Feminin - Ein Magazin über den Feminismus - Maturitätsarbeiten

Die Seite wird erstellt Trutz Hentschel
 
WEITER LESEN
Feminin - Ein Magazin über den Feminismus - Maturitätsarbeiten
feminin

     Ein Magazin über den Feminismus
Feminin - Ein Magazin über den Feminismus - Maturitätsarbeiten
feminin

Maturitätsarbeit 2020
Kantonsschule Zürcher Oberland
Betreut durch Franziska Meister

Anne-Sophie Skarabis, N6b
skarabis.annesophie@gmail.com
Feminin - Ein Magazin über den Feminismus - Maturitätsarbeiten
Liebes Lesepublikum

«Mit dieser radikalen Bewegung möchte ich nichts zu tun haben.» Es waren solche Reaktionen,
die mir zuteilwurden, wenn ich Anfang dieses Jahres den Feminismus mit auch nur einen Wort
erwähnte und welche mich dazu motivierten, ihn zum konkreten Thema meiner Maturitätsarbeit
zu machen.

Im Laufe der letzten sechs Monate fiel mir auf, wie gespalten wir als Gesellschaft sind, wenn es
um die Frauenrechtsfrage geht: Während die einen stark für die Notwendigkeit des Feminismus
plädieren, dementieren andere ebenjene vehement. Wir verbringen unsere Zeit damit, darüber
zu diskutieren, ob Feminismus tatsächlich notwendig ist, und verwandeln die Debatte somit zu
einer gesellschaftlichen Hetze. Indem wir schwarz-weiss malen und eine Entweder-oder-Haltung
einnehmen, geht unheimlich viel kostbare Zeit verloren, in welcher wir versuchen könnten, eine
konstruktive Lösung zu finden. So schwer ist es nicht, einzusehen, dass es sich bei Feminist*innen
nicht zwangsläufig um radikale, rachsüchtige Männerhasser*innen mit Aufmerksamkeitsdefizit
handelt und dennoch wird dieses Narrativ von manchen aufrechterhalten.

Vielleicht wissen Sie schon längst, dass der Feminismus viel facettenreicher ist, als es obgenannte
Behauptung vermuten lässt. Möglicherweise sympathisieren Sie aber auch mit ihr oder Sie haben
sich noch nicht entschieden und möchten lediglich ein wenig Feminismusluft schnuppern. Die
Gründe für Ihren Entscheid, diese Arbeit zu lesen, mögen vielfältig sein, doch hoffe ich, dass Sie
ihm alle etwas entnehmen können. Neben Kommentaren, in denen ich meine Gedankengänge
skizzierte, finden Sie auch informative Texte – vielleicht wollten Sie schon immer wissen, wer
Ada Lovelace war, wie sich das Kaufverhalten der Frauen in den letzten Jahren veränderte oder
wie Unternehmen unsere Unsicherheiten zu Geld machen. Auch jene von Ihnen, die gerne einen
etwas tieferen Einblick in feministische Geschehnisse erhalten möchten, werden mit einer Foto-
strecke über den Frauenstreiktag oder einer Reportage über das Basteln einer Vulva fündig.

Ziel dieser Arbeit ist es nicht, ein feministisches Kampfpamphlet an Sie zu bringen. Vielmehr
handelt es sich um einen Versuch, Ihnen – liebe Leser*innen – verschiedene Aspekte des Feminis-
mus darzubieten, damit auch Sie versuchen können, sich eine eigene Meinung zu bilden.

Es freut mich sehr, dass Sie sich dazu entschieden haben, diese Arbeit zu lesen.
Vielen Dank.

Anne-Sophie Skarabis

                                                                                                      feminin   3
Feminin - Ein Magazin über den Feminismus - Maturitätsarbeiten
I N H A LT

                                                             11   BUCHKRITIK -
                                                                  UNTENRUM FREI

    8      JULIA KORBIK -
           EIN PORTRAIT                                      17   WIE UNTERNEHMEN VON
                                                                  UNSEREN ÄNGSTEN PROFITIEREN

    Bild: Korbik_2018_1(c)privat (002)

    6              Das Narrativ der                          50    Eine Retrospektive auf
                   Männerhasserinnen                               den Frauenstreiktag
                   Darüber, was Feminismus eigentlich ist.         Erfolgreich oder eher nicht? Wie war der
                                                                   Frauenstreik nun? Ein Fazit.

    24             Ein Fest der Freude –                     52    Eine Vulva
                   und politischen Notwendigkeit                   entsteht selten allein
                   Eine Reportage über das Zurich Pride 		         Eine Reportage über die Entstehung einer
                   Festival.                                       Vulvaskulptur an der KZO.

    26             Die Zukunft                               56    Das Verhängnis der
                   des Sternchens                                  Schwarzweissmalerei
                   Ein Kommentar über die Gendersprache            Warum wir versuchen sollten, aufzuhören,
                   und ihre Hintergründe.                          in Schubladen zu denken.

4    feminin
Feminin - Ein Magazin über den Feminismus - Maturitätsarbeiten
14   ADA LOVELACE -
     DIE DICHTERIN DER ZAHLEN

28   EINE FOTOSTRECKE
     ZUM FRAUENSTREIKTAG
                                                   21   FRAUEN KAUFEN UND
                                                        WAGNISKAPITALGEBER

                                                                                     Bild: Patrick Tomasso/ Unsplash

59      Spagat zwischen 				                       68     Über den Aufschwung
        Kindererziehung und Beruf                         der Misogynie
        Verena Schulemann über das 			                    Über Frauenfeindlichkeit und ihre neue
        Alleinerziehendsein.                              Position in der Gesellschaft.

62      Von feministischer                         71     Auf der Suche nach
        Philosophie                                       Frauen in der Politik
        Ein Interview mit dem Philosophen 		              Über die Position von Schweizer Frauen in
        Dominique Kuenzle.                                der Politik.

67      Der vermeintliche Kampf                    76     Ein Plädoyer für
        gegen die Männer                                  das Selbstvertrauen
        Stefan Wittwer über die Rolle der Männer          Warum es für Frauen so wichtig ist, mehr
        in der Frauenbewegung.                            Selbstvertrauen an den Tag zu legen.

                                                                                                feminin          5
Feminin - Ein Magazin über den Feminismus - Maturitätsarbeiten
Kommentar

    Das Narrativ der
    Männerhasserinnen
    Feminismus ist in aller Munde. Alle reden darüber und doch scheint niemand zu wissen,
    in welche Richtung er sich bewegt. Wie auch? Eine einheitliche Bewegung ist der Femi-
    nismus längst nicht mehr. Eine Bewegung ja, vielleicht, aber in welche Richtung bewegt
    sich etwas, wenn es auf etlichen Wegen zugleich unterwegs ist? Ein Versuch, den Femi-
    nismus festzuhalten.

    Nur allzu gerne werden Feminist*innen von Kritiker*in-       le verbinden etwas anderes mit der Bewegung. Ist sie
    nen als notorische Männerhasser*innen mit Aggres-            für manche nur Bestandteil einer Entkoppelung des sich
    sionsproblemen und einem Drang zu Radikalismus               etablierten kapitalistischen Systems, so mag sie für an-
    bezeichnet. Ihre Aktionen und Forderungen werden             dere ein Sprungbrett für die Selbstentfaltung eines je-
    despektierlich belächelt oder als so martialisch emp-        den Menschen sein. Wer jedoch denkt, es gehe um radi-
    funden, dass sich einige bereits von der symbolischen        kalen Männerhass oder um eine Machtübernahme, hat
    Faust zutiefst bedroht fühlen und Angst davor haben,         die Quintessenz nicht richtig erfasst. Feminist*innen set-
    dass Frauen die Macht ergreifen wollen.                      zen sich dafür ein, dass alle Menschen unabhängig von
                                                                 Geschlecht und sexueller Orientierung gleichberechtigt
    Seit 1981 der Gleichstellungsartikel in der Verfassung       leben können und nicht täglich mit Vorurteilen konfron-
    verankert wurde, scheint Feminismus für manche eine          tiert und in eine bestimmte Rolle gedrängt werden.
    völlig überflüssige Angelegenheit geworden zu sein und
    tatsächlich, die gesetzliche Diskriminierung ist gröss-
    tenteils zu einem Relikt der Vergangenheit geworden.         Die Sünde des Zufriedenseins
    Dennoch kam die Feminismusbewegung seither zu kei-
    nem Stillstand und erlebte vor allem in den letzten Jah-     In meinem Alltag werde ich immer wieder Zeugin von
    ren durch Internettrends wie #MeToo oder #Aufschrei          Situationen, in welchen Frauen sich schlechtreden
    ein Comeback. Anliegen wie der Gender Pay Gap und            und ihre Fähigkeiten um ein Vielfaches unterschätzen.
    der Mangel an Frauen in Führungspositionen verstärk-         Lieber halten sie sich zurück und reden sich ein Ge-
    ten diesen Effekt und sorgten für immense mediale Auf-       fühl der Minderwertigkeit ein. Der Druck, den sich Frau-
    merksamkeit. Eine grössere Kontroverse könnte dies           en unter anderem wegen ihres Aussehens machen, ist
    nicht hervorrufen; die Diskrepanz zwischen Befürwor-         stupend. Zufrieden mit sich selber zu sein, scheint einer
    tung und Ressentiment ist enorm.                             Sünde gleich. Wagt es eine Frau doch einmal, laut ihre
                                                                 Meinung zu sagen, so ist oft unverzüglich von einem un-
    Immer mehr Menschen fragen sich, was der Feminis-            angenehmen Mannweib die Rede. Es kommt die Frage
    mus eigentlich ist. Eine genaue Antwort gibt es nicht, al-   auf, ob Frauen in Führungspositionen schlechter vertre-

6   feminin
Feminin - Ein Magazin über den Feminismus - Maturitätsarbeiten
ten sind, weil sie weniger qualifiziert sind oder weil sie   die Differenzen gemeinsam überwunden werden kön-
sich nicht trauen, für sich einzustehen und aufzustreben     nen. Hören Sie zu und öffnen Sie die Augen – auch aus-
– unter den Fortune 500 CEOs befinden sich gerade mal        serhalb Ihrer ganz persönlichen Echokammer – trauen
33 Frauen und hierbei handelt es sich um ein Rekord-         Sie sich, etwas zu sagen, und geben Sie sich nicht der
hoch.                                                        Stromlinienform Ihres Umfelds hin, wenn diese nicht die
                                                             Richtung anpeilt, die Sie als richtig empfinden. Nur so
Feminist*innen möchten Frauen nicht dazu zwingen,            wird es uns gelingen eine bessere, fairere Zukunft mit-
eine Führungsposition anzustreben. Sie möchten ih-           zugestalten.
nen lediglich vermitteln, dass es nicht notwendig ist,
sich ständig herabzuwürdigen und dass Frauen alles,
was sie sich zum Ziel gemacht haben, auch wirklich ver-
folgen und sich zutrauen können. Die Tatsache jedoch,
dass Frauen noch immer auf ihren Körper reduziert
werden, sexuelle Gewalt ein anhaltend präsentes The-
ma ist, ein Gender Pay Gap existiert, die Elternurlaubs-
regelungen stark zu wünschen übrig lassen, das Ren-
tenalter nicht geschlechtsneutral ist und homosexuelle
Paare keine Ehe schliessen dürfen, zeugt davon, dass
vieles geändert werden kann und muss. Alle sollten das
Recht haben, das zu tun, was ihnen beliebt, solang sie
damit niemandem schaden. Damit das Hindernis poten-
zieller geschlechtlicher Diskriminierung endgültig ver-
schwindet, gibt es auch noch heute Feminist*innen.

Für den Zusammenhalt

Es ist nicht abzustreiten, dass auch Feminismus seine
Mängel aufweist, es intern immer wieder zu Differen-
zen kommt und mancher Aktivismus bei Teilen der Be-
völkerung nicht gut ankommt, doch geht es uns allen
schliesslich um das Gleiche. Im Endeffekt bezeichnet
Feminismus den Wunsch nach gleichen Möglichkeiten
für alle. Nehmen Sie sich – liebes Lesepublikum – einen
Moment Zeit, um feministische Anliegen zu reflektieren.
Auch Ihnen sollte bewusst werden, dass wir noch lange
nicht da sind, wo wir sein könnten. Wenn wir alle vom
lächerlichen Männerhassbild eines vermeintlich radi-
kalen Feminismus abkommen und realisieren, worum
es wirklich geht, können wir die Gleichstellung schnel-
ler erreichen. Dazu gehört auch eine kollektive Bewusst-
seinsbildung; das Engagement aller ist wichtig, damit

                                                                                                            feminin    7
Feminin - Ein Magazin über den Feminismus - Maturitätsarbeiten
8   feminin   Bild: Korbik_2018_1(c)privat (002)
Feminin - Ein Magazin über den Feminismus - Maturitätsarbeiten
This is what
a feminist looks like
Wie wurde sie zur Feministin, wie lebt es sich in ihrem Beruf und wie lassen
sich diese beiden Dinge vereinbaren? Ein Portrait von Julia Korbik.

«Eine Journalistin schrieb einst über    WAZ, machte 2008 ein Praktikum           nistin ist, dann muss ich das auch
mich, ich hätte meine Haare schwarz      beim Norddeutschen Rundfunk und          sein. Mir waren schon immer komi-
gefärbt, weil Simone de Beauvoir         2010 bei cafébabel, wo sie seither       sche Dinge aufgefallen, aber so rich-
schwarze Haare hatte. Und das, ob-       als Kommunikationsmanagerin und          tig identifizierbar waren sie für mich
wohl Schwarz meine Naturhaar-            Übersetzerin ehrenamtlich arbei-         nie. Feminismus half mir dabei, ein
farbe ist und nicht die von Simone       tet. Nach ihrem Studium verschlug        wenig besser durchzublicken und
de Beauvoir», sagt Julia Korbik kopf-    es Korbik im Jahr 2012 nach Berlin,      zu verstehen, warum mein Sport-
schüttelnd. Die Wahlberlinerin sitzt     wo sie bei der Zeitung The European      lehrer meine Liegestützen immer
an einem kleinen Tisch in einem          arbeitete. In der Hipsterstadt bleiben   so verblüfft loben musste.» In ihrem
Café in Berlin Schöneberg. Vor ihr       wollte sie ursprünglich nicht, heute     Buch Stand Up bezeichnet Korbik
liegt ein Buch, daneben steht eine       bewohnt sie sie noch immer.              den Feminismus gar als Waffe, um
Tasse Kaffee, die Umgebung ist woh-                                               den ganzen Mist zu durchschauen.
lig, es ist dunkel, das Mobiliar ist                                              Er helfe, zu erkennen, dass das, was
bequem, an den Wänden stehen             Solidarität                              schieflaufe, dies vor allem aufgrund
Bücherschränke, ausserdem hän-                                                    struktureller Fehler tue. «Es geht mir
gen allerorts Bilder. Korbik scheint     2014 veröffentlichte Korbik ihr erstes   dabei auch um Solidarität für jene,
sich hier wohlzufühlen, wie auch         Buch Stand Up, ein Werk über den         denen es schlechter geht und die
sonst in der Welt der Bücher und des     Feminismus, welches sie als ihren        unter Ungerechtigkeiten mehr zu lei-
Geschriebenem. Sie ist Autorin und       ganzen Stolz betitelt und in welchem     den haben als ich.»
arbeitet als freie Journalistin. Schon   sie die Lesenden in den Feminismus
während ihrer Schulzeit schrieb die      einführt. «Am liebsten schreibe ich      Die Schriftstellerin und Europalieb-
Journalistin immer wieder für die        über Politik und Popkultur aus femi-     haberin könnte sich ein Leben ohne
Kinder- und Jugendseite der West-        nistischer Sicht.» Auch ihre beiden      den Feminismus nicht mehr vor-
deutschen Allgemeinen Zeitung in         anderen seither veröffentlichten Bü-     stellen, doch stellt sie den Hype, wel-
Herne. Es sollte eine Leidenschaft       cher Oh, Simone und How to be a          cher in den letzten Jahren um das
werden, die sie nie loslassen würde.     Girl behandeln den Feminismus. «Ich      Thema entstand, ein wenig infrage.
Während ihres Studiums der Euro-         selbst fing im Alter von 17 Jahren       «Inzwischen wird man fast überall
pean Studies und Kommunikations-         an, mich mit dem Feminismus aus-         mit dem Feminismus konfrontiert.
wissenschaften, für welches sie zwi-     einanderzusetzen. Damals waren           Praktisch in jedem Geschäft findet
schen dem französischen Lille und        es Bücher wie jene von Simone de         man T-Shirts mit der Aufschrift «This
dem deutschen Münster hin und her        Beauvoir, welche mich in das Thema       is what a feminist looks like», es wird
pendelte, arbeitete sie bis 2011 wei-    einführten. Ich war begeistert und       Werbung mit dem Thema gemacht
ter als freie Mitarbeiterin bei der      dachte mir, wenn Beauvoir Femi-          und plötzlich sind alle Feminist*in-

                                                                                                                 feminin    9
Feminin - Ein Magazin über den Feminismus - Maturitätsarbeiten
nen. Das ist ja schön und gut, aller-     Als Freelancerin weiss Korbik nie       ten und fragen dann unter anderem
     dings bedeutet Feminist*in sein nicht,    genau, wie es um ihren Job steht.       nach fünf konkreten Massnahmen
     ein T-Shirt zu tragen, welches auch       «Ich habe mein Schicksal selbst in      oder Beispielen, die den Feminismus
     noch in prekären Verhältnissen her-       der Hand und manchmal erfordert         begründen und Lösungen aufzeigen.
     gestellt wurde.» Für die 31-Jährige ist   es eine gewisse Menge an Motivati-      Klempner*innen werden doch auch
     Feminismus eine Geisteshaltung, zu        on, um sich wirklich zum Arbeiten       nicht ständig und überall gefragt, wie
     der auch Taten gehören. Zu sagen,         durchzuringen. Aber ich bin da sehr     sie Toiletten reparieren.»
     man sei Feminist*in, aber nichts zu       konsequent und lege meine Arbeits-
     der Thematik beizusteuern, bringe         zeiten genau fest. Ausserdem bin        Mit der Zeit hat sich die junge Frau
     nicht viel. Dies könne dem Feminis-       ich sehr organisiert. Das ist sicher    mit den Vorurteilen abgefunden, die
     mus die Ernsthaftigkeit nehmen,           ein Vorteil.» Wo das Geld herkommt,     ihr aufgrund ihres Bekenntnisses
     denn wenn plötzlich alle reden, aber      ist für die Texterin nie ganz sicher.   zum Feminismus entgegengebracht
     niemand mehr etwas unternehme,            Sie ist darauf angewiesen, Aufträge     werden. Sie habe sich als Feministin
     dann kämen wir auch nicht weiter.         zu bekommen, daher empfiehlt sie        weiterentwickelt, sagt sie. Was man-
                                               auch die Arbeit mit einer Agentin.      che Dinge angeht, sei sie früher ra-
                                               «Manchmal gibt es Zeiten, in denen      dikaler gewesen sein, bei manch an-
                     JULIA KORBIK              ich etwas weniger Geld verdiene,        deren jedoch viel gemässigter. Für
                       in Stand Up

                                               dann läuft es wieder relativ gut. Man   die Journalistin ist klar, dass Macht-
          Es ist wohl die ernüchternde
                                               ist sicherlich auf Gespartes angewie-   strukturen überwunden werden müs-
               Tatsache, dass neben,
                                               sen. Lange Zeit hatte ich überhaupt     sen, die viele Menschen noch immer
           hinter, unter all dem Show-
                                               kein Bock, mich mit der Altersvor-      marginalisieren. Man muss sich nicht
               room-Feminismus das
                                               sorge auseinanderzusetzen, doch         unbedingt als Feminist*in bezeichnen,
          meiste doch beim Alten ge-
                                               das ist als Selbstständige sehr wich-   um etwas zu der Bewegung beizu-
                    blieben ist.
                                               tig. Inzwischen habe ich einen Fond     tragen. «Am Ende geht es um die Hal-
                                               angelegt. Die Sache mit dem Geld ist    tung. Feminismus erfordert Taten und
     «Mein Vater ist ein                       etwas schwierig, allerdings waren       das ist das Wichtigste.»
     kleiner Chauvinist.»                      auch meine alten Jobs nie wirklich
                                               sicher. Es wurden willkürlich Leute
     Auf die Frage, wie ihre Familie da-       entlassen und man wusste nie, wie
     mals mit ihrem feministischen Wan-        es um einen stand.»
     del umgegangen sei, antwortet sie
     mit einem kurzen Schmunzeln. «Ich
     bin in einer Familie mit traditionel-     Die Feministin
     ler Rollenverteilung im Ruhrgebiet
     aufgewachsen. Meine Mutter verhält        Selbstständig zu sein, bedeutet für
     sich eher gemässigt, was so Themen        die 31-Jährige, ihre Leidenschaft und
     angeht und mein Vater ist manchmal        ihre Geisteshaltung vereint zum Be-
     ein kleiner Chauvinist. Meine Mutter      ruf gemacht zu haben. Sie ist Jour-
     kaufte mir damals aber dennoch die        nalistin und sie ist Feministin. Als
     Bücher und unterstützte mich immer        Freiberuflerin kann sie dies bestens
     in meinen Interessen. Als ich dann        miteinander vereinen. Allerdings
     mein erstes Buch auf den Markt            wünscht sich die junge Frau auch
     brachte, waren sie beide unheim-          manchmal ein ganz normales Ge-
     lich stolz auf mich. Ich habe wich-       spräch, in dem sie nicht als die Fe-
     tige Dinge von meinen Eltern mit          ministin am Tisch vorgestellt wird.
     auf den Weg gegeben bekommen.             «Sobald das mal jemand über mich
     Zum Beispiel, dass ich mein eigenes       sagt, bin ich in der ganzen Runde oft
     Ding durchziehen solle. Dabei unter-      sofort die Feministin und dann geht
     stützen sie mich, auch wenn sie sich      es halt darum. Feminist*innen sind
     als sicherheitsorientierte Menschen       ja auch einfach Menschen mit einer
     teilweise um das Risiko meines Be-        ganz eigenen Persönlichkeit. Man-
     rufes sorgen.»                            che Leute wollen einen aber tes-

10   feminin
Die schwammige Grenze
zwischen Feminismus
und Anarchismus
Wie frei sind wir eigentlich? Diese    Margarete Stokowski ist wütend,          Untenrum frei erzählt Margarete Sto-
Frage stellt sich Margarete Stokow-    aber sie kann darüber lachen, denn       kowskis eigene Geschichte. Es ist
ski in ihrem Buch Untenrum frei und    der «ganze alte Scheiss» sei eh längst   ein Buch über das Erwachsenwer-
blickt auf der Suche nach der Ant-     am Einstürzen. Mit «ganzer alter         den, ein Buch über Sex und ein Buch
wort zurück in ihre eigene Vergan-     Scheiss» betitelt sie patriarchalische   über die Emanzipation der Frau. Und
genheit, durchleuchtet geschicht-      Herrschaftsstrukturen, aufgrund de-      am Ende stellt sich heraus: Eigentlich
liche Ereignisse und legt Fakten auf   rer Frauen tagtäglich den Kürzeren       sind all diese Dinge nur Teil eines
den Tisch. Eine Kritik.                ziehen. Ihre Hauptthese lautet: «Wir     grösseren Ganzen – Teil einer struk-
                                       können untenrum nicht frei sein,         turellen Ungerechtigkeit.
                                       wenn wir obenrum nicht frei sind.»
                                       Es geht um die kleinen Dinge – uns       Der Autorin gelingt es, ihre eige-
                                       selbst, unseren Körper, unser Befin-     nen Erfahrungen und Erlebnisse so-
                                       den, Sex. Dinge, über die nun mal        wie Fakten und Beobachtungen in
                                       kaum jemand spricht. Aber es geht        den Text einfliessen zu lassen. Ihr
                                       auch um die grossen Dinge – das Sys-     Tonfall dabei ist locker, etwas pole-
                                       tem, Macht und Herrschaft. Dinge,        misch, ironisch und sarkastisch –
                                       über die ebenfalls niemand spricht.      vor der Wahrheit schrickt sie nicht
                                                                                zurück. Warum sollte sie auch? Viel
                                                                                eher blickt sie ihr direkt ins Auge,
                                                                                analysiert die Dinge, wie sie sind,
                                                  MARGARETE STOKOWSKI           und macht ihnen somit eine Kampf-
                                                      in Untenrum frei
                                                                                ansage. Sie erzählt von Essstörun-
                                                                                gen, sexueller Gewalt und Selbstver-
                                               So ziemlich alle Sätze,
                                                                                letzung. Wissen sei Macht, sagt sie,
                                              die mit «Im Feminismus
                                                                                doch wüssten wir das Falsche. Wir
                                             dürfen Frauen nicht...» an-
                                                                                würden Frauenzeitschriften lesen,
                                                fangen, sind falsch.
                                                                                die uns einreden, wir seien nicht gut
                                                                                genug, zu dick, zu hässlich, zu unat-
                                                                                traktiv und lernten im Aufklärungs-
                                                                                unterricht im schlimmsten Fall nur,
                                                                                dass das, was die Frau da unten hat,
                                                                                eine Spalte ist.

                                                                                                              feminin    11
Mit der Haarentfernung                    Spätestens ab der ersten Haarentfer-   Vor- und elektronische Nachberei-
     geht es los                               nung werde das Frausein – oder zu-     tung zu unrealistischen Figuren ge-
                                               mindest das, was uns unter Frausein    worden, welche man zwar betrach-
     Stokowski selbst litt an einer Essstö-    beigebracht wird – dann zur Arbeit     ten dürfe, welche man jedoch nicht
     rung und war lange untergewichtig,        und das gelegentliche Hübschma-        hören solle. Gesehen zu werden,
     doch scherte sie das nicht. Vielmehr      chen, was zuvor noch einer Spielerei   heisse nicht automatisch, auch ge-
     wollte sie noch dünner oder eben          glich, zu einer grossen Anstrengung,   hört zu werden. Wir sähen Frauen
     «noch besser» werden. Frauen, sagt        wenn nicht sogar Qual.                 überall, aber in Machtpositionen sä-
     sie, würden in solchen Zeitschriften                                             hen wir sie nirgendwo, und wenn
     zu Objekten, deren einziges Ziel es       Eingetrichtert werde uns ein solches
     sei, Männern zu gefallen; hierfür soll-   Bild der Frau laut Stokowski vor al-             MARGARETE STOKOWSKI
                                                                                                     in Untenrum frei
     ten sie sich selbst möglichst zu etwas    lem in Werbung und Medien. Über-
                                                                                           Es ist weit verbreitet, Frauen
     dezimieren, was mehr einer Pup-           all sähen wir Frauen, die in grotes-
                                                                                           als Menschen mit Geschlecht
     pe als einem menschlichen Wesen           ken Posen oft spärlich bekleidet für
                                                                                           zu betrachten und Männer als
     gleicht. Auch sonst müssten Frauen        Dinge werben, die man zuallerletzt
                                                                                           Menschen. Chefinnen haben
     stets allen gefallen; sie sollten empa-   mit Nacktheit in Verbindung bringen         einen «weiblichen Führungs-
     thisch, organisiert und liebenswür-       würde. Mit der Realität hätten diese             stil», Männer einen
     dig sein und ausserdem einem ge-          Frauen nur noch wenig zu tun. Viel-                   eigenen.
     wissen Schönheitsideal entsprechen.       mehr seien sie durch kosmetische

12   feminin
doch, würden diese Frauen sich           welches mit Schuld trage an den pat-
maskulinisieren, sich eine tiefere       riarchalischen Strukturen, die einen
Stimme antrainieren und versuchen,       so massgeblich negativen Einfluss
nicht herauszustechen aus diesem         auf unsere Gesellschaft haben. «Wir
Meer von Anzugträgern. Wie soll          haben die Fesseln des Patriarchats
sich daran etwas ändern? Solang          nicht gesprengt, sondern sind mit
Frauen untenrum nicht frei sind, wie     ihnen shoppen gegangen», schreibt
sollen sie es dann obenrum sein?         die Autorin und antwortet damit je-
                                         nen, die behaupten, im Zuge der letz-
                                         ten Jahre Zeug*innen sexueller Be-
Systemwandel                             freiung geworden zu sein. Denn Frei-
                                         heit für eine kleine, unter sich gleich-
Stokowski hinterfragt das System         berechtigte Avantgarde sei nichts
und fordert einen Wandel. Sich           wert, vor allem nicht dann, wenn es
selbst bezeichnet sie als Anarchis-      die Freiheit einiger weniger ist, die
tin, die nicht viel von Machtstruktu-    an Deck Gin Tonic schlürfen, wäh-
ren oder Hierarchien hält. Der Femi-     rend die Massen im Maschinenraum
nismus ist für sie nur Teil der Abkop-   schuften. Wirkliche Freiheit müs-
pelung vom kapitalistischen System,      se noch erreicht werden – Stokow-
                                         skis Ziel? Die Abschaffung von Herr-
                                         schaft.

                                         Mit dem Buch gelingt es Stokowski,
                                         auf Vorurteile und längst überhol-
                                         te, teils groteske Normen und Ste-
                                         reotypen aufmerksam zu machen,
                                         welche unseren Alltag auch heute
                                         noch prägen. Sie schreibt offen und
                                         ehrlich und auch wenn sie die Din-
                                         ge mancherorts etwas radikalisiert
                                         und Extreme an die Wand malt, regt
                                         sie zum Nachdenken an. Man muss
                                         nicht in allen Punkten mit der Auto-
                                         rin einverstanden sein, um einzuse-
                                         hen, dass sich noch einiges ändern
                                         kann und auch sollte, um die wirkli-
                                         che Gleichberechtigung zu erlangen
                                         und uns von unterdrückenden Ste-
                                         reotypen zu befreien. Ab und an soll-
                                         te man auch Gegebenes hinterfra-
                                         gen und sich nicht einfach damit zu-
                                         friedengeben, denn auch hinter Sät-
                                         ze, die in Stein gemeisselt sind, sol-
                                         le man laut Stokowski ab und an ein
                                         Fragezeichen malen.

                                         Margarete Stokowski: «Untenrum
                                         frei». Rowohlt, Reinbek. 256 Seiten,
                                         Fr. 18.95.-

                                                                                    feminin   13
Eigene Illustration nach Original
               von Alfred Edward Chalon unter CC0

14   feminin
DIE DICHTERIN
DER ZAHLEN
Über die britische Mathematikerin, die bereits im 19. Jahrhundert unsere Zu-
kunft revolutionieren sollte. Und das in einer Zeit, als Frauen noch nicht mal
den Universitäten dieser Welt studieren durften.

In der Welt der Zahlen hatten Frau-       kommen würde und versteckte             nachstand. Babbage arbeitete da-
en lange Zeit nichts verloren. Es war     daher jegliche Gedichte, die der        mals an einem Konzept für eine ana-
eine Welt der Männer, von Männern         Lord je geschrieben hatte, damit Lo-    lytische Maschine, welche komple-
für Männer. Dennoch gab es eini-          velace diese – zumindest in den ers-    xe Rechenprobleme durch einen
ge Frauen, die Grosses vollbrachten.      ten Jahren ihres Lebens – nicht zu      Algorithmus lösen sollte, in welches
Augusta Ada Byron King, spätere           lesen bekommen würde. Ziel war          er Lovelace einweihte und so kam
Gräfin von Lovelace, war eine von         es, dem kleinen Mädchen die ma-         es, dass die Welt der Computer mit
ihnen und sie prägte unsere Zukunft       thematische und musische Diszi-         einem futuristisch denkenden Bab-
stärker, als es ihr jemals bewusst sein   plin, wie ihre Mutter diese nann-       bage und Lovelace begann, die mehr
sollte: Indem sie den weltweit ers-       te, einzuflössen, bis in ihr auch der   von der Analysemaschine zu ver-
ten Maschinenalgorithmus schrieb,         letzte Funke Poesie erstickt war.       stehen schien als deren Erschaffer
wurde sie unbewusst zur ersten Per-       Dies gelang weitestgehend: Aus Lo-      selbst.
son, die je programmierte und somit       velace wurde eine hochbegabte
den Grundstein für eine die Welt ver-     Mathematikerin und talentierte Mu-
ändernde Technologie legte.               sikerin, die noch heute als Schöpfe-    Die Sprache der Mathematik
                                          rin der Computerprogrammierung
Ada Lovelace, geboren 1815, war die       bekannt ist.                            Aufgrund ihres Geschlechts war es
Tochter des prominenten britischen                                                für die Gräfin nicht möglich, ihre
Dichters George Gordon Byron und                                                  Ideen mit jedermann zu teilen, Frau-
seiner Frau Anne Isabelle Milbanke,       Eine legendäre Bekanntschaft            en waren in den Wissenschaften
deren Ehe jedoch nur ein Jahr an-                                                 noch immer nicht allzu gerne ge-
dauerte. Die kleine Ada war keinen        Im Alter von 17 Jahren traf Lovelace    sehen, doch für Babbage schien
Monat alt, als ihr Vater sie verliess.    erst mal auf ihren späteren Arbeits-    ihr Geschlecht kein Problem dar-
Fortan wurde ihr Leben von ihrer          kollegen Charles Babbage. Zur da-       zustellen. Sie bezeichnete sich als
Mutter dominiert, die allen Lehrern       maligen Zeit lernte sie gerade die      «Fee», die mit Babbages neuer Er-
und Gouvernanten ihrer Tochter            Welt kennen: Sie ging auf Bälle         findung, der Analysemaschine,
auftrug, sie auf die Mathematik und       und zu Feierlichkeiten und sehnte       Taten vollbrachte und er nannte sie
Musik zu trimmen. Getrieben vom           sich danach, Menschen kennenzu-         seine «Interpretin». Da es Lovelace
Hass auf den Ehemann, der sie ver-        lernen, die ihre Liebe zur Mathema-     als Frau damals nicht erlaubt war,
lassen hatte, setzte sie alles daran,     tik, der Musik und dem Reiten teil-     sich ohne Weiteres frei zu bewegen
dass ihre Tochter nie die Leiden-         ten. In Babbage, den sie auf einem      und sich somit jederzeit mit Babba-
schaft am Schreiben finden würde,         dieser Bälle kennenlernte, fand Lo-     ge zu treffen und mit diesem ihr Wis-
die ihren Vater einst so berühmt ge-      velace endlich jemanden, der ihr        sen zu teilen, blieb ihnen nur eine
macht hatte. Sie fürchtete sich davor,    mit seinem Intellekt und Verständ-      Art und Weise zu korrespondieren:
dass ihre Tochter nach deren Vater        nis für die Mathematik in nichts        das Schreiben.

                                                                                                               feminin    15
Eine Lebensaufgabe                        und fand in ihr ein Auffangnetz. Die      schulden liessen sie auch unter dem
                                               Hingabe zu der Maschine liess sie         Namen «die grösste Hure Londons»
     So kam es, dass entgegen allen Be-        ihre gesundheitlichen Probleme,           publik werden. Gesundheitlich ging
     mühungen der Mutter, ihrer Toch-          wie auch ihre Familie vergessen. Lo-      es ihr immer schlechter, es schien
     ter jegliche Freude am Schreiben          velace gab ihr ganzes Herzblut für        aussichtslos.
     zu nehmen, die Fähigkeiten des Va-        die Übersetzung her, sie sah in der
     ters die junge Frau überkamen: Ihre       analytischen Maschine nicht ein-          Ada Lovelace schied im jungen Alter
     Liebe zur Mathematik verknüpfte           fach nur eine Rechenmaschine. Viel-       von 36 Jahren von dieser Welt, sie
     sie mit ihrer Fähigkeit, Worte zu ge-     mehr hatte sie die Vision eines Com-      starb an Gebärmutterhalskrebs.
     brauchen. Nebst ihrem Briefaus-           puters, der Programme ausführen           Dreissig Jahre nach ihrem Tod wurde
     tausch mit Babbage widmete sie sich       konnte und sie verbrachte Stunden         ihrem Artikel ihr voller Name an-
     der Übersetzung eines von Luigi Fer-      damit, den wissenschaftlichen Arti-       gefügt. Zu einer Zeit, in der die gros-
     dico Menabreas auf Französisch ge-        kel zu übersetzen und ihn mit Infor-      sen Universitäten Oxford und Cam-
     schriebenem Aufsatz über Babbages         mationen zu modifizieren, welche          bridge noch keine Frauen zuliessen,
     analytische Maschine aus dem Jahr         die Nützlichkeit und die Zuverlässig-     Frauen bei mathematischen Unter-
     1842. Babbage und Lovelace emp-           keit der Maschine erweiterten. Bab-       redungen nicht willkommen waren
     fanden es als äusserst wichtig, einen     bage und sie überprüften ihre Arbeit      und nicht am Diskussionstisch ge-
     solchen Bericht auch in der engli-        wieder und wieder, bis am Ende ein        sehen werden sollten, war sie es,
     schen Sprache zu veröffentlichen          publikationsreifes Stück entstanden       die das erste Computerprogramm
     und Lovelaces ausgezeichnete fran-        war. Nun bot sich nur noch ein Prob-      schrieb, das die Welt je sehen sollte
     zösische Sprachkenntnisse kamen           lem: Sie war eine Frau.                   – 100 Jahre bevor es sich die ersten
     ihnen gelegen. Im Laufe ihrer Arbeit                                                Unternehmen zur Aufgabe machen
     vertiefte sich Lovelace immer mehr                                                  würden, die neumodischen Maschi-
     in das Projekt und fügte dem Bericht      Die grösste Hure Londons                  nen zu entwickeln. Mit ihrem Prin-
     mehr und mehr Details über die Ma-                                                  zip des Inputs, der Verarbeitung und
     schine an, die im Originalartikel         Nur wenige hätten damals die ma-          eines Outputs legte sie die Grund-
     einst nie vorhanden waren.                thematische Arbeit einer Frau ernst       lage für die Computerprogramme
                                               genommen oder gar akzeptiert und          heute und wird daher gerne als
                                               es war Babbage, der die Mathemati-        einer der ersten Programmiererin-
                    ADA LOVELACE
                     Mathematikerin
                                               kerin erst dazu bringen musste, ihre      nen gefeiert – und das in einer sonst
                                               Arbeit überhaupt mit den Initialen        von Männern geschaffenen Welt.
               If you can‘t give me            A.A.L. zu unterschreiben. 1844 – Ada
                poetry, can‘t you              war gerade 29 Jahre alt – wurde ihr
                give me poetical               Stück publiziert und es sollte der ein-
                                               zige Artikel bleiben, den sie je ver-
                    science?
                                               öffentlichte. Babbage und Lovelace
                                               arbeiteten nicht weiter an Projekten
                                               mit der analytischen Maschine, statt-
     Ihre Liebe zu der Maschine wuchs          dessen versuchten sie sich in der
     so stark an, dass sie sie als ihr eige-   Wettindustrie und fokussierten sich
     nes Kind bezeichnete, der sie tat-        auf eine mathematische, vermeint-
     sächlich mehr Zeit widmete als            lich erfolgssichere Methode der
     ihrer eigenen Familie. Mit 19 Jah-        Pferderennwetten. Diese scheiter-
     ren hatte sie den angesehenen Lord        te jedoch kläglich, was ihnen einen
     William King, Earl of Lovelace ge-        grossen Berg Spielschulden hinter-
     heiratet, der sie als Frau in der Ma-     liess und auch sonst heimste Love-
     thematik zwar gewähren liess, mit         laces Leben keine weiteren Erfolge
     dem sie jedoch keine glückliche Ehe       ein. Ihre Ehe stimmte sie unglücklich
     führte. Als sie nach der Geburt ihres     und in gesellschaftlichen Kreisen
     dritten Kindes im Alter von 23 Jah-       war sie nicht nur als brillierendes
     ren noch schwer erkrankte, stürzte        Mathegenie bekannt. Zahlreiche Af-
     sie sich als Ablenkung in die Arbeit      fären, Drogendelikte und ihre Spiel-

16   feminin
Wie Unternehmen
unsere tiefsten Ängste
wecken, um an Geld zu
kommen
Von riesigen Werbeplakaten bis hin      Menschen kaufen dann etwas,            spüren den Druck, einem Schön-
zu Fernsehspots und nun auch Social     wenn sie glauben, es würde ein vor-    heitsideal nachzueifern, welches
Media – die Massenmedien nutzen         handenes Problem lösen. Möch-          oft gar nicht zu erreichen ist. Die
unsere Unsicherheiten gezielt aus,      te man also mehr verkaufen, muss       Opfer, welche viele Frauen hier-
um Produkte zu vermarkten und zu        man den Anschein erwecken, es          für erbringen, sind überwältigend.
verkaufen. Es ist ein bitterer Aspekt   gäbe auch dort Probleme, wo eigent-    Dankend greifen Unternehmen sol-
der heutigen Werbung: Sie prangert      lich gar keine vorhanden sind. Somit   che Komplexe auf und profitieren
Verwundbarkeiten an und fördert         versuchen Unternehmen stets, einer     ergiebig, indem sie eine Masse von
unsere tiefsten Ängste, um an Geld      möglichen Kundschaft vermeint-         Produkten anbieten, welche die von
zu kommen. Der Clou? Es funktioniert    liche Bedürfnisse ins Gehirn zu in-    Frauen wahrgenommenen Fehler
– bereits als Marketingnovize lernt     jizieren. Die Message? – «Mit unse-    angeblich beheben und ihnen auf
man, dass jene Kund*innen, die sich     rem Produkt wärst du besser dran.»     dem «Weg der Besserung» behilflich
inferior fühlen, die besten sind.       Was anfänglich noch nach einer lo-     sein können.
                                        gischen Marketingstrategie klingen
                                        mag, ist jedoch häufig herzlos, denn
                                        einige Unternehmen schrecken nicht                                    nur

                                                                                                         4%
                                        davor zurück, die Unsicherheiten
                                        der potenziellen Verbraucher*innen
                                        auszuschlachten, ihre Verwundbar-                     aller Frauen würden
                                        keiten und Ängste anzuprangern                       sich selbst als schön

                                        und sie ständig an ihre Misserfolge                           bezeichnen.

                                        und Makel zu erinnern. Kontinuier-
                                        lich wird uns ins Gedächtnis ge-           DATENQUELLE: DOVE STUDIE

                                        rufen, dass unser Leben viel besser
                                        sein könnte und wir nicht perfekt
                                        sind, aber doch viel perfekter sein    Mehr als nur Konsum
                                        könnten.
                                                                               Häufig hinterlässt solche Werbung
                                        Circa 60% der Frauen fühlen sich in    ein noch schlechteres Selbstwert-
                                        ihrem Körper nicht wohl und ver-       gefühl, insbesondere dann, wenn

                                                                                                                     feminin   17
die Werbebilder unrealistische In-        jedes Mal aufs Neue auf: Getrieben      ner. Zudem hat sich die Anzahl Ess-
     halte an die Öffentlichkeit tragen – in   von Verzweiflung, gefangen in den       störung mit verstärktem Aufkommen
     der Beauty- und Modeindustrie wird        Ketten ihrer eigenen Komplexe, ver-     der Massenwerbung – auch durch
     so gut wie jede Anzeige durch Mit-        stärkt durch die ständige Exposition    neue Werbekanäle wie Social Media
     tel wie zum Beispiel Photoshop im         mit Werbung und hoffend, dass die-      – dramatisch erhöht.
     Nachhinein verändert. Zwar ist den        ses Mal vielleicht doch ein Wunder
     meisten Frauen heute bewusst, dass        geschehen wird, kaufen Frauen fort-
     Anzeigen, so wie sie in den grossen       während neue Produkte.
                                                                                                         1 VON 4
     Kaufhäusern hängen, zumeist nicht
                                                                                                         FRAUEN
     der Realität entsprechen, doch brin-      Doch hat das Anwerben durch Un-
                                                                                              gibt an, an psychischen oder
     gen sie nichtsdestoweniger negative       sicherheiten komplexere Folgen als               emotionalen Störungen,
     Nebenwirkungen mit sich. Frauen           ein für Unternehmen florierendes                wie zum Beispiel einer De-
                                                                                               pression, Essstörung oder
     tendieren dazu, sich stärker zu ver-      Geschäft. Das Selbstvertrauen der
                                                                                              beabsichtigter Skarifizierung
     gleichen, und haben grundsätzlich         Frauen wird langfristig geschädigt,                      zu leiden.
     ein schlechteres Selbstwertgefühl;        was psychische Störungen wie De-            DATENQUELLE: SCHWEIZERISCHES GESUNDHEITSOBSERVATORIUM

     in einer Welt voller idealistischer       pression oder Essstörungen zur
     Wunschvorstellungen führt dies da-        Folge haben kann, welche oft eng
     zu, dass sie versuchen, sich noch         miteinander verknüpft sind; laut Stu-   Im April 2017 berichtete der Mi-
     stärker zu vergleichen. Somit geht        dien sind Frauen fünfmal anfälliger     chigan Daily in einem Artikel über
     die Marketingstrategie der Firmen         für gestörtes Essverhalten als Män-     die US-amerikanische Soziologin

18   feminin
Jean Kilbourne. Diese weist darauf       flussen, namentlich deren Sicht auf     Medien macht es schwer, das Ge-
hin, dass die ständige Konfronta-        die Frauen in ihrer Umgebung, wel-      schehen zu überwachen und ge-
tion mit solcher Werbung zu einem        che sexualisiert wird und somit         naue Richtlinien festzusetzen. Was in
internalisierten Sexismus beitragen      auch Männern ein unrealistisches        Frankreich gilt, mag in Deutschland
kann. Indem Frauen beginnen, ihr         Idealbild vor Augen setzt, was den      nicht gelten und in den USA passiert
Aussehen zur höchsten Priorität zu       Druck auf Frauen wiederum ver-          noch mal etwas ganz anderes. Zwar
machen, dezimieren sie ihren eige-       stärkt. Zwar sind auch Männer vor       überprüfen grosse Internetkonzerne
nen Wert auf einen sonst eigentlich      – von Bearbeitungsmanövern durch-       oder Werbenetzwerke wie zum Bei-
so marginalen Aspekt. Durch das          triebener – Werbung nicht sicher,       spiel Facebook Werbeanzeigen, be-
ständige Streben nach ästhetischer       doch scheint der negative Effekt,       vor diese aufgeschaltet werden, je-
Perfektion vernachlässigen Frauen        den diese auf Frauen hat, viel grös-    doch sind frauenwürdige Standards
ihre anderen Fähigkeiten und ver-        ser zu sein.                            keine Priorität für jene, die die Richt-
lieren folglich auch den Glauben an                                              linien festlegen. Diese profitieren
diese.                                   Die genügenden Werbungen zu-            nämlich selbst vom passiven Kon-
                                         grunde liegende Sexualisierung          sum von Bildern aus idealistischen
Kilbourne artikuliert ferner, dass die   der Frau führt dazu, dass viele vor     Scheinwelten und heimsen grosse
unerreichbaren weiblichen Idea-          allem junge Frauen einem Ideal          Werbeeinnahmen ein, wodurch die
le, welche oft durch die Werbung         nacheifern, welches in der ideali-      digitale Welt zu einem Nährboden
gesetzt werden, nicht nur Frau-          sierten Werbewelt als sexy gilt. Kil-   für ungesunde Werbung wird. Was
en, sondern auch Männer beein-           bourne tut dieses Verlangen zwar        diese Tatsache noch gefährlicher
                                         grundsätzlich als normal ab, doch       macht, ist, dass viele sich der Idea-
                                         bedeutet es heute, nach einem Ideal     lisierung in der Onlinewelt oft nicht
                                         zu streben, welches so gut wie un-      bewusst sind. Während bei Zeit-
                                         erreichbar ist. Ob in Werbung für       schriften und herkömmlicher Wer-
                                         Fast-Food-Ketten, Drogerieprodukte      bung häufig kritisiert wird, dass sie
                                         oder grosse Modehäuser – Frauen         unrealistische Standards verbreiten,
                                         werden vermehrt als Objekt sexuel-      so sind sich die meisten dem we-
                                         len Verlangens dargestellt und wei-     nigstens bewusst. Zwar sollten auch
                                         sen Körper auf, die durch Nachbe-       online indikative Hashtags wie #ad
                                         arbeitungen teils nicht lebensfähige    oder #sponsored angegeben wer-
                                         Körpermasse gebieten.                   den, doch machen hier abermals die
                                                                                 fehlenden Gesetzmässigkeiten einen
                                                                                 Strich durch die Rechnung – wäh-
                                         Ein noch tieferer Abgrund               rend es in manchen Ländern gesetz-
                                                                                 liche Pflicht ist, so handelt es sich in
                                         Ein Phänomen der zunehmenden            anderen eher um schwammige Emp-
                                         Digitalisierung in jeglichen Lebens-    fehlungen. Folglich lassen viele das
                                         bereichen in den letzten Jahren ist     Hashtag noch immer weg.
                                         die Verlagerung der einflussreichen
                                         Werbung von Strassenplakaten und        Durch Social Media verschwimmt
                                         TV-Spots hin zu Social Media. Wäh-      die Grenze von Werbung und Reali-
                                         rend konventionelle Werbung in-         tät immer stärker, zudem fühlen
                                         zwischen teils reguliert wird und       sich die Angesprochenen viel ver-
                                         Richtlinien unterliegt, an welche       bundener mit den Werbetreibenden.
                                         sie sich halten muss – in Frankreich    Das ständige Eingebundensein
                                         muss im Nachhinein veränderte           in das Leben der Influencer*in-
                                         Werbung zum Beispiel seit zwei Jah-     nen, deren jeder Schritt online zu
                                         ren als solche deklariert werden –      verfolgen ist, verleiht das Gefühl,
                                         können sich in der Welt der Soci-       die Menschen wirklich zu ken-
                                         al Media noch alle rumtreiben und       nen; man hört auf, ihre Authentizi-
                                         verbreiten, wonach es ihnen beliebt.    tät zu hinterfragen, und fängt an,
                                         Die enorme Reichweite der Neuen         ihnen blind alles zu glauben. Neue

                                                                                                                feminin     19
Technologien machen es zudem zu-        takt zu treten, die nie zuvor geboten    dels eroberten in den letzten paar
     nehmend schwieriger, zu erkennen,       war. Zwar können die Sternchen           Jahren die Laufstege renommierter
     ob ein Bild der Realität entspricht     der Szene pro Beitrag mehrere Tau-       Fashionshows und auch Hollywood
     oder nicht, denn sie verlagern die      send US-Dollar verdienen, doch be-       ist mit der Auslese ihrer Talente nicht
     Optimierung durch Bildbearbeitung       kommen die meisten «herkömm-             mehr ganz so kleinlich auf einen be-
     aus einigen teuren Fotostudios di-      lichen» Influencer*innen «nur» zwi-      stimmten Typus aus.
     rekt in unser Wohnzimmer. Es ist        schen 100 und 1000 US-Dollar pro
     nicht mehr nur noch kostspieligen       Bild. Für Unternehmen ein erspriess-     Hierbei handelt es sich um ein Phäno-
     Werbekampagnen vorbehalten, Bil-        liches Geschäft.                         men, welches es zu beobachten gilt.
     der zu verändern. Vielmehr kann                                                  Ob tatsächliche Besserung damit ein-
     heute jeder, der ein Smartphone be-                                              hergeht, ist noch offen und lässt sich
     sitzt, Bilder mit Apps wie Facetune     Hoffnung in Sicht                        erst in ein paar Jahren sagen, doch
     nach Belieben bearbeiten, bis auch                                               sind viele der zu beobachten Ent-
     sie unrealistischen Standards ent-      Doch ist auch Licht am Ende des Tun-     wicklungen sicher keine negativen.
     sprechen und mit dem Rohmaterial        nels zu sehen. Kürzlich berichtete
     nicht mehr viel zu tun haben. Unse-     die NZZ über das immer grössere
     re Feeds werden immer stärker zu        Verlangen der jüngeren Generatio-
     idealisierten Inszenierungen von        nen nach mehr Authentizität im all-
     etwas, das so nie stattgefunden hat.    täglichen Leben. Es wird erwähnt,
     Vermeintliche Schnappschüsse von        dass sich circa zwei Drittel der
     spärlich bekleideten Frauen mit         Konsument*innen über gemeinsame
     Sanduhrfiguren, welche verschmitzt      Werte und Normen mit einer Marke
     in die Kamera lächeln und ihr per-      oder einer öffentlichen Person identi-
     fektes Leben zu geniessen scheinen,     fizieren. Die Realitätsfremde der Ge-
     liegen heute an der Tagesordnung.       schehnisse in Werbung und online
     Zu differenzieren, was noch echt ist    deckt sich nicht mit diesem Bedürf-
     und was nicht, kommt einer nicht        nis. Immer mehr junge Menschen
     zu bewältigenden Lebensaufgabe          haben es satt, sich ständig als etwas
     gleich, welche uns nur noch tiefer in   zu geben, das sie gar nicht sind – das
     Unzufriedenheit über uns selbst und     ist anstrengend und auf Dauer Zeit-
     unser Leben stürzt, welches nicht so    verschwendung. Menschen sollen
     perfekt zu sein scheint, wie das der    sich nicht mehr verstellen, sondern
     anderen. Findet sich dann irgendwo      zeigen, wer sie wirklich sind.
     ein Produkt in einem Beitrag wieder,
     ist es um viele von uns geschehen       Die Pflegeproduktmarke Dove kam
     – dieses Produkt gilt es zu haben,      diesem Wunsch schon im Jahr 2004
     es könnte unser Leben schliesslich      nach, als sie ihre Werbekampagne
     besser machen. Social Media und         «Real Beauty» lancierte, in deren Rah-
     das «Influencertum» ermöglichen es      men sie neben anderen Aktionen für
     der Werbebranche somit, auf eine        Frauen auch anfingen Frauen jeg-
     Art und Weise mit Kunden in Kon-        licher Körperform und Hautfarbe in
                                             ihre Werbung einzubeziehen. Seit-
                                             her entfernte sich Dove nicht mehr
                                             von dieser Art zu werben und ver-
                              72%            sucht somit, die körperliche Vielfalt
                                             der Frauen zu zelebrieren, und sie
                der Mädchen verspüren        dazu inspirieren, sich wohlzufühlen.
               einen gewaltigen Druck,       Ein Trend, der tatsächlich immer
                          schön zu sein.
                                             präsenter wird: Vermehrt sieht man
                                             auf Werbeplakaten auch Frauen, die
         DATENQUELLE: DOVE STUDIE
                                             keinem Size 0 Schönheitsideal ent-
                                             sprechen. Sogenannte Curvy-Mo-

20   feminin
Frauen kaufen
                                                                                                Bild: Patrick Tomasso/ Unsplash

Erwerbstätige Frauen im Alter von       Mit ihrer starken Kaufkraft sind Frau-   Neue Parameter
24 bis 54 Jahren gilt es heute zu er-   en zu einer grossen, einflussreichen
reichen. Durch ihre starke Kaufkraft    Zielgruppe geworden; Konsumen-           Um diesen neueren Entwicklun-
und Entscheidungskompetenz ha-          tinnen haben eine Macht immanent,        gen gerecht zu werden, achten Pro-
ben sie verändert, wie Unternehmen      welche es zu erobern gilt, wenn man      dukthersteller*innen immer mehr
ihre Produkte entwerfen, vermark-       gewinnbringend wirtschaften möch-        auf den Stil ihrer Produkte und
ten und verkaufen. Mehr als 80% al-     te. Die gestiegene Entscheidungs-        werben zusätzlich zu den simplen
ler Kaufentscheidungen werden von       kompetenz der Frauen geht mit der        TV-Werbekampagnen längst an Or-
den Frauen dieser Welt getroffen,       in den letzten Jahrzehnten zugenom-      ten, denen Frauen ihr Vertrauen
das zeigt eine Studie der Nielsen       menen Erwerbstätigkeit der Frauen        schenken: Implementierungen in
Company aus dem Jahr 2011.              einher. Waren in Deutschland 1990        Fernsehsendungen, Rezensionen in
                                        nur 53.8% der Frauen erwerbstätig,       Frauenzeitschriften und auch Social
                                        so waren es 2017 laut dem Bundes-        Media. Laut einer Studie sind Frau-
                                        amt für Statistik bereits 79%. Zum       en weniger anfällig dafür, von einem
                                        Vergleich: In den Jahren 1960 bis        normalen Werbespot beeinflusst zu
                                        1990 stieg die Erwerbstätigenquote       werden; sie bevorzugen es, vorher
                                        um nur knappe 7%. Etwa 14% der           gründlich zu recherchieren und
                                        Frauen verdienen heute mehr als ihr      wollen dem Produkt, welches sie zu
                                        Partner und 10.6% aller Paare ver-       kaufen gedenken, wirklich vertrau-
                                        dienen zumindest ähnlich viel, wo-       en. Dies zwingt Vermarkter*innen
                                        raus folgt, dass in einem Viertel der    dazu, mit immer neuen Marketing-
                                        deutschen Haushalte die Frauen für       strategien zu experimentieren. Wer
                                        mindestens die Hälfte des komplet-       Frauen für sich gewinnen möchte,
                                        ten Haushaltseinkommens verant-          muss sie im Alltag erreichen – wenn
                                        wortlich sind.                           möglich stressfrei: Ein Grossteil der

                                                                                                                   feminin        21
lichen Mitstreiter und sie finanziell
                                                                                     immer unabhängiger werden, lässt
                                                                                     sich hier ein schnell wachsender
                                                                                     Markt erschliessen. Ein Problem,
                                                                                     welches sich Frauen als Investo-
                                                                                     rinnen jedoch häufig in den Weg
                                                                                     stellt, ist der Mangel an Vertrauen,
                                                                                     welches sie in den Finanzmarkt,
                                                                                     aber auch in ihre eigenen Anlage-
                                                                                     fähigkeiten setzen. Während viele
                                                                                     Männer den Investitionsfehler des
                                                                                     übertriebenen Selbstvertrauens be-
                                                                                     gehen, vorschnell investieren und
                                                                                     unüberlegt versuchen, den Markt zu
                                                                                     timen, macht sich bei Frauen die um-
                                                                                     gekehrte Problematik bemerkbar.

                                                                                     Die US-amerikanische Geschäftsfrau
                                                                                     Sallie Krawcheck erkannte im Laufe
     befragten Frauen gab in der Studie       Frauen pink oder pastellfarben und     ihrer Karriere, dass die Investment-
     an, sie würden sich gestresst fühlen.    haben selten mehr als vier Klingen.    Industrie zu lange «von Männern für
     Frauen weltweit stehen unter Zeit-       Tatsächlich sympathisieren jedoch      Männer» gemacht gewesen sei, was
     druck und fühlen sich überarbeitet.      nur wenige Frauen mit den über-        Frauen davon abhielt, ihre finanziel-
     In sich noch entwickelnden Volks-        brachten Messages solcher Kampag-      len Ziele zu erreichen. Um dem ent-
     wirtschaften lag die Anzahl der Ge-      nen, da sie noch immer implizieren,    gegenzuwirken, gründete sie 2016
     stressten mit circa 77% über der der     Frauen seien de facto das schwäche-    das Start-up Ellevest. Ellevest bietet
     entwickelten Länder. Hier waren es       re Geschlecht.                         massgeschneiderte Portfolios nur
     circa 65%.                                                                      für Frauen an, welche auf deren spe-
                                                                                     zifischen Anlagezielen beruhen. Ins-
                                              Für die Frauen                         gesamt investiert das Unternehmen
     «shrink it and pink it»                                                         in 21 Anlageklassen und bevorzugt
                                              Die Firma Bosch versucht sich da-      dabei Unternehmen, die Frauen im
     Die Kaufkraft der Frauen kann eini-      her mit Produkten wie ihrem Akku-      oberen Management fördern. Das
     gen Firmen jedoch zum Verhängnis         schrauber IXO. Das handliche und       Gründungsteam setzte es sich zum
     werden: Noch immer gibt es Bran-         dennoch leistungsstarke Werk-          Ziel, die finanzielle Macht der Frau-
     chen, in denen Frauen weitestge-         zeug wurde zum Verkaufsschlager        en zu entfesseln und sie in ihre Zie-
     hend ignoriert werden. Um diese Lü-      schlechthin und brach sämtliche je     le investieren zu lassen. Momentan
     cke zu schliessen, beginnen Firmen       da gewesenen Rekorde. Mit ihrem        werden drei verschiedene Planstu-
     sich bereits vor der Werbe- oder gar     Produkt distanzierte sich Bosch vom    fen angeboten: Digital, Premium und
     Verkaufsphase auf die Frauen zu fo-      alten Marketing-Mantra «shrink it      Private Wealth, welches sich speziell
     kussieren. Schon während der Pro-        and pink it» und heimste somit einen   an Kundinnen richtet, die mehr als
     duktherstellung machen sich Unter-       unheimlichen Erfolg ein. Frauen und    eine Millionen US-Dollar investieren
     nehmen Gedanken darüber, wie ein         Männer waren begeistert.               möchten.
     Produkt auszusehen hat, damit es
     einer Frau vermeintlich besser gefal-    Auch der Finanzdienstleistungssek-
                                                                                                 SALLIE KRAWCHECK
     le. Lange lautete die Leitphrase hier    tor versucht verstärkt, Frauen als                     CEO Ellevest

     «shrink it and pink it». Zu Deutsch:     Kundinnen zu gewinnen. Manche
     Schrumpfe es und verpinkifiziere         Finanzfirmen und Banken haben                 We women will not be
     es. Ein gutes Beispiel hierfür sind      ganze Abteilungen geschaffen, wel-          fully equal with men until
     Rasierer: Sind sie für Männer meist      che Anlageprodukte ausschliesslich           we are financially equal
     schwarz oder dunkelblau mit min-         an Frauen vertreiben. Da Frauen im                  with men.
     destens fünf Klingen, so sind jene für   Schnitt älter werden als ihre männ-

22   feminin
Verschiedenste Unternehmen ver-                 WAGNISKAPITALGEBER
                                                 IGNORIEREN FRAUEN
suchen also, Frauen in ihre Marke-
tingstrategien einzubeziehen. Selbst

                                                    WEITESTGEHEND
Marken, die primär von Männern
genutzt werden, haben angefangen,
Frauen in ihre Werbung zu imple-
mentieren. So lancierte die US-ame-
rikanische Pflegeproduktmarke Old       Laut Daten des Datenbeschaffungsun-       Trotz dieser trüben Erkenntnisse und
Spice eine Kampagne für Herren-         ternehmens Pitchbook Data Inc. sam-       volatiler wirtschaftlicher Verhältnisse
produkte, welche sich jedoch nicht      melten Start-ups mit rein weiblichen      liess sich in den letzten Monaten eine
an die Männer, sondern an deren         Führungsteams im Jahr 2018 insge-         positive Entwicklung beobachten: Die
Lebenspartnerinnen richtete. Tat-       samt 2.8 Milliarden US-Dollar in den      Zahl der von Frauen geführten Start-
sächlich steigerte sich der Umsatz      Finanzierungsrunden der Risikokapi-       ups stieg an und ganze zehn von
und auch der Marktanteil der zuvor      talgeber. Im Vergleich zum Vorjahr ist    Frauen gegründeten Unternehmen
absinkenden Marke enorm.                dies ein wahrlicher Aufschwung, dort      wurden allein in der ersten Hälfte
                                        kamen gerade mal 1.9 Milliarden Dol-      des Jahres 2019 zu sogenannten Uni-
Adidas indes baute mit ihrem Portal     lar für die Frauen zusammen. Was so-      corns, also Start-ups mit einer Markt-
«adidas women» eine Plattform auf,      mit im ersten Moment nach einem er-       bewertung vor Börsengang von über
welche sich an starke, fitte und un-    folgreichen Schritt nach vorne klingt,    einer Milliarde US-Dollar. Zwar ist
abhängige Frauen richten soll. Via      löst sich in Realität jedoch schnell in   dies noch immer ein recht margina-
Social Media kommunizieren sie mit      einer niederschmetternden Wahrheit        ler Anteil, doch liegt im Vergleich zu
diesen, bieten ihnen geführte Trai-     auf: Insgesamt investierten US-ameri-     den Vorjahren hier ein durchaus po-
ningseinheiten, Meditations- und        kanische Wagniskapitalgeber im Jahr       sitiver Trend vor.
Ernährungstipps und preisen sogar       2018 ganze 130 Milliarden US-Dollar
tägliche Abenteuer an. Mit dieser       in vielversprechende Start-ups. Die       Das einzige – mit Sicherheit aber das
vermeintlich direkten Interaktion       den Frauen zukommenden 2.8 Mil-           schwerwiegendste – Problem, was
mit ihrer Zielgruppe bindet Adidas      liarden US-Dollar belaufen sich so-       sich für Start-up-Gründerinnen somit
die Frauen in ihre Produktwelt ein      mit gerade mal auf knappe drei Pro-       noch immer bietet, sind die wahrlich
und verspricht sich dadurch eine        zent des insgesamt Investierten. Hin-     nichtigen Investitionen der Risikoka-
neue treue Kundschaft. Ein Äquiva-      zu kommt, dass sich aufgrund eines        pitalgeber, die Männer allesamt zu
lent à la «adidas men» gibt es nicht.   wachsenden Pools an Wagniskapi-           bevorzugen scheinen, vor allem bei
                                        talfinanzierungen im Vergleich zum        den immer häufiger vorkommenden
Es sind solche Marketingstrategien,     Vorjahr anteilsmässig für Frauen          Megarunden, in denen mehr als 100
die sinnvoll sind, möchte man Frau-     kaum etwas veränderte.                    Millionen US-Dollar investiert wer-
en erreichen. Eine von der J. Wal-                                                den. Prognosen der London Business
ter Thompson Company Initiative         In europäischen Ländern wie dem           Bank zufolge wird es trotz zuneh-
durchgeführte Studie besagt, dass       Vereinigten Königreich geht es Frau-      menden Risikokapitalinvestitionen in
sich noch immer 70% der Frauen          en nicht viel besser – sogar eher         Start-ups weiblicher Gründerinnen
von den an sie vermarkteten Pro-        schlechter. Gemäss dem UK VC &            bei aktuellen Raten wohl länger als
dukte im Stil «shrink it and pink it»   Female Founders Bericht der Lon-          25 Jahre dauern, bis Frauen gerade
entfremdet fühlen, von denen sich       don Business Bank erhalten weib-          mal zehn Prozent der Deals für sich
Unternehmen erst langsam loslösen.      liche Gründungsteams weniger als          gewinnen können.
Frauen wollen nicht ständig zu Ste-     einen Penny von jedem investier-
reotypen gemacht, sondern als Indi-     ten Pfund Wagniskapital. Männliche
viduen mit einer Rolle in dieser Welt   Gründungsteams erhielten ganze 89
gesehen werden.                         Pence und der Verbleib ging an ge-
                                        mischte Teams. Die Bank gibt weiter
                                        an, dass bei 83% der abgeschlosse-
                                        nen Wagniskapitaldeals keine Frau-
                                        en in den Gründungsteams vertreten
                                        waren.

                                                                                                            feminin   23
Ein Fest der Freude –
     und politischen
     Notwendigkeit

     Diskriminierungen liegen für Men-        Es ist warm, die Sonne scheint, der       sichtern, die darauf warten, feiernd
     schen der LGBTQ+-Community noch          Sommer steht in den Startlöchern          durch die Strassen zu ziehen. Es sind
     immer an der Tagesordnung. War           und in Zürich ist alles bunt. In der      längst nicht mehr nur Homosexuelle,
     die Schweiz einst Vorreiter in Sa-       Luft liegt noch die pure Energie des      die am Pride Festival auf die Stras-
     chen Homosexualität, so hinkt sie        Frauenstreiks am Tag zuvor, wel-          se gehen. Auch Bisexuelle, Trans-
     heute hinter ihren Nachbarländern        che sich nun mit ungezügelter Freu-       personen, jene, die sich keinem Ge-
     her. Am alljährlich stattfindenden       de vermischt. Einen Tag, nachdem          schlecht zuordnen möchten oder gar
     Zurich Pride Festival versammeln         in ganz Zürich für die Gleichstellung     Heterosexuelle gehen heute unter
     sich die Leute, um zu zeigen, dass es    der Geschlechter demonstriert wur-        dem Motto «Strong in Diversity» auf
     egal ist, wie wir sind, solang wir da-   de, geht es nun um die Rechte all je-     die Strasse, um darauf aufmerksam
     mit glücklich sind.                      ner, die sich nicht als heterosexuell     zu machen, dass Diskriminierungen
                                              identifizieren. Seit nunmehr 25 Jah-      gegen Nicht-Heterosexuelle auch
                                              ren findet auch in der Grossstadt an      im Jahr 2019 noch an der Tagesord-
                                              der Limmat die Pride statt und die-       nung stehen und einen massgebli-
                                              ses Jahr – 50 Jahre nach den Stone-       chen Einfluss auf das Leben Betroffe-
                                              wall-Unruhen – ist der Andrang grös-      ner haben können. Viviane Kägi ist
                                              ser als je zuvor. Ganze 31'000 Men-       eine der Tausenden Teilnehmenden
                                              schen sind es, die an der Demonst-        des Umzugs. Zusammen mit der Jun-
                                              ration des Zurich Pride Festivals teil-   gen Grünliberalen Partei des Kan-
                                              nehmen.                                   tons Zürichs, deren Co-Präsidentin
                                                                                        sie ist, zieht die 21-Jährige durch die
                                                                                        Stadt und das, obwohl sie heterose-
                                              Die Liebe liegt in der Luft               xuell ist. «Der Grund, weswegen ich
                                                                                        jedes Jahr an die Pride gehe, ist die
                                              Am Helvetiaplatz, welcher den Start-      wunderbare Vielfalt an Menschen,
                                              punkt der Demonstration darstellt,        das Feiern von Verschiedenheiten
                                              gerät man in eine Menschenmen-            und die gute Laune. Überall ist Par-
                                              ge; wo man nur hinschaut, befin-          tystimmung, Liebe liegt in der Luft
                                              den sich in schillernden Farben ge-       und man merkt, dass alle willkom-
                                              kleidete Leute mit strahlenden Ge-        men sind.»

24   feminin
Sie können auch lesen