FAUST 14+ - Badisches Staatstheater Karlsruhe

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FAUST 14+ - Badisches Staatstheater Karlsruhe
FAUST   14+
FAUST 14+ - Badisches Staatstheater Karlsruhe
FAUST
Oper in fünf Akten von Charles Gounod
Libretto von Jules Barbier und Michel Carré
nach der gleichnamigen Tragödie Johann Wolfgang Goethes
In französischer Sprache mit deutschen & englischen Übertiteln

Faust                      PETER SONN a. G. / NUTTHAPORN THAMMATHI
Mephistopheles             VAZGEN GAZARYAN / Ks. KONSTANTIN GORNY
Margarete                  Ks. INA SCHLINGENSIEPEN / DIANA TUGUI a. G.
Valentin                   SEUNG-GI JUNG / Ks. ARMIN KOLARCZYK
Siebel                     DILARA BAŞTAR / ALEXANDRA KADURINA
Marthe Schwerdtlein        LUISE VON GARNIER / ARIANA LUCAS
Wagner                     BARIŞ YAVUZ* / YANG XU

Musikalische Leitung       DANIELE SQUEO
Nachdirigat                JOHANNES WILLIG
Regie                      WALTER SUTCLIFFE
Bühne                      KASPAR GLARNER
Kostüme                    DOROTA KAROLCZAK
Licht                      STEFAN WOINKE
Chor                       ULRICH WAGNER
Dramaturgie                BORIS KEHRMANN
Theaterpädagogik           ANNA MÜLLER

BADISCHE STAATSKAPELLE
BADISCHER STAATSOPERNCHOR
EXTRACHOR DES BADISCHEN STAATSTHEATERS
STATISTERIE DES BADISCHEN STAATSTHEATERS
*Opernstudio

PREMIERE 19.10.19 GROSSES HAUS            3 Stunden, eine Pause
Aufführungsmaterial: Henschel Verlag für Musik, vertreten durch Alkor-Edition Kassel
FAUST 14+ - Badisches Staatstheater Karlsruhe
Regieassistenz DAVID LAERA, STEFANIA GRAZIOLI Abendspielleitung STEFANIA GRAZIOLI
Musikalische Assistenz JULIA SIMONYAN, MIHO UCHIDA Studienleitung IRENE-CORDELIA
HUBERTI Mitarbeit Choreinstudierung MARIUS ZACHMANN Sprachcoach PASCAL PAUL-
HARANG Bühnenbildassistenz ANNE HORNY, CHRIS KOCH Kostümassistenz FRIEDERIKE
HILDENBRAND, REBECCA MEURER Soufflage ANGELIKA PFAU Inspizienz GABRIELLA
MURARO Leitung Statisterie OLIVER REICHENBACHER Neue deutsche Übersetzung der
Übertitel BORIS KEHRMANN

Technische Direktion IVICA FULIR Bühneninspektor STEPHAN ULLRICH Bühnenmeister*innen
MARGIT WEBER, THOMAS BRAUN Leiter Beleuchtungsabteilung STEFAN WOINKE Beleuch-
tungsmeister CHRISTOPH HÄCKER, RICO GERSTNER Leiter Ton- und Videotechnik STEFAN
RAEBEL Leitung Video GUNTER EßIG Ton und Video GUNTER EßIG, JAN PALLMER, HUBERT
BUBSER Leiter der Requisite TILO STEFFENS Technische Produktionsleitung MAIK FRÖHLICH
Werkstättenleiter JAKOB KERSCHER Konstrukteur EDUARD MOSER Malsaalvorstand
GIUSEPPE VIVA Leiter der Theaterplastiker*innen WLADIMIR REISWICH Leiter der Schreinerei
ROUVEN BITSCH Leiter der Schlosserei MARIO WEIMAR Polster und Dekoabteilung UTE
WIENBERG

Kostümdirektorin CHRISTINE HALLER Gewandmeister*innen Herren PETRA ANNETTE
SCHREIBER, ROBERT HARTER Gewandmeisterinnen Damen TATJANA GRAF, KARIN WÖR-
NER, HELENA WACHAUF Schuhmacherei THOMAS MAHLER, NICOLE EYSSELE, JUSTINE
MARCHAND Modisterei DIANA FERRARA, JEANETTE HARDY Kostümbearbeitung
ANDREA MEINKÖHN Pyrotechnik & Waffenmeister MICHAEL PAOLONE, HARALD HEUSIN-
GER Chefmaskenbildnerin CAROLINE STEINHAGE Maske SABINE BOTT, SINE BURKHARD,
KARIN GRÜN, FREIA KAUFMANN, NIKLAS KLAIBER, MARION KLEINBUB, JUTTA KRANTZ,
PAULA KROPP, MELANIE LANGENSTEIN, SONJA MECKLENBROICH, INKEN NAGEL,
LAURA WEYGAND,

Wir danken
Der Privatbrauerei Hoepfner GmbH für die Unterstützung der Premierenfeier.

Wir machen darauf aufmerksam, dass Ton- und/oder Bildaufnahmen unserer
Aufführungen durch jede Art elektronischer Geräte strikt untersagt sind.

DIESES KREUZ
SCHÜTZT UNS
VOR DER HÖLLE!
2                                                                                          Thomas  Schumacher,
                                                                                           Ks. Konstantin         Sonja Viegener
                                                                                                          Gorny, Nutthaporn Thammathi   3
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GRETCHEN-
PASSION
ZUM INHALT
Mephisto ist arbeitslos auf der Welt. Gott      Zauber. Alle merken, dass es nicht mit rech-
zeigt ihm einen Menschen, der noch kein         ten Dingen zugeht. Gretchen geht vorbei.
Teufel ist. Mephisto darf ihn verführen.        Faust blitzt bei ihr ab.

1. Akt                                          3. Akt

Im Theater. Professor Faust will sich das       Garten. Siebel bringt Gretchen Blumen. Sein
Leben nehmen. Er verflucht Glaube, Liebe,       Professor sticht ihn mit wertvolleren Ge-
Hoffnung und ruft Satan zur Hilfe. Der ver-     schenken aus. Mephisto lenkt die Nachbarin
spricht ihm das Blaue vom Himmel: Jugend,       ab. Faust und Margarete kommen sich näher
unendlichen Spaß, Gretchen. Sie schließen       und verbringen eine Nacht.
einen Vertrag und brechen auf.
                                                4. Akt
2. Akt
                                                Gretchen hat ein Kind bekommen. Faust lässt
Kirmes. Soldaten ziehen in den Krieg.           sie sitzen. Die Gesellschaft prangert sie an.
Mädchen und Frauen werden von ihrer             Faust will reuig zu Gretchen zurückkehren.
Virilität angezogen. Valentin sorgt sich, wer   Er stößt auf Valentin, der aus dem Krieg
in seiner Abwesenheit auf seine Schwester       kommt, und tötet ihn. Sterbend verflucht
Margarete aufpasst. Fausts Student Siebel       Valentin seine Schwester.
wittert seine Chance. Er bietet sich an, um
die Angebetete zu umwerben.                     5. Akt

Mephisto platzt mit Faust in die Feierlaune.    Um Faust auf andere Gedanken zu bringen,
Er gibt das Rondo vom Goldenen Kalb zum         führt Mephisto ihn zur Walpurgisnacht in die
besten, sagt Wagner den Heldentod und           Oper. Während der Vorstellung tritt das ge-
Valentin den auf der Straße voraus. Valentin    fallene Gretchen ein. Faust will sie befreien.
reagiert aggressiv. Mephisto kontert mit        Sie glaubt ihm nicht mehr und bringt sich um.

4                                                    Ks. Ina Schlingensiepen, Nutthaporn Thammathi   5
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IT'S A MAN'S
                                                                                                 Alles, was der Herrenchor im 2. Akt singt,        der Popkultur für das Publikum lesbar. Die
                                                                                                 dreht sich um Mädchen, und alles, was der         jungen Mädchen sind bei uns Lolitas und
                                                                                                 Damenchor singt, dreht sich um Männer:            Stepford Wives nach dem mehrfach ver-
                                                                                                 ob sie einen kriegen oder nicht, ob sie einen     filmten Roman von Ira Levin. Dort haben
                                                                                                 haben oder nicht. Die Frauen definieren sich      die Männer einer amerikanischen Klein-

WORLD
                                                                                                 ausschließlich über Männer. Goethe/Gounod         stadt ihren Frauen Mikrochips ins Gehirn
                                                                                                 halten uns in kritischer Absicht den kaba-        eingesetzt, sodass sie genau das tun, was
                                                                                                 rettistischen Spiegel einer Gesellschaft vor,     die Männer wollen. Es ist eine böse Satire
                                                                                                 die von Männern dominiert wird und allein         auf Männerfantasien und -instinkte. Die
                                                                                                 dazu da ist, die sexuellen Bedürfnisse von        Altistinnen sind bei uns die Gold Diggers
                                                                                                 Männern zu befriedigen. Das ist natürlich         oder Desperate Housewives, also reifere
                                                                                                 eine Männerfantasie, in der Frauen nur als        Damen, die die letzte Chance für eine gute
                                                                                                 grotesk überzeichnete Zerrbilder und Objek-       Partie nutzen müssen. Ebenso sind auch
                                                                                                 te aufreten. Wenn eine Frau wie Margarete         die Männer Klischees.
                                                                                                 ausschert, wird sie gedemütigt, erniedrigt,
                                                                                                 verurteilt und verstoßen. Das sind die nicht      Wenn sich das grelle Gesellschaftskarus-
ZUR INSZENIERUNG                                                                                 mehr ganz so lustigen Konsequenzen des
                                                                                                 2. Akts. Seine sexuellen Scherze erinnern
                                                                                                                                                   sell einmal gedreht hat, wird die Achse
                                                                                                                                                   sichtbar, um die diese Bubble-Gum-Welt
                                                                                                 mich an Shakespeares Komödien, wo sie             tanzt. Der 3. Akt setzt den „schönen
                                                                                                 auch nicht nur lustig sind. Wie dort erzeugen     Schein“ mit Gretchens Garten fort. Er
Von Walter Sutcliffe                            den Mechanismus der Gesellschaft bloßlegt.       sie jene Fallhöhe in die Tragödie, die jedes      hat mit seinen Möbeln und Büschen die
                                                Viele Stücke und Texte der Aufklärung gehen      gute Stück kraftvoll und lebenswahr macht.        gleiche illusionäre Qualität und erzählt
Ich habe Gounods Faust oft gesehen. Es ist      so vor: die Komödien von Marivaux, Mozarts       Insofern bietet unsere Oper fantastisches         die Geschichte eines naiven Kindes, das
ein Stück voll kraftvoller Musik und dra-       Così fan tutte, Goethes Wahlverwandt-            Material. Was geschieht Margarete in die-         durch einen älteren Mann verführt wird.
matischer Konflikte. In den Aufführungen        schaften usw. Die Einsicht in seine Form hilft   sem Stück? Sie wird von Gott, der bei Goethe      Im 4. Akt ist der Himmel verschwunden.
wird aber oft nicht deutlich, was Mephisto      uns, Faust zu verstehen.                         persönlich auftritt, dieser Situation ausgelie-   Man sieht den Mechanismus hinter der
überhaupt will und worum es eigentlich geht.                                                     fert. Ich möchte zeigen, was das heißt.           Fassade. Der Turm entpuppt sich als
                                                Der so genannte „Prolog im Himmel“ handelt                                                         Gerichtssaal. Die Männer sitzen an den
Faust wird oft als philosophisches Stück        von der Beziehung zwischen Mephisto und          Darum fügen wir zur Ouvertüre Goethes             Schalthebeln dieser Welt: außen honori-
über einen Menschen gezeigt, der Doktor         Gott. Wenn jemand in diesem Stück in einer       „Prolog im Himmel“ wieder ein, den Gounod         ger Geschäftsmann, innen gewaltbereiter
ist und in einer „Midlife crisis“ steckt. Als   Midlife crisis steckt, dann Mephisto. Die        im Epilog der Oper voraussetzt. Gott und          Soldat.
ich Goethe wieder las, öffneten mir die         Menschheit ist nämlich so teuflisch gewor-       Mephisto sitzen auf ihrer Wolke, Faust –
beiden Prologe die Augen. Sie sind die Basis    den, dass er nicht mehr gebraucht wird. Die      siehe Goethes „Vorspiel auf dem Theater“          Der 5. Akt schlägt den Bogen mit der Wal-
für meine Interpretation. Das so genannte       Menschen machen sich das Leben selbst zur        – als Zuschauer im Zuschauerrum. Gott             purgisnacht zurück zur Theatermetapher.
„Vorspiel auf dem Theater“ ist ein Streit       Hölle. Seine Nutzlosigkeit stürzt ihn in eine    und Mephisto suchen ihn in der Welt. Dann         Wir hatten im Zuschauerraum angefangen
zwischen Regisseur, Darsteller und Schrift-     Sinnkrise. Gott muntert ihn auf: Da gibt es      wird er auf die Bühne gelockt, wo zunächst        und enden dort. Die Bühne spiegelt den
steller, die unterschiedliche Ansichten über    einen, der ist noch nicht wie die Anderen. Sie   die „heile Welt“ als Artefakt in den Bubble-      Zuschauerraum, der sich beim Zuschauen
das Theater äußern. Das ist der Rahmen des      schließen eine Wette ab, ob Mephisto Faust       Gum-Farben der Werbung und Popkultur              selbst zuschaut. Im 2. und 3. Akt haben wir
Stücks. Es ist autoreferentiell in dem Sinne,   auf den Weg der Anderen führen kann.             erscheint. Wir folgen der Partitur, die den       die Illusion gezeigt, im 4. den Mechanis-
dass es nicht aus dem Leben gegriffene                                                           Chor nach Stimmgruppen in Sozialtypen un-         mus dahinter. Im 5. zeigen wir, was jetzt
Geschichten erzählt wie das realistische        Diese Wette hat mir das Stück erschlossen.       terteilt: ältere Studenten, Soldaten, Bürger,     gerade passiert: Ein Publikum hat dafür
Theater des 19. Jahrhunderts, sondern           Sie zeigt, dass es nicht um Faust, sondern       junge Mädchen, junge Studenten und „Ma-           bezahlt, eine schöne Oper zu sehen, die die
ein Gesellschaftsmodell konstruiert. Die        um die Gesellschaft geht. Fausts Geschich-       tronen”, die keine Männer haben. Gounods          nicht ganz so schöne Geschichte erzählt,
Handlung ist ein artifizielles Konstrukt, das   te ist die Geschichte der Gesellschaft.          Stilsierungen machen wir durch solche aus         wie eine Frau zerstört wird.

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FAUST 14+ - Badisches Staatstheater Karlsruhe
Ks. Ina Schlingensiepen, Seung- Gi Jung & BADISCHER STAATSOPERNCHOR

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FAUST 14+ - Badisches Staatstheater Karlsruhe
GEWALTGEGEN
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                                                                                                   Aktuell zeugt die Uneinigkeit über das so          Bässe 1, auf. Sie saufen. Militärtrompeten
                                                                                                   genannte „Gendern“ der Sprache von der             kündigen Soldaten, Bässe 2, an. Sie singen
                                                                                                   Schwierigkeit, einen Konsens darüber zu            wörtlich mit Goethe, dass Mädels und Fes-

FRAUEN
                                                                                                   finden, wie Artikel 3 des Grundgesetzes,           tungen das Gleiche seien. Beide muss man
                                                                                                   „Frauen und Männer sind gleichberechtigt“,         belagern, einnehmen und dann „Lösegeld“
                                                                                                   umzusetzen ist. Sprache verrät Gedanken.           erpressen. Als dritte Gruppe erscheinen
                                                                                                   Sie hat im 19. Jahrhundert den Begriff „Ka-        die Spießbürger, Tenöre 1, die mit Goethe
                                                                                                   valiersdelikt“ für Bagatelldelikt geprägt. Wie     gestehen, dass sie nicht mehr kämpfen, als
                                                                                                   weit darf ein Kavalier verbal und körperlich       Voyeure aber gerne bei einem Glas Wein
                                                                                                   gehen, bis er die Grenze zum Flegel bzw.           dabei zusähen, statt zu helfen. Die 4. Gruppe
                                                                                                   Straftäter überschreitet. Ist ein Mann, der        sind die „Jungen Mädchen“, Sopran 1, die
                                                                                                   einer vorübergehenden Frau hinterherpfeift,        den „starken Burschen“ vom Bataillon
                                                                                                   „He, Süße“ nachruft oder auf den Hintern           hinterherpfeifen: „Lasst uns nicht zu streng
                                                                                                   klappst noch ein Kavalier? Bezeichnen-             sein, sondern langsamer gehen.“ Die „jungen
                                                                                                   derweise gibt es keinen analogen Begriff           Studenten“, Tenöre 2, sehen die „ gierigen
                                                                                                   für Frauen. Karl Kraus hat sich um 1900            Blicke“ der jungen Mädchen. Da schießt der
                                                                                                   Gedanken darüber gemacht. Ein „homme à             Testosteronspiegel in die Höhe. Die „Ma-
                                                                                                   femmes“, schreibt er, also ein Mann, der „Er-      tronen“, Sopran 2, sehen wiederrum, dass
                                                                                                   folg“ bei Frauen hat, ist ein toller Hecht. Eine   die „messieurs“ „diesen dummen Gänsen“
                                                                                                   „femme à hommes“ aber ist ein Flittchen.           hinterherlaufen und keifen: „Wir sind min-
Die Bibel war das meist gelesene Buch des         schrieben. Was alles in sich fasst, lässt sich   Sprachlich Neutrum, also eine Sache. Wer           destens genauso gut, wenn nicht besser“.
Abendlands. Im 1. Korintherbrief definiert        begrifflich nicht fassen. Materie bedarf des     ein Flittchen beschädigt, betreibt gramma-         Diese Gesellschaft ist von Sex besessen und
Paulus die Rolle der Frau. „Der Mann wurde        trennenden Logos, um ihre Bedrohlichkeit zu      tikalisch gesehen demnach bloß Sachbe-             denkt ihn in den Kategorien Eroberung und
nicht für die Frau geschaffen, sondern die        verlieren.                                       schädigung. Der ostpreußische Arzt und             Besitz. Mit keinem Wort, Ton oder Gedanken
Frau für den Mann“, heißt es im 11. Kapitel.                                                       Schriftsteller Friedrich Reck-Malleczewen          wird „l’amour“ erwähnt. Das ist natürlich
Und im 14.:„Die Frauen sollen in der Ver-         In allen Kulturen gibt es starke Denkströ-       teilte 1937 auf dem Berliner Kurfürstendamm        ein Witz. Aber das Körnchen Wahrheit in
sammlung schweigen. Wenn sie etwas                mungen, die der Frau den zweiten Platz in        Passantinnen ironisch in „Klack-Klacks“ und        ihm geht in der Dom- und Valentinszene auf,
wissen wollen, dann sollen sie zu Hause ihre      der Hierarchie der Geschlechter zuweisen.        „Latsch-Latschs“ ein: Stöckelschuh, also se-       wenn dieselbe Gesellschaft Gretchen als
Männer fragen.“ Nicht alle dachten so, aber       Sie wird – historisch und länderübergreifend     xuell attraktiv, versus Gesundheitslatschen.       Hure beschimpft, erniedrigt und ausstößt,
solches Denken hat zu sozialen Realitäten         betrachtet – in vielen Gesetzbüchern als                                                            bloß weil sie vorehelichen Sex hatte, etwas,
geführt. Päpste, Könige, Priester, Führungs-      Besitz des Mannes definiert. Gewalt gegen        Walter Sutcliffe, der Regisseur unserer            wonach der erste Chor auf amüsant-frivole
kräfte aller Art sind in der Regel Männer.        Frauen gilt dann als Sachbeschädigung. Ge-       Inszenierung, versteht Gounods Oper als            Weise selbst scharf war. Während Gretchen
Das ist keine christliche Spezialität. Im alten   genwärtig wird weltweit über Gewalt gegen        Auseinandersetzung mit und Kritik an einem         im Schmutz des Kerkers für die Liebesnacht
Ägypten ließ sich die Pharaonin Hatschepsut       Tiere diskutiert. Wo ist sie legitim? Ist das    solchen grauenhaften Frauenbild. Der               büßt, lenkt sich Faust laut Partitur in einem
als Mann darstellen, in nichtchristlichen Re-     Tier eine „Sache”? Die Schwierigkeiten, die      Eingangschor des 2. Aktes ist teils wörtliche,     „großzügigen Palast, der vor Stuckgold
ligionen führen Zeus, Odin, Vishnu usw. den       wir damit haben, lässt uns nachempfinden,        teils sinngemäße Übersetzung des Goethe-           glänzt“ unter „Königinnen und Kurtisanen
Götterhimmel an. Der Mann stellt mit seinem       über welche Schatten vergangene Gene-            schen Osterspaziergangs. Die Gesellschaft          der Antike“ ab. Am Schluss der Oper bricht
Samenfluss und extrovertierten Genital das        rationen in der Diskussion über eine Verän-      wird nicht realistisch geschildert, sondern        Gretchen laut Regieanweisung „reglos
zeugende Prinzip dar, die Frau mit ihrem intro-   derung der Denkgewohnheiten hinsichtlich         in Form eines Modells in soziale Archetypen        zusammen. Die Mauern des Gefängnisses
vertierten das empfangende, austragende,          des juristischen Status‘ der Frau springen       unterteilt, die musikalisch und verbal so          öffnen sich. Margaretes Seele fährt zum
gebärende. Deswegen stehen am Ursprung            mussten. Man braucht sich nur die Plakate        überzeichnet und stilisiert sind, dass sie wie     Himmel auf.“ Das bezieht sich auf Goethes
vieler Schöpfungsmythen Muttergottheiten.         zur eidgenössischen Abstimmung über die          Witzfiguren wirken. Wenn man deutlich sein         Faust II-Schluss, wo nicht nur alle mögli-
Sie werden jedoch meist als chaotisch be-         Einführung des Frauenstimmrechts in der          will, muss man übertreiben. Zunächst treten        chen gefallenen Frauen, einschließlich der

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FAUST 14+ - Badisches Staatstheater Karlsruhe
biblischen Huren und Ehebrecherinnen in der       vorgibt: satirisch, analytisch und tragisch.     gen Frauen und Mädchen ist ein Problem       der Bewegungsfreiheit, Verweigerung
Wüste auftreten, sondern auch der „Doctor         Es geht bei uns im 2. Akt also nicht um reale    von pandemischen Ausmaßen. Mindestens        von medizinischer Hilfe, Stalking, sexuelle
Marianus“, der wissenschaftliche Experte          Frauen, sondern um Frauen, wie bestimmte         eine von drei Frauen auf der Welt wurde in   Belästigung, Menschenhandel, Zwangs-
für Marien-Theologie. Diesen Titel sprach         Typen von Männern sie sehen, wie bestimm-        ihrem Leben geschlagen, sexuell genötigt     prostitution, Gewalt gegen Witwen,
man im Mittelalter einer ganzen Reihe von         te Filme, Sitcoms, Werbekampagnen, digitale      oder in anderer Weise missbraucht. Die       Hexenverfolgung, Kriegsvergewaltigung,
Heiligen wie Antonius von Padua, Franz von        Plattformen, Sprichworte, Redewendungen,         Täter stammen meist aus dem Bekannten-       Zwangssterilisierung, Zwangsabtreibung,
Assisi, Bernhard von Clairvaux und anderen        Lieder, Shows usw. sie darstellen und wie        kreis.“ Die Vereinten Nationen haben da-     Polizeigewalt, Ausnutzung von Autoritäts-
zu. „Blicket auf zum Retterblick, / alle reuig    sie vor allem die Oper im 2. Akt in kritischer   rum einen Hilfsfonds aufgelegt und einen     verhältnissen, Steinigung, Auspeitschung,
Zarten“, redet der Doktor die „Büsserinnen“       Absicht satirisch überzogen, im 4. und 5.        Katalog von 24 pandemisch grassierenden      Genitalverstümmelung, Verhinderung des
an: „Werde jeder bessre Sinn / Dir zum            Akt tragisch zeigt. Dass solche Frauenbilder     Formen der Gewalt gegen Frauen auf der       Brustwachstums, Gewalt im Kindbett,
Dienst erbötig: / Jungfrau, Mutter, Königin, /    auch heute noch Konsequenzen haben,              ganzen Welt erstellt. Er umfasst folgende    Gewalt gegen indigene, migrantische,
Göttin bleibe gnädig!“ Das ist Goethes Fazit      belegen die Statistiken des Bundeskrimi-         Rubriken: Vergewaltigung, Vergewaltigung     Flüchtlings- und Transfrauen, Gewalt im
aus 12.000 Versen, in denen Faust durch die       nalamtes und des Bundesministeriums              in der Ehe, häusliche Gewalt, Entstellung    sportlichen Kontext und Cyberbullying. Für
ganze Welt gezogen ist und sich in jeder nur      für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.        durch Säure, Zwang zur Fortpflanzung,        Walter Sutcliffe ist die gesellschaftliche
erdenklichen Art als mehrfacher Mörder,           Aktenmäßig erfasst werden dort Delikte           Mob-Gewalt, Einschüchterung beim             Tragödie, die die Oper darstellt, vor diesem
Kolonialherr und was noch alles schuldig          gegen Frauen in den Kategorien Mord, Tot-        Dating, Gewalt im universitären Bereich      Hintergrund ein aktuelles Thema.
gemacht hat. Dieses Fazit zeigt Walter Sut-       schlag, Körperverletzung, sexuelle Nötigung,     und Ausbildungssektor, Einschränkung
cliffes Inszenierung. Goethes „Göttin“ tritt      Stalking, Zuhälterei, Zwangsprostitution
an die Stelle des „Herrn“, der dem Verbre-        und Menschenhandel. Die Auswertung der
cherpaar Faust und Mephisto in Vers 293ff.        Akten differenziert das Spektrum von Gewalt
carte blanche für ihr Treiben erteilt hat. Dann   gegen Frauen von subtilen Formen wie De-
„schließt“ sich laut Goethes Regieanwei-          mütigung, Beleidigung und Einschüchterung
sung „der Himmel“ und „der Herr“ ist für sei-     über psychische, physische und sexuelle
ne Opfer ab Vers 349 nicht mehr zu sprechen,      Misshandlungen bis hin zu Vergewaltigung,
bis wir in Vers 12.104 plötzlich erfahren, dass   Totschlag und Mord. Ein Drittel der krimi-
eine „Göttin“ an seine Stelle getreten ist.       nalistisch erfassten Delikte gegen Frauen

                                                                                                   ICH WILL
Die beiden Schlussverse aus Faust II, „Das        geschehen in Partnerschaften und Familien.
Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan“, werden         In 49 % dieser Fälle leben Täter und Opfer
zwar oft zitiert, aber selten verstanden,         zusammen. 82 % der Partnerschaftsdelikte
geschweige denn ernst genommen.                   insgesamt richten sich gegen Frauen,
                                                  12 % gegen Männer. 11.400 Frauen wurden
Der Anlass für den Teufelspakt „des Herrn“        dabei 2015 Opfer von gefährlicher Körper-

                                                                                                   FUR DICH
ist lächerlich: gekränkte Eitelkeit und Rufs-     verletzung, 331 vom Partner oder Ehemann
chädigung. „Kommst Du nur immer anzu-             ermordet. Das sind statistische Zahlen. Die
klagen?“, beschwert sich „Der Herr“ beim          Dunkelziffer der nicht angezeigten Fälle ist
Teufel. Er kann keine Kritik vertragen und        aus Scham vor dem Stigma einer nicht funk-
erlaubt ihm deshalb in einer frivolen Wette,      tionierenden Beziehung gewaltig.
alles zu tun, was er will, nur um ihn davon

                                                                                                   STERBEN
zu überzeugen, dass seine Schöpfung doch          Weil dies auf der ganzen Welt so ist, hat die
nicht missraten ist, wie Mephisto überall         Generalversammlung der Vereinten Natio-
herumposaunt. Diese hoch problematische           nen 1993 eine Erklärung zur Beseitigung von
Schöpfung aber zeigen Goethe, Gounod und          Gewalt gegen Frauen verabschiedet. Kofi
unsere Inszenierung in allen Registern, die       Annan, der einstige Generalsekretär der Ver-
sowohl das Schauspiel als auch die Oper           einten Nationen, erklärte 2006: „Gewalt ge-

12                                                                                                                                                                                        13
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MARGUÉRITE –
                                                                                             Landes war die Tochter des Finanzmi-           Calderon-Übersetzers August Wilhelm
                                                                                             nisters Ludwigs XVI. in jeder Beziehung        Schlegel, der in ihrem Haushalt lebte und
                                                                                             unabhängig. Napoleon verbannte sie, weil       dessen Privatgelehrtenexistenz sie einige
                                                                                             sie seine Diktatur bekämpfte. Sie machte       Jahre finanzierte. In Über Deutschland

DAS BIN ICH
                                                                                             den von Tacitus erfundenen „deutschen          übersetzte sie 1810 neben Gedichten Goe-
                                                                                             Wald“ zum Nationalsymbol der Deutschen.        thes lange Auszüge aus seinen Dramen.
                                                                                             „Von den Alpen bis zum Meer, zwischen          Hier konnten die Franzosen erstmals Teile
                                                                                             Rhein und Donau finden Sie ein Land,„hebt      aus Faust I samt Anmerkungen zur Stoffge-
                                                                                             ihr Buch bildmächtig an,”das ganz von          schichte und Interpretation lesen, die auf
                                                                                             Eichen und Tannen bedeckt ist“. In deren       Schlegels enzyklopädischem Wissen und
                                                                                             „douce obscurité“ wüchsen die dunklen,         de Staëls Interviews mit Goethe fußten.
ZUM STÜCK                                                                                    schwer- bis unverständlichen Gedan-
                                                                                             ken, Spukgeschichten und tiefen Seelen
                                                                                                                                            1818 erschien die erste Gesamtüberset-
                                                                                                                                            zung des Schweizers Albert Stapfer, die
                                                                                             deutscher Dichter und Denker, die allesamt     Eugène Delacroix 1825 in London illustrier-
                                                                                             Sonderlinge, Spökenkieker, wunderliche         te. 1827 folgten zwei weitere Übersetzun-
Goethe in Frankreich                           druck zu 20 Centimes und 1855 sogar als       Käuze seien, wie Pilze aus dem Boden.          gen, darunter die klassische des 18-jähri-
                                               Eisenbahnklassiker am Bahnhofskiosk zu        Da Deutschland, zu dem sie alle deutsch-       gen Gérard de Nerval, über die sich Goethe
„Während die Deutschen Paris bombar-           kaufen. Marie Antoinette hatte ihn in ihrer   sprachigen Länder zählt, mit seinen vielen     positiv äußerte und aus der Berlioz umge-
dierten, las ich Goethe“, schrieb Jules        Bibliothek, Napoleon las ihn auf seinem       Miniaturkönigreichen und -fürstentümern        hend acht Lieder und Szenen vertonte und
Barbey d’Aurevilly 1872 kurz nach dem          Ägypten-Feldzug, Autoren wie Senancour,       im Gegensatz zu Frankreich keine Haupt-        nach Weimar schickte. 1840 schob Nerval
Deutsch-Französischen Krieg. „Die Librai-      Chateaubriand, Constant, Musset, Nerval,      stadt, also tonangebende Gesellschaft          Faust II nach. Seit Ende der 1820er Jahr
rie Hachette hatte mir vor der Belagerung      Sainte-Beuve und viele andere schrieben       besitze, lebten die Deutschen wie Bären        wurde Faust I laufend mehr oder weniger
eine Übersetzung seiner Sämtlichen Wer-        Romane im Werther-Stil. 1784 kam Götz         „in den Wäldern“, d.h. in Dörfern, Klein-      frei für die französische Bühne bearbeitet.
ke geschickt, damit ich sie in einer Zeitung   von Berlichingen auf Französisch heraus.      und Universitätsstädten oder mittleren         Theaterpraktiker glaubten, man müsse ihn
bespräche. Er bombardierte mich mit Lan-       Das Ritterschauspiel löste laut Madame        Residenzen wie Wien, Berlin, Dresden und       dem französischen Geschmack anpassen,
geweile. Von allen deutschen Geschossen,       de Staël gemeinsam mit Schillers Räubern,     tüftelten eigenbrötlerisch philosophische      also bestimmte Motive streichen, andere
die über meinem Stadtteil niedergingen,        die aus Zensurgründen ins 16. Jahrhundert     Systeme aus, vertieften sich in gelehrte       wie die Liebesgeschichte und Gretchens
waren die Sämtlichen Werke für mich das        der anarchistischen Ritterfehden verlegt      Studien oder sinnierten über ihr Gefühlsle-    Lieder stärker in den Vordergrund rücken,
schwerste. Die Langeweile, die Goethe          worden waren, in ganz Europa die Mode         ben. Das Neue, Fantastische, Empfindsa-        damit sich das Pariser Publikum nicht bei
verbreitet, ist ebenso groß wie sein Ruhm,     Historischer Dramen aus. Victor Hugo, auf     me sei ihre Spezialität. Von ihnen sollten     den philosophischen Monologen langweil-
und sein Ruhm ist der größte unter allen       dessen Stücken die Opern Donizettis und       die Franzosen, die seit Jahrhunderten die      te oder Anstoß an Dingen nahm, die es ku-
modernen Schriftstellern.“                     Verdis basieren, orientierte sich an ihm.     immer gleichen antiken Mythen wieder-          rios, infantil, ungeschickt oder geschmack-
                                               1818 erschien Faust I auf Französisch.        käuten und an den immer gleichen Versfü-       los fand. Die zweite dieser Bearbeitungen
Die Polemik, die der französische Ro-                                                        ßen feilten, lernen.                           kam 1829 heraus und trug den Titel Faust
mancier, Literaturkritiker, Dandy auf          „Die Schriftsteller Frankreichs germa-                                                       oder Die erste Liebe eines romantischen
Deutschlands Stolz abfeuerte, war nicht        nisierten sich“, schimpfte Barbey 1872.       Die Deutschen, selbst Heinrich Heine,          Metaphysikers. Damit ist gesagt, was das
nur Revanche. Vor allem aber zeigt sie uns,    „Sie pilgerten nach Deutschland, um           waren entsetzt über das einseitige Bild,       Publikum an Faust interessierte: Spuk –
wie bekannt Goethe in Frankreich war.          sich zu vervollkommnen, wie die griechi-      das de Staël im Ausland von ihnen verbrei-     "le fantastique" – und Liebe. Ein Jahr
Am meisten gelesen wurden Werther,             schen Philosophen nach Ägypten.“ Daran        tete. Sie machten – mit Ausnahme Goethes       später komponierte Louise Bertin die
Götz von Berlichingen und Faust. Werther       war Germaine de Staël schuld, deren           – das Buch schlecht, wo sie nur konnten.       erste französische Faust-Oper, allerdings
erschien 1776/77 in drei Übersetzungen,        800-Seiten-Buch Über Deutschland ab           Die Verfasserin kenne Land und Leute nur       in italienischer Sprache. Sie wurde 1831
erlebte zwischen 1790 und 1797 zehn            1814 zum europäischen Bestseller wurde,       oberflächlich. So oberflächlich ist ihr Buch   mit Maria Malibran in Paris uraufgeführt
Auflagen in Frankreich, war seit 1827 in       weil Napoleon es 1810 hatte einstampfen       aber gar nicht. Zudem stützte sie sich auf     und überlebte die dritte Vorstellung nicht.
billigen Volksausgaben, 1848 als Zeitungs-     lassen. Als eine der reichsten Frauen des     die Kenntnisse des Shakespeare- und            Die Komponistin widmet sie Giacomo

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FAUST 14+ - Badisches Staatstheater Karlsruhe
Meyerbeer, dessen Robert der Teufel           Meisters Lehrjahre, 1830 die Gedichte,
der von Goethes Mephisto ausgelösten          1842 Maximen und Reflexionen, 1860 die
Teufelsmode seine Entstehung verdankt.        erste Gesamtausgabe und 1862/63 gleich
Goethe hätte es gern gesehen, wenn Mey-       zwei Übersetzungen der Eckermann-Ge-
erbeer Faust vertont hätte. Adolphe Adam      spräche. Sainte-Beuve, der tonangebende
brachte 1833 in London ein Grand-Ballet       Kritiker des 19. Jahrhundersts, empfahl
in 3 Akten Faust heraus. Heinrich Heine,      seinen Landsleuten gebetsmühlenartig,
seit 1831 in Paris lebend, schrieb 1846       sich ein Beispiel an Goethes Lebensphi-
für London ein Ballett-Libretto, in dem er    losophie zu nehmen. 1826 schickte der
Mephisto zu einer Mephistophela machte.       Herausgeber des Globe Goethe den ersten
Da sich Intendant und Choreograf darü-        Jahrgang seiner Zeitung mit dem Kom-
ber zerstritten, kam es so wenig auf die      pliment: „Sie werden in Frankreich wie
Bühne, wie Henri Cohens im selben Jahr        in Deutschland geliebt“. 1864 schrieb der
veröffentlichte Pariser Faust-Oper. Dafür     Sozialist Pierre Leroux: „Goethe gehört zu
erlebte 1846 Berlioz' Fausts Verdammnis       Frankreich, wie er zu Deutschland gehört“.
ihre missglückte Uraufführung. Berlioz ver-   1847 brachte Eugène Scribe den Weimarer
wob wie seine Vorgänger und später auch       Hof, den Götz-Dichter, seine fiktive große
Gounod erfundene Szenen mit Original-         Liebe Marguérite und seinen erfundenen
Goetheversen. In die lange Reihe franzö-      Großvater, der ihm das Puppenspiel vom
sischer Faust-Bearbeitungen reihte sich       Dr. Faust vorgespielt haben soll, in seiner
1850 schließlich Michel Carrés „Drame         Intrigenoperette Maître Jean auf die
fantastique“ Faust et Marguérite ein, an      Bühne. Auch wer Goethe nicht las, wusste
der sich Gounod orientierte, um Goethes       also, wer er war.
12.000 Verse in eine akzeptable Opern-
abendlänge zu zwingen. Goethe, der über       Gounod und Goethe
Zeitungsartikel und Zusendungen die Be-
geisterung der französischen Romantiker       Gounod las Goethes Faust mit 20 Jahren.
für sein Stück verfolgte und kommentierte,    Ein Jahr später gewann er den Rom-Preis.
verstand sehr wohl, dass sie in seinem        Das war ein zweijähriges Reisestipendium,
Namen, im Namen des ”Fantastischen„           mit dem der französische Staat zunächst
1. einen Kampf gegen den verknöcherten        in Gestalt des Königs, später vertreten
Klassizismus und das sterile Schönheits-      durch seine Kunstakademien, seit 1663
ideal der Kunstlehranstalten führten und      die Entwicklung der nationalen Künste
2. einen Kampf gegen deren Kunden, die        förderte, indem er es jungen Künstlern
Spießbürger, deren trocken-rationalisti-      aller Disziplinen ermöglichte, sich im
scher Geschmack die ästhetische Kehrsei-      Mutterland der klassischen Kunst, Italien,
te ihres materialistischen Handelns nach      zu bilden. Die Stipendiaten wohnten im
dem Prinzip des ”enrichissez vous„ war.       Institut de France à Rome, das seit 1803
Die Romantiker konnten nicht nur Werther,     in der Villa Medici auf dem Monte Pincio
Götz und Faust auf Französisch lesen. 1810    untergebracht war. Als Gounod Ende 1839
erschienen auch die Wahlverwandtschaf-        sein Zimmer bezog, war der klassizistische
ten, 1821–1825 die Dramatischen Werke         Maler Ingres Rektor des Instituts. In Rom
in vier Bänden, 1823 eine Auswahl aus         und auf einer gemeinsamen Reise nach
Dichtung und Wahrheit, 1829 Wilhelm           Neapel freundete sich der junge Kompo-

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nist schwärmerisch mit Mendelssohns            um sie zu entjungfern und Flöte und Oboe       Frankfurter Verleger Johann Spies brachte      verteidigte. Die letzte beschäftigt sich mit
Schwester Fanny Hensel an, die ihn mit         spielen dabei sein Motiv aus dem 1. Akt,       1587 all die fantastischen Erzählungen, die    der Frage, ob die Todesstrafe für Kinds-
Bach, Beethoven und der Musik ihres            "Ich will Spaß, ich will Mädchen, ich will     über solche Populärwissenschaftler und         mörderinnen juristisch vertretbar sei.
Bruders bekannt machte. Natürlich wurde        Orgien". Dann ist er aber doch angerührt       Hobbydoktoren umliefen, in eine fiktive        Goethe ließ sich Abschriften der Brandt-
auch über Goethe diskutiert. Fanny hatte       von der Reinheit des Ortes und besingt ihn     Lebensbeschreibung des Doktors Johann          schen Prozessakten anfertigen und
bei Goethes Freund Zelter Komposition          in seiner berühmten Cavatine "Salut, de-       Faust, die zahllose Male nachgedruckt,         schrieb auf dieser Grundlage als erste
studiert, Felix den Dichterfürsten sogar       meure chaste et pure". Als er das wahnsin-     nacherzählt, ausgeschmückt, fortgesetzt        Szene des Urfaust die Kerkerszene. All
persönlich gesprochen. „Auf allen meinen       nige Gretchen zwei Akte später im Dreck        und übersetzt wurde. So kam sie nach           das wusste man zu Gounods Zeiten nicht,
Wanderungen hatte ich meinen Goethe            des Kerkers findet, zitieren die Flöten sein   England, von dort mit Schau- und Pup-          da Goethes Dissertation vernichtet und
immer dabei“, erinnerte sich Gounod            Motiv vom keuschen, reinen Ort. Faust          penspielern wieder nach Deutschland            der Urfaust erst 1887 entdeckt wurde. Die
später: „Ich träumte von Gretchen und          wird bewusst, was er zerstört hat. Es hat      und erlebte kraft der Faszination des          Kritik an Gounod, dass er aus der Gelehr-
identifizierte mich mit ihr. Ihr Bild, ihre    also einen tiefen Sinn, wenn man die Oper      Teufelsglaubens weite Verbreitung. Die         tentragödie eine Liebestragödie gemacht
Worte trafen mich in meinem tiefsten           seit ihrer Dresdner Erstaufführung 1861        Gretchentragödie fügte erst Goethe ein.        habe, ist damit aber gegenstandslos.
Herzen. Als ich Rom verlassen musste,          im deutschen Sprachraum mit Gounods            Sie war, wie wir am Urfaust, der ersten        Gounod spürte intuitiv, was der Kern des
war es mein größter Wunsch, ihr Vaterland      Billigung unter dem Titel Margarethe auf-      Beschäftigung des 23-jährigen Frankfurter      Stücks war.
kennen zu lernen. So kam es, dass ich ein      führte. Marguérite ist die Hauptfigur. Der     Rechtsanwalts mit dem Stoff sehen, für
weiteres Jahr mit ihr in Wien, Prag, Leipzig   französische Originaltitel Faust hatte nur     ihn die Hauptsache. Diese erste Fassung        Mme de Staël hat in ihrem Buch vor allem
und Berlin lebte.“ Gounod reiste also ein      den Zweck, das nichtdeutsche Publikum          ist im ersten Drittel eine Gelehrtensatire,    anlässlich Wallensteins, aber auch
Jahr lang über Österreich, Böhmen und          darauf hinzuweisen, dass es sich um eine       in der er mit seinen Leipziger und Straß-      Egmonts und Wilhelm Tells auf den geni-
Deutschland nach Paris zurück, sah die         Oper nach Goethe handelte.                     burger Professoren abrechnet. Die beiden       alen dramaturgischen Trick hingewiesen,
Schauplätze deutscher Sagen mit eigenen                                                       anderen Drittel sind der Gretchentragödie      dass in diesen Stücken lange Zeit alle
Augen und wurde von Mendelssohn in             Dafür, dass er die Liebestragödie ins Zen-     gewidmet. Dafür gab es zwei Auslöser:          ständig von der Hauptfigur reden, bis sie
Goethes Studienstadt Leipzig nicht nur in      trum seiner Oper stellte, wurde Gounod         1. seine Schuldgefühle Friederike Brion        endlich selbst erscheint. Es ist, als hätten
das Musikleben, sondern auch in Auer-          nicht nur von deutschen Philistern der Ver-    gegenüber. Nach Studienende teilte er          sich Gounod und sein Librettist Jules
bachs Keller eingeführt. Wenn Gounod           kitschung "der Idee Goethes" bezichtigt.       seiner Straßburger bzw. Sessenheimer           Barbier auch an dieses Rezept gehalten.
am Ende der Gretchenvision im 1. Akt           Richard Strauss nennt dies "Goethever-         Geliebten aus Frankfurt mit, dass die          Im 1. Akt lässt Mephisto das dank Franz
seiner Oper die Coda aus Mendelssohns          hunzung" am 5. Januar 1890 in einem Brief      Beziehung zu Ende sei. Darauf erlitt sie       Schubert auch in Frankreich ikonische
Sommernachtstaum-Ouvertüre und mit             an Cosima Wagner "einen der größten            einen Nervenzusammenbruch und blieb            Bild Gretchens am Spinnrad in der Luft
Mephistos Ständchen im 4. Akt dessen           Schandflecke für das deutsche Volk". Seit      die restlichen 42 Jahre ihres Lebens           erscheinen, um den zögernden Faust dazu
Scherzo zitiert, ist das also kein Zufall.     Goethes Urfaust 1887, lange nach Entste-       unverheiratet. 2. der Prozess gegen die        zu bewegen, den Teufelspakt zu unter-
                                               hung der Oper, entdeckt wurde, sehen wir       Frankfurter Kellnerin Margarethe Brandt,       schreiben. Im 2. Akt kreisen Valentins,
Die Frau im Zentrum                            aber, dass er Goethes Absichten intuitiv       die von einem Gast der Herberge, in der sie    Siebels und Fausts Gedanken obsessiv um
                                               besser verstand, als seine Kritiker. Johann    arbeitete, laut eigener Aussage mit Wein       sie, bis sie ganz am Ende zwei Verse lang
Der Schlüssel zum Verständnis von Gou-         Georg Faustus hat wirklich gelebt. Er          willig gemacht worden sei. Die folgende        auftritt und wieder verschwindet. Das war
nods Faust ist die Aussage: "Ich identifi-     wurde um 1480 vermutlich in Knittlingen,       Schwangerschaft konnte sie verheimli-          ein typischer Cliffhanger, denn zu Gounods
zierte mich mit Gretchen." Im Kapitel über     30 km östlich von Karlsruhe, geboren,          chen. Das Kind starb nach der Geburt, ob       Zeiten ging man jetzt in die Pause und war
die Musik werden wir sehen, dass sich die      wo sich heute ein sehenswertes Faust-          durch Unfall oder die Mutter, lässt sich       gespannt, was danach passiert.
verschiedenen Gretchen-Motive von der          Museum und -Archiv befinden. Faustus,          den Quellen nicht zweifelsfrei entnehmen.
Ouvertüre bis zum Schluss der Oper das         "der Glückliche", war ein werbewirksamer       Das Thema der Kindsmörderinnen trieb           Pariser Tanzlokale
Rückgrat des Stücks bilden. Ihr Gegen-         Künstlername für Wunderheiler, Magier,         Goethe um. Als die Straßburger Universi-
spieler, ebenfalls bereits in der Ouvertüre,   Alchimisten. Wenn sie "Wunder" wirkten,        tät seine Dissertation über das Verhältnis     Was war es, das den 20-jährigen Gounod
ist Faust. Er zerstört Gretchens Unschuld.     hatte sicher der Teufel seine Hände im         von Kirche und Staat wegen Kirchenfeind-       bei seiner ersten Faust-Lektüre so an
Jedenfalls, wenn wir der Musik glauben.        Spiel. Wenn sie beim Hantieren mit Chemi-      lichkeit ablehnte, reichte er ersatzweise      Gretchen fesselte, dass er 20 Jahre lang
Im 3. Akt stürmt er in Gretchens Garten,       kalien explodierten, hat er sie geholt. Der    56 juristische Thesen ein, die er öffentlich   darüber nachdachte, wie er eine Oper über

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sie schreiben könne, in der sich dann alle    und Loretten gemeint sind. Midinetten
Figuren wie Planeten um sie als Sonne         waren Näherinnen, die sich in der Mittags-
drehen? Die Oper selbst gibt darauf Ant-      pause, Midi, durch Herrenbekanntschaften
wort. Wie im Musik-Kapitel zu zeigen sein     ein Zubrot verdienten. Grisetten waren
wird, ziehen sich musikalisch zwei rote Fä-   Wäscherinnen, Putzmacherinnen, Fabrik-
den durch das Stück: Tanzmusik und Geist-     arbeiterinnen in billigen grauen Stoffen,
liche Musik. Der 2. Akt, textlich teilweise   gris. Loretten waren ältere Semester,
wörtlich aus Goethes Osterspaziergang         die etwas mehr Geld hatten und meist im
und Auerbachs Keller übernommen, ist          Viertel Notre-Dame de Lorette wohnten.
eine einzige Abfolge von Tänzen, wie sie      Diese Frauen hofften in der Grande-
zu Gounods Zeiten auf den "Bals publics       Chaumière einen finanzkräftigen Partner
– öffentlichen Tanzveranstaltungen" der       zu finden, vielleicht sogar zum Tanzstar,
Stadt, vom einfachen Tanzlokal bis hin zum    zur "Polkakönigin" aufzusteigen. Ging das
elitären Opernball getanzt wurden. Hält       schief, landeten sie in der Prostitution. Zu
man Text und Musik zusammen, entdeckt         ihnen gehört Gretchen, dessen Spinnerei
man, dass Gounod offenbar sogar an ein        Heimarbeit ist. Dass ihre Juwelenarie im
bestimmtes Pariser Tanzlokal seiner Ju-       3. Akt ein Walzer ist, verweist auf den so
gend gedacht hat, die Grande-Chaumière        genannten Faust-Walzer vom Ende des 2.
am Boulevard Montparnasse neben der           Akts. Auch Gretchen träumt von Luxus und
Universität. Jeder Pariser kannte das po-     Lebenslust, wie alle anderen. Der Walzer
puläre Lokal, in das Mephisto Faust führt,    war 1850 aber viel gewagter als heute,
um ihn mit Gretchen zu verkuppeln. In         weil er die unverheirateten Männer- und
gleicher Absicht waren Generationen von       Frauenkörper im Wirbel des Kreisens
Medizin-, Jura-, Theologie- und Naturwis-     unerlaubt eng aneinanderpresste. Der
senschaftsstudenten in diese "Allgemein-      Herr musste die Dame fest an seinen Leib
bildende Hochschule der Wissenschaften,       drücken, damit die Fliehkräfte sie nicht zu
des Cancan, der Trink- und Rauchkunst"        Boden schleuderten und durfte dabei mit
gegangen, um eine Liebelei mit einer          der stützenden Hand nah an ihre zweit ver-
Proletarierin zu beginnen, die man sitzen     botenste Körperregion rücken. Wie nah,
lässt, sobald man eine respektable gesell-    war seiner Diskretion überlassen.
schaftliche Position bezieht und eine dito
Ehe schließt. Tatsächlich hat schon Carré     Kein Wunder also, dass gewisse Kreise
in seinem Schauspiel Goethes Vorlage          der Grande-Chaumière diabolische Züge
dahingehend modifiziert, dass er aus Faust    und eine "confusion satanique" attestier-
einen alten Universitätsprofessor macht,      ten, was Gounod dazu veranlasste, in den
der seinem Studenten Siebel die Geliebte      Mittelpunkt dieses zügellosen Treibens
ausspannt und dessen anderer Student          Mephistos Rondo vom Goldenen Kalb und
Wagner das Studium abbricht, um zur           die Teufelsbeschwörung, den Exorzismus
Armee zu gehen. Wie in der Grande-Chau-       zu stellen. Das Rondo ist also alles andere
mière treten im so genannten Kirmes-Akt       als die schmissige Wunschkonzertnum-
der Oper männlicherseits Soldaten und         mer, zu der es seine Beliebtheit gemacht
Studenten älterer und jüngerer Semester       hat. Der völlig enthemmte Galopp ist die
auf, weiblicherseits junge Mädchen und        Nationalhymne einer Welt, die des Teufels
"Matronen", womit Grisetten, Midinetten       ist. Auch der Stretta des Schlusswalzers

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des Aktes verleiht Gounod orgiastische       Lacordaire das Kloster gegeben, um den          ge seines Lebens zusammen: der Glaube,         physischen Tonfällen sowie inhaltlich den
Züge, womit er auf die berühmten "galops     1790 verbotenen Dominikanerorden in             die Musik und das Weibliche. Diese Trinität    Nerv seiner Zeit. Darum wurde sie mit fast
infernals" verweist, in die nicht nur die    Frankreich neu zu beleben. Lacordaire ent-      sah er auch in Gretchen verkörpert.            3000 Aufführungen zwischen 1859 und
populären Tanzveranstaltungen, sondern       wickelte dazu in moderner Sprache eine                                                         2003 allein in Paris die dort meist gespielte
auch die elitären Opernbälle morgens um 4    moderne katholische Lehre, in der er die        Im Zentrum des 4. Akts steht die wörtlich      Oper. Als die Kaiserliche Oper das Werk
ausarteten.                                  Ideale der Revolution mit denen der Religi-     von Goethe übernommene Domszene.               1869 in ihr Repertoire aufnahm, schrieb
                                             on zu verbinden versuchte und verbreitete       Stilistisch kontrastiert ihre brutale Musik    der Kritiker: "Die Domszene bekommt in
Frömmigkeit und Lehenslust                   sie mit allen Mitteln moderner Medien.          mit dem Rest der Oper. Das Finale des 4.       der Opéra eine Feierlichkeit, die bis daher
                                             Gounod war also in Gefahr, Mönch zu             Aktes ist ein großer Gottesdienst für den      unerhört war. Mit jedem Schritt, den
Gretchens andere Seite ist ihre Frömmig-     werden und trat 1847 in das Karmeliter-         gefallenen Soldaten Valentin. Gounod war       Gretchen auf Barmherzigkeit und Hoffnung
keit, die sich in ungewöhnlich zahlreichen   seminar Saint-Sulpice ein. Im Rondo vom         im Gegensatz zu Goethe durchaus kein           zugeht, folgt ein Verdammungsschrei, der
Gebeten ausdrückt, von denen im Musik-       Goldenen Kalb zitiert er Pater Lacordaires      Antimilitarist, wie sein „Gebet der Armee“     sie in die Verzweiflung zurückschleudert.
kapitel die Rede sein wird. Ihre Reinheit    Lehre, dass Geld die Menschen nicht frei        in der Cäcilienmesse, seine Kriegskantate      Schließlich ist es die Kirche selbst, deren
und Frömmigkeit, ihre Zartheit, aber auch    mache, sondern knechtet. Darum predigte         Gallia, aber auch der große Soldatenchor       Orgel Blitze schleudert. Das Schlusster-
Gewissensnot vor der Mutter Gottes, "Ach     Lacordaire ein Leben in Armut im Zeichen        im 4. Akt des Faust zeigen. Alle Fährten       zett, wo Liebe, Wahnsinn und Tod auf dem
neige, Du schmerzenreiche" war offenbar      von liberté, égalité, fraternité.               geistlicher Musik, die seit der Ouvertüre      Strohlager kämpfen, ist von pathetischer
das, was Gounod als Sehnsuchtsziel an                                                        ausgelegt sind und sich durch die Akte         Wirkung." Die ersten 30 Vorstellungen
Gretchen anzog. Die erste Szene, zu der er   Gounods Christentum war sehr sinnlich           ziehen, laufen auf den Schluss der Oper        spielten 400.000 Francs, die Maximalsum-
laut eigener Auskunft schon in den 1840er    geprägt und mit einem erotisch getönten         zu: die krönende Apotheose, Gretchens          me ein. Die deutsche Erstaufführung fand
Jahren Ideen skizzierte, war die Domsze-     Marienbild verbunden, was möglicher-            Himmelfahrt nach dem Modell der Assuntà        1861 auf Veranlassung des französischen
ne. In der pompösen Schlusszene, in der      weise auch damit zusammenhängt, dass            Tizians in der Frarikirche, Venedig. Der mit   Außenministers in Anwesenheit des
er den Osterchoral "Christ ist erstanden"    er nach dem frühen Tod seines Vaters            Gounod befreundete König von Hannover          Königs von Württemberg und Ludwigs
auf Gretchen bezieht, den er dem Goethe-     wie sein spiritueller Lehrer in einem           bekannte, dass er sonntags nach der Kir-       II. von Bayern in Darmstadt statt. Bis
schen Faust der Selbstmordszene wegge-       Frauenhaushalt aufwuchs und zeit seines         che in Gounods Oper gehe, um den Tag des       1864 war das Werk auf der ganzen Welt
nommen hatte, kann man sich fragen, ob       Lebens eine kindliche Bindung an seine          Herrn zu weihen.                               gespielt worden. Estanislao del Campo,
Gounod nicht insgeheim "Marguérite ist       Mutter verspürte, die ihn als ausgebildete                                                     ein argentinischer Gaucho, schrieb 1866
erstanden", nämlich gestorben und wieder     Pianistin in die Musik eingeführt hatte.        Der größte Opernerfolg von Paris               über seine Erstbegegnung mit einer Oper
auferstanden, gemeint hat. Dann würde er     Gounod war ein ausgesprochener „homme                                                          überhaupt im Teatro Colón: "Hätten sie nur
Gretchen in der mittelalterlichen Denktra-   à femmes“, der sich in jeder Beziehung          Mephisto hat Gounod Goethe-treu mit al-        den Teufel gesehen! Katzenkrallen, mager,
dition der „Imitatio Christi“ sehen.         stark zu Frauen hingezogen fühlte und           len Mitteln satanischer Ironie und Bosheit     ein langer Degen, ein gefederter Hut,
                                             neben seiner Ehe eine Reihe mehr oder           ausgestattet. Faust aber, zwischen Gut         kurzes Mäntelchen, ein Bart wie ein Zie-
Gounod stellt Gretchen musikalisch also      weniger schwärmerischer Affären mit             und Böse, Gewissenlosigkeit und Gewis-         genbock, Strumpfhosen bis zum Schritt,
zwischen Lebenslust und Frömmigkeit hin-     seinem Christentum verbinden konnte. In         sen schwankend, trägt die Züge eines           mit Augenbrauen wie ein Halbkreis, damit
und hergerissen dar. Er selbst schwankte     seiner ersten Oper, Sapho, forderte der         modernen Nihilisten. Sein erstes Wort          der beim Spiel die Karten besser verteilen
zeit seines Lebens zwischen geistlicher      Zensor sogar die Entschärfung einer Reihe       lautet "rien", nichts. Was ihn gefährdet,      kann." Nur Karlsruhe wartete bis 1872.
und künstlerischer Berufung. In Rom          von Versen, die sexuell zu explizit waren.      sind die modernen Zweifel und Fragen,          Dann stand das Werk hier jährlich bis 1939
besuchte er regelmäßig die Gottesdienste     Kritiker werfen Gounod oft Süßlichkeit          die auch Gounod und Lacordaire umtrie-         auf dem Spielplan. Im Ersten und Zweiten
der Sixtinischen Kapelle, wo er von den      vor. Vielleicht sollte man seine Musik eher     ben und vor denen die Zeitgenossen ins         Weltkrieg wurde es boykottiert. Nach dem
Messen Palestrinas schwärmte, und das        unter dem Paradigma einer femininen Sen-        Vergnügen flüchteten. Gounods Oper traf        Krieg gab es 1950/51, 1958/59, 1969/70,
Kloster Santa Sabina, wo er sich von dem     sibilität sehen. Dass er seine ambitionier-     also musikalisch mit ihren tänzerischen,       1979/80 und 2000/01 Neuinszenierungen.
charismatischen Pater Henri Lacordaire       teste Messe für das Fest einer weiblichen       religiösen, witzigen, lyrischen und meta-
unterweisen ließ, dessen Konversion          Heiligen, der Hl. Cäcilia, Schutzpatronin
Sainte-Beuve zu seinem Werther-Roman         der Musik, komponierte, hat einen tiefen
Volupté inspirierte. Der Papst hatte         Sinn. In ihr fallen die drei wichtigsten Din-

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BADISCHER STAATSOPERNCHOR & Extrachor des BADISCHEN STAATSTHEATERS
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UNAUSSPRECHLICHES
                                                                                                handelt. Alle Komponisten waren in der           Wir beschränken uns hier auf die Fassung
                                                                                                Lage, auf eigenen Beinen zu stehen. Sie zei-     letzter Hand, da sie unserer wie allen

WUNDER
                                                                                                gen aber, wie tief sich bestimmte Nummern        anderen Inszenierungen der Welt zu Grunde
                                                                                                im Zuge permanenter Wiederholung ins             liegt. Sie wurde 1869 an der Pariser Oper
                                                                                                kollektive Gedächtnis eingruben. Der Lon-        uraufgeführt. Die 10 Jahre ältere Urfassung
                                                                                                doner Musikkritiker George Bernard Shaw          ist eine vieraktige so genannte Opéra co-
                                                                                                stöhnte Ende des 19. Jahrhunderts, er habe       mique mit geschlossenen Musiknummern,
                                                                                                Gounods Oper innerhalb von zehn Jahren           die durch Melodramen und gesprochene
                                                                                                über 90 Mal am Covent Garden hören müs-          Dialoge verbunden werden. Diese Zwi-
                                                                                                sen. Einzelne Wendungen scheinen sich            schenteile, aber auch die Nummern selbst
                                                                                                angesichts dieser Omnipräsenz auch bei           hat Gounod in den folgenden zehn Jahren
                                                                                                anderen Hörern von ihrem Ursprung gelöst         laufend überarbeitet. Meist gaben äuße-
                                                                                                und frei in ihrer Fantasie flottiert zu haben,   re Anlässe den Anstoß. Wir wissen aber
                                                                                                so dass sich die Urheberfrage gar nicht          auch, dass Gounod seinen Faust eher als
                                                                                                mehr stellte. Nicht weniger als fünf der         durchkomponierte Oper sah. Die Comique-
                                                                                                32 Nummern des Faust wurden Wunsch-              Fassung ist allein der Tatsache geschuldet,
ZUR MUSIK                                                                                       konzerthits: Faustwalzer, Juwelenarie,           dass die Opéra kein Interesse an dem Werk
                                                                                                Valentins Kavatine, Fausts Arie und der          hatte und Gounod sich an die formalen
                                                                                                Soldatenchor, der bis ins 20. Jahrhundert hi-    Konventionen der anderen beiden Pariser
Gounods Genialität besteht darin, dass er in    Ohr. Tschaikowsky, der leidenschaftlichste      nein während der Vorstellungen regelmäßig        Opernhäuser halten musste. Gleich nach
einem Jahrhundert voller Musik an einem         Faust-Fan unter den Komponisten, machte         wiederholt werden musste.                        der Uraufführung arbeitete er die Sprech-
ihrer Hotspots, Paris, seine eigene Stimme      Marguérites sehnsüchiges b-Moll-Motiv                                                            szenen für Aufführungen im Ausland und in
gefunden hat. Gounod klingt immer wie           aus der Fensterszene, Ende 3. Akt, zur          In welchem Kontext aber stand Gounod?            der französischen Provinz in Rezitative um.
Gounod. Wenn man genau hinhört, wimmelt         Grundlage der Pathétique, Eugen Onegins         Sein Faust entstand in der 2. Hälfte der         Später wurden Nummern ausgewechselt,
seine vierte Oper, Faust, sogar von Zitaten     Tatjana zu ihrer jüngeren Schwester und         1850er Jahre. Da hatte sich Rossini seit         vertauscht, ergänzt. Da die Enkelin Gounods
aus Werken, die erst noch komponiert wer-       zapfte den Faustwalzer in den Ballakten         drei Jahrzehnten zur Ruhe gesetzt, Bellini       die Handschriften unter Verschluss hielt,
den mussten. Jacques Offenbach war ein          seiner sämtlichen Ballette an. Puccini greift   war 25, Donizetti 10 Jahre tot. Und doch         kamen Ausmaß und Anlass der Überarbei-
Freund und Verehrer des Komponisten. Als        in La bohème die Flötenmelodie der Fens-        beherrschten sie die Pariser Oper. Ihre          tungen erst nach ihrem Tod ans Licht. Die
er Hoffmanns Erzählungen schrieb, schaute       terszene auf. Auch hier können liebende         kantable Art, für Stimmen zu schreiben, hat      Urfassung konnte erst im Juni 2018 wieder
er wiederholt auf das meist gespielte Werk      Kleinbürger am Fenster einer Mansarde den       Gounod geprägt. Seine aktuellen Zeitge-          in Paris erklingen.
der Pariser Oper und ließ sich von ihm an-      Überschwang ihrer Gefühle nicht fassen.         nossen waren Meyerbeer, der seine letzten
regen, zumal die Librettisten beider Stücke     Richard Strauss‘ Ariadne klagt mit Fausts       Opern schrieb, Verdi, dessen Maskenball          Die Fassung letzter Hand kam zustande,
identisch waren. Zu Beginn der Oper tritt       Soloviolin-Umspielungen aus dem Wunsch-         im selben Jahr wie Faust uraufgeführt            als die Pariser Oper sich das Geschäft
Hoffmann bei Lutter & Wegner sogar mit          konzertschlager „Salut, demeure chaste et       wurde, und Jacques Offenbach, der wenige         und ihre Sänger sich das Werk nach dem
demselben Motiv auf, mit dem sich Me-           pure“ auf Naxos und Kurt Weill komponiert       Monate zuvor mit Orpheus in der Unterwelt        Sensationserfolg im In- und Ausland trotz
phisto zu Beginn des Quartetts bei Marthe       einen von Gounod flüchtig hingeworfenen         seine Weltkarriere begann. Die Neutöner,         allen Gesichtsverlusts nicht mehr länger
Schwerlein (sic!) einführt. Mephistos Wein-     Themenkopf zu Ende. Aus Mephistos Phra-         mit denen sich Gounod auseinanderzuset-          entgehen lassen wollte. Sie besteht aus
wunder kehrt als Hoffmanns Punschwunder         se „La nouvelle, que j’apporte“ zu Beginn       zen hatte, waren Berlioz, der gerade seine       einer Ouvertüre und fünf Akten. Das 20-mi-
im 1. Akt der Offenbachschen Oper wieder        des Dialogs mit Marthe wird der Kano-           Trojaner, Wagner, der Walküre und Tristan        nütige obligatorische Ballett wurde in die
usw. In Wien entsann sich Johann Strauss        nensong der Dreigroschenoper. Auch bei          vollendete, und Franz Liszt, der mit der H-      Walpurgisnacht des 5. Aktes eingeschoben
Sohn 1866/67 Mephistos Liebeszaubers im         Gounod geht es um Soldaten, die unter die       Moll-Sonate die Harmonik aus den Angeln          und in unserer Aufführung größtenteils
3. Akt, als er das Vorspiel zur Schönen blau-   Räder kommen. Es wäre müßig, darüber zu         tonaler Bindungen hob. In diesem Konzert         gestrichen, um den Abend nicht zu lang
en Donau komponierte. Griegs Bergkönig          spekulieren, ob es sich bei diesen Parallelen   hat Gounod seine eigene Stimme.                  zu machen. Trotzdem ist der Anteil an
aus Peer Gynt hatte Mephistos Serenade im       um Zitate, Hommagen, Plagiate oder Zufall                                                        Tanz- und Marschmusik im ganzen Werk

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