FAUST 14+ - Badisches Staatstheater Karlsruhe
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FAUST Oper in fünf Akten von Charles Gounod Libretto von Jules Barbier und Michel Carré nach der gleichnamigen Tragödie Johann Wolfgang Goethes In französischer Sprache mit deutschen & englischen Übertiteln Faust PETER SONN a. G. / NUTTHAPORN THAMMATHI Mephistopheles VAZGEN GAZARYAN / Ks. KONSTANTIN GORNY Margarete Ks. INA SCHLINGENSIEPEN / DIANA TUGUI a. G. Valentin SEUNG-GI JUNG / Ks. ARMIN KOLARCZYK Siebel DILARA BAŞTAR / ALEXANDRA KADURINA Marthe Schwerdtlein LUISE VON GARNIER / ARIANA LUCAS Wagner BARIŞ YAVUZ* / YANG XU Musikalische Leitung DANIELE SQUEO Nachdirigat JOHANNES WILLIG Regie WALTER SUTCLIFFE Bühne KASPAR GLARNER Kostüme DOROTA KAROLCZAK Licht STEFAN WOINKE Chor ULRICH WAGNER Dramaturgie BORIS KEHRMANN Theaterpädagogik ANNA MÜLLER BADISCHE STAATSKAPELLE BADISCHER STAATSOPERNCHOR EXTRACHOR DES BADISCHEN STAATSTHEATERS STATISTERIE DES BADISCHEN STAATSTHEATERS *Opernstudio PREMIERE 19.10.19 GROSSES HAUS 3 Stunden, eine Pause Aufführungsmaterial: Henschel Verlag für Musik, vertreten durch Alkor-Edition Kassel
Regieassistenz DAVID LAERA, STEFANIA GRAZIOLI Abendspielleitung STEFANIA GRAZIOLI Musikalische Assistenz JULIA SIMONYAN, MIHO UCHIDA Studienleitung IRENE-CORDELIA HUBERTI Mitarbeit Choreinstudierung MARIUS ZACHMANN Sprachcoach PASCAL PAUL- HARANG Bühnenbildassistenz ANNE HORNY, CHRIS KOCH Kostümassistenz FRIEDERIKE HILDENBRAND, REBECCA MEURER Soufflage ANGELIKA PFAU Inspizienz GABRIELLA MURARO Leitung Statisterie OLIVER REICHENBACHER Neue deutsche Übersetzung der Übertitel BORIS KEHRMANN Technische Direktion IVICA FULIR Bühneninspektor STEPHAN ULLRICH Bühnenmeister*innen MARGIT WEBER, THOMAS BRAUN Leiter Beleuchtungsabteilung STEFAN WOINKE Beleuch- tungsmeister CHRISTOPH HÄCKER, RICO GERSTNER Leiter Ton- und Videotechnik STEFAN RAEBEL Leitung Video GUNTER EßIG Ton und Video GUNTER EßIG, JAN PALLMER, HUBERT BUBSER Leiter der Requisite TILO STEFFENS Technische Produktionsleitung MAIK FRÖHLICH Werkstättenleiter JAKOB KERSCHER Konstrukteur EDUARD MOSER Malsaalvorstand GIUSEPPE VIVA Leiter der Theaterplastiker*innen WLADIMIR REISWICH Leiter der Schreinerei ROUVEN BITSCH Leiter der Schlosserei MARIO WEIMAR Polster und Dekoabteilung UTE WIENBERG Kostümdirektorin CHRISTINE HALLER Gewandmeister*innen Herren PETRA ANNETTE SCHREIBER, ROBERT HARTER Gewandmeisterinnen Damen TATJANA GRAF, KARIN WÖR- NER, HELENA WACHAUF Schuhmacherei THOMAS MAHLER, NICOLE EYSSELE, JUSTINE MARCHAND Modisterei DIANA FERRARA, JEANETTE HARDY Kostümbearbeitung ANDREA MEINKÖHN Pyrotechnik & Waffenmeister MICHAEL PAOLONE, HARALD HEUSIN- GER Chefmaskenbildnerin CAROLINE STEINHAGE Maske SABINE BOTT, SINE BURKHARD, KARIN GRÜN, FREIA KAUFMANN, NIKLAS KLAIBER, MARION KLEINBUB, JUTTA KRANTZ, PAULA KROPP, MELANIE LANGENSTEIN, SONJA MECKLENBROICH, INKEN NAGEL, LAURA WEYGAND, Wir danken Der Privatbrauerei Hoepfner GmbH für die Unterstützung der Premierenfeier. Wir machen darauf aufmerksam, dass Ton- und/oder Bildaufnahmen unserer Aufführungen durch jede Art elektronischer Geräte strikt untersagt sind. DIESES KREUZ SCHÜTZT UNS VOR DER HÖLLE! 2 Thomas Schumacher, Ks. Konstantin Sonja Viegener Gorny, Nutthaporn Thammathi 3
GRETCHEN- PASSION ZUM INHALT Mephisto ist arbeitslos auf der Welt. Gott Zauber. Alle merken, dass es nicht mit rech- zeigt ihm einen Menschen, der noch kein ten Dingen zugeht. Gretchen geht vorbei. Teufel ist. Mephisto darf ihn verführen. Faust blitzt bei ihr ab. 1. Akt 3. Akt Im Theater. Professor Faust will sich das Garten. Siebel bringt Gretchen Blumen. Sein Leben nehmen. Er verflucht Glaube, Liebe, Professor sticht ihn mit wertvolleren Ge- Hoffnung und ruft Satan zur Hilfe. Der ver- schenken aus. Mephisto lenkt die Nachbarin spricht ihm das Blaue vom Himmel: Jugend, ab. Faust und Margarete kommen sich näher unendlichen Spaß, Gretchen. Sie schließen und verbringen eine Nacht. einen Vertrag und brechen auf. 4. Akt 2. Akt Gretchen hat ein Kind bekommen. Faust lässt Kirmes. Soldaten ziehen in den Krieg. sie sitzen. Die Gesellschaft prangert sie an. Mädchen und Frauen werden von ihrer Faust will reuig zu Gretchen zurückkehren. Virilität angezogen. Valentin sorgt sich, wer Er stößt auf Valentin, der aus dem Krieg in seiner Abwesenheit auf seine Schwester kommt, und tötet ihn. Sterbend verflucht Margarete aufpasst. Fausts Student Siebel Valentin seine Schwester. wittert seine Chance. Er bietet sich an, um die Angebetete zu umwerben. 5. Akt Mephisto platzt mit Faust in die Feierlaune. Um Faust auf andere Gedanken zu bringen, Er gibt das Rondo vom Goldenen Kalb zum führt Mephisto ihn zur Walpurgisnacht in die besten, sagt Wagner den Heldentod und Oper. Während der Vorstellung tritt das ge- Valentin den auf der Straße voraus. Valentin fallene Gretchen ein. Faust will sie befreien. reagiert aggressiv. Mephisto kontert mit Sie glaubt ihm nicht mehr und bringt sich um. 4 Ks. Ina Schlingensiepen, Nutthaporn Thammathi 5
IT'S A MAN'S Alles, was der Herrenchor im 2. Akt singt, der Popkultur für das Publikum lesbar. Die dreht sich um Mädchen, und alles, was der jungen Mädchen sind bei uns Lolitas und Damenchor singt, dreht sich um Männer: Stepford Wives nach dem mehrfach ver- ob sie einen kriegen oder nicht, ob sie einen filmten Roman von Ira Levin. Dort haben haben oder nicht. Die Frauen definieren sich die Männer einer amerikanischen Klein- WORLD ausschließlich über Männer. Goethe/Gounod stadt ihren Frauen Mikrochips ins Gehirn halten uns in kritischer Absicht den kaba- eingesetzt, sodass sie genau das tun, was rettistischen Spiegel einer Gesellschaft vor, die Männer wollen. Es ist eine böse Satire die von Männern dominiert wird und allein auf Männerfantasien und -instinkte. Die dazu da ist, die sexuellen Bedürfnisse von Altistinnen sind bei uns die Gold Diggers Männern zu befriedigen. Das ist natürlich oder Desperate Housewives, also reifere eine Männerfantasie, in der Frauen nur als Damen, die die letzte Chance für eine gute grotesk überzeichnete Zerrbilder und Objek- Partie nutzen müssen. Ebenso sind auch te aufreten. Wenn eine Frau wie Margarete die Männer Klischees. ausschert, wird sie gedemütigt, erniedrigt, verurteilt und verstoßen. Das sind die nicht Wenn sich das grelle Gesellschaftskarus- ZUR INSZENIERUNG mehr ganz so lustigen Konsequenzen des 2. Akts. Seine sexuellen Scherze erinnern sell einmal gedreht hat, wird die Achse sichtbar, um die diese Bubble-Gum-Welt mich an Shakespeares Komödien, wo sie tanzt. Der 3. Akt setzt den „schönen auch nicht nur lustig sind. Wie dort erzeugen Schein“ mit Gretchens Garten fort. Er Von Walter Sutcliffe den Mechanismus der Gesellschaft bloßlegt. sie jene Fallhöhe in die Tragödie, die jedes hat mit seinen Möbeln und Büschen die Viele Stücke und Texte der Aufklärung gehen gute Stück kraftvoll und lebenswahr macht. gleiche illusionäre Qualität und erzählt Ich habe Gounods Faust oft gesehen. Es ist so vor: die Komödien von Marivaux, Mozarts Insofern bietet unsere Oper fantastisches die Geschichte eines naiven Kindes, das ein Stück voll kraftvoller Musik und dra- Così fan tutte, Goethes Wahlverwandt- Material. Was geschieht Margarete in die- durch einen älteren Mann verführt wird. matischer Konflikte. In den Aufführungen schaften usw. Die Einsicht in seine Form hilft sem Stück? Sie wird von Gott, der bei Goethe Im 4. Akt ist der Himmel verschwunden. wird aber oft nicht deutlich, was Mephisto uns, Faust zu verstehen. persönlich auftritt, dieser Situation ausgelie- Man sieht den Mechanismus hinter der überhaupt will und worum es eigentlich geht. fert. Ich möchte zeigen, was das heißt. Fassade. Der Turm entpuppt sich als Der so genannte „Prolog im Himmel“ handelt Gerichtssaal. Die Männer sitzen an den Faust wird oft als philosophisches Stück von der Beziehung zwischen Mephisto und Darum fügen wir zur Ouvertüre Goethes Schalthebeln dieser Welt: außen honori- über einen Menschen gezeigt, der Doktor Gott. Wenn jemand in diesem Stück in einer „Prolog im Himmel“ wieder ein, den Gounod ger Geschäftsmann, innen gewaltbereiter ist und in einer „Midlife crisis“ steckt. Als Midlife crisis steckt, dann Mephisto. Die im Epilog der Oper voraussetzt. Gott und Soldat. ich Goethe wieder las, öffneten mir die Menschheit ist nämlich so teuflisch gewor- Mephisto sitzen auf ihrer Wolke, Faust – beiden Prologe die Augen. Sie sind die Basis den, dass er nicht mehr gebraucht wird. Die siehe Goethes „Vorspiel auf dem Theater“ Der 5. Akt schlägt den Bogen mit der Wal- für meine Interpretation. Das so genannte Menschen machen sich das Leben selbst zur – als Zuschauer im Zuschauerrum. Gott purgisnacht zurück zur Theatermetapher. „Vorspiel auf dem Theater“ ist ein Streit Hölle. Seine Nutzlosigkeit stürzt ihn in eine und Mephisto suchen ihn in der Welt. Dann Wir hatten im Zuschauerraum angefangen zwischen Regisseur, Darsteller und Schrift- Sinnkrise. Gott muntert ihn auf: Da gibt es wird er auf die Bühne gelockt, wo zunächst und enden dort. Die Bühne spiegelt den steller, die unterschiedliche Ansichten über einen, der ist noch nicht wie die Anderen. Sie die „heile Welt“ als Artefakt in den Bubble- Zuschauerraum, der sich beim Zuschauen das Theater äußern. Das ist der Rahmen des schließen eine Wette ab, ob Mephisto Faust Gum-Farben der Werbung und Popkultur selbst zuschaut. Im 2. und 3. Akt haben wir Stücks. Es ist autoreferentiell in dem Sinne, auf den Weg der Anderen führen kann. erscheint. Wir folgen der Partitur, die den die Illusion gezeigt, im 4. den Mechanis- dass es nicht aus dem Leben gegriffene Chor nach Stimmgruppen in Sozialtypen un- mus dahinter. Im 5. zeigen wir, was jetzt Geschichten erzählt wie das realistische Diese Wette hat mir das Stück erschlossen. terteilt: ältere Studenten, Soldaten, Bürger, gerade passiert: Ein Publikum hat dafür Theater des 19. Jahrhunderts, sondern Sie zeigt, dass es nicht um Faust, sondern junge Mädchen, junge Studenten und „Ma- bezahlt, eine schöne Oper zu sehen, die die ein Gesellschaftsmodell konstruiert. Die um die Gesellschaft geht. Fausts Geschich- tronen”, die keine Männer haben. Gounods nicht ganz so schöne Geschichte erzählt, Handlung ist ein artifizielles Konstrukt, das te ist die Geschichte der Gesellschaft. Stilsierungen machen wir durch solche aus wie eine Frau zerstört wird. 6 7
GEWALTGEGEN Schweiz am 7. Februar 1971 anzuschauen. laut Partitur die ewigen Bummelstudenten, Aktuell zeugt die Uneinigkeit über das so Bässe 1, auf. Sie saufen. Militärtrompeten genannte „Gendern“ der Sprache von der kündigen Soldaten, Bässe 2, an. Sie singen Schwierigkeit, einen Konsens darüber zu wörtlich mit Goethe, dass Mädels und Fes- FRAUEN finden, wie Artikel 3 des Grundgesetzes, tungen das Gleiche seien. Beide muss man „Frauen und Männer sind gleichberechtigt“, belagern, einnehmen und dann „Lösegeld“ umzusetzen ist. Sprache verrät Gedanken. erpressen. Als dritte Gruppe erscheinen Sie hat im 19. Jahrhundert den Begriff „Ka- die Spießbürger, Tenöre 1, die mit Goethe valiersdelikt“ für Bagatelldelikt geprägt. Wie gestehen, dass sie nicht mehr kämpfen, als weit darf ein Kavalier verbal und körperlich Voyeure aber gerne bei einem Glas Wein gehen, bis er die Grenze zum Flegel bzw. dabei zusähen, statt zu helfen. Die 4. Gruppe Straftäter überschreitet. Ist ein Mann, der sind die „Jungen Mädchen“, Sopran 1, die einer vorübergehenden Frau hinterherpfeift, den „starken Burschen“ vom Bataillon „He, Süße“ nachruft oder auf den Hintern hinterherpfeifen: „Lasst uns nicht zu streng klappst noch ein Kavalier? Bezeichnen- sein, sondern langsamer gehen.“ Die „jungen derweise gibt es keinen analogen Begriff Studenten“, Tenöre 2, sehen die „ gierigen für Frauen. Karl Kraus hat sich um 1900 Blicke“ der jungen Mädchen. Da schießt der Gedanken darüber gemacht. Ein „homme à Testosteronspiegel in die Höhe. Die „Ma- femmes“, schreibt er, also ein Mann, der „Er- tronen“, Sopran 2, sehen wiederrum, dass folg“ bei Frauen hat, ist ein toller Hecht. Eine die „messieurs“ „diesen dummen Gänsen“ „femme à hommes“ aber ist ein Flittchen. hinterherlaufen und keifen: „Wir sind min- Die Bibel war das meist gelesene Buch des schrieben. Was alles in sich fasst, lässt sich Sprachlich Neutrum, also eine Sache. Wer destens genauso gut, wenn nicht besser“. Abendlands. Im 1. Korintherbrief definiert begrifflich nicht fassen. Materie bedarf des ein Flittchen beschädigt, betreibt gramma- Diese Gesellschaft ist von Sex besessen und Paulus die Rolle der Frau. „Der Mann wurde trennenden Logos, um ihre Bedrohlichkeit zu tikalisch gesehen demnach bloß Sachbe- denkt ihn in den Kategorien Eroberung und nicht für die Frau geschaffen, sondern die verlieren. schädigung. Der ostpreußische Arzt und Besitz. Mit keinem Wort, Ton oder Gedanken Frau für den Mann“, heißt es im 11. Kapitel. Schriftsteller Friedrich Reck-Malleczewen wird „l’amour“ erwähnt. Das ist natürlich Und im 14.:„Die Frauen sollen in der Ver- In allen Kulturen gibt es starke Denkströ- teilte 1937 auf dem Berliner Kurfürstendamm ein Witz. Aber das Körnchen Wahrheit in sammlung schweigen. Wenn sie etwas mungen, die der Frau den zweiten Platz in Passantinnen ironisch in „Klack-Klacks“ und ihm geht in der Dom- und Valentinszene auf, wissen wollen, dann sollen sie zu Hause ihre der Hierarchie der Geschlechter zuweisen. „Latsch-Latschs“ ein: Stöckelschuh, also se- wenn dieselbe Gesellschaft Gretchen als Männer fragen.“ Nicht alle dachten so, aber Sie wird – historisch und länderübergreifend xuell attraktiv, versus Gesundheitslatschen. Hure beschimpft, erniedrigt und ausstößt, solches Denken hat zu sozialen Realitäten betrachtet – in vielen Gesetzbüchern als bloß weil sie vorehelichen Sex hatte, etwas, geführt. Päpste, Könige, Priester, Führungs- Besitz des Mannes definiert. Gewalt gegen Walter Sutcliffe, der Regisseur unserer wonach der erste Chor auf amüsant-frivole kräfte aller Art sind in der Regel Männer. Frauen gilt dann als Sachbeschädigung. Ge- Inszenierung, versteht Gounods Oper als Weise selbst scharf war. Während Gretchen Das ist keine christliche Spezialität. Im alten genwärtig wird weltweit über Gewalt gegen Auseinandersetzung mit und Kritik an einem im Schmutz des Kerkers für die Liebesnacht Ägypten ließ sich die Pharaonin Hatschepsut Tiere diskutiert. Wo ist sie legitim? Ist das solchen grauenhaften Frauenbild. Der büßt, lenkt sich Faust laut Partitur in einem als Mann darstellen, in nichtchristlichen Re- Tier eine „Sache”? Die Schwierigkeiten, die Eingangschor des 2. Aktes ist teils wörtliche, „großzügigen Palast, der vor Stuckgold ligionen führen Zeus, Odin, Vishnu usw. den wir damit haben, lässt uns nachempfinden, teils sinngemäße Übersetzung des Goethe- glänzt“ unter „Königinnen und Kurtisanen Götterhimmel an. Der Mann stellt mit seinem über welche Schatten vergangene Gene- schen Osterspaziergangs. Die Gesellschaft der Antike“ ab. Am Schluss der Oper bricht Samenfluss und extrovertierten Genital das rationen in der Diskussion über eine Verän- wird nicht realistisch geschildert, sondern Gretchen laut Regieanweisung „reglos zeugende Prinzip dar, die Frau mit ihrem intro- derung der Denkgewohnheiten hinsichtlich in Form eines Modells in soziale Archetypen zusammen. Die Mauern des Gefängnisses vertierten das empfangende, austragende, des juristischen Status‘ der Frau springen unterteilt, die musikalisch und verbal so öffnen sich. Margaretes Seele fährt zum gebärende. Deswegen stehen am Ursprung mussten. Man braucht sich nur die Plakate überzeichnet und stilisiert sind, dass sie wie Himmel auf.“ Das bezieht sich auf Goethes vieler Schöpfungsmythen Muttergottheiten. zur eidgenössischen Abstimmung über die Witzfiguren wirken. Wenn man deutlich sein Faust II-Schluss, wo nicht nur alle mögli- Sie werden jedoch meist als chaotisch be- Einführung des Frauenstimmrechts in der will, muss man übertreiben. Zunächst treten chen gefallenen Frauen, einschließlich der 10 11
biblischen Huren und Ehebrecherinnen in der vorgibt: satirisch, analytisch und tragisch. gen Frauen und Mädchen ist ein Problem der Bewegungsfreiheit, Verweigerung Wüste auftreten, sondern auch der „Doctor Es geht bei uns im 2. Akt also nicht um reale von pandemischen Ausmaßen. Mindestens von medizinischer Hilfe, Stalking, sexuelle Marianus“, der wissenschaftliche Experte Frauen, sondern um Frauen, wie bestimmte eine von drei Frauen auf der Welt wurde in Belästigung, Menschenhandel, Zwangs- für Marien-Theologie. Diesen Titel sprach Typen von Männern sie sehen, wie bestimm- ihrem Leben geschlagen, sexuell genötigt prostitution, Gewalt gegen Witwen, man im Mittelalter einer ganzen Reihe von te Filme, Sitcoms, Werbekampagnen, digitale oder in anderer Weise missbraucht. Die Hexenverfolgung, Kriegsvergewaltigung, Heiligen wie Antonius von Padua, Franz von Plattformen, Sprichworte, Redewendungen, Täter stammen meist aus dem Bekannten- Zwangssterilisierung, Zwangsabtreibung, Assisi, Bernhard von Clairvaux und anderen Lieder, Shows usw. sie darstellen und wie kreis.“ Die Vereinten Nationen haben da- Polizeigewalt, Ausnutzung von Autoritäts- zu. „Blicket auf zum Retterblick, / alle reuig sie vor allem die Oper im 2. Akt in kritischer rum einen Hilfsfonds aufgelegt und einen verhältnissen, Steinigung, Auspeitschung, Zarten“, redet der Doktor die „Büsserinnen“ Absicht satirisch überzogen, im 4. und 5. Katalog von 24 pandemisch grassierenden Genitalverstümmelung, Verhinderung des an: „Werde jeder bessre Sinn / Dir zum Akt tragisch zeigt. Dass solche Frauenbilder Formen der Gewalt gegen Frauen auf der Brustwachstums, Gewalt im Kindbett, Dienst erbötig: / Jungfrau, Mutter, Königin, / auch heute noch Konsequenzen haben, ganzen Welt erstellt. Er umfasst folgende Gewalt gegen indigene, migrantische, Göttin bleibe gnädig!“ Das ist Goethes Fazit belegen die Statistiken des Bundeskrimi- Rubriken: Vergewaltigung, Vergewaltigung Flüchtlings- und Transfrauen, Gewalt im aus 12.000 Versen, in denen Faust durch die nalamtes und des Bundesministeriums in der Ehe, häusliche Gewalt, Entstellung sportlichen Kontext und Cyberbullying. Für ganze Welt gezogen ist und sich in jeder nur für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. durch Säure, Zwang zur Fortpflanzung, Walter Sutcliffe ist die gesellschaftliche erdenklichen Art als mehrfacher Mörder, Aktenmäßig erfasst werden dort Delikte Mob-Gewalt, Einschüchterung beim Tragödie, die die Oper darstellt, vor diesem Kolonialherr und was noch alles schuldig gegen Frauen in den Kategorien Mord, Tot- Dating, Gewalt im universitären Bereich Hintergrund ein aktuelles Thema. gemacht hat. Dieses Fazit zeigt Walter Sut- schlag, Körperverletzung, sexuelle Nötigung, und Ausbildungssektor, Einschränkung cliffes Inszenierung. Goethes „Göttin“ tritt Stalking, Zuhälterei, Zwangsprostitution an die Stelle des „Herrn“, der dem Verbre- und Menschenhandel. Die Auswertung der cherpaar Faust und Mephisto in Vers 293ff. Akten differenziert das Spektrum von Gewalt carte blanche für ihr Treiben erteilt hat. Dann gegen Frauen von subtilen Formen wie De- „schließt“ sich laut Goethes Regieanwei- mütigung, Beleidigung und Einschüchterung sung „der Himmel“ und „der Herr“ ist für sei- über psychische, physische und sexuelle ne Opfer ab Vers 349 nicht mehr zu sprechen, Misshandlungen bis hin zu Vergewaltigung, bis wir in Vers 12.104 plötzlich erfahren, dass Totschlag und Mord. Ein Drittel der krimi- eine „Göttin“ an seine Stelle getreten ist. nalistisch erfassten Delikte gegen Frauen ICH WILL Die beiden Schlussverse aus Faust II, „Das geschehen in Partnerschaften und Familien. Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan“, werden In 49 % dieser Fälle leben Täter und Opfer zwar oft zitiert, aber selten verstanden, zusammen. 82 % der Partnerschaftsdelikte geschweige denn ernst genommen. insgesamt richten sich gegen Frauen, 12 % gegen Männer. 11.400 Frauen wurden Der Anlass für den Teufelspakt „des Herrn“ dabei 2015 Opfer von gefährlicher Körper- FUR DICH ist lächerlich: gekränkte Eitelkeit und Rufs- verletzung, 331 vom Partner oder Ehemann chädigung. „Kommst Du nur immer anzu- ermordet. Das sind statistische Zahlen. Die klagen?“, beschwert sich „Der Herr“ beim Dunkelziffer der nicht angezeigten Fälle ist Teufel. Er kann keine Kritik vertragen und aus Scham vor dem Stigma einer nicht funk- erlaubt ihm deshalb in einer frivolen Wette, tionierenden Beziehung gewaltig. alles zu tun, was er will, nur um ihn davon STERBEN zu überzeugen, dass seine Schöpfung doch Weil dies auf der ganzen Welt so ist, hat die nicht missraten ist, wie Mephisto überall Generalversammlung der Vereinten Natio- herumposaunt. Diese hoch problematische nen 1993 eine Erklärung zur Beseitigung von Schöpfung aber zeigen Goethe, Gounod und Gewalt gegen Frauen verabschiedet. Kofi unsere Inszenierung in allen Registern, die Annan, der einstige Generalsekretär der Ver- sowohl das Schauspiel als auch die Oper einten Nationen, erklärte 2006: „Gewalt ge- 12 13
MARGUÉRITE – Landes war die Tochter des Finanzmi- Calderon-Übersetzers August Wilhelm nisters Ludwigs XVI. in jeder Beziehung Schlegel, der in ihrem Haushalt lebte und unabhängig. Napoleon verbannte sie, weil dessen Privatgelehrtenexistenz sie einige sie seine Diktatur bekämpfte. Sie machte Jahre finanzierte. In Über Deutschland DAS BIN ICH den von Tacitus erfundenen „deutschen übersetzte sie 1810 neben Gedichten Goe- Wald“ zum Nationalsymbol der Deutschen. thes lange Auszüge aus seinen Dramen. „Von den Alpen bis zum Meer, zwischen Hier konnten die Franzosen erstmals Teile Rhein und Donau finden Sie ein Land,„hebt aus Faust I samt Anmerkungen zur Stoffge- ihr Buch bildmächtig an,”das ganz von schichte und Interpretation lesen, die auf Eichen und Tannen bedeckt ist“. In deren Schlegels enzyklopädischem Wissen und „douce obscurité“ wüchsen die dunklen, de Staëls Interviews mit Goethe fußten. ZUM STÜCK schwer- bis unverständlichen Gedan- ken, Spukgeschichten und tiefen Seelen 1818 erschien die erste Gesamtüberset- zung des Schweizers Albert Stapfer, die deutscher Dichter und Denker, die allesamt Eugène Delacroix 1825 in London illustrier- Sonderlinge, Spökenkieker, wunderliche te. 1827 folgten zwei weitere Übersetzun- Goethe in Frankreich druck zu 20 Centimes und 1855 sogar als Käuze seien, wie Pilze aus dem Boden. gen, darunter die klassische des 18-jähri- Eisenbahnklassiker am Bahnhofskiosk zu Da Deutschland, zu dem sie alle deutsch- gen Gérard de Nerval, über die sich Goethe „Während die Deutschen Paris bombar- kaufen. Marie Antoinette hatte ihn in ihrer sprachigen Länder zählt, mit seinen vielen positiv äußerte und aus der Berlioz umge- dierten, las ich Goethe“, schrieb Jules Bibliothek, Napoleon las ihn auf seinem Miniaturkönigreichen und -fürstentümern hend acht Lieder und Szenen vertonte und Barbey d’Aurevilly 1872 kurz nach dem Ägypten-Feldzug, Autoren wie Senancour, im Gegensatz zu Frankreich keine Haupt- nach Weimar schickte. 1840 schob Nerval Deutsch-Französischen Krieg. „Die Librai- Chateaubriand, Constant, Musset, Nerval, stadt, also tonangebende Gesellschaft Faust II nach. Seit Ende der 1820er Jahr rie Hachette hatte mir vor der Belagerung Sainte-Beuve und viele andere schrieben besitze, lebten die Deutschen wie Bären wurde Faust I laufend mehr oder weniger eine Übersetzung seiner Sämtlichen Wer- Romane im Werther-Stil. 1784 kam Götz „in den Wäldern“, d.h. in Dörfern, Klein- frei für die französische Bühne bearbeitet. ke geschickt, damit ich sie in einer Zeitung von Berlichingen auf Französisch heraus. und Universitätsstädten oder mittleren Theaterpraktiker glaubten, man müsse ihn bespräche. Er bombardierte mich mit Lan- Das Ritterschauspiel löste laut Madame Residenzen wie Wien, Berlin, Dresden und dem französischen Geschmack anpassen, geweile. Von allen deutschen Geschossen, de Staël gemeinsam mit Schillers Räubern, tüftelten eigenbrötlerisch philosophische also bestimmte Motive streichen, andere die über meinem Stadtteil niedergingen, die aus Zensurgründen ins 16. Jahrhundert Systeme aus, vertieften sich in gelehrte wie die Liebesgeschichte und Gretchens waren die Sämtlichen Werke für mich das der anarchistischen Ritterfehden verlegt Studien oder sinnierten über ihr Gefühlsle- Lieder stärker in den Vordergrund rücken, schwerste. Die Langeweile, die Goethe worden waren, in ganz Europa die Mode ben. Das Neue, Fantastische, Empfindsa- damit sich das Pariser Publikum nicht bei verbreitet, ist ebenso groß wie sein Ruhm, Historischer Dramen aus. Victor Hugo, auf me sei ihre Spezialität. Von ihnen sollten den philosophischen Monologen langweil- und sein Ruhm ist der größte unter allen dessen Stücken die Opern Donizettis und die Franzosen, die seit Jahrhunderten die te oder Anstoß an Dingen nahm, die es ku- modernen Schriftstellern.“ Verdis basieren, orientierte sich an ihm. immer gleichen antiken Mythen wieder- rios, infantil, ungeschickt oder geschmack- 1818 erschien Faust I auf Französisch. käuten und an den immer gleichen Versfü- los fand. Die zweite dieser Bearbeitungen Die Polemik, die der französische Ro- ßen feilten, lernen. kam 1829 heraus und trug den Titel Faust mancier, Literaturkritiker, Dandy auf „Die Schriftsteller Frankreichs germa- oder Die erste Liebe eines romantischen Deutschlands Stolz abfeuerte, war nicht nisierten sich“, schimpfte Barbey 1872. Die Deutschen, selbst Heinrich Heine, Metaphysikers. Damit ist gesagt, was das nur Revanche. Vor allem aber zeigt sie uns, „Sie pilgerten nach Deutschland, um waren entsetzt über das einseitige Bild, Publikum an Faust interessierte: Spuk – wie bekannt Goethe in Frankreich war. sich zu vervollkommnen, wie die griechi- das de Staël im Ausland von ihnen verbrei- "le fantastique" – und Liebe. Ein Jahr Am meisten gelesen wurden Werther, schen Philosophen nach Ägypten.“ Daran tete. Sie machten – mit Ausnahme Goethes später komponierte Louise Bertin die Götz von Berlichingen und Faust. Werther war Germaine de Staël schuld, deren – das Buch schlecht, wo sie nur konnten. erste französische Faust-Oper, allerdings erschien 1776/77 in drei Übersetzungen, 800-Seiten-Buch Über Deutschland ab Die Verfasserin kenne Land und Leute nur in italienischer Sprache. Sie wurde 1831 erlebte zwischen 1790 und 1797 zehn 1814 zum europäischen Bestseller wurde, oberflächlich. So oberflächlich ist ihr Buch mit Maria Malibran in Paris uraufgeführt Auflagen in Frankreich, war seit 1827 in weil Napoleon es 1810 hatte einstampfen aber gar nicht. Zudem stützte sie sich auf und überlebte die dritte Vorstellung nicht. billigen Volksausgaben, 1848 als Zeitungs- lassen. Als eine der reichsten Frauen des die Kenntnisse des Shakespeare- und Die Komponistin widmet sie Giacomo 14 15
Meyerbeer, dessen Robert der Teufel Meisters Lehrjahre, 1830 die Gedichte, der von Goethes Mephisto ausgelösten 1842 Maximen und Reflexionen, 1860 die Teufelsmode seine Entstehung verdankt. erste Gesamtausgabe und 1862/63 gleich Goethe hätte es gern gesehen, wenn Mey- zwei Übersetzungen der Eckermann-Ge- erbeer Faust vertont hätte. Adolphe Adam spräche. Sainte-Beuve, der tonangebende brachte 1833 in London ein Grand-Ballet Kritiker des 19. Jahrhundersts, empfahl in 3 Akten Faust heraus. Heinrich Heine, seinen Landsleuten gebetsmühlenartig, seit 1831 in Paris lebend, schrieb 1846 sich ein Beispiel an Goethes Lebensphi- für London ein Ballett-Libretto, in dem er losophie zu nehmen. 1826 schickte der Mephisto zu einer Mephistophela machte. Herausgeber des Globe Goethe den ersten Da sich Intendant und Choreograf darü- Jahrgang seiner Zeitung mit dem Kom- ber zerstritten, kam es so wenig auf die pliment: „Sie werden in Frankreich wie Bühne, wie Henri Cohens im selben Jahr in Deutschland geliebt“. 1864 schrieb der veröffentlichte Pariser Faust-Oper. Dafür Sozialist Pierre Leroux: „Goethe gehört zu erlebte 1846 Berlioz' Fausts Verdammnis Frankreich, wie er zu Deutschland gehört“. ihre missglückte Uraufführung. Berlioz ver- 1847 brachte Eugène Scribe den Weimarer wob wie seine Vorgänger und später auch Hof, den Götz-Dichter, seine fiktive große Gounod erfundene Szenen mit Original- Liebe Marguérite und seinen erfundenen Goetheversen. In die lange Reihe franzö- Großvater, der ihm das Puppenspiel vom sischer Faust-Bearbeitungen reihte sich Dr. Faust vorgespielt haben soll, in seiner 1850 schließlich Michel Carrés „Drame Intrigenoperette Maître Jean auf die fantastique“ Faust et Marguérite ein, an Bühne. Auch wer Goethe nicht las, wusste der sich Gounod orientierte, um Goethes also, wer er war. 12.000 Verse in eine akzeptable Opern- abendlänge zu zwingen. Goethe, der über Gounod und Goethe Zeitungsartikel und Zusendungen die Be- geisterung der französischen Romantiker Gounod las Goethes Faust mit 20 Jahren. für sein Stück verfolgte und kommentierte, Ein Jahr später gewann er den Rom-Preis. verstand sehr wohl, dass sie in seinem Das war ein zweijähriges Reisestipendium, Namen, im Namen des ”Fantastischen„ mit dem der französische Staat zunächst 1. einen Kampf gegen den verknöcherten in Gestalt des Königs, später vertreten Klassizismus und das sterile Schönheits- durch seine Kunstakademien, seit 1663 ideal der Kunstlehranstalten führten und die Entwicklung der nationalen Künste 2. einen Kampf gegen deren Kunden, die förderte, indem er es jungen Künstlern Spießbürger, deren trocken-rationalisti- aller Disziplinen ermöglichte, sich im scher Geschmack die ästhetische Kehrsei- Mutterland der klassischen Kunst, Italien, te ihres materialistischen Handelns nach zu bilden. Die Stipendiaten wohnten im dem Prinzip des ”enrichissez vous„ war. Institut de France à Rome, das seit 1803 Die Romantiker konnten nicht nur Werther, in der Villa Medici auf dem Monte Pincio Götz und Faust auf Französisch lesen. 1810 untergebracht war. Als Gounod Ende 1839 erschienen auch die Wahlverwandtschaf- sein Zimmer bezog, war der klassizistische ten, 1821–1825 die Dramatischen Werke Maler Ingres Rektor des Instituts. In Rom in vier Bänden, 1823 eine Auswahl aus und auf einer gemeinsamen Reise nach Dichtung und Wahrheit, 1829 Wilhelm Neapel freundete sich der junge Kompo- 16 Seung-Gi Jung, BADISCHER STAATSOPERNCHOR & Extrachor 17
nist schwärmerisch mit Mendelssohns um sie zu entjungfern und Flöte und Oboe Frankfurter Verleger Johann Spies brachte verteidigte. Die letzte beschäftigt sich mit Schwester Fanny Hensel an, die ihn mit spielen dabei sein Motiv aus dem 1. Akt, 1587 all die fantastischen Erzählungen, die der Frage, ob die Todesstrafe für Kinds- Bach, Beethoven und der Musik ihres "Ich will Spaß, ich will Mädchen, ich will über solche Populärwissenschaftler und mörderinnen juristisch vertretbar sei. Bruders bekannt machte. Natürlich wurde Orgien". Dann ist er aber doch angerührt Hobbydoktoren umliefen, in eine fiktive Goethe ließ sich Abschriften der Brandt- auch über Goethe diskutiert. Fanny hatte von der Reinheit des Ortes und besingt ihn Lebensbeschreibung des Doktors Johann schen Prozessakten anfertigen und bei Goethes Freund Zelter Komposition in seiner berühmten Cavatine "Salut, de- Faust, die zahllose Male nachgedruckt, schrieb auf dieser Grundlage als erste studiert, Felix den Dichterfürsten sogar meure chaste et pure". Als er das wahnsin- nacherzählt, ausgeschmückt, fortgesetzt Szene des Urfaust die Kerkerszene. All persönlich gesprochen. „Auf allen meinen nige Gretchen zwei Akte später im Dreck und übersetzt wurde. So kam sie nach das wusste man zu Gounods Zeiten nicht, Wanderungen hatte ich meinen Goethe des Kerkers findet, zitieren die Flöten sein England, von dort mit Schau- und Pup- da Goethes Dissertation vernichtet und immer dabei“, erinnerte sich Gounod Motiv vom keuschen, reinen Ort. Faust penspielern wieder nach Deutschland der Urfaust erst 1887 entdeckt wurde. Die später: „Ich träumte von Gretchen und wird bewusst, was er zerstört hat. Es hat und erlebte kraft der Faszination des Kritik an Gounod, dass er aus der Gelehr- identifizierte mich mit ihr. Ihr Bild, ihre also einen tiefen Sinn, wenn man die Oper Teufelsglaubens weite Verbreitung. Die tentragödie eine Liebestragödie gemacht Worte trafen mich in meinem tiefsten seit ihrer Dresdner Erstaufführung 1861 Gretchentragödie fügte erst Goethe ein. habe, ist damit aber gegenstandslos. Herzen. Als ich Rom verlassen musste, im deutschen Sprachraum mit Gounods Sie war, wie wir am Urfaust, der ersten Gounod spürte intuitiv, was der Kern des war es mein größter Wunsch, ihr Vaterland Billigung unter dem Titel Margarethe auf- Beschäftigung des 23-jährigen Frankfurter Stücks war. kennen zu lernen. So kam es, dass ich ein führte. Marguérite ist die Hauptfigur. Der Rechtsanwalts mit dem Stoff sehen, für weiteres Jahr mit ihr in Wien, Prag, Leipzig französische Originaltitel Faust hatte nur ihn die Hauptsache. Diese erste Fassung Mme de Staël hat in ihrem Buch vor allem und Berlin lebte.“ Gounod reiste also ein den Zweck, das nichtdeutsche Publikum ist im ersten Drittel eine Gelehrtensatire, anlässlich Wallensteins, aber auch Jahr lang über Österreich, Böhmen und darauf hinzuweisen, dass es sich um eine in der er mit seinen Leipziger und Straß- Egmonts und Wilhelm Tells auf den geni- Deutschland nach Paris zurück, sah die Oper nach Goethe handelte. burger Professoren abrechnet. Die beiden alen dramaturgischen Trick hingewiesen, Schauplätze deutscher Sagen mit eigenen anderen Drittel sind der Gretchentragödie dass in diesen Stücken lange Zeit alle Augen und wurde von Mendelssohn in Dafür, dass er die Liebestragödie ins Zen- gewidmet. Dafür gab es zwei Auslöser: ständig von der Hauptfigur reden, bis sie Goethes Studienstadt Leipzig nicht nur in trum seiner Oper stellte, wurde Gounod 1. seine Schuldgefühle Friederike Brion endlich selbst erscheint. Es ist, als hätten das Musikleben, sondern auch in Auer- nicht nur von deutschen Philistern der Ver- gegenüber. Nach Studienende teilte er sich Gounod und sein Librettist Jules bachs Keller eingeführt. Wenn Gounod kitschung "der Idee Goethes" bezichtigt. seiner Straßburger bzw. Sessenheimer Barbier auch an dieses Rezept gehalten. am Ende der Gretchenvision im 1. Akt Richard Strauss nennt dies "Goethever- Geliebten aus Frankfurt mit, dass die Im 1. Akt lässt Mephisto das dank Franz seiner Oper die Coda aus Mendelssohns hunzung" am 5. Januar 1890 in einem Brief Beziehung zu Ende sei. Darauf erlitt sie Schubert auch in Frankreich ikonische Sommernachtstaum-Ouvertüre und mit an Cosima Wagner "einen der größten einen Nervenzusammenbruch und blieb Bild Gretchens am Spinnrad in der Luft Mephistos Ständchen im 4. Akt dessen Schandflecke für das deutsche Volk". Seit die restlichen 42 Jahre ihres Lebens erscheinen, um den zögernden Faust dazu Scherzo zitiert, ist das also kein Zufall. Goethes Urfaust 1887, lange nach Entste- unverheiratet. 2. der Prozess gegen die zu bewegen, den Teufelspakt zu unter- hung der Oper, entdeckt wurde, sehen wir Frankfurter Kellnerin Margarethe Brandt, schreiben. Im 2. Akt kreisen Valentins, Die Frau im Zentrum aber, dass er Goethes Absichten intuitiv die von einem Gast der Herberge, in der sie Siebels und Fausts Gedanken obsessiv um besser verstand, als seine Kritiker. Johann arbeitete, laut eigener Aussage mit Wein sie, bis sie ganz am Ende zwei Verse lang Der Schlüssel zum Verständnis von Gou- Georg Faustus hat wirklich gelebt. Er willig gemacht worden sei. Die folgende auftritt und wieder verschwindet. Das war nods Faust ist die Aussage: "Ich identifi- wurde um 1480 vermutlich in Knittlingen, Schwangerschaft konnte sie verheimli- ein typischer Cliffhanger, denn zu Gounods zierte mich mit Gretchen." Im Kapitel über 30 km östlich von Karlsruhe, geboren, chen. Das Kind starb nach der Geburt, ob Zeiten ging man jetzt in die Pause und war die Musik werden wir sehen, dass sich die wo sich heute ein sehenswertes Faust- durch Unfall oder die Mutter, lässt sich gespannt, was danach passiert. verschiedenen Gretchen-Motive von der Museum und -Archiv befinden. Faustus, den Quellen nicht zweifelsfrei entnehmen. Ouvertüre bis zum Schluss der Oper das "der Glückliche", war ein werbewirksamer Das Thema der Kindsmörderinnen trieb Pariser Tanzlokale Rückgrat des Stücks bilden. Ihr Gegen- Künstlername für Wunderheiler, Magier, Goethe um. Als die Straßburger Universi- spieler, ebenfalls bereits in der Ouvertüre, Alchimisten. Wenn sie "Wunder" wirkten, tät seine Dissertation über das Verhältnis Was war es, das den 20-jährigen Gounod ist Faust. Er zerstört Gretchens Unschuld. hatte sicher der Teufel seine Hände im von Kirche und Staat wegen Kirchenfeind- bei seiner ersten Faust-Lektüre so an Jedenfalls, wenn wir der Musik glauben. Spiel. Wenn sie beim Hantieren mit Chemi- lichkeit ablehnte, reichte er ersatzweise Gretchen fesselte, dass er 20 Jahre lang Im 3. Akt stürmt er in Gretchens Garten, kalien explodierten, hat er sie geholt. Der 56 juristische Thesen ein, die er öffentlich darüber nachdachte, wie er eine Oper über 18 19
sie schreiben könne, in der sich dann alle und Loretten gemeint sind. Midinetten Figuren wie Planeten um sie als Sonne waren Näherinnen, die sich in der Mittags- drehen? Die Oper selbst gibt darauf Ant- pause, Midi, durch Herrenbekanntschaften wort. Wie im Musik-Kapitel zu zeigen sein ein Zubrot verdienten. Grisetten waren wird, ziehen sich musikalisch zwei rote Fä- Wäscherinnen, Putzmacherinnen, Fabrik- den durch das Stück: Tanzmusik und Geist- arbeiterinnen in billigen grauen Stoffen, liche Musik. Der 2. Akt, textlich teilweise gris. Loretten waren ältere Semester, wörtlich aus Goethes Osterspaziergang die etwas mehr Geld hatten und meist im und Auerbachs Keller übernommen, ist Viertel Notre-Dame de Lorette wohnten. eine einzige Abfolge von Tänzen, wie sie Diese Frauen hofften in der Grande- zu Gounods Zeiten auf den "Bals publics Chaumière einen finanzkräftigen Partner – öffentlichen Tanzveranstaltungen" der zu finden, vielleicht sogar zum Tanzstar, Stadt, vom einfachen Tanzlokal bis hin zum zur "Polkakönigin" aufzusteigen. Ging das elitären Opernball getanzt wurden. Hält schief, landeten sie in der Prostitution. Zu man Text und Musik zusammen, entdeckt ihnen gehört Gretchen, dessen Spinnerei man, dass Gounod offenbar sogar an ein Heimarbeit ist. Dass ihre Juwelenarie im bestimmtes Pariser Tanzlokal seiner Ju- 3. Akt ein Walzer ist, verweist auf den so gend gedacht hat, die Grande-Chaumière genannten Faust-Walzer vom Ende des 2. am Boulevard Montparnasse neben der Akts. Auch Gretchen träumt von Luxus und Universität. Jeder Pariser kannte das po- Lebenslust, wie alle anderen. Der Walzer puläre Lokal, in das Mephisto Faust führt, war 1850 aber viel gewagter als heute, um ihn mit Gretchen zu verkuppeln. In weil er die unverheirateten Männer- und gleicher Absicht waren Generationen von Frauenkörper im Wirbel des Kreisens Medizin-, Jura-, Theologie- und Naturwis- unerlaubt eng aneinanderpresste. Der senschaftsstudenten in diese "Allgemein- Herr musste die Dame fest an seinen Leib bildende Hochschule der Wissenschaften, drücken, damit die Fliehkräfte sie nicht zu des Cancan, der Trink- und Rauchkunst" Boden schleuderten und durfte dabei mit gegangen, um eine Liebelei mit einer der stützenden Hand nah an ihre zweit ver- Proletarierin zu beginnen, die man sitzen botenste Körperregion rücken. Wie nah, lässt, sobald man eine respektable gesell- war seiner Diskretion überlassen. schaftliche Position bezieht und eine dito Ehe schließt. Tatsächlich hat schon Carré Kein Wunder also, dass gewisse Kreise in seinem Schauspiel Goethes Vorlage der Grande-Chaumière diabolische Züge dahingehend modifiziert, dass er aus Faust und eine "confusion satanique" attestier- einen alten Universitätsprofessor macht, ten, was Gounod dazu veranlasste, in den der seinem Studenten Siebel die Geliebte Mittelpunkt dieses zügellosen Treibens ausspannt und dessen anderer Student Mephistos Rondo vom Goldenen Kalb und Wagner das Studium abbricht, um zur die Teufelsbeschwörung, den Exorzismus Armee zu gehen. Wie in der Grande-Chau- zu stellen. Das Rondo ist also alles andere mière treten im so genannten Kirmes-Akt als die schmissige Wunschkonzertnum- der Oper männlicherseits Soldaten und mer, zu der es seine Beliebtheit gemacht Studenten älterer und jüngerer Semester hat. Der völlig enthemmte Galopp ist die auf, weiblicherseits junge Mädchen und Nationalhymne einer Welt, die des Teufels "Matronen", womit Grisetten, Midinetten ist. Auch der Stretta des Schlusswalzers 20 Ariana Lucas, Alexandra Kadurina 21
des Aktes verleiht Gounod orgiastische Lacordaire das Kloster gegeben, um den ge seines Lebens zusammen: der Glaube, physischen Tonfällen sowie inhaltlich den Züge, womit er auf die berühmten "galops 1790 verbotenen Dominikanerorden in die Musik und das Weibliche. Diese Trinität Nerv seiner Zeit. Darum wurde sie mit fast infernals" verweist, in die nicht nur die Frankreich neu zu beleben. Lacordaire ent- sah er auch in Gretchen verkörpert. 3000 Aufführungen zwischen 1859 und populären Tanzveranstaltungen, sondern wickelte dazu in moderner Sprache eine 2003 allein in Paris die dort meist gespielte auch die elitären Opernbälle morgens um 4 moderne katholische Lehre, in der er die Im Zentrum des 4. Akts steht die wörtlich Oper. Als die Kaiserliche Oper das Werk ausarteten. Ideale der Revolution mit denen der Religi- von Goethe übernommene Domszene. 1869 in ihr Repertoire aufnahm, schrieb on zu verbinden versuchte und verbreitete Stilistisch kontrastiert ihre brutale Musik der Kritiker: "Die Domszene bekommt in Frömmigkeit und Lehenslust sie mit allen Mitteln moderner Medien. mit dem Rest der Oper. Das Finale des 4. der Opéra eine Feierlichkeit, die bis daher Gounod war also in Gefahr, Mönch zu Aktes ist ein großer Gottesdienst für den unerhört war. Mit jedem Schritt, den Gretchens andere Seite ist ihre Frömmig- werden und trat 1847 in das Karmeliter- gefallenen Soldaten Valentin. Gounod war Gretchen auf Barmherzigkeit und Hoffnung keit, die sich in ungewöhnlich zahlreichen seminar Saint-Sulpice ein. Im Rondo vom im Gegensatz zu Goethe durchaus kein zugeht, folgt ein Verdammungsschrei, der Gebeten ausdrückt, von denen im Musik- Goldenen Kalb zitiert er Pater Lacordaires Antimilitarist, wie sein „Gebet der Armee“ sie in die Verzweiflung zurückschleudert. kapitel die Rede sein wird. Ihre Reinheit Lehre, dass Geld die Menschen nicht frei in der Cäcilienmesse, seine Kriegskantate Schließlich ist es die Kirche selbst, deren und Frömmigkeit, ihre Zartheit, aber auch mache, sondern knechtet. Darum predigte Gallia, aber auch der große Soldatenchor Orgel Blitze schleudert. Das Schlusster- Gewissensnot vor der Mutter Gottes, "Ach Lacordaire ein Leben in Armut im Zeichen im 4. Akt des Faust zeigen. Alle Fährten zett, wo Liebe, Wahnsinn und Tod auf dem neige, Du schmerzenreiche" war offenbar von liberté, égalité, fraternité. geistlicher Musik, die seit der Ouvertüre Strohlager kämpfen, ist von pathetischer das, was Gounod als Sehnsuchtsziel an ausgelegt sind und sich durch die Akte Wirkung." Die ersten 30 Vorstellungen Gretchen anzog. Die erste Szene, zu der er Gounods Christentum war sehr sinnlich ziehen, laufen auf den Schluss der Oper spielten 400.000 Francs, die Maximalsum- laut eigener Auskunft schon in den 1840er geprägt und mit einem erotisch getönten zu: die krönende Apotheose, Gretchens me ein. Die deutsche Erstaufführung fand Jahren Ideen skizzierte, war die Domsze- Marienbild verbunden, was möglicher- Himmelfahrt nach dem Modell der Assuntà 1861 auf Veranlassung des französischen ne. In der pompösen Schlusszene, in der weise auch damit zusammenhängt, dass Tizians in der Frarikirche, Venedig. Der mit Außenministers in Anwesenheit des er den Osterchoral "Christ ist erstanden" er nach dem frühen Tod seines Vaters Gounod befreundete König von Hannover Königs von Württemberg und Ludwigs auf Gretchen bezieht, den er dem Goethe- wie sein spiritueller Lehrer in einem bekannte, dass er sonntags nach der Kir- II. von Bayern in Darmstadt statt. Bis schen Faust der Selbstmordszene wegge- Frauenhaushalt aufwuchs und zeit seines che in Gounods Oper gehe, um den Tag des 1864 war das Werk auf der ganzen Welt nommen hatte, kann man sich fragen, ob Lebens eine kindliche Bindung an seine Herrn zu weihen. gespielt worden. Estanislao del Campo, Gounod nicht insgeheim "Marguérite ist Mutter verspürte, die ihn als ausgebildete ein argentinischer Gaucho, schrieb 1866 erstanden", nämlich gestorben und wieder Pianistin in die Musik eingeführt hatte. Der größte Opernerfolg von Paris über seine Erstbegegnung mit einer Oper auferstanden, gemeint hat. Dann würde er Gounod war ein ausgesprochener „homme überhaupt im Teatro Colón: "Hätten sie nur Gretchen in der mittelalterlichen Denktra- à femmes“, der sich in jeder Beziehung Mephisto hat Gounod Goethe-treu mit al- den Teufel gesehen! Katzenkrallen, mager, dition der „Imitatio Christi“ sehen. stark zu Frauen hingezogen fühlte und len Mitteln satanischer Ironie und Bosheit ein langer Degen, ein gefederter Hut, neben seiner Ehe eine Reihe mehr oder ausgestattet. Faust aber, zwischen Gut kurzes Mäntelchen, ein Bart wie ein Zie- Gounod stellt Gretchen musikalisch also weniger schwärmerischer Affären mit und Böse, Gewissenlosigkeit und Gewis- genbock, Strumpfhosen bis zum Schritt, zwischen Lebenslust und Frömmigkeit hin- seinem Christentum verbinden konnte. In sen schwankend, trägt die Züge eines mit Augenbrauen wie ein Halbkreis, damit und hergerissen dar. Er selbst schwankte seiner ersten Oper, Sapho, forderte der modernen Nihilisten. Sein erstes Wort der beim Spiel die Karten besser verteilen zeit seines Lebens zwischen geistlicher Zensor sogar die Entschärfung einer Reihe lautet "rien", nichts. Was ihn gefährdet, kann." Nur Karlsruhe wartete bis 1872. und künstlerischer Berufung. In Rom von Versen, die sexuell zu explizit waren. sind die modernen Zweifel und Fragen, Dann stand das Werk hier jährlich bis 1939 besuchte er regelmäßig die Gottesdienste Kritiker werfen Gounod oft Süßlichkeit die auch Gounod und Lacordaire umtrie- auf dem Spielplan. Im Ersten und Zweiten der Sixtinischen Kapelle, wo er von den vor. Vielleicht sollte man seine Musik eher ben und vor denen die Zeitgenossen ins Weltkrieg wurde es boykottiert. Nach dem Messen Palestrinas schwärmte, und das unter dem Paradigma einer femininen Sen- Vergnügen flüchteten. Gounods Oper traf Krieg gab es 1950/51, 1958/59, 1969/70, Kloster Santa Sabina, wo er sich von dem sibilität sehen. Dass er seine ambitionier- also musikalisch mit ihren tänzerischen, 1979/80 und 2000/01 Neuinszenierungen. charismatischen Pater Henri Lacordaire teste Messe für das Fest einer weiblichen religiösen, witzigen, lyrischen und meta- unterweisen ließ, dessen Konversion Heiligen, der Hl. Cäcilia, Schutzpatronin Sainte-Beuve zu seinem Werther-Roman der Musik, komponierte, hat einen tiefen Volupté inspirierte. Der Papst hatte Sinn. In ihr fallen die drei wichtigsten Din- 22 23
BADISCHER STAATSOPERNCHOR & Extrachor des BADISCHEN STAATSTHEATERS 24 25
UNAUSSPRECHLICHES handelt. Alle Komponisten waren in der Wir beschränken uns hier auf die Fassung Lage, auf eigenen Beinen zu stehen. Sie zei- letzter Hand, da sie unserer wie allen WUNDER gen aber, wie tief sich bestimmte Nummern anderen Inszenierungen der Welt zu Grunde im Zuge permanenter Wiederholung ins liegt. Sie wurde 1869 an der Pariser Oper kollektive Gedächtnis eingruben. Der Lon- uraufgeführt. Die 10 Jahre ältere Urfassung doner Musikkritiker George Bernard Shaw ist eine vieraktige so genannte Opéra co- stöhnte Ende des 19. Jahrhunderts, er habe mique mit geschlossenen Musiknummern, Gounods Oper innerhalb von zehn Jahren die durch Melodramen und gesprochene über 90 Mal am Covent Garden hören müs- Dialoge verbunden werden. Diese Zwi- sen. Einzelne Wendungen scheinen sich schenteile, aber auch die Nummern selbst angesichts dieser Omnipräsenz auch bei hat Gounod in den folgenden zehn Jahren anderen Hörern von ihrem Ursprung gelöst laufend überarbeitet. Meist gaben äuße- und frei in ihrer Fantasie flottiert zu haben, re Anlässe den Anstoß. Wir wissen aber so dass sich die Urheberfrage gar nicht auch, dass Gounod seinen Faust eher als mehr stellte. Nicht weniger als fünf der durchkomponierte Oper sah. Die Comique- 32 Nummern des Faust wurden Wunsch- Fassung ist allein der Tatsache geschuldet, ZUR MUSIK konzerthits: Faustwalzer, Juwelenarie, dass die Opéra kein Interesse an dem Werk Valentins Kavatine, Fausts Arie und der hatte und Gounod sich an die formalen Soldatenchor, der bis ins 20. Jahrhundert hi- Konventionen der anderen beiden Pariser Gounods Genialität besteht darin, dass er in Ohr. Tschaikowsky, der leidenschaftlichste nein während der Vorstellungen regelmäßig Opernhäuser halten musste. Gleich nach einem Jahrhundert voller Musik an einem Faust-Fan unter den Komponisten, machte wiederholt werden musste. der Uraufführung arbeitete er die Sprech- ihrer Hotspots, Paris, seine eigene Stimme Marguérites sehnsüchiges b-Moll-Motiv szenen für Aufführungen im Ausland und in gefunden hat. Gounod klingt immer wie aus der Fensterszene, Ende 3. Akt, zur In welchem Kontext aber stand Gounod? der französischen Provinz in Rezitative um. Gounod. Wenn man genau hinhört, wimmelt Grundlage der Pathétique, Eugen Onegins Sein Faust entstand in der 2. Hälfte der Später wurden Nummern ausgewechselt, seine vierte Oper, Faust, sogar von Zitaten Tatjana zu ihrer jüngeren Schwester und 1850er Jahre. Da hatte sich Rossini seit vertauscht, ergänzt. Da die Enkelin Gounods aus Werken, die erst noch komponiert wer- zapfte den Faustwalzer in den Ballakten drei Jahrzehnten zur Ruhe gesetzt, Bellini die Handschriften unter Verschluss hielt, den mussten. Jacques Offenbach war ein seiner sämtlichen Ballette an. Puccini greift war 25, Donizetti 10 Jahre tot. Und doch kamen Ausmaß und Anlass der Überarbei- Freund und Verehrer des Komponisten. Als in La bohème die Flötenmelodie der Fens- beherrschten sie die Pariser Oper. Ihre tungen erst nach ihrem Tod ans Licht. Die er Hoffmanns Erzählungen schrieb, schaute terszene auf. Auch hier können liebende kantable Art, für Stimmen zu schreiben, hat Urfassung konnte erst im Juni 2018 wieder er wiederholt auf das meist gespielte Werk Kleinbürger am Fenster einer Mansarde den Gounod geprägt. Seine aktuellen Zeitge- in Paris erklingen. der Pariser Oper und ließ sich von ihm an- Überschwang ihrer Gefühle nicht fassen. nossen waren Meyerbeer, der seine letzten regen, zumal die Librettisten beider Stücke Richard Strauss‘ Ariadne klagt mit Fausts Opern schrieb, Verdi, dessen Maskenball Die Fassung letzter Hand kam zustande, identisch waren. Zu Beginn der Oper tritt Soloviolin-Umspielungen aus dem Wunsch- im selben Jahr wie Faust uraufgeführt als die Pariser Oper sich das Geschäft Hoffmann bei Lutter & Wegner sogar mit konzertschlager „Salut, demeure chaste et wurde, und Jacques Offenbach, der wenige und ihre Sänger sich das Werk nach dem demselben Motiv auf, mit dem sich Me- pure“ auf Naxos und Kurt Weill komponiert Monate zuvor mit Orpheus in der Unterwelt Sensationserfolg im In- und Ausland trotz phisto zu Beginn des Quartetts bei Marthe einen von Gounod flüchtig hingeworfenen seine Weltkarriere begann. Die Neutöner, allen Gesichtsverlusts nicht mehr länger Schwerlein (sic!) einführt. Mephistos Wein- Themenkopf zu Ende. Aus Mephistos Phra- mit denen sich Gounod auseinanderzuset- entgehen lassen wollte. Sie besteht aus wunder kehrt als Hoffmanns Punschwunder se „La nouvelle, que j’apporte“ zu Beginn zen hatte, waren Berlioz, der gerade seine einer Ouvertüre und fünf Akten. Das 20-mi- im 1. Akt der Offenbachschen Oper wieder des Dialogs mit Marthe wird der Kano- Trojaner, Wagner, der Walküre und Tristan nütige obligatorische Ballett wurde in die usw. In Wien entsann sich Johann Strauss nensong der Dreigroschenoper. Auch bei vollendete, und Franz Liszt, der mit der H- Walpurgisnacht des 5. Aktes eingeschoben Sohn 1866/67 Mephistos Liebeszaubers im Gounod geht es um Soldaten, die unter die Moll-Sonate die Harmonik aus den Angeln und in unserer Aufführung größtenteils 3. Akt, als er das Vorspiel zur Schönen blau- Räder kommen. Es wäre müßig, darüber zu tonaler Bindungen hob. In diesem Konzert gestrichen, um den Abend nicht zu lang en Donau komponierte. Griegs Bergkönig spekulieren, ob es sich bei diesen Parallelen hat Gounod seine eigene Stimme. zu machen. Trotzdem ist der Anteil an aus Peer Gynt hatte Mephistos Serenade im um Zitate, Hommagen, Plagiate oder Zufall Tanz- und Marschmusik im ganzen Werk 26 27
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