinem Trauerspiel Kabale und Liebe behauptete. theuer der Fürst das Joch Menschen verkaufe.– Aber Landgraf Friedrich von Hessen-Kassel regierte von Die Unternehmung markiert indes nur die unser gnädigster Landesherr ließ alle Regimenter auf 1720 bis 1751 als schwedischer König, die Herzöge Spitze eines ganzen Eisberges an Subsidienpro- dem Paradeplatz aufmarschieren und die Maulaffen nie- von Hannover herrschten ab 1714 gleichzeitig auch jekten, die im 17. und 18. Jahrhundert zwischen derschießen. Wir hörten die Büchsen knallen, sahen ihr in Großbritannien und Irland. deutschen Fürsten und ausländischen Mächten Gehirn auf das Pflaster spritzen, und die ganze Armee geschmiedet wurden. schrie: Juchhe! nach Amerika! Warum fremde statt eigener Heere? Es drängt sich an dieser Stelle die Frage auf, warum europäische Herrscher wie der englische König es Europe’s Borrowed Armies bevorzugten, fremde Armeen anzumieten statt The internationalisation of security and eigene Heere aufzustellen, hatten sie doch nahezu military might in the 17th and 18th centuries permanenten Bedarf an militärischer Schlagkraft. Die Antwort darauf liegt noch weiter in der Vergan- geringe Zahl an permanenten Truppen im eigenen German soldiers fought the wars of others: Following the end of the Thirty Years’ War (1618–1648), genheit: Die Söldnerkriege im 16. und 17. Jahrhun- Land zuzulassen. Man ging daher in England, den German rulers like the Landgrave of Hesse-Cassel or the Dukes of Brunsvick and Württemberg strove dert hatten, ähnlich wie im Nachkriegsdeutschland Niederlanden und Venedig dazu über, bereits beste- for equal footing in their dealings with the European dynasties. In order to achieve this, they mustered nach 1945, in Europa ein tiefes Misstrauen gegen hende Truppenverbände – meist tausende Mann military forces of formidable strength – formed mainly of the remaining soldiers of the Thirty Years’ große Truppenverbände und ihre mächtigen Anfüh- stark – von fremden Fürsten anzumieten und für die War. Standing armies were assembled and loaned out to the kings of England, the Netherlands or the rer hinterlassen. Sie hatten sich an verschiedenen eigenen Zwecke kämpfen zu lassen. Diese fand man Republic of Venice. These cooperative efforts elevated the status of the German rulers, and some of Orten und innerhalb kürzester Zeit zu einer unge- in der Schweiz oder in Savoyen, vorzugsweise aber them became kings themselves. Europe was beginning to coalesce. ahnten Bedrohung für das politische System ent- im Heiligen Römischen Reich. Gerade mittlere und wickelt: In Deutschland war Wallensteins riesiges kleinere Territorien wie Hessen, Braunschweig oder 20 uni.vers uni.vers 21
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