SEELSORGE UNSERE ... in vielen Sprachen und Völkern - Bistum Münster

Die Seite wird erstellt Hauke-Heda Maier
 
WEITER LESEN
SEELSORGE UNSERE ... in vielen Sprachen und Völkern - Bistum Münster
NOVEMBER 2020

UNSERE
SEELSORGE

... in vielen Sprachen
und Völkern
Seelsorge für Katholiken anderer
Muttersprache, Kultur und Ritus
SEELSORGE UNSERE ... in vielen Sprachen und Völkern - Bistum Münster
Inhalt

                                                                         „Ich gehe in die tamilische Gemeinde
                                                                         in Münster, weil ich meine Religion
                                                                         und meine Kultur gerne in Verbin-
                                                                         dung bringen möchte“
                      Savmika Nagarajah (18)
                Tamilische Gemeinde Münster

         Für die Gestaltung dieser Ausgabe von UNSERE SEELSORGE haben wir junge Katholikinnen und
         Katholiken aus den Gemeinden anderer Muttersprache, Kultur und Ritus eingeladen, sich portraitie-
         ren zu lassen und uns mit einem Satz zu sagen, warum „ihre“ muttersprachliche Gemeinde für sie
         persönlich wichtig ist. Nicht alle im Bistum Münster vertretenen Sprachgruppen finden sich in den
         Antworten wieder. Die Portraits illustrieren quer durch diese Ausgabe gleichwohl die lebendige Viel-
         falt und Bedeutung muttersprachlicher Seelsorge.

         IMPRESSUM

         HERAUSGEBER
         Bischöfliches Generalvikariat | Hauptabteilung Seelsorge
         Rosenstraße 16, 48143 Münster

         REDAKTION
         Donatus Beisenkötter (v.i.S.d.P.), Georg Garz, Martin Schmitz

         KONZEPTION
         Franz-Thomas Sonka

         GESTALTUNG
         Thomas Bauer | www.kampanile.de

         DRUCK
         Druckerei Joh. Burlage, Münster | www.burlage.de

         REDAKTIONSSEKRETARIAT
         Heidrun Rillmann, Bischöfliches Generalvikariat Münster
         Domplatz 27, 48143 Münster
         Fon 0251 495-1181 | redaktion@unsere-seelsorge.de

         TITELBILD UND FOTOS
         Achim Pohl (Titel), Michael Bönte, Simon Musga (Seite 49),

         EINZELBEZUGSPREIS: 3,50 Euro

         STAFFELPREISE: ab 10 Exemplare 3 Euro | ab 50 Exemplare 2,50 Euro

                                                Das verwendete Papier ist aus
                                                100 % Altpapier hergestellt.

2
SEELSORGE UNSERE ... in vielen Sprachen und Völkern - Bistum Münster
4   EDITORIAL                                           32   DIE ANTONIUSKIRCHE IST
     Maria Bubenitschek                                       UNSER GEMEINSAMES HAUS
                                                              Interview mit Laura Arias Padilla
 5   EIN WICHTIGER TEIL DES BISTUMS MÜNSTER                   Karin Weglage
     Bischof Dr. Felix Genn
                                                         33   VIELFÄLTIGE HILFEN UND
 6   KATHOLISCH – WEITER GEDACHT                              IMMER EIN ESPRESSO ...
     Die universale Botschaft des Evangeliums wird in         Ein Besuch in der italienischen Mission
     unterschiedlichen Kontexten gelebt                       Claudia Maria Korsmeier
     Weihbischof em. Dieter Geerlings
                                                         34   RELIGIONSZUGEHÖRIGKEIT
 9   SEELSORGE FÜR KATHOLIKEN ANDERER                         UND RELIGIÖSE PRAXIS
     MUTTERSPRACHE IN DEUTSCHLAND                             Integrationsfaktoren von Migranten
     Entwicklungen und Perspektiven                           und Geflüchteten?
     Dr. Lukas Schreiber                                      Prof. Dr. Dominicus M. Meier OSB

12   MIGRANTENPASTORAL IST SOZIALPASTORAL                38   SIND DIE ÜBERHAUPT KATHOLISCH?
     Die spanischen Missionen als Beispiel einer              Die bunte Vielfalt der katholischen Riten
     erfolgreichen Integration                                Franz-Thomas Sonka
     Msgr. José Antonio Arzoz
                                                         40   HERAUSFORDERUNGEN UND
16   KOSTBARE FREIHEIT                                        CHANCEN DES ZUSAMMENLEBENS
     Katholische Vietnamesinnen und Vietnamesen               Vom Miteinander der verschiedenen Kulturen,
     in Deutschland                                           Riten und Religionen
     Dr. Duy Vu Pham                                          Dr. Miled Abboud

18   SEHNSUCHT NACH HEIMAT                               43   KOMPETENT BERATEN
     Seelsorge für afrikanische Katholikinnen und             Fachdienste für Integration und Migration
     Katholiken in Deutschland                                im Bistum Münster
     Dr. Kizito Chinedu Nweke                                 Maike Krumm und Marion Hafenrichter

22   MIGRATION UND INTERKULTURALITÄT IN EINER            45   THE GIFT OF NOT FITTING IN
     GLOBALISIERTEN WELT                                      Über die heilsame Zumutung der Differenz
     Universalität und Katholizität als Chance und            P. Tobias Keßler CS
     Herausforderung
     P. Égide Muziazia SVD                               48   EINE KIRCHE IN VIELEN SPRACHEN
                                                              UND KULTUREN
24   ENTLERNEN UND UMLERNEN                                   Ein Plädoyer für gelebte Diversität
     DES MENSCHSEINS                                          Franz-Thomas Sonka
     Herausforderungen für eine Pastoralpädagogik
     im globalen Kontext                                 51   ANSPRECHPARTNER
     Dr. Christiana N. Idika DMMM                             UND ANSCHRIFTEN

28   IN DER VIELFALT GEMEINSAM KIRCHE SEIN
     Als Teil der Ortskirche gemeinsam als Volk Gottes
     auf dem Weg
     Msgr. Stanisław Budyn

30   AUS FREMDEN WERDEN
     FREUNDINNEN UND FREUNDE
     Vom gelingenden „katholischen“ Miteinander
     in einer deutschen Pfarrei
     Karsten Weidisch

                                                                                                            3
SEELSORGE UNSERE ... in vielen Sprachen und Völkern - Bistum Münster
Editorial
Inhalt

            LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
            „… in vielen Sprachen und Völkern“ – Seelsorge         Diese Ausgabe von UNSERE SEELSORGE
            in anderer Muttersprache, Kultur und Ritus –        möchte den Blick weiten, mit Klischees „aufräu-
            ist diese Ausgabe überschrieben. Das Titelbild      men“ und Sie mithineinnehmen in eine vielleicht
            bedient in diesem Kontext direkt ein Klischee –     an der einen oder anderen Stelle noch unbekann-
            und das ganz bewusst.                               te Weise, Leben und Glauben in unserem Bistum
                                                                zu feiern und zu teilen.
               Denken wir an Seelsorge in anderer Mutter-
            sprache sind es möglicherweise tatsächlich             Und vielleicht stellen Sie sich am Ende der Lek-
            zunächst Klischees, die uns einfallen, Bilder und   türe die Frage: Welche Konsequenzen sollen wir
            Vermutungen, die unserer Unkenntnis und unse-       daraus ziehen?
            rem Befremden gegenüber anderen Kulturen und           Darüber lohnt es sich, miteinander ins Ge-
            deren Art, ihren Glauben zu leben, entspringen.     spräch zu kommen!

              Dabei ist unsere Kirche eine Weltkirche und          Im Bewusstsein, dass „Muttersprache“ auch
            unser europäischer oder gar deutscher Blick ist     „Vatersprache“ sein kann, grüßt Sie herzlich
            nur einer von vielen anderen.

               Mehr als 1/10 der Katholiken und Katholikin-
            nen in unserem Bistum Münster spricht eine          Herzlichst Ihre
            andere Muttersprache. Viele dieser Gläubigen        Maria Bubenitschek
            engagieren sich in ihren Gemeinden und feiern
            regelmäßig Gottesdienste. Manche Gemeinde
            anderer Muttersprache steht in guter Koope-
            ration zu einer Kirchengemeinde, mancherorts
            werden sie eher als Randerscheinung wahrge-
            nommen.

                                                                                     Maria Bubenitschek
                                                                                     Leiterin der Hauptabteilung Seelsorge
                                                                                     bubenitschek@bistum-muenster.de

4
SEELSORGE UNSERE ... in vielen Sprachen und Völkern - Bistum Münster
EIN WICHTIGER TEIL
DES BISTUMS MÜNSTER
In unregelmäßigen Abständen besuche ich seit       nicht geläufig. So haben diese Gemeinden ehren-
einiger Zeit in unserem Bistum die Katholiken      amtlich ein starkes soziales Netzwerk geknüpft,
anderer Muttersprache in ihren Gemeinden und       um schnell Hilfe organisieren zu können.
Missionen. Wegen der Corona-Pandemie steht die
Begegnung in einigen dieser Gemeinden noch aus.       Immer wieder sage ich in den Predigten bei
                                                   den Besuchen: „Sie sollen hier im Bistum eine
   Die bisherigen Besuche erfüllen mich mit        Form der Verbundenheit mit ihrer Heimat finden.
Freude und Dankbarkeit: die Eucharistiefeier mit   Sie gehören zu uns und bestärken uns alle durch
der Gemeinde, die Begegnung mit den Seelsorge-     ihren Glauben. Bitte geben Sie das Zeugnis Ihres
rinnen und Seelsorgern, mit den ehrenamtlichen     Lebens weiter an die folgenden Generationen.“
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, das festliche
Zusammensein mit der Gemeinde. Ich bin beein-         Das Wahrnehmen der Gemeinden ande-
druckt von der Glaubens- und Lebensfreude, die     rer Muttersprache verändert auch das eigene
bei diesen Treffen deutlich wird. Dabei werden     Glaubensleben von uns Einheimischen. Wir in
auch die dunklen Seiten nicht ausgeblendet.        Deutschland sind nur ein Segment der Welt-
Vielfach kommen die weltweiten politischen Vor-    kirche. Der Glaube der Migranten erinnert mich
gänge zur Sprache, die zur Migration führen. Er-   daran, dass Glaube vielfältig gelebt werden kann
fahrungen von Terror und Angst, von Verfolgung     und immer auch Aufbruch bedeutet.
und Vertreibung, von Flucht und Krieg werden
immer wieder angesprochen. Dazu kommen auch           Hier kann auch gesehen werden, was Kirche
Schwierigkeiten im Umgang mit hiesigen Verhält-    zum „Entlernen“ von Fremdenfeindlichkeit und
nissen im Staat und auch in der Kirche.            zum Erlernen der Fähigkeit zur Vielfalt bedeutet
                                                   und damit auch zum friedlichen Zusammenleben
   Ich erlebe eine große Dankbarkeit, dass unser   in unserer Gesellschaft.
Bistum die Katholiken anderer Muttersprache
durch die entsprechenden Gemeinden und                Herzlich danke ich allen, die dieses Heft „Unse-
Missionen seelsorglich unterstützt und fördert.    re Seelsorge“ konzipiert und gestaltet haben,
Natürlich sind alle katholischen Christen, egal    die ihre Artikel beigesteuert haben. Sie machen
welcher Nationalität, Mitglieder der deutschen     deutlich, dass die Gemeinden und Missionen der
Pfarrei, in deren Gebiet sie wohnen.               Katholiken anderer Muttersprache ein wichtiger
                                                   Teil des Bistums Münster sind.
   Aber die Möglichkeit, auch in den eigenen
kulturellen Zusammenhängen katholische Kirche
sein zu können, dient dem Glauben und Leben
der Katholiken anderer Muttersprache ungemein,
wie diese Möglichkeit auch dazu befähigt, in der
„neuen Heimat“ Fuß zu fassen. Das ist mir durch
diese Besuche immer deutlicher geworden. Für
viele Menschen, die aktuell nach Deutschland
kommen, ist die eigene muttersprachliche Ge-
meinde die erste Anlaufstelle. Die organisatori-
schen Ausdifferenzierungen, wie sie sich in der                         + Felix Genn
deutschen Kirche entwickelt haben, sind ihnen                           Bischof von Münster

                                                                                                         5
SEELSORGE UNSERE ... in vielen Sprachen und Völkern - Bistum Münster
„Ich gehe in die italienische Gemeinde
                                                       in Moers, weil ich meine Landsleute
                                                       dort sehe und meine Kultur pflegen
                                                       kann.“
                         Claudio Valdes (27)
                         Italienische Mission
                                       Moers

    KATHOLISCH –
    WEITER GEDACHT
    DIE UNIVERSALE BOTSCHAFT DES EVANGELIUMS WIRD
    IN UNTERSCHIEDLICHEN KONTEXTEN GELEBT

    „Es ist schön, Herkunft und Glauben zu verbin-      Für Diego Carreira ist die portugiesischsprachige
    den.“ So die Sprecherin der koreanische Katholi-    Gemeinde „ein kleines Refugium für die eigenen
    ken in Münster Dr. Soon-Chim Jung. Aus der Ge-      Wurzeln.“ So der 29jährige, der ehrenamtlich als
    meinde arabischsprechender Christen mit ihrer       Katechet in der Gemeinde tätig ist.
    orientalisch-europäischen Mentalität spricht die    „Sich von der Geschichte nicht beugen lassen“,
    junge Physikerin aus dem Libanon Marie Maaz:        bekräftigen im Blick auf den Heiligen Papst
    „Wir grenzen unsere Religion nicht vom Leben        Johannes Paul II. nach einem Gottesdienst einige
    ab, für uns gehört beides zusammen.“                Mitglieder der polnischen Gemeinde. Sie ist die
    Zweimal im Monat feiert die Ukrainisch-grie-        zahlenmäßig weitaus größte Gruppe der Katholi-
    chisch-katholische Gemeinde im Kapuziner-           ken anderer Muttersprache im Bistum Münster.
    kloster in Münster die „Göttliche Liturgie“.        „Es gibt Probleme, die man mit deutschen
    „Katholisch und doch ganz anders“, beschreibt       Augen nicht sieht. Wir kennen den Kontext, die
    Marja Sarko, Ehefrau von Pfarrer Stephan Sarko.     Tradition. Wir haben das Vertrauen“, betont Pfr.
    Das Durchschnittsalter der Gemeindemitglieder       Frankline Chukwuemeka Anynawu, Seelsorger
    liegt bei 24 Jahren.                                der afrikanischen Gemeinde. 1

6
SEELSORGE UNSERE ... in vielen Sprachen und Völkern - Bistum Münster
gebundenheit, unser Kontext eröffnet. Damit ist
von Dieter Geerlings
                                                     keiner Beliebigkeit das Wort geredet. Aber der
                                                     geschichtliche und theologische Kontext beispiels-
Katholiken anderer Muttersprache –                   weise prägt unser Katholischsein hier; ebenso
Katholische Vielfalt                                 verhält es sich mit den ursprünglichen Kontexten
Schon diese kleine Auswahl von Äußerungen aus        der Gemeinden anderer Muttersprache.
den 18 Sprachgruppen der Gemeinden anderer
Muttersprache in unserem Bistum macht die               Die Erfahrung mit den Katholiken anderer
Vielfalt des Katholisch-Seins deutlich. Es geht      Muttersprache in unserem Bistum ist für mich so
überhaupt nicht nur um Sprache, es geht um           etwas wie die Erfahrung von Weltkirche auf klei-
unterschiedliche Akzente im Glaubensleben, um        nem Raum, in all der gegenseitigen Bereicherung
Riten (gemeint ist damit das ganze kirchliche        wie auch in der spannungsreichen Unterschied-
Leben), um Traditionen, um Erfahrungen von           lichkeit und Glaubensintensität.
Flucht, Vertreibung, Krieg, Verfolgung …, die in
der Migration mit nach hier gekommen sind. Dies      Kirche als „Global Player“ - die Fragestellung:
und mehr prägt diese Gemeinden.                      Katholizität
                                                     Die Botschaft Jesu hat sich zu einer Weltreligion
Unterschiedliche Wahrnehmungen                       entwickelt, fußt im Glauben Israels, ist weiter aus-
Die Begegnungen unterschiedlichster Art erlebe       gerichtet auf „Juden und Heiden“. Sie verwirklicht
ich als eine Bereicherung meines Glaubens, als       sich in konkreten gesellschaftlich-kulturell-poli-
„Weitung“ des Katholischen. Da kommt Freude          tischen Kontexten. Diese Kontexte bringen die Ka-
auf, zu einer Kirche zu gehören, die auf alle Welt   tholiken anderer Muttersprache mehr oder weni-
(Kat-holos) bezogen ist, dass der Glaube eine        ger mit in den neuen gesellschaftlichen Kontext. In
Sprache ist in unterschiedlichen Sprachen. Da        der katholischen Kirche als „Global Player“ (wobei
atmet Pfingsten.                                     hier die Ökumene mitbedacht werden muss …)
                                                     haben Menschen Heimat, die einen unterschied-
   Andererseits spüre ich auch eine Spannung zu      lichen theologischen und kulturellen Hintergrund
bestimmten Ausprägungen oder Akzenten des            haben. Sie haben viele Kompetenzen und gläubi-
Glaubens- und Kirchenlebens in der einen oder        ges Erfahrungswissen. „Unter allen Religionen ist
anderen dieser Gemeinden. Beispielhaft nenne         vielleicht das Christentum am deutlichsten durch
ich: Sakramentenfrömmigkeit, Familienbild, be-       die Spannung von Kontextualität und Universali-
stimmte ethische Ansichten, Verhältnis von Reli-     tät gekennzeichnet.“2 Ist dann die Katholizität
gion zur Nation, Islamkritik, theologische Prägung   (nicht als Konfessionsbegriff verstanden, sondern
aus der Missionierung im Zuge der Kolonisierung      als Wesensform der Kirche) zu verstehen als die
und manches mehr.                                    Vermittlung von Universalität und Kontextualität in
                                                     einem ständigen Prozess oder Weg?
   Diese Spannung lebt natürlich auf dem Hinter-
grund des hiesigen Glaubenskontextes. Sicherlich        Papst Franziskus gibt der Vielfalt mehr Raum
wäre es nötig, diese Stichworte genauer zu fassen,   (vgl. Evangelii gaudium 32). Er hat offenbar keine
was hier aber zu weit führen würde. Sie dienen       Angst vor einer „Binnenpluralisierung“ (J. Rah-
als Hinweis, dass der Glaube, der eine katholische   ner) des Katholischen. Das war bereits auf dem
Glaube in unterschiedlichen Kontexten gelebt wird    Vaticanum II (GS 92) vorhanden. Es geht darum,
und zuhause ist. In der Vergangenheit sind wir       von der gemeinsamen Basis des Glaubens her
eher davon geprägt worden, unseren Glauben, das      die Unterschiede zu bestimmen, nicht von den
Glaubensleben im Blickwinkel einer überzeitlichen    Gegensätzen. Das bringt eine Weiterentwicklung
Naturordnung zu betrachten. Hier aber wird schon     des Verständnisses von „katholisch“ mit sich. Es
deutlich: was immer als „Naturordnung“ be-           bestimmt sich nicht mehr von einer uniformen
zeichnet wurde oder wird, ist grundsätzlich durch    Einheitlichkeit her, sondern von der Idee einer
Kultur vermittelt.                                   Gemeinschaft von Verschiedenen.

   Zur „Natur des Menschen“, zu seinen Gemein-       Universalität – Kontextualität
schaftsformen haben wir keinen anderen Zugang        Wie ist dieses „Katholische“ dann genauer zu
als jenen, den uns unsere kulturelle Standort-       fassen? Hier gibt Franz Gmainer-Pranzl, Professor

                                                                                                            7
SEELSORGE UNSERE ... in vielen Sprachen und Völkern - Bistum Münster
Katholisch – weiter gedacht

                     in Salzburg, eine wie mir scheint wichtige weiter-      Ausblick
                     führende Perspektive, die ich sehr verkürzt und         Migration ist für mich eine Konstante dieser Welt
                     vereinfacht darstelle.3                                 und wird eine noch größere Konstante werden.
                                                                             Sie beschleunigt den Prozess der Pluralisierung,
                          Das Evangelium erhebt für den Glaubenden           ist aber nicht deren Ursache. Im Zusammenleben
                          einen universalen Anspruch. Es versteht sich       von einheimischen und zugewanderten Katholi-
                          als klärendes und befreiendes Wort für alle        ken geht es um einen unabschließbaren Prozess
                          Menschen.                                          einer Durchdringung der eigenen Kultur, der
                          Der Kontext des Menschen dieser Zeit (Le-          Glaubensverständnisse, der Riten von anderen
                          bensverhältnisse, Milieus, Nation, Kultur,         und umgekehrt. Dieser Prozess verändert alle
                          Sprache, Landschaft …) ist der Schlüssel, um       Beteiligten – wenn dieser Prozess denn wirklich
                          den Anspruch des Evangeliums neu wahrzu-           wahrgenommen wird. Das ist auf Zukunft hin
                          nehmen.                                            noch eine große Herausforderung. Der Begriff
                          Die „Wahrheit des Evangeliums“ ist nicht           der Integration, wie er im politischen Handeln ge-
                          identisch mit einer einzigen Vorstellung vom       braucht wird, ist hier nicht anwendbar. Es geht bei
                          Menschen und seiner Welt. Es haben sich            allen um Getaufte und Gefirmte. Wer soll sich wie
                          aber in der Geschichte Ausformungen des            und wohin dann integrieren? Deshalb Katholizität.
                          Glaubens entwickelt, die nicht beliebig revi-      Dieser Weg ist meines Ermessens nach unabding-
                          dierbar sind.                                      bar, um zum Beispiel gemeinsam zu erproben,
                          Die Botschaft des Evangeliums kann in prinzi-      was „Katholizität“ als Vermittlung des Christlichen
                          piell allen Kontexten des Lebens verortet          heißen könnte im Verhältnis von moderner euro-
                          werden und bekommt dort eine originäre             päischer Gesellschaft und christlicher Botschaft.
                          Ausdrucksgestalt.
                          Universalität ist ohne Dialog nicht zu haben.      1
                                                                               Vgl. Westfälische Nachrichten vom 08.08.2018
                                                                             2
                                                                               Narth, Peter Claver, Interkulturelles Zusammenleben in einer
                          Universalität setzt die Anerkennung der
                                                                             Ordensgemeinschaft, Berlin 2019, 182
                          eigenen Partikularität voraus. Diese Sicht         3
                                                                               Gmainer-Pranzl, Franz, Universalität in Kontextualität. An-
                          setzt einen ständigen Prozess der Kommuni-         spruch und Vermittlung des Christlichen. In: Kontextualität des
                          kation voraus.                                     Evangeliums, Regensburg 2012, 194-214
                          Dialoge sind nicht eine Alternative zur Ver-
                          kündigung des Evangeliums, sondern die Art
                          und Weise, wie diese erfolgt (Vgl. GS 3).
                          Katholisch sein heißt, wahrnehmen können,
                          dass und wie sich der Anspruch des Christ-
                          lichen (der gemeinsamen Basis) in die Vielfalt
                                                                                   WWW.UNSERE-SEELSORGE.DE
                          des Menschlichen vermittelt.
                          Das Katholische ist die Qualität einer Vermitt-          Die Geschichte der Seelsorge für Migranten
                          lungsfähigkeit und nicht eine traditionelle              in Deutschland von den ersten Dokumenten
                          Quantität nach dem Motto „Ist das noch                   Anfang des 20. Jahrhunderts über die Zeit
                          katholisch?“ Katholizität ist theologisch als            der sogenannten Gastarbeiter bis heute
                          Vermittlungsgestalt zwischen Universalität               beschreibt P. Martin Üffing SVD in einem
                          und Kontextualität zu verstehen.                         Beitrag, den Sie online lesen können.
                          Die kirchliche Gemeinschaft wird aus allen
                          Völkern der Erde gebildet. Ihr kommt ein
                          „character universalitatis“ zu, der die Kirche
                          auf einen weltweiten Horizont hin aufbricht
                          und eine Form von Einheit schafft, die „aus
                          verschiedenen Ordnungen“ gebildet wird.
                          (Vgl. LG 13). Katholizität erweist sich hier als
                          Modell des Zusammenlebens unterschied-                                       + Dieter Geerlings
                          licher Völker, deren Vielfalt zum realen Zei-                                Weihbischof em.
                          chen einer tiefen Einheit wird.                                              Bischöflicher Beauftragter für die
                                                                                                       Seelsorge der Katholiken anderer
                                                                                                       Muttersprache
                                                                                                       vollenbroeker@bistum-muenster.de

8
SEELSORGE UNSERE ... in vielen Sprachen und Völkern - Bistum Münster
„Ich gehe in die koreanische Gemeinde
                                                 in Münster, weil ich da viel Lebenskraft
                                                 und emotionale Energie tanken kann.“

              Hyung-Range Kwon (31)
               Koreanische Gemeinde
                            Münster

SEELSORGE FÜR KATHOLIKEN
ANDERER MUTTERSPRACHE
IN DEUTSCHLAND
ENTWICKLUNGEN UND PERSPEKTIVEN
Seit Jahrzehnten haben wir uns im kirchlichen       Zahlen, Fakten und Entwicklungen
Leben hierzulande an rückläufige Zahlen ge-         Wie viele Katholikinnen und Katholiken anderer
wöhnt. Gottesdienstbesuch, Sakramentenemp-          Muttersprache genau zur Kirche in Deutsch-
fang und besonders die Gesamtzahl der Katho-        land gehören, wissen wir nicht. Aber wir können
liken in Deutschland gehen seit Jahren mehr         immerhin die Zahl derjenigen Personen genau
oder weniger kontinuierlich zurück. Nicht so        beziffern, die in den amtlichen Melderegistern als
ist es, wenn wir auf jenen Teil der Mitglieder      „römisch katholisch“ gemeldet sind und zugleich
unserer Kirche schauen, die eine Migrations-        über eine ausländische Staatsangehörigkeit ver-
geschichte mitbringen. Denn ihre Zahl steigt        fügen. Sie ist alleine in den vier Jahren von 2015
und steigt.                                         bis 2019 (Stichtag ist jeweils der 30. Juni) um 11,6
                                                    Prozent von 3.205.610 auf 3.575.890 gestiegen.
                                                    Im gleichen Zeitraum ist die Gesamtzahl der Mit-
von Dr. Lukas Schreiber
                                                    glieder der katholischen Kirche in Deutschland

                                                                                                           9
SEELSORGE UNSERE ... in vielen Sprachen und Völkern - Bistum Münster
Seelsorge für Katholiken anderer Muttersprache in Deutschland

                                                                 „Ich gehe in die rumänische Gemeinde
                                                                 in Münster, weil ich mich dort zuhause
                                                                 fühle.“

                                  Marco Becusca (28)
                                Griechisch-Katholische
                                Rumänische Gemeinde

                   um 3,2 Prozent von 23.761.806 auf 23.002.128         Rottenburg-Stuttgart (385.651) und im Erzbistum
                   gesunken. Rechnet man die Katholiken mit aus-        Köln (347.460). Im Bistum Münster liegt die Zahl
                   ländischer Staatsangehörigkeit einmal heraus, so     bei 185.449, das sind 10,2 Prozent der Gesamt-
                   wäre die Mitgliederzahl der katholischen Kirche      zahl der Gläubigen.1
                   in diesen vier Jahren nicht um 3,2 Prozent, son-
                   dern um 5,5 Prozent zurückgegangen. Der Anteil          Verantwortlich für die Seelsorge an den
                   der Personen mit einer ausländischen Staats-         Gläubigen anderer Muttersprache sind in den Bis-
                   angehörigkeit an der Gesamtmitgliederzahl der        tümern jeweils die Ortsbischöfe. Sie haben in den
                   katholischen Kirche in Deutschland liegt derzeit     27 deutschen (Erz-)Diözesen insgesamt rund 450
                   (2019) bei 15,5 Prozent und ist seit 2015 um zwei    muttersprachliche Gemeinden in 30 verschiede-
                   Prozentpunkte gestiegen.                             nen Sprachgruppen errichtet. Circa 500 Priester
                                                                        aus aller Welt sind in diesem Arbeitsfeld tätig,
                      Zur katholischen Kirche gehören in Deutsch-       teils hauptamtlich, teils nebenamtlich. Auf der
                   land Gläubige aus rund 200 Nationen. Die mit         Ebene der Deutschen Bischofskonferenz ist die
                   Abstand größte Gruppe unter ihnen bilden die         Migrationskommission (XIV) zuständig.
                   Polen, deren Zahl aktuell bei rund 1,25 Millionen
                   liegt. Die Italiener stellen mit rund 609.000 Ka-    Elemente wachsender Gemeinschaft
                   tholiken die zweitgrößte Gruppe. Die drittgrößte     In einem Prozess zur Reflexion und Perspektiv-
                   Gruppe bilden die Kroaten, deren Zahl derzeit        entwicklung der muttersprachlichen Seelsorge
                   auch am stärksten wächst. Alleine zwischen den       unter dem Arbeitstitel „Elemente wachsender
                   Jahren 2017 und 2019 ist sie um elf Prozent auf      Gemeinschaft“ möchte die Migrationskommission
                   336.500 gestiegen. Weitere große Sprachgruppen       der Deutschen Bischofskonferenz insbesondere
                   sind die spanisch- und die portugiesischsprachi-     Möglichkeiten einer verbesserten Teilhabe der
                   gen Katholiken, deren Gruppengröße jeweils bei       muttersprachlichen Gemeinden am Leben und
                   rund 150.000 liegt.                                  den Strukturen der Kirche in Deutschland in den
                                                                        Blick nehmen. Ziel ist es, auf allen Seiten das Be-
                      In den einzelnen Bistümern und Erzbistümern       wusstsein der Zusammengehörigkeit in der einen
                   sind die Anteile der Gläubigen mit ausländischer     Gemeinschaft der Kirche zu stärken und eine ent-
                   Staatsangehörigkeit an der Gesamtzahl der            sprechende Praxis zu fördern.
                   Kirchenmitglieder in der aktuellen Statistik von
                   2020 unterschiedlich hoch, sie liegen zwischen       Optionen im Blick auf die Zukunft der
                   6,7 Prozent im Bistum Passau und 35,7 Prozent        muttersprachlichen Seelsorge in Deutschland
                   in den Erzbistümern Berlin und Hamburg. In           Zur Erreichung dieses Ziels gibt es keine all-
                   absoluten Zahlen leben die meisten Katholiken        gemeingültigen Patentrezepte und es sind sicher
                   mit ausländischer Staatsangehörigkeit im Bistum      unterschiedliche Ansätze und Modelle, die in den

10
einzelnen Bistümern zum Erfolg führen – je nach        pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ schreibt
den regionalen Gegebenheiten einerseits sowie          Papst Franziskus: „Die Weltkirche lebt in und aus
den vertretenen Sprachgruppen und existieren-          den Teilkirchen, so wie die Teilkirchen in und aus
den Gemeinden andererseits. In jedem Fall wird         der Weltkirche leben und erblühen … Daraus
man aber bei der Entwicklung von Perspektiven          ergibt sich die Notwendigkeit, die Gemeinschaft
für die muttersprachliche Seelsorge versuchen,         mit dem ganzen Leib der Kirche immer lebendig
die Chancen zu nutzen, die in dem oben be-             und wirksam zu erhalten“ (Nr. 9). Ein solcher ge-
schriebenen Wachstum der muttersprachlichen            meinschaftlicher Umgangsstil hat sich dann nicht
Gemeinden für eine vitale Zukunft der Kirche in        nur bei großen Bischofssynoden zu bewähren,
Deutschland enthalten sind. Dabei scheinen mir         sondern auch auf der örtlichen Ebene der Pfarrei-
drei allgemeine Grundoptionen von besonderer           en und Gemeinden. Hier wird sich ein lebendiges
Bedeutung zu sein:                                     Bewusstsein der Zusammengehörigkeit in der
                                                       einen katholischen Kirche in praktischen Fragen
     Dem Leben dienen und Wachstum fördern             wie der Organisation der Nutzung gemeinsamer
Bei allen pastoral-administrativen Überlegungen        Räumlichkeiten ebenso konkretisieren wie im ge-
und strukturellen Entscheidungen sollte immer          meinsamen Dienst an den Mitmenschen oder in
die Frage im Vordergrund stehen, wie man am            der gemeinsamen Feier des Glaubens – letztlich
besten dem Leben dienen und Wachstum fördern           in einem gemeinsamen authentischen Zeugnis für
kann. Jedes Konzept und jede Entscheidung muss         Jesus Christus.
sich daran messen lassen, ob sie dem gemein-              Rückläufige Kennzahlen des kirchlichen Lebens
schaftlichen Leben in den Gemeinden dienen und         sind kein Naturgesetz. Die Zukunftsfrage der Kir-
ob sie geeignet sind, das je persönliche Wachs-        che in Deutschland besteht darin, ob es gelingt,
tum der Gläubigen in ihrer Beziehung mit Jesus         dass die Menschen unserer Zeit die Relevanz Jesu
Christus zu fördern.                                   Christi für ihr persönliches Leben erkennen und
                                                       erfahren. Vielleicht kann ein gemeinsames Lernen
     Unterschiedlichkeit als Reichtum wahrnehmen       von und mit den Gemeinden anderer Mutterspra-
In der Gestaltung des Miteinanders von Gläubi-         che dazu wertvolle Impulse geben.
gen unterschiedlicher Herkunft und Sprache sollte
alle Unterschiedlichkeit als Reichtum wahrge-          1
                                                        Mit Stand vom 30. Juni 2020 weist die Statistik für die
                                                       Diözese Münster 95.136 ohne deutschen Pass und 90.313 mit
nommen werden. Das klingt zunächst banal und
                                                       deutschem Pass und 2. Staatsangehörigkeit aus.
ist auch im Blick auf unterschiedliche Sprachen,
Hautfarben oder kulinarische Gewohnheiten ein-
fach. Anspruchsvoller wird es hingegen, wenn wir
an unterschiedliche Mentalitäten, spirituelle Tra-
ditionen oder gar theologische Schulen denken.
Aus der Freude an der Vielfalt kann eine wirkliche
gegenseitige Wertschätzung und dann sogar das
Bedürfnis erwachsen, wechselseitig voneinander
lernen zu wollen. Wenn wir voneinander lernen,
so schreibt Papst Franziskus, dann können wir
„dieses wunderbare Polyeder, das die Kirche Jesu
Christi bilden muss, besser widerspiegeln. Sie
kann die jungen Menschen eben deshalb anzie-
hen, weil sie keine monolithische Einheit darstellt,
sondern ein Geflecht unterschiedlicher Gaben,
die der Heilige Geist unaufhörlich in ihr ausgießt“
(Christus vivit, Nr. 207).

    Das Bewusstsein der weltkirchlichen
    Zusammengehörigkeit stärken                                                 Dr. Lukas Schreiber
Insgesamt sollte alles dafür getan werden, das                                  Nationaldirektor für die Auslän-
                                                                                derseelsorge bei der Deutschen
Bewusstsein der weltkirchlichen Zusammen-                                       Bischofskonferenz
gehörigkeit zu stärken. In seinem Brief „An das                                 l.schreiber@dbk.de

                                                                                                                   11
„Ich gehe in die Kirche und in die
                                                  polnische Gemeinde in Oldenburg,
                                                  seit ich ein kleines Kind bin. Ich fühle
                                                  mich freier während der Messe und ich
                                                  freue mich jeden Tag auf den Sonntag.
                                                  Es ist ein tolles Gefühl, während der
                  Patrycja Petrach (18)           Messe die heilige Kommunion zu sich
          Polnische Mission Oldenburg             zu nehmen.“

     MIGRANTENPASTORAL
     IST SOZIALPASTORAL
     DIE SPANISCHEN MISSIONEN ALS BEISPIEL EINER
     ERFOLGREICHEN INTEGRATION
     Nach der Unterzeichnung des Anwerbevertrags         bessere soziale Stellung zu ermöglichen, war für
     zwischen der Bundesrepublik und Spanien 1960        viele ein wichtiges Ziel ihrer Migration. In der
     kamen viele spanische Gastarbeiter nach West-       neuen Umgebung lebten viele isoliert und die
     deutschland. Nach den Italienern stellten die       Gestaltung ihrer Freizeit wurde zu einem Prob-
     Spanier die größte Migranten-Gruppe der Gast-       lem. Sie suchten nach Möglichkeiten, die eigene
     arbeiter. Im Juni 1962 gab es 87.327 spanische      Sprache zu sprechen, die Isolation zu überwinden
     Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und 35           und die vielfältigen Schwierigkeiten und Erfah-
     Spanische Missionen mit 33 spanischen und           rungen in der neuen Lebenssituation zu teilen.
     zwei deutschen Priestern. Im Juni 1966 waren es     Sie suchten den Kontakt untereinander.
     bereits 185.386 Spanier und 66 Missionen. Die
     60-jährige Geschichte der spanischsprachigen           Besonders die Spanischen Missionen, die
     Seelsorge in Deutschland zeigt, dass sie sich im-   ihnen Räumlichkeiten zur Begegnung, sozio-kul-
     mer als Sozialpastoral verstanden und damit zu      turelle Hilfe und Freizeitmöglichkeiten boten,
     einer erfolgreichen Integration beigetragen hat.    gingen auf diese Bedürfnisse ein. Die Missionen
                                                         entwickelten sich schnell zu Treffpunkten für die
                                                         Migranten. Migranten-Seelsorge war sozio-kultu-
     von José Antonio Arzoz
                                                         relle Arbeit für Migranten und ihre Familien. Die
                                                         Missionen kümmerten sich mit großem Engage-
        Die erste Generation der spanischen Gast-        ment um die Lösung der alltäglichen Probleme.
     arbeiter im Westdeutschland der 1960er Jahre        Sie machten eine Kirche erlebbar, die sich von
     wollte schnell viel Geld verdienen und nach         Beginn an den migrierten Menschen zuwandte,
     Spanien zurückkehren, um dort ein kleines           die die Menschen in den Mittelpunkt rückte.
     Unternehmen aufzubauen. Auch der Wunsch,            Der Mensch selbst war der Weg der Spanischen
     den Kindern eine gute Ausbildung und somit eine     Missionen.

12
Das Zweite Vatikanische Konzil hatte in der          Familien ein großes Problem. In der spanischen
Pastoralkonstitution Gaudium et spes den Auftrag        Zeitung El País erschien 1973 ein Artikel mit der
der Kirche, die Pastoral am konkreten Menschen          Schlagzeile: „70 Prozent der Kinder spanischer
auszurichten, deutlich formuliert. Für die Kon-         Migranten erreichen in Deutschland keinen
zeption und Praxis der Migrantenpastoral musste         Schulabschluss“. Es musste also etwas gesche-
deshalb der erste Schritt ein detaillierter Blick auf   hen. Die Initiatoren waren erneut die spanischen
die Lebenswelt, auf Anliegen und Bedürfnisse der        katholischen Missionen in Deutschland und
Migranten und Migrantinnen sein. Vom Geist des          besonders ihr Referat für Schulfragen und Er-
Konzils geleitet, nach dem die Familie die „erste       wachsenenbildung mit dem ab 1972 erscheinen-
Zelle der Gesellschaft“ darstellt, konzentrierten       den Mitteilungsblatt CARTA A LOS PADRES (Brief
die spanischen Seelsorger ihre Missionsarbeit auf       an die Eltern). Da die Frage nach der Schulausbil-
die Familien. Die Themen Familie und Schule be-         dung der spanischen Kinder offensichtlich immer
stimmten bald das reale Umfeld der Spanier und          drängender wurde, trafen sich im November 1973
der spanischen katholischen Missionen.                  in Wiesbaden Vertreter von 23 Elternvereinen
                                                        und gründeten die Confederación, den Bund der
Kinderbetreuung und Schulbildung                        Spanischen Elternvereine in der Bundesrepublik
Kinderbetreuung und Schulbildung waren akute            Deutschland e.V..
und gravierende Probleme der spanischen Fami-
lien. Es bestand ein großes Interesse an spani-            In den ersten Jahren ihrer Existenz hing die
schem Unterricht und einer guten Ausbildung für         Finanzierung zu einem großen Teil von den Zu-
die Kinder. Über das Feiern der Eucharistie, Kate-      wendungen der Deutschen Bischofskonferenz ab
chesen und religiöse Aktivitäten hinaus wurden in       und profitierte von der pädagogischen Unterstüt-
den Räumen der Missionen spanischer Unterricht          zung des Referates für Erwachsenenbildung der
und Hausaufgabenhilfe angeboten. Dieses An-             Spanischen Katholischen Missionen und ihrem
gebot bekam einen hohen Stellenwert.                    ersten Leiter und Fachberater der Confederaci-
                                                        ón, Luis Zabalegui. In der Folge waren bis 2018
   Da es ein wesentliches Migrationsziel der            alle fünf Leiter des Referats für Schulfragen und
spanischen Familien war, ihren Kindern eine             Erwachsenenbildung Fachberater der Confedera-
gute Ausbildung in Deutschland zu ermöglichen,          ción. Mit großem Engagement trat die Confedera-
bildeten sich schon in den 1960er Jahren Eltern-        ción für die Eingliederung der spanischen Kinder
gruppen beziehungsweise Elternvereine in den            in das deutsche Schulsystem und gleichzeitig für
Missionen, um gemeinsam Lösungen für die                die Förderung des zusätzlichen Unterrichts in der
Schulprobleme der Kinder zu suchen. Vieler-             Muttersprache ein.
orts wurden die Spanischen Missionen aufgrund
der Nähe zu den Menschen zu entscheidenden                 In den 1970er Jahren musste man den Eltern
Initiatoren und konnten eine bedeutende Rolle           zunächst das deutsche Bildungssystem und ihre
in der Entwicklung der spanischen Elternvereine         Verantwortung vermitteln und sie zur Kooperation
übernehmen.                                             motivieren und vorbereiten. Die Seelsorger und die
                                                        Pädagogen des Referates für Erwachsenenbildung
Verbleib oder Rückkehr                                  bedienten sich dabei der dialogischen Methode der
Im November 1973 verfügte die Bundesregie-              Pädagogik von Paulo Freire und adaptierten diese
rung den sogenannten Anwerbestopp und zwang             für die Bedingungen der Migration in der Industrie-
damit die Arbeitsmigranten in Deutschland zu            gesellschaft der Bundesrepublik.
einer Entscheidung zwischen einem dauerhaften
Verbleib oder der Rückkehr. Viele Spanier haben            Für die Bildungsarbeit der Confederación ist
sich für den Familiennachzug entschieden.               neben den spanisch katholischen Missionen und
                                                        dem Referat für Erwachsenenbildung die Aca-
Der Zusammenschluss der spanischen Eltern-              demia Española de Formación (AEF) - Spanische
vereine und der Aufbau einer umfassenden Bil-           Weiterbildungsakademie e.V. hervorzuheben, die
dungsarbeit durch die Spanischen Katholischen           unter anderem auf Initiative der Confederación
Missionen                                               und der Spanischen Missionen 1984 gegründet
Das Scheitern der spanischen Kinder im deut-            wurde. Die AEF ist in Deutschland eine Bildungs-
schen Schulsystem war für die spanischen                einrichtung mit staatlicher Anerkennung.

                                                                                                              13
Migrantenpastoral ist Sozialpastoral

                     Eine Erfolgsgeschichte gelungener Integration
                     30 Jahre nach dem Artikel in der Zeitung El País
                     gelten spanische Schüler in Deutschland als „Ge-
                     winner“ der Integration: fast 70 Prozent von ihnen
                     erreichen mindestens die Fachhochschulreife                  „Die Missionen sind sich der kul-
                     (Süddeutsche Zeitung vom 23. Februar 2004). Das              turellen und religiösen Unter-
                     Bildungsniveau der zweiten und dritten Genera-
                                                                                  schiede bewusst, aber weil sie eine
                     tion der spanischen Migranten hebt sich bis heute
                     deutlich vom Niveau anderer Gastarbeiternationa-
                                                                                  Pastoral praktizieren, die die kul-
                     litäten ab. Immer noch betreibt die Confederación            turelle und religiöse Vielfalt integ-
                     eine aktive Bildungsarbeit. Ziel ist die Stärkung der        riert, werden sie immer mehr zu
                     Selbstorganisationen von Migranten, besonders                einer authentischen Universalkirche
                     der spanischsprachigen, und die Förderung der                in Deutschland.“
                     rechtlichen, sozialen und ökonomischen Gleich-
                     stellung. Das Leben der Spanier in Deutschland
                     wird als positives Beispiel für eine erfolgreiche
                     Integration angeführt, was auch darauf zurück-          Regionen und Ländern. Die Missionen sind Orte der
                     zuführen ist, dass die Confederación ständig            Begegnung, der soziokulturellen Förderung und der
                     neue Arbeitsfelder erschlossen und mit Projekten        Feier des Glaubens für alle, die sich durch dieselbe
                     bearbeitet hat. Die Confederación e. V. ist ein Ruh-    Sprache und denselben Glauben vereint fühlen. Die
                     mesblatt in der Migrationsgeschichte der Spanier        Missionen sind sich der kulturellen und religiösen
                     in Deutschland.                                         Unterschiede bewusst, aber weil sie eine Pastoral
                                                                             praktizieren, die die kulturelle und religiöse Vielfalt
                     Von den Spanischen zu den spanischsprachigen            integriert, werden sie immer mehr zu einer authen-
                     katholischen Missionen                                  tischen Universalkirche in Deutschland.
                     Ab dem Jahr 1991 richtete sich die Arbeit der
                     Spanischen Missionen auf alle Menschen, deren              Am 31. Dezember 2018 lebten 176.020 Spa-
                     Muttersprache Spanisch ist. Die Öffnung gegen-          nier und mehr als 98.500 spanisch sprechende
                     über den spanischsprechenden Katholiken aus             Amerikaner aus 18 Staaten legal in Deutschland.
                     Lateinamerika wurde durch die 15. National-             Für diese insgesamt 274.520 spanischsprachigen
                     versammlung der Spanischen Missionen im                 Katholiken arbeiteten 2019 hauptamtlich 25
                     Jahr 1991 vollzogen mit der Umbenennung in              Seelsorger (acht Spanier, zwei Deutsche, zwölf
                     „Spanischsprachige Katholische Missionen“. Die          Lateinamerikaner, zwei Polen und ein Slowake).
                     Spanischen Missionen öffneten damit den spa-
                     nischsprachigen Amerikanern ihre Türen.                 Menschen in der Illegalität
                                                                             Neben den registrierten spanischen Mitbürgerin-
                     Eine Sprache, ein Glaube – viele Kulturen               nen und Mitbürgern existiert eine nicht bekannte
                     In der Liturgie haben die Missionen relevante           Anzahl von spanischsprachigen Katholiken in
                     religiöse Feierlichkeiten und Traditionen der           Deutschland, die ohne Aufenthaltsgenehmigung
                     spanischsprachigen Katholiken aus Südamerika            leben und die besonders der Ausgrenzung und
                     übernommen und integriert. Die Feier des „Herrn         der Ausbeutung ausgesetzt sind. Viele von ihnen
                     der Wunder“ (mit der dazugehörenden Prozession)         haben erfahren, dass sie mit der Unterstützung
                     oder der „Mutter Gottes von Guadalupe“ sind bis         der Missionen rechnen können. Auch wenn sich
                     heute feste Bestandteile der religiösen Feiern der      insgesamt in den Bereichen Bildung und Gesund-
                     Spanischsprachigen Missionen. Auch südameri-            heit einige Verbesserungen ergeben haben, wer
                     kanische Musik und Lieder bereichern heute die          in Deutschland in der Illegalität lebt, ist gezwun-
                     Eucharistiefeiern. Die Mission in Münster ist dafür     gen, in der Verborgenheit zu leben und nur die
                     ein nicht zu übersehendes Beispiel.                     nötigsten Wege in der Öffentlichkeit zu gehen.
                                                                             Bloß nicht auffallen! Diese Menschen werden
                        Die Geschichte der spanischsprachigen katholi-       „die Unsichtbaren“ genannt und leben unsicher.
                     schen Missionen enthält eine Lektion gegenseitiger      Aber auch (und besonders) Menschen in der
                     Akzeptanz, von Verständnis und Zusammenarbeit           Illegalität haben ein Recht auf Seelsorge. Die ka-
                     von Christen und Christinnen aus verschiedenen          tholische Kirche ist die Institution, die das Thema

14
„Ich komme aus Angola und gehe in
                                                      die portugiesischsprachige Gemeinde
                                                      in Münster, wegen der Spiritualität,
                                                      wegen der Sprache und Kultur und
                                                      weil ich mich da sicher fühle in Gottes
                     Vania Reis (22)                  Haus.“
      Portugiesischsprachige Mission

von Menschen in der Illegalität in Deutschland               Es wird weiterhin klassische ausländische
eingebracht hat und sie darf ihre Rolle als Anwäl-        Missionen für eine Sprachgruppe geben, solange
tin für „Menschen ohne Papiere“ nicht aufgeben.           dafür priesterliche Leiter gewonnen werden
Für viele Menschen in der Illegalität sind die Mis-       können. Fusionen oder Zusammenlegungen von
sionen die einzigen Orte, an denen sie sich frei          Missionen sind dabei nicht ausgeschlossen, aber
fühlen und menschenwürdig behandelt werden.               sie sollten immer im Dialog der Leitung der Diö-
Für spanischsprechende Menschen in der Illegali-          zese mit den Betroffenen vollzogen werden.
tät bieten die Missionen eine Sozialpastoral der
offenen Tür an.                                           Intensivierung der Zusammenarbeit mit den
                                                          Ortspfarreien
Sozialpastorale Ansätze heute und morgen:                 Die katholischen Missionen werden weiter-
Zukunftsperspektiven                                      hin die Zusammenarbeit mit den deutschen
In jeder Mission bildet die Feier der Eucharistie         Pfarreien und Gemeinden fördern, dort wo sie
das Zentrum des christlichen Lebens. Auch die             ihren Sitz haben. Bis jetzt haben sich punktuelle
Vorbereitung auf den Empfang der Sakramente               gemeinsame bilinguale Feiern wie etwa in der
und die Katechese als Vehikel der Glaubensver-            Karwoche, zu Fronleichnam, beim Pfarrfest und
tiefung und -erfahrung werden in jeder Mission            weiteren Gelegenheiten bewährt. Diese wichtige
angeboten. Die Kranken- und Familienbesuche               Kooperation darf aber für keine der beiden, die
stellen sehr wichtige und konkrete Begegnun-              Pfarreien und die Missionen, zu einer Überforde-
gen und Kontakte mit den alten und neuen                  rung führen. Binationale Ehen und Familien und
Migranten dar. In allen Missionen muss es in der          ebenso die Jugendarbeit stellen Felder für eine
Erwachsenenbildungsarbeit Angebote für Ehe-               Intensivierung in der Zusammenarbeit zwischen
paare, Frauen, Senioren und Mutter-Kind-Grup-             der Pfarrei und der Mission dar.
pen geben.                                                   Die sozialpastorale Aufgabe der katholischen
                                                          Missionen bestand und besteht darin, mündige
   Die Zahl der Migranten in Deutschland wird             und aktive Christen zu bilden, die am Leben der
aufgrund der EU-Mobilität und der Attraktivi-             Kirche und der Gesellschaft teilnehmen.
tät Deutschlands als Einwanderungsland weiter
zunehmen. Migranten-Seelsorge bleibt eine not-
wendige und dauerhafte Aufgabe der Diözesen,
die durch die ausländischen Missionen wahrge-
nommen wird. Das Spezifische dieser Seelsorge
liegt darin, dass sie die konkrete Situation der                              Msgr. José Antonio Arzoz
                                                                              Delegat für die spanischsprachigen
Gruppe, an die sie sich wendet, berücksichtigt.
                                                                              Katholiken in Deutschland
Diese Differenzierung ist eine Bereicherung der                               (1990 – 2015)
diözesanen Angebote in der Pastoral.                                          joseantonioarzoz1943@gmail.com

                                                                                                                   15
„Ich gehe in die vietnamesische
                                               Gemeinde in Oldenburg, weil es zur
                                               vietnamesischen Kultur und Tradition
                                               meiner Familie und somit auch zu
                                               meiner Persönlichkeit gehört.“
                   Kim Ngyuen (24)
             Vietnamesische Mission

     KOSTBARE FREIHEIT
     KATHOLISCHE VIETNAMESINNEN
     UND VIETNAMESEN IN DEUTSCHLAND

     Das Erwachen aus dem Albtraum der „Flucht         heiligste Erlebnis unserer Flucht war der Moment,
     über den Ozean des Ostens“ verfolgt das Leben     als das Boot in den Hafen der Freiheit einlief und
     von vielen vietnamesischen Boat-People lebens-    somit der Traum von Generationen vietnamesi-
     lang. Mit einem leicht zerbrechlichen Holzboot    scher Katholiken in Erfüllung ging: „Endlich sind
     fuhren wir aufs Meer hinaus und sahen uns allen   wir frei!“
     möglichen Gefahren gegenüber. Unser starkes
     Vertrauen zu Gott, dass er uns in „das gelobte    Neue Lebenskraft durch Freiheit und
     Land der Freiheit“ führen wird, war unsere        Gerechtigkeit
     unschlagbare Waffe gegen die quälende Un-         In Deutschland angekommen, brachte die Luft der
     gewissheit, ob wir es durch die starken Stürme,   Gerechtigkeit und der Glaubensfreiheit die Kraft,
     die extrem hohe Gluthitze und die Gefahr, von     alle Anfangsschwierigkeiten in einem fremden
     Piraten aufgebracht zu werden, jemals in die      Land zu überwinden und schließlich wurden aus
     Freiheit schaffen würden.                         Fremden die besten Freunde. Auch unsere Kinder
                                                       stellen häufig die Fragen, wie es ihre Vorfahren
                                                       geschafft haben, einzig mit dem Vertrauen auf
     von Dr. Duy Vu Pham
                                                       Gottes Hand alles aufzugeben. Wie groß muss die
                                                       Not sein – und wie viel Gottvertrauen ist nötig,
     Tausende vietnamesischer Boat-People starben      um diesen Schritt zu tun? Um die Fragen zu be-
     im südchinesischen Meer auf der Flucht vor dem    antworten, führen wir sie zur Geschichte der 117
     kommunistischen Regime. Freiheit ist wirklich     vietnamesischen Märtyrer, die aufgrund Ihres
     kostbar! Die Vorstellung einer anderen Zeit und   Glaubens zwischen 1745 und 1862 im Kaiserreich
     eines anderen Ortes weckte bei vielen Boat-Peo-   Vietnam hingerichtet wurden oder an den Folgen
     ple das Vertrauen auf Gott. Das schönste und      ihrer Gefangenschaft starben. Sie sind Schutzhei-

16
lige des Christentums in Vietnam, das von Beginn      Aschaffenburg in einen Wallfahrtsort und einen
seiner Entstehung bis heute von Unterdrückung         Treffpunkt für mehr als 3.000 katholische Vietna-
und Verfolgung geprägt ist.                           mesinnen und Vietnamesen in Deutschland, die
                                                      dort gemeinsam das Pfingstfest feiern.
   Am 30. April 1975 fielen Südvietnam und Sai-
gon, die damalige Hauptstadt Südvietnams, und         Weitergabe des Glaubens im Kontext der
wurden von den Kommunisten aus dem Norden             eigenen Kultur
eingenommen. Hundertausende Funktionäre               Aktuell leben mehr als 20.000 vietnamesische
und sämtliche Offiziere der Republik Südvietnam       Katholiken in Deutschland, darunter gehören die
mussten in sogenannte Umerziehungslager, die          Boat-People zu den besten Beispielen für eine
in Wirklichkeit Konzentrationslager waren. Die        gelungene Integration. Für sie reicht eine gute
Unterdrückung, die Verletzung der Menschen-           Integration in die Gesellschaft jedoch nicht aus,
rechte und das Verbot der Glaubensfreiheit durch      sondern es steht die Weitergabe des Glaubens an
die kommunistische Partei veranlassten uns dazu,      die nächste Generation im Mittelpunkt der Erzie-
die Flucht aus dem Heimatland Vietnam über den        hung, denn das christliche Familienleben ist die
„Ozean des Ostens“ zu riskieren. Einige von uns       Wiege des Glaubens und der priesterlichen Beru-
hatten das Glück, von der Cap Anamur oder von         fungen. In den stürmischen Zeiten des Materialis-
anderen Hilfsorganisationen wie „Deutsche Ärzte       mus und der individualistischen Mentalität wird
ohne Grenzen“ aus dem Meer gerettet und in            diese Wiege in Deutschland mehr und mehr ver-
umliegende Flüchtlingslager gebracht zu werden,       gessen. Angesichts dieser Herausforderung ist es
wo sie einige Jahre auf die Aufnahme in westliche     für viele vietnamesische katholische Gemeinden
Länder warteten.                                      in Deutschland sehr wichtig, dass Jugendliche, die
                                                      hier geboren und aufgewachsen sind, die Vergan-
Im Glauben mit dem Verlust der Heimat                 genheit kennen, um die Gegenwart zu verstehen.
umgehen lernen                                        Denn nur wer die Gegenwart versteht, kann die
Der Verlust der Heimat ist für jeden Flüchtling zu    Zukunft gestalten. Besonders den Jugendlichen,
jeder Zeit ein furchtbares Erlebnis. Er hinterlässt   die Gegenwart und Zukunft der Kirche sind, muss
eine Narbe auf der Seele, die ein Leben lang          anhand der grausamen Einzelschicksale der Boat-
bleibt. Diese Narbe wird auch an die zukünftigen      People klargemacht werden, welch hohes Gut
Generationen weitergegeben. Darum ist es so           das heutige Leben in Frieden und Freiheit ist. Die
wichtig, einen geistlichen Ort zu haben, an dem       Flucht über den Ozean hat unser Vertrauen zu
man sich mit dem Verlust der Heimat ausein-           Gott sehr gestärkt und somit leben wir unseren
andersetzen und gleichzeitig mit Stolz auf das        Glauben in der vietnamesischen und in der
zurückblicken kann, was in der neuen Heimat           deutschen Gemeinde aktiv unter dem Motto „Das
Deutschland erreicht wurde.                           Leben ist ein Bild, das wir gemeinsam mit Gott
                                                      malen!“.
   Die ersten vietnamesischen Katholiken in
Deutschland legten bereits am 7. Mai 1976
den ersten Grundstein für diesen Ort, nämlich
die Gründung der Vereinigung der vietname-
sischen Katholiken in Deutschland (www.ldcg.
de). Bereits vor mehr als 40 Jahren wurde der
erste vietnamesische Katholikentag veranstaltet.
Seitdem ist dieser Katholikentag, der jedes Jahr
stattfindet, ein Ausdruck für die Glaubensfrei-
heit, die wir in unserer Heimat bis heute nicht
ausüben können. Er bringt Menschen zusammen,
die Gottes Wort hören, miteinander beten, feiern
und diskutieren wollen. Ob jung oder alt, sie alle
möchten ihren Glauben in der Gemeinschaft als                              Dr. Duy Vu Pham
                                                                           Vorsitzender der Vereinigung der
etwas Lebendiges erleben und neue Kraft für den
                                                                           vietnamesischen Katholiken in
Alltag schöpfen. Drei Tage lang verwandelt sich                            Deutschland
die Berufsschule an der Frankenstolz Arena in                              vupham@gmx.de

                                                                                                              17
SEHNSUCHT
     NACH HEIMAT
     SEELSORGE FÜR AFRIKANISCHE KATHOLIKINNEN
     UND KATHOLIKEN IN DEUTSCHLAND

     Im Ausland Sehnsucht nach Heimat zu haben,               Die deutschen Bischöfe unterstützen seit län-
     nach Vertrautheit und nach all dem, was die           gerem das Anliegen der afrikanischen Katholiken
     eigene Identität geprägt hat, ist normal. Diese       und sichern die Seelsorge für Katholiken aus
     Sehnsucht ist umso größer, wenn es um einen           Afrika auch strukturell ab. Die Afrikaner äußern
     wesentlichen Bestandteil im Leben des Aus-            den Wunsch nach einer eigenen Seelsorge, die
     länders geht. Religion, Spiritualität, Glaube und     in Kommunion und Kompatibilität mit der deut-
     Kirche haben für manche Afrikaner1 in Deutsch-        schen Kirche steht. Diese Seelsorge soll sich um
     land einen solchen Stellenwert, aber gerade die       die geistlichen und menschlichen Bedürfnisse der
     vertraute Intensität, Energie und Glaubensbe-         Afrikaner kümmern. Sie stärkt die Möglichkeiten,
     reitschaft, das Engagement und die Unkompli-          die afrikanische Spiritualität, das eigene religiöse
     ziertheit fehlen bei ihren religiösen Erfahrungen     Leben und die Heimattraditionen im Ausland
     in der deutschen Kirche. Die Afrikaner, die sich in   leben zu können.
     einer deutschen Gemeinde engagieren möchten,
     müssen mit der Realität der etablierten Struktur      Von der ‚deutschen Kirche‘ zu einer ‚Kirche in
     der deutschen Kirche zurechtkommen mit all            Deutschland‘
     ihren Verwaltungsstärken und organisatorischen        Die Katholizität und die Einheit der katholischen
     Gegebenheiten, aber auch mit den Anpassungs-          Kirche haben in einer globalisierten Welt einen
     erfordernissen, um sich an diese neue und             hohen Stellenwert. Offenheit und Anpassungs-
     fremde Art zu gewöhnen.                               fähigkeit aller Menschen untereinander und in
                                                           jeder Gesellschaft sind gefordert. Die ‚deutsche
                                                           Kirche‘ stellt sich dieser Realität, indem sie sich
     von Dr. Kizito Chinedu Nweke
                                                           zu einer ‚Kirche in Deutschland‘ entwickelt.2
                                                           Die Existenz einer Seelsorge für afrikanische
     Es ist ein gutes Fundament, dass sich die ka-         Katholiken in Deutschland zeigt die Offenheit
     tholische Kirche als eine weltweite, einheitliche     der Kirche gegenüber der Realität der Globali-
     Kirche versteht. Katholiken1 dürfen sich überall      sierung. Die Seelsorge für afrikanische Katholiken
     auf der Welt zuhause fühlen, in ihrem Gemeinde-       in Deutschland beinhaltet eine neue theologische
     leben und ihrer Religiosität. Es bedeutet aber        Haltung besonders auf der pastoralen Ebene, auf
     auch, dass die Verantwortlichen der Diözesen          der etablierte kirchliche Bräuche und Strukturen
     und Pfarreien allen Katholiken die Möglichkeiten      der ‚deutschen katholischen Kirche‘ zunehmend
     zur Gestaltung ihrer je eigenen kulturellen Praxis    bereichert werden durch eine Vielfalt der Aus-
     des Glaubenslebens absichern: seelsorgliches          drucksformen und Bräuche einer ‚Katholischen
     Personal, Räume, Finanzen für die Gestaltung der      Kirche in Deutschland‘. Die Zukunft unserer Kirche
     pastoralen Aufgaben.                                  in Deutschland ist bunt an Kultur und Men-

18
schen, aber auch an Stil, Riten und Strukturen.       starke Islamisierung der nordafrikanischen Länder
Sie besteht aus Menschen, die die Spiritualität       ab dem 7. Jahrhundert. Bis zum 16. Jahrhundert
und Identität ihres katholischen Glaubens leben       spielte das Christentum in diesen Regionen kaum
möchten in der Hoffnung auf eine Zunahme des          noch eine Rolle. Spätere Motive und Methoden
Glaubens und der Anzahl von Zugehörigen. Aus          der Mission des 18. und 19. Jahrhunderts waren
dieser Hoffnung für die Kirche in Deutschland         mit Sklaverei und Ausbeutung verbunden, das 20.
erschließt sich die Bedeutung der Seelsorge für       Jahrhundert mit der Kolonisierungsmentalität.
afrikanische Katholiken in Deutschland.               Das Christentum in Afrika leidet bis heute unter
                                                      diesen Episoden.
Die Afrikaner – Wie und warum Katholisch?
Was ist Afrika? 21 Prozent Landfläche der Erde?       Religion in Afrika
18 Prozent der Weltbevölkerung? Man kann sich         Heute sind Christentum und Islam die dominie-
schnell in einer Simplifizierung dieses Kontinentes   renden Religionen in Afrika. Zurzeit nimmt aus
verlieren, indem man ihn als ein einheitliches        unterschiedlichen Gründen die Nachfrage für die
geographisches Gebilde definiert. In Wirklichkeit     afrikanische Spiritualität stark zu. Sie wird neu
handelt es sich aber um einen riesigen Kontinent      entdeckt und geschätzt. Umso dringlicher wird die
mit zahlreichen unterschiedlichen Menschen,           Frage: Wie lebt ein afrikanischer Katholik und was
Kulturen und Sprachen, Orientierungen und             hat seine Spiritualität mit seiner Katholizität zu tun?
Mentalitäten. Außer politisch-orientierter, geo-
grafischer Verbundenheit, die von außen in               Die Afrikaner hatten schon vor dem Christen-
diesen Kontinent importiert wurde, existieren         tum und Islam ihre eigenen spirituellen Bezie-
kaum Gemeinsamkeiten, die diesen Kontinent            hungen mit Gott. Das Christentum hat Gott nicht
ausmachen und ihn mit einer einzigen Identität        nach Afrika gebracht. Gott hat das Christentum
der Hautfarbe, Sprache, Spiritualität und Kultur      nach Afrika gebracht. Die spirituellen Wurzeln
beschreiben lassen. Dieses Faktum scheint noch        Afrikas haben eine Inkulturation des Christentums
nicht genug ins Bewusstsein der Weltöffentlich-       ermöglicht und in gut vorbereiteten Boden einge-
keit gedrungen zu sein. Gerade die Vereinfachung      pflanzt, sodass es zu einer heute noch lebendigen
macht im wahrsten Sinne des Wortes wirklich           Religion wachsen konnte. So wird Afrika heute als
vieles einfacher. Man reduziert alle und alles auf    missionarische Mutter verstanden, von der viele
einem ganzen Kontinent auf eine einzige Identi-       missionarische Kräfte in verschiedene Teile der
tät: Afrika und Afrikaner. Schnell befindet man       Welt gesandt wurden, auch nach Deutschland.
sich in der Afro-Simplifizierungstendenz, die nicht
nur in Politik und Wissenschaft, sondern auch in      Afrikanische Spiritualität
der Kirche zu beobachten ist.                         Die afrikanische Spiritualität ist ein geistliches
                                                      Bewusstsein, dem religiöse Erfahrung und Aus-
   Die Geschichte des frühen Christentums war         druck zugrunde liegen. Das bedeutet, dass ein
auch eine Geschichte mit Afrika. Das wird oft ver-    Afrikaner Christ oder Muslim sein kann, diese
gessen. In Afrika, nämlich Ägypten, nahmen Chris-     Religion aber lebt und zum Ausdruck bringt mit
tus und seine Familie Zuflucht vor der feindlichen    einer grundlegend afrikanischen Spiritualität.
Bedrohung des Heimat- und Geburtslandes. Das          Diese eigene Spiritualität durchdringt die anderen
hat große Bedeutung, da Ägypten schon im Alten        Religionen und ermöglicht den Afrikanern, die
Testament zum Feind Gottes erklärt wurde, des-        anderen Religionen zu assimilieren. Menschen
sen ‚erste Geburten Gott in seiner ewigen Liebe       aus Afrika bringen ihre Spiritualität durch Weinen
vernichtet hat‘ (Psalm 78; 105; 136). Aus diesem      oder Lachen, Tanzen oder Klatschen, Schreien
Grund feiern die ägyptischen Kopten Weihnach-         oder Stille zum Ausdruck. Leider wird deshalb ein
ten mit einem tiefen Bezug, denn in Christus          christlich-afrikanischer Gottesdienst oft reduziert
schrieb Gott ihre Geschichte um.                      auf das Tanzen und Klatschen. Es geht aber nicht
                                                      nur darum, die ‚Hüfte zu schwingen‘, wie ich es in
   Früh folgt die große theologische Zeit des         den Medien schon gelesen habe. Es ist ein Miss-
Christentums, die Alexandrinische Schule, mit         verständnis, dass ein afrikanischer Gottesdienst
Theologen wie Origenes, Cyril, Clement, Augustin,     unvollkommen ist, wenn Tanzen und Klatschen
die bis heute als Säulen des Christentums gelten.     nicht stattgefunden haben. Es ist keine theatrali-
Sie gerieten schnell in Vergessenheit durch die       sche sensationelle Bühnenperformance. Es ist ein

                                                                                                                19
Sie können auch lesen