Flüchtlingskinder und jugendliche Flüchtlinge in der Schule - Baden-Württemberg

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Flüchtlingskinder und jugendliche Flüchtlinge in der Schule - Baden-Württemberg
Eine Handreichung

Flüchtlingskinder und jugendliche
    Flüchtlinge in der Schule

            Baden-Württemberg
         M i n i s t e r i u M f ü r K u lt u s , J u g e n d u n d s p o rt
Flüchtlingskinder und jugendliche Flüchtlinge in der Schule - Baden-Württemberg
Autorin Hanne Shah
Mit freundlicher Unterstützung
     von Golaleh Muhialtin
Flüchtlingskinder und jugendliche Flüchtlinge in der Schule - Baden-Württemberg
Vorwort

Mit der Vielzahl an Flüchtlingen, die    Der erste Teil der Broschüre möchte für
in unserem Land Schutz vor Gewalt        die besonderen Belastungen sensibili-
und Verfolgung suchen, kommen auch       sieren, mit denen viele Flüchtlingskin-
immer mehr Kinder und Jugendliche        der und jugendliche Flüchtlinge leben
nach Baden-Württemberg. Es ist unsere    müssen. Im zweiten Teil sollen praxis-
Aufgabe und menschliche Pflicht,         bezogene Anregungen gegeben werden,
all diese Menschen gut in unserem        was an Schulen getan werden kann, um
Land aufzunehmen. Bei Kindern und        eine gute Integration zu ermöglichen.
Jugendlichen spielt dabei die Schule
eine entscheidende Rolle.                Ergänzend zu dieser Broschüre werden
                                         für Lehrerinnen und Lehrer regionale
In der Schule können sie Freundschaf-    Fortbildungsveranstaltungen angeboten,
ten schließen, viel über das Gastland,   die sich mit den Fragen der Belastungen
die fremde Sprache, dessen Sitten        dieser Kinder und Jugendlichen be-
und Gebräuche lernen, und sie haben      schäftigen und damit, wie im Unterricht
auch die Chance, mit dem erworbenen      darauf reagiert werden kann.
Wissen später ein selbstbestimmtes und
unabhängiges Leben zu führen.            Ich danke allen, die sich in der Schule
                                         der Flüchtlingskinder und jugendlichen
Mit dieser Broschüre möchten wir vor     Flüchtlinge annehmen, sich für sie en-
allem Lehrerinnen und Lehrer, aber       gagieren und ihnen damit einen guten
auch andere am Schulleben Beteiligte     Start in unserem Land ermöglichen.
in ihrer Arbeit mit Flüchtlingskindern
und jugendlichen Flüchtlingen unter-
stützen.

                                         Andreas Stoch MdL
                                         Minister für Kultus, Jugend und Sport

                                                                                   3
Einleitung

           Im Oktober 2012 erhielt ein 15-jähriges   Einigen wenigen dieser Flüchtlinge
           pakistanisches Mädchen Asyl in Groß-      gelingt die Flucht nach Deutschland.
           britannien. Weil sie für das Recht auf    Artikel 11 der Landesverfassung ge-
           Bildung für Mädchen eingetreten war,      währt jedem jungen Menschen ohne
           war sie zuvor bei einem Attentat schwer   Rücksicht auf seine Herkunft oder
           verletzt worden. Ihr Name ist Malala      wirtschaftliche Lage das Recht auf eine
           Yousafzai und sie erhielt als jüngste     seiner Begabung entsprechende Erzie-
           Preisträgerin der Geschichte zusammen     hung und Ausbildung. Dies gilt auch
           mit dem Inder Kailash Satyarthi am        für Flüchtlingskinder und jugendliche
           10. Dezember 2014 in Oslo den Frie-       Flüchtlinge.
           densnobelpreis.
           Der 60-jährige Kailash Satyarthi, der     Ob und wie Integration gelingen kann,
           in seiner Heimat gegen Kinderarbeit       hängt von verschiedenen Bedingungen
           kämpft, sagte: „Es gibt keine größere     und Faktoren ab. Welche Erfahrungen
           Gewalt, als unseren Kindern ihre          hat das Kind in seinem Heimatland mit
           Träume zu verwehren.“                     der Schule gemacht? Welchen Stellen-
                                                     wert hat Bildung und Schule in der
           Ähnlich wie Malala sind weltweit Mil-     Familie, aus der das Kind kommt?
           lionen von Kindern und Jugendlichen       Aber auch die Haltung und Einstellung
           gezwungen, ihre Heimat zu verlassen.      der Lehrkräfte spielt eine entscheiden-
           Sie fliehen vor Bürgerkrieg und aus       de Rolle. Fühlt sich ein Kind sicher,
           Angst, als Kindersoldaten rekrutiert zu   angenommen und willkommen, wird
           werden, vor körperlicher oder sexueller   Lernen und Integration möglich.
           Ausbeutung und vor Verfolgung aus         Fühlt sich ein Kind zurückgewiesen,
           politischen und religiösen Gründen        nur mitleidig betrachtet oder nicht
           oder weil ihre Familien einer Minder-     beachtet, „frieren seine Gedanken und
           heit angehören.                           Gefühle ein“ und dies behindert das
                                                     Lernen sowie die seelische und geistige
                                                     Entwicklung.

       4
Es gibt nicht „die Flüchtlingskinder“      Viele Mitarbeitende in Bildungseinrich-
und erst recht gibt es kein Patentrezept   tungen werden in ihrem Arbeitsalltag
für den Umgang mit „diesen Kindern         täglich herausgefordert, mit den
und Jugendlichen“. Jedes Kind, jeder       Auswirkungen dieser Schwierigkeiten
Jugendliche ist anders, jede Familie       umzugehen.
unterschiedlich. Die Kinder kommen
aus den verschiedensten Ländern, Kon-      Diese Broschüre möchte für die Belan-
tinenten sowie oft grundverschiedenen      ge der Flüchtlingskinder und jugendli-
sozialen Schichten und haben unter-        chen Flüchtlinge sensibilisieren, helfen
schiedliche Religionen.                    Berührungsängste abzubauen und
                                           Ihnen praktische Hilfestellung für die
Manche Familien haben ihr Leben lang       alltägliche Arbeit zu geben.
in extremster Armut gelebt, die Eltern
können weder lesen noch schreiben          Der Handreichung zugrunde liegen
und die Kinder oder Jugendlichen           eigene jahrelange Praxiserfahrung sowie
haben noch nie eine Schule von innen       zahlreiche Gespräche mit Flüchtlingen,
gesehen. Andere Familien lebten in         Lehrkräften, Mitarbeitenden vom Zent-
ihrer Heimat im Wohlstand, die Eltern      rum für Trauma- und Konfliktmanage-
sind Ärzte, Anwälte oder Lehrer, hatten    ment (ZTK, Köln) und anderen, die im
ein Haus und viele Annehmlichkeiten.       Bereich Trauer und Trauma tätig sind.
Ihre Kinder besuchten die Schule, be-
kamen vielleicht Musikunterricht und       Hanne Shah
hatten einen sorgenfreien Alltag.

Aber sie alle sind geflohen, verloren
Besitz und Heimat und haben nun als
meist mittellose Flüchtlinge in Deutsch-
land aus den verschiedensten Gründen
Zuflucht gefunden. Je nachdem, wie
das Leben früher für diese Kinder war,
kämpfen sie hier mit unterschiedlichen
Schwierigkeiten.

                                                                                      5
Inhalt

             I.
              teil
              Mögliche Folgen von Flucht, Vertreibung und dem Leben in der Fremde    8
             	Traumatisierte Kinder und Jugendliche                                  9
             	Trauernde Kinder und Jugendliche                                      10
             	Eine andere Kultur                                                    11
             	Die „doppelte“ Sprachlosigkeit                                        12
             	Leben in Armut                                                        13
              Wenn das System Familie zusammengebrochen ist                         14
              Mögliche Reaktionen                                                   16

             II. Te il
                 Was Sie beachten und tun können                                    18
                 Der erste Tag                                                      18
                 Spracherwerb                                                       18
                 Lernen durch Gleichaltrige                                         19
             	Struktur und klare Haltung                                            20
             	Fremdenfeindlichkeit, Mythen und Vorurteile                           20
                 Kulturelle Missverständnisse                                       21
                 Interesse am Kind und seinem Leben bekunden                        22
                 Informationen weitergeben                                          23
                 Essen und Trinken                                                  24
                 Hausaufgaben                                                       24
                 Erzählungen                                                        25
                 Fantasie als wichtige Kraftquelle                                  25
                 Bewegung und Spiel                                                 26
                 Theater, Romane, Filme, Musik                                      26

                  Elternarbeit                                                      27
                  Andere Eltern mit einbeziehen                                     27
                  Eltern der Flüchtlingskinder                                      27

         6
III. Tei l
          Monate oder Jahre später                               29
     	Sicherheit                                                 29
     	Selbstheilungskräfte                                       30
     	Unterstützungsangebote                                     30
          Zukunftsperspektiven schaffen                          31

     Nac hdenkl iches (Aussagen von jugendlichen Flüchtlingen)   32
     Impressum                                                   34

                                                                      7
Teil I       Mögliche Folgen von Flucht,
             Vertreibung und dem Leben in der Fremde

             Ein Kind aus einer Flüchtlingsfamilie        anderen öffentlichen Räumen gut
             kommt in Ihre Klasse. Sie wissen wenig       unterstützt werden können, muss man
             oder gar nichts über seine Geschichte,       zunächst verstehen, warum manche
             den Familienhintergrund oder sein            Kinder so reagieren, wie sie reagieren,
             Befinden. Sicher jedoch ist, dass die        warum sie sich für uns vielleicht merk-
             meisten dieser Kinder Schreckliches          würdig verhalten und warum sie mit
             erlebt und gesehen haben. Vielleicht         bestimmten, für uns alltäglichen Dingen
             sahen sie, wie Menschen erschossen           Schwierigkeiten haben.
             oder vergewaltigt wurden, saßen
             während Bombardements in Kellern,            Die Geschichten und Hintergründe
             hatten Hunger und Durst oder erlebten        der Kinder und Jugendlichen sind sehr
             die Odyssee einer langen Flucht in           unterschiedlich.
             ständiger Todesangst.
                                                          Bei Flüchtlingskindern und -jugendli-
             Manche Familien sind auch „nur“ der          chen kann Folgendes zutreffen oder ist
             großen Armut entflohen oder der täg-         zumindest sehr wahrscheinlich:
             lichen Diskriminierung und Schikane,         • Sie sind traumatisiert,
             weil sie einer bestimmten Ethnie oder        • sie trauern,
             Religion angehören oder politisch            • sie erleben einen „Kulturschock“,
             verfolgt wurden.                             • sie sind „sprachlos“,
                                                          • sie leben (auch) jetzt in Armut und
             Nun sind sie in einem fremden Land,          • ihr Familiensystem ist zusammen-
             zunächst sprachlos und hilflos. Vieles ist     gebrochen.
             anders, ungewohnt und viele Alltäglich-
             keiten müssen neu erlernt werden.            Bereits einer dieser Faktoren reicht aus,
             Insbesondere in den Herbst- und Win-         um normales schulisches Lernen und
             termonaten erleben viele Deutschland         die Entwicklung zu beeinträchtigen.
             als kalt und grau. Das fehlende Sonnen-      Dann bedarf es sensibler Unterstüt-
             licht empfinden manche Menschen aus          zung, damit das möglicherweise schwer
             wärmeren und sonnenreicheren Regio-          verletzte Kind seine Möglichkeiten
             nen zusätzlich als sehr belastend.           entfalten kann sowie Lernen und Inte-
             Das Leben hier spielt sich oft in den        gration möglich werden.
             Häusern ab, weniger auf der Straße.
             Dies erschwert den Aufbau neuer              Im Folgenden wird einzeln auf die
             sozialer Kontakte. Damit diese Kinder        verschiedenen „Belastungsfaktoren“
             und Jugendlichen im Schulalltag oder         eingegangen. Dabei gilt es zu beachten,

         8
dass diese sich in der Praxis häufig ver-   ches gesehen oder gehört und sind dem
mischen und selten getrennt voneinan-       Geschehen hilflos und meist mit Todes-
der auftreten.                              angst ausgeliefert gewesen. Bilder des
                                            Grauens, Schreie, aber auch Gerüche
                                            und Geräusche, die mit dem traumati-
Tr a u matisierte Kinde r u n d             schen Erleben einhergingen, haben sich
Jugendliche                                 tief ins Gehirn eingebrannt.

In Krisen-, Kriegs- und Notsituationen      Diese Bilder können sich auch später in
schaltet der Körper auf einen Notme-        Friedenszeiten und in Sicherheit immer
chanismus. Um zu überleben, muss            wieder unkontrolliert aufdrängen und
man schnell begreifen und entscheiden,      wie ein innerer Film ablaufen. Das
handeln, ohne lange nachzudenken.           Kind erlebt sich dann in der gleichen
Es ist ein eher automatisches Tun wie       ohnmächtigen Angst wie zum Zeit-
beim Radfahren. Die Gedanken sind           punkt, als das Trauma entstanden ist.
ausgeschaltet, sie würden nur behin-
dern. Bewältigen bedeutet, dass sich        Besonders häufig tauchen diese Bilder
ein Mensch der Katastrophe stellt,          nachts in Form von Albträumen auf.
während sie geschieht – es ist ein Über-    Am nächsten Morgen ist das Kind dann
lebensmechanismus.                          unausgeschlafen und gereizt. Aber auch
                                            tagsüber können diese Schreckensbilder
Erst wenn die akute Notlage vorbei          erscheinen. Dann wirken die Kinder
ist, können sich manche Kinder und          wie in einer anderen Welt, starren
Jugendliche allmählich mit den Ein-         vielleicht gedankenverloren vor sich
drücken und Vorstellungen von dem,          hin und schrecken zusammen, wenn sie
was ihnen zugestoßen ist, gedanklich        angesprochen werden.
auseinandersetzen. Erst mittel- und
langfristig zeigt sich, welche Ressourcen   Unbewusst vermeiden Kinder dann
Kinder oder Jugendliche haben oder          bestimmte, angstmachende Situationen.
welche Hilfe sie benötigen, um die          Das Vermeiden dient als Schutz. So
schlimmen Ereignisse in ihr Leben zu        kann es beispielsweise vorkommen,
integrieren.                                dass ein Kind nicht Bahn fahren möch-
                                            te, weil es Angst vor dem Kontrolleur
Viele Flüchtlingskinder sind durch          in Uniform hat, der es an einen Solda-
Kriegserlebnisse, Flucht oder Gräuelta-     ten erinnert.
ten traumatisiert. Sie haben Schreckli-

                                                                                      9
Te i l I	        M ö g l i c he F o l g e n v o n F l u c h t, V e r t r e i b u n g u n d d em Le b e n

                 Kleinigkeiten aus dem Alltag können       bezeichnet. Eine Amnesie kann unter-
                 für Kinder aus Kriegsgebieten „Trigger“   schiedlich lange anhalten, manchmal
                 (Auslöser) sein, die den inneren Film     viele Jahre lang, sogar ein ganzes Leben.
                 zum Ablaufen bringen:
                 • So kann rote Farbe an Blut erinnern,    Ein schreckliches Erlebnis führt jedoch
                 • ein einfacher Knall an Schüsse oder     nicht zwangsläufig zur Traumatisierung.
                 • der Geruch von Grillfleisch an Men-     Viele Menschen „trauern einfach nur.“
                 schen, die im Feuer umkamen.

                 Die meisten Kinder verstehen nicht,       T ra u e r n d e K i n d e r u n d
                 warum sie Angst haben. Sie reagie-        Jug e n d l i c he
                 ren einfach verstört, verkriechen sich
                 unter einem Tisch oder weigern sich       Fast alle Flüchtlingskinder haben große
                 vehement, einen bestimmten Ort zu         Verluste erlebt. Vielleicht starb ein Fa-
                 betreten.                                 milienmitglied, manchmal sogar Vater,
                                                           Mutter und/oder ein Geschwisterkind.
                 Durch das erlebte Trauma ist der          Viele Familien sind auseinanderge-
                 Körper in einer permanenten Hoch-         rissen, sie wissen nicht, wie es ihren
                 spannung. Wachsamkeit ist in einer Ge-    Liebsten geht, ob sie gesund sind oder
                 fahrenlage lebensnotwendig und kann       noch leben. Zudem leiden die meisten
                 von den Kindern auch in Friedenszei-      Kinder unter Heimweh, vermissen
                 ten nicht einfach abgestellt werden.      Freunde und ein vertrautes Umfeld.
                 Diese Übererregbarkeit kann sich durch
                 motorische Unruhe, Schreckhaftigkeit,     Jedes Kind trauert anders, so wie jedes
                 aber auch Aggressivität zeigen.           Kind auch seine eigene Art im Umgang
                                                           mit Trauma hat. Vielen Kindern sieht
                 Bei einem schweren Trauma gibt es         man die Trauer nicht an. Sie lachen,
                 eine weitere Schutzmaßnahme: das          spielen und verhalten sich (scheinbar)
                 Vergessen.                                völlig normal.

                 Manche Erlebnisse sind so schlimm,        Trauer ist mehr als ein Gefühl – Trauer
                 dass sie vom Bewusstsein abgespalten      ist ein komplexer Zustand, der sich
                 werden. Das Kind erinnert sich nur        verändern kann, jedoch nicht mit Trau-
                 noch an Bruchstücke, oft aber gar nicht   rigkeit verwechselt werden sollte.
                 mehr an das Erlebte. Das totale oder      Ein Kind ist zum Beispiel traurig über
                 partielle Vergessen wird als Amnesie      eine schlechte Note.

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i n d e r F r em d e

     Jeder kennt das Gefühl der Traurigkeit.     Ei n e an de re K u lt u r
     Dieses manchmal sehr starke Gefühl
     äußert sich nach außen sehr oft durch       Das Kind kommt aus einer anderen
     Weinen, zumindest aber sieht man den        Kultur.
     meisten Menschen ihre Traurigkeit           In Thailand ist es tabu, ein Kind am
     an. Diese Traurigkeit ist ein linear ver-   Kopf zu berühren, das bringt Unglück.
     laufender Prozess, ein Gefühl, das für      In Kenia dagegen wird bei den Massai
     unterschiedlich lange Zeit sehr heftig      einem Kind die Hand auf den Kopf
     sein kann, dann aber weniger wird und       gelegt, um es zu segnen. In Indien isst
     nach einiger Zeit ganz verschwindet.        man nur mit der rechten Hand, die
                                                 linke ist unrein. In manchen Ländern
     Dagegen ist „Traurig sein“ nur eines        ist es unhöflich, sehr leise zu sprechen,
     unter vielen Gefühlen in der Trauer –       man könnte ja hinter dem Rücken eines
     man „ist in Trauer“. Schmerz, Kummer,       anderen tuscheln.
     Zorn, Wut, Verzweiflung, Ohnmacht,
     Scham und Schuldgefühle sind weitere        Jedes Land hat seine unausgesproche-
     Gefühle, die zusätzlich in unterschied-     nen Regeln, die wir von klein auf bei-
     licher Heftigkeit, oft phasenweise,         gebracht bekommen und verinnerlicht
     auftreten können, aber nicht müssen.        haben. Menschen aus anderen Kultu-
     Trauer ist ein Zustand, der eine sehr       ren, die andere Regeln gelernt haben,
     lange Zeit, eventuell ein Leben lang,       müssen sich erst an das neue Umfeld
     anhalten kann.                              gewöhnen. Alles ist neu, alles anders
     Die Trauer um ein enges Familienmit-        und es ist zutiefst verunsichernd, wenn
     glied, aber auch um den Verlust der         man sich nicht verständigen kann und
     Heimat prägt meist das ganze Leben.         zudem noch ständig Angst haben muss,
                                                 etwas falsch zu machen.
     Zusätzlich müssen sich die Kinder
     und Jugendlichen an ein völlig neues        Kinder lernen zwar schnell, doch auch
     soziales Gefüge und kulturelles Umfeld      sie brauchen Zeit.
     anpassen.
                                                 Vielleicht kennen sie ein Schulsystem,
                                                 das sehr viel autoritärer war und den
                                                 Kindern weniger Entscheidungsfreiheit
                                                 ließ. Vielleicht waren sie es gewohnt,
                                                 sich in der alten Heimat ohne Aufsicht
                                                 völlig frei zu bewegen, zu klettern und

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                 zu toben, ohne ständige Begrenzung.         vergessen hatte. Kommentare, die oft
                 Vielleicht sprach man in der Heimat         nicht einmal böse gemeint sind, doch
                 laut und hier nun plötzlich leise. Es       extrem erniedrigend und beschämend
                 sind nicht die großen Dinge, sondern        wirken können. Sätze wie diese bren-
                 die vielen Kleinigkeiten des Alltags, die   nen sich ins Gedächtnis.
                 normalerweise mühsam erlernt werden
                 müssen und oft zu Missverständnissen
                 führen. Flüchtlingskinder, die hierher-     Die „doppelte“ Sprachlosigkeit
                 kommen, haben meist keine Erwachse-
                 nen, die ihnen die neuen Regeln und         Flüchtlingskinder sind meist in doppel-
                 Gebräuche beibringen können. Die Er-        tem Sinne sprachlos.
                 wachsenen, mit denen sie kamen, sind        Das, was sie erlebt haben, ist oft so
                 selbst unsicher und fühlen sich fremd.      unvorstellbar, dass sie das Grauen, aber
                                                             besonders auch ihre Gefühle kaum
                 So müssen die Kinder alles alleine          erzählen können. Je schlimmer das Er-
                 lernen, am Anfang nur durch Beobach-        lebte, desto größer die Sprachlosigkeit.
                 ten und ohne Kenntnis der hiesigen          Das Geschehen lässt sich meist nicht in
                 Sprache.                                    Worte fassen, auch nicht für Erwachse-
                                                             ne. Und selbst wenn Worte gefunden
                 Viele Flüchtlingskinder wollen Neues        würden, so bleibt die Unsicherheit, wie
                 lernen, sie sind neugierig, stoßen aber     das Gegenüber auf solch eine Erzählung
                 oft durch ihr „Anderssein“ an Grenzen,      reagiert.
                 die sie behindern. Hierbei ist eine sen-
                 sible Unterstützung und Verständnis für     Wird man die schrecklichen Dinge
                 eine andere Prägung besonders wichtig.      überhaupt glauben? Oder hält mein
                 Eine ebenfalls nicht zu unterschätzende     Gegenüber es aus, wenn ich ihm/ihr
                 Belastung ist es für Kinder und Jugend-     davon erzähle? Kinder haben meist
                 liche, wenn sie miterleben müssen, dass     feine Antennen und spüren, wie viel
                 ihre Eltern aufgrund eines „falschen        der Erwachsene verträgt. Nicht selten
                 Verhaltens“ gerügt oder belächelt           schweigen sie, wenn sie spüren, dass ihre
                 werden.                                     Geschichte eine zu große Belastung für
                                                             den anderen ist, oder wenn sie befürch-
                 „Wie die Kinder eben“, sagte die ältere     ten, dass ihnen nicht geglaubt wird.
                 Dame mit mildem Lächeln, als eine Fa-
                 milie zu spät zum vereinbarten Treffen      So sind viele traumatisierte Kinder
                 kam und dann noch wichtige Papiere          sprachlos. Doppelt sprachlos sind die

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i n d e r F r em d e

     meisten, wenn sie die deutsche Sprache         In Sammelunterkünften wohnen viele
     nicht oder nur rudimentär beherrschen.         Menschen aus unterschiedlichen Ländern
     Gerade Gefühle sind besonders schwer           und Religionen auf engstem Raum, was zu
     in einer fremden Sprache auszudrücken,         Spannungen zwischen den Erwachsenen
     selbst wenn man sich im Alltag schon gut       unterschiedlicher Herkunft führen kann,
     verständigen kann.                             die sich natürlich auch auf die Kinder
                                                    auswirken.
     In den ersten Monaten in einer neuen
     Umgebung werden die Sinne besonders            Nachts ist es oft laut, die Kinder können
     geschärft. In dieser Zeit beobachten           nicht schlafen und sind am nächsten
     Kinder und Jugendliche und versuchen           Morgen müde in der Schule oder im
     so, zu verstehen und für sich Dinge zu         Kindergarten. Vor allem aber bewirkt die
     erklären und einzuordnen. Damit sind           beengte Wohnsituation, dass die Kinder
     sie besonders abhängig von Gesten, dem         ungefiltert alle Sorgen und Nöte der
     Tonfall, der Atmosphäre und der Körper-        Erwachsenen mitbekommen.
     sprache ihres Umfelds. Das Leben in einer
     Umgebung, in der man die Sprache nicht         Das Leben in ärmlichen Verhältnissen be-
     versteht, ist extrem anstrengend und kräf-     wirkt Scham. Gerade in der Schule, wenn
     tezehrend. Zudem besteht eine dauernde         Flüchtlingskinder auf Mitschülerinnen
     Anspannung, ob man etwas falsch verstan-       und Mitschüler treffen, die aus wohlbehü-
     den oder gemacht hat. Daher ist die Angst      teten Elternhäusern kommen oder zumin-
     vor Missverständnissen groß.                   dest materiell abgesichert sind, kommt es
                                                    zu Vergleichen. Hier wird es dann vielen
                                                    schmerzlich bewusst, dass man ihre Armut
     Le b en in Armut                               oft sieht, beispielsweise an abgetragener
                                                    Kleidung, und ein Flüchtlingswohnheim
     Flüchtlinge in Deutschland leben in            ein Ort des Stigmas ist. Dorthin möchte
     relativer Sicherheit, aber oftmals in Isola-   man keine Klassenkameraden oder Freun-
     tion und in ärmlichen Verhältnissen. Die       de einladen.
     Wohnsituation ist meist extrem beengt
     und viele Sammelunterkünfte befinden           Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien sind
     sich abseits gelegen. Die meisten Familien     oft besonders hart betroffen. Häufig reicht
     bewohnen auch mit zwei, drei oder mehr         ihr Geld kaum zum Nötigsten, manchmal
     Kindern ein, allerhöchstens zwei kleine        nicht einmal, um mit dem Bus zur Schule
     Zimmer. Das lässt keinen Platz für Privat-     zu fahren. Und die meisten Aktivitäten
     sphäre.                                        der deutschen Gleichaltrigen sind mit

                                                                                           13
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                 Ausgaben verbunden. Diese treffen sich     die sie lieben, stützen und führen. In
                 im Café, gehen abends etwas trinken,       Flüchtlingsfamilien sind viele Erwach-
                 ins Kino oder verabreden sich zum          sene selbst so traumatisiert und von
                 Shoppen. Wer nie mitmachen kann, ist       Trauer betroffen, dass sie nicht mehr in
                 schnell ausgeschlossen.                    der Lage sind, ihre Kinder genügend
                                                            zu unterstützen. Manchmal konnte
                 Auch fremdenfeindliche Bemerkungen,        nur ein Teil der Familie fliehen oder
                 abwertende Äußerungen oder Blicke,         ein Elternteil oder Geschwisterkind ist
                 denen viele Flüchtlinge oft im täglichen   umgekommen. Oft ist das ganze System
                 Leben ausgesetzt sind, verunsichern        Familie zusammengebrochen.
                 zutiefst, schüren Angst und geben das      Wenn in ihrem Heimatland noch Krieg
                 Gefühl, weniger wert zu sein.              herrscht, so verbringen die meisten fast
                                                            jede freie Minute vor dem Fernseher
                 Immer noch gibt es in Deutschland          oder Laptop, um Nachrichten von zu
                 Menschen, die nur geringe seriöse          Hause zu hören. Sie sorgen sich um An-
                 Informationen über politische Hinter-      gehörige, vielleicht um die alten Eltern,
                 gründe in den Kriegsgebieten haben.        die nicht fliehen konnten, um Freunde
                 Sie wissen wenig über die Flüchtlinge      und um Nachbarn.
                 und warum diese hier sind. Dann
                 prägen Unkenntnis und Vorurteile die       Die Familien leben zwischen zwei
                 Einstellung und führen zu einer abwer-     Welten, in ständiger Anspannung und
                 tenden Haltung.                            Angst. All das nehmen die Kinder
                                                            auf, sehen und spüren die Sorgen und
                 So erzählte ein Mädchen: „Ich traute       versuchen oft sogar noch, die Eltern zu
                 mich überhaupt nicht, in einem Laden       trösten und zu unterstützen.
                 irgendetwas in die Hand zu nehmen,
                 weil es gleich hieß, die Flüchtlinge       Für die Kinder bedeutet dies, die Er-
                 klauen doch alle.“                         wachsenen verletzt, unsicher und hilflos
                                                            zu erleben. Auch die Eltern sind fremd
                                                            in der Kultur, beherrschen die Sprache
                 Wenn das Sys tem Fam i li e                nicht und sind unsicher, wie sie sich
                 zusammen g e bro chen i s t                verhalten sollen.

                 Die wichtigste Ressource für die           Oft lernen Kinder schneller als ihre
                 seelische Gesundheit von Kindern sind      Eltern die neue Sprache, passen sich
                 zuverlässige Bezugspersonen, Eltern,       besser an die fremden Regeln und

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i n d e r F r em d e

     Gebräuche an und müssen dann nicht           Familien sind nun meist auseinander-
     selten die Rolle von Dolmetscherinnen        gerissen. Alles, was es an Positivem,
     und Dolmetschern, sowie Vermitteln-          Stabilisierendem von Opa, Oma, Onkel,
     den zwischen den Kulturen einnehmen.         Tanten, Cousins und Cousinen gab,
                                                  fehlt nun. Das macht das Leben hier
     Sie gehen mit zu Elternabenden, zu           einsam und schwer.
     Arztbesuchen, füllen Formulare und
     Anträge aus und tragen dadurch Ver-          Besonders belastend ist die Lage für
     antwortung, für die sie oft viel zu jung     minderjährige unbegleitete Flüchtlinge,
     sind. Diese neue Rolle der Kinder ist        die völlig alleine hierherkommen.
     ambivalent. Einerseits kommt es leicht
     zu einer Überforderung, andererseits         Bei vielen Flüchtlingskindern und
     wird das Selbstbewusstsein der Kinder        -jugendlichen ist nicht nur das System
     gestärkt. Das Kind kann etwas Sinnvol-       Familie auseinandergebrochen, sondern
     les tun, verharrt nicht in Hilflosigkeit     fast alle diese Kinder und Jugendlichen
     und bekommt daher auch eine gewisse          sind durch das Verlassen der Heimat
     wichtige Position innerhalb der Familie.     und von allem, was vertraut war, wur-
                                                  zellos geworden. Sie wissen nicht mehr,
     Noch schwerer ist es, nichts tun zu          wo sie herkommen und wo sie hingehö-
     können. Ungemein belastend ist es für        ren. Wurzeln aber werden benötigt, um
     Kinder oder Jugendliche, wenn sie ein        einen festen Halt zu haben. Sie können
     Elternteil durch Trauma, Trauer oder         wieder neu gebildet werden, aber das
     Depression so schwer verletzt erleben,       braucht Zeit.
     dass dieses den Alltag nicht mehr
     bewältigen kann: Wenn die Mutter nur
     noch apathisch auf dem Stuhl sitzt und
     stundenlang ins Leere schaut. Wenn der
     Vater nach Haft und Folter ein Schatten
     seiner selbst ist oder traumatisiert durch
     die Kriegserlebnisse ständig in Hoch-
     spannung lebt, unfähig, seine Gefühle
     zu regulieren.

     Zudem sollte nicht vergessen werden,
     dass etliche Kinder in ihrer Heimat
     in Großfamilien gelebt haben. Diese

                                                                                            15
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   Bi tte beachten Si e !

   Nicht jedes Flüchtlingskind ist traumatisiert. Ebenso kann es sein, dass
   das Kind noch alle Familienangehörigen um sich hat, es nicht trau-
   ert, aber vielleicht besonders unter dem Leben in der fremden Kultur
   leidet. Andere Kinder wiederum sind schwer traumatisiert, sodass die
   „Traumaproblematik“ im Vordergrund steht. Nicht alle Eltern sind trau-
   matisiert und etliche Familien sind auch gut in der Lage, ihre Kinder
   zu unterstützen, ihnen Sicherheit und einen strukturierten Alltag zu
   vermitteln. Auch wenn es in der Praxis schwierig ist, alle Hintergründe
   zu verstehen, ist es für Sie wichtig zu wissen, welche Gründe es für die
   unterschiedlichsten Reaktionen der Kinder geben kann.

                 Mögliche Reakti o n e n                    hin und her, ist schreckhaft und leicht
                                                            reizbar.
                 Wie ein Mensch, wie ein Kind auf           • Das Kind ist aggressiv gegenüber sich
                 Trauer, Trauma und Heimatverlust           selbst oder anderen.
                 reagiert, ist so unterschiedlich wie die   • Das Kind spielt ständig Krieg, kämpft
                 Menschen selbst.                           viel, malt Tod und Gewalt.
                                                            • Das Kind ist oft krank, klagt über
                 Genannt seien deshalb nur einzelne         Kopf- oder Bauchschmerzen.
                 Reaktionen und Verhaltensweisen, die       • Das Kind ist ungewöhnlich reif,
                 sein können, aber nicht sein müssen.       schlüpft in die Rolle von Erwachsenen.
                 Die meisten dieser Reaktionen können       • Das Kind „fällt zurück in eine frühere
                 sich natürlich genauso bei Jugendlichen    Entwicklungsstufe“.
                 zeigen, aus Gründen der Lesbarkeit ist     • Das Kind ist fröhlich, unbekümmert,
                 hier nur vom „Kind“ die Rede:              passt sich an, zeigt keinerlei Auffällig-
                 • Das Kind ist scheu, sehr zurückge-       keiten.
                 zogen, spricht kaum und beteiligt sich     • Das Kind ist fröhlich, unbekümmert,
                 nicht an gemeinsamen Aktivitäten.          aber unfähig, sich zu konzentrieren und
                 • Das Kind ist sehr unruhig, läuft viel    Neues zu lernen.

            16
i n d e r F r em d e

     Während sich die ersten Punkte leicht      „Lächle mein Sohn, lächle und belaste
     mit den verschiedenen Trauer- und          Fremde nicht mit deinen Tränen. Jeder
     Traumareaktionen erklären lassen,          hat sein Päckchen zu tragen.“
     kann es doch irritierend sein, wenn Sie
     ein Kind vor sich haben, das Sie trotz     Eine weitere Problematik sollte nicht
     seines schweren Schicksals freundlich      verschwiegen werden: Es gibt Kinder
     anlacht, unbekümmert spielt, selbstsi-     und Jugendliche, die infolge von Trau-
     cher auftritt und sich auch noch sehr      mata und jahrelangen Gewalterfahrun-
     sozial verhält.                            gen unterschiedlichster Art abgestumpft
                                                oder verroht sind. Sie zeigen keinerlei
     Manche Erlebnisse sind so schrecklich,     Empathie und reagieren unkontrolliert
     dass sie im Gehirn abgespalten werden,     aggressiv bei allem, was sie als Kritik
     der Schmerz wird abgekapselt, denn es      oder Angriff wahrnehmen. Sie wur-
     würde das Kind überfordern, wenn es        den nicht so geboren, sondern haben
     all die damit verbundenen Emotionen        sich durch besondere Belastungen so
     zuließe. Nur ein Teil der Persönlichkeit   entwickelt.
     wird für die anderen sichtbar, der ande-
     re Teil bleibt im Verborgenen. Was für     Im schulischen Umfeld und sonstigen
     die erste Zeit als Schutzmechanismus       betreuten Umfeld brauchen diese
     sinnvoll ist, kann langfristig problema-   Jugendlichen völlig klare Ansagen, klare
     tisch werden, nämlich dann, wenn der       Regeln (bei Verstoß mit Konsequen-
     Kummer in aller Heftigkeit unvorberei-     zen), aber ebenso das Gefühl, angenom-
     tet hervorbricht.                          men zu sein.
     Zudem gilt es in vielen Kulturen als       Es fällt diesen Kindern und Jugend-
     unhöflich, andere mit seinen Sorgen zu     lichen schwer, Vertrauen aufzubauen,
     belasten.                                  doch die einzige Möglichkeit, einen
     Die Menschen lächeln, selbst wenn sie      positiven Einfluss auf sie zu haben,
     von Tod und Leid berichten.                besteht darin, eine Beziehung zu ihnen
                                                aufzubauen. Eine einzige Bezugsperson
     Eine Mutter aus einem Flüchtlingslager,    in der Schule reicht mitunter, um eine
     eine Frau, die weder lesen noch schrei-    Bindung herzustellen und das Kind
     ben konnte, schickte ihren Sohn mit        oder den Jugendlichen zu stärken und
     folgenden Worten in die Fremde:            zu ermutigen.

                                                                                           17
Teil II        Was Sie beachten und tun können

               Flüchtlingskinder brauchen vor allem       „Wie wird mein Sohn/meine Tochter in
               Verständnis, das Gefühl, angenommen        der neuen Klasse aufgenommen?“
               und willkommen zu sein, ein wertschät-     „Wie verständige ich mich mit den
               zendes Gegenüber, Sicherheit, Stabilität   Lehrerinnen und Lehrern?“
               und Struktur. Als Lehrkraft können         „Wie verbringt mein Kind den Tag in
               Sie sich nur begrenzt um ein einzel-       dieser Schule?“
               nes Flüchtlingskind kümmern. Viele         „Was wird von mir als Elternteil
               engagierte Lehrerinnen und Lehrer          erwartet?“
               sind aufgrund der ständig wachsenden
               Anforderungen oft schon an ihrer           Diese Unsicherheiten und Ängste
               Belastungsgrenze. Ein Kind oder einen      können meist schon durch kurze, aber
               Jugendlichen intensiv wahrzunehmen,        klare Information gemindert werden.
               Gespräche zu führen, braucht aber Zeit     Erklären Sie Kind und Eltern, wie der
               und Raum, dafür sollten die Rahmen-        erste Schultag für das Kind abläuft. Das
               bedingungen geschaffen werden – zum        gibt Sicherheit. Zeigen Sie Kind und
               Wohl von Lehrkräften sowie Schülerin-      Eltern möglichst gemeinsam, wo ihr
               nen und Schülern. Und doch können          Kind sich aufhält, lernt und spielt. Da-
               Sie einiges tun, um diese Kinder im        durch haben das Kind und die Eltern
               Klassenverband, meist ohne großen zu-      eine gleiche Erfahrung, auf die sich das
               sätzlichen Zeitaufwand, zu unterstützen.   Kind später bei Erzählungen beziehen
                                                          kann. Stellen Sie Eltern vor allem die
                                                          Klassenlehrkraft als Ansprechpartnerin
               Der erste Tag                              oder Ansprechpartner für Fragen und
                                                          Anliegen vor.
               Der erste Tag an einer neuen Schule ist
               für jedes Kind aufregend und verbun-
               den mit Unsicherheit. Meist sind auch      Spr a c herwe r b
               die Eltern nervös, denn sie möchten
               natürlich, dass ihr Kind einen guten       Sicherlich das Wichtigste ist, dass
               Start in der neuen Umgebung hat.           das Kind so schnell und so gut wie
               Für Flüchtlingsfamilien ist der erste      möglich die deutsche Sprache lernt.
               Schultag eine ganz besondere Heraus-       Das geschieht einerseits durch gezielten
               forderung und auch oft mit Ängsten         Sprachunterricht, vor allem aber auch
               verbunden. Fragen, die sich Eltern         durch das „Bad in der fremden Spra-
               möglicherweise stellen, sind:              che“. Kinder lernen in der Regel eine

          18
fremde Sprache recht schnell, wenn sie     von Trauer zu erheblichen Konzentra-
ausreichend Gelegenheit zum richtigen      tionsstörungen bei Flüchtlingskindern
Sprechen und Hören haben. Nachweis-        kommen kann.
lich lernen Kinder, die ihre Mutterspra-   Belastete Kinder brauchen manchmal
che gut beherrschen, auch eine neue        wesentlich länger, um die fremde Spra-
Sprache besser und leichter.               che zu lernen. Das ist nicht ungewöhn-
                                           lich und keinesfalls ein Zeichen von
Erfahrungsgemäß können sich unbe-          geringer Intelligenz.
lastete Kinder (bis ca. 12–14 Jahre)
nach ungefähr 6 Wochen meistens
einigermaßen verständigen (auch wenn       Le rn e n du rch G l e i c h a lt r i g e
noch sehr fehlerhaft und auf Praktisches
begrenzt). Nach 3 Monaten sollten          Vielleicht können Sie Patenschaften in-
viele gut sprechen können und fast alles   nerhalb der Klasse oder Schule vermit-
verstehen. Nach 6 Monaten kann man         teln. Ermutigen Sie die Kinder aus Ihrer
davon ausgehen, dass alles verstanden      Klasse, auf Flüchtlingskinder zuzugehen
wird und das Kind für den Alltagsge-       und sie ins Spiel zu integrieren. Fußball,
brauch fast fließend spricht.              alle Gruppenspiele, bei denen Sprache
                                           eine weniger wichtige Rolle spielt,
Da jüngere Kinder einen begrenzten         bieten fantastische Möglichkeiten,
Wortschatz haben und auch weniger          Kinder zu integrieren, die noch nicht
über abstrakte Dinge sprechen, erreicht    gut sprechen können. Auf diese Weise
ein sechsjähriges Kind natürlich schnel-   können die Kinder Anerkennung von
ler das Sprachniveau von Gleichaltrigen    ihren Mitschülerinnen und Mitschülern
als ein 14-jähriger Teenager, der sich     bekommen.
über Zukunftspläne, andere Men-
schen oder Liebeskummer unterhalten        Flüchtlingskinder brauchen keine
möchte.                                    Sonderbehandlung, aber eine sensible
                                           Behandlung.
Dies gilt allerdings nur, wenn das Kind
auch täglich genügend Möglichkeit hat,     Ein seelisch stabiles Kind, das sozial
fehlerfreies Deutsch zu hören. An-         eingebunden ist und Anerkennung
sonsten prägt sich Falsches schnell ein.   erhält, wird sich auch mit allen schu-
Zudem sollte beachtet werden, dass es      lischen Anforderungen leichter tun.
als Folge eines möglichen Traumas und      Die Bedeutung von Mitschülerinnen

                                                                                        19
Te i l II	    Was Sie beachten und tun können

              und Mitschülern sowie Freundinnen          In vielen anderen Kulturen lernen
              und Freunden wird oftmals zu wenig         Kinder, sich im Hintergrund zu halten,
              bedacht.                                   unterzuordnen und ihre Pflicht zu
                                                         erfüllen. Sie haben gar nicht so viel
              Bitte beachten Sie auch, dass etliche      Wahlmöglichkeit. Die vielen Fragen zu
              Flüchtlingskinder älter sind als ihre      Kleinigkeiten verwirren, die Kinder
              Klassenkameradinnen und -kameraden,        ziehen sich zurück und sind verunsi-
              weil sie oft lange Zeit nicht zur Schule   chert. Wichtige Entscheidungen, die das
              gehen konnten. Das kann gerade in der      Kind oder den Jugendlichen betreffen,
              Pubertät zu Schwierigkeiten führen, ins-   sollten natürlich nicht über seinen Kopf
              besondere weil die Jugendlichen durch      hinweg getroffen werden – es gilt hier
              das Erlebte zusätzlich meist reifer sind   zu unterscheiden zwischen wichtig und
              als Altersgenossen in Deutschland.         unwichtig.

              Struktu r u n d klare                      Fremd e n fe i n d l i c h k e i t,
              Haltung                                    M y t hen u n d V o r u rt e i l e

              Klare Klassenregeln und Rituale geben      Bevorzugen Sie kein Flüchtlingskind,
              allen Kindern Halt und Struktur. Gera-     aber stellen sie sich uneingeschränkt
              de für traumatisierte Kinder, die auch     auf seine Seite, wenn sie mitbekom-
              zu Hause keine Orientierung mehr           men, dass dieses Kind ausgegrenzt
              haben, können klar erklärte Regeln         beziehungsweise gehänselt wird oder
              Schutz bieten.                             fremdenfeindliche, diskriminierende
              Verwirren Sie die Kinder nicht durch zu    Äußerungen fallen.
              viel Entscheidungsfreiheit. In unserem     Hier muss Ihre Haltung eindeutig sein.
              Kulturkreis werden Kinder permanent        Das Kind braucht dann den Schutz von
              nach ihren Wünschen gefragt und            Erwachsenen.
              müssen wählen:
                                                         Rassismus, Intoleranz oder abwerten-
              „Wo möchtest du sitzen?“                   de Sprüche über etwas, was einem
              „Welches Buch möchtest du lesen?“          fremd ist, gibt es in allen Kulturen
              „Möchtest du lieber malen                  und Schichten. Dumme, aber zutiefst
              oder spielen?“                             verletzende Worte erleben Flüchtlin-
                                                         ge von vielen Seiten, von Deutschen

         20
ebenso wie von Migranten, manchmal         K u ltu re lle M i ssve r s t ä n d -
selbst von anderen Flüchtlingen. So        n i sse
kann es auch sein, dass in Ihrer Schule    „Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!“,
Kinder unterschiedlicher „verfeindeter“    meinte die Lehrerin ärgerlich, als sie
Ethnien aufeinandertreffen. Es kann        dem Kind etwas erklärte und dieses nur
ebenfalls sein, dass es bei Flüchtlingen   auf seine Schuhe blickte. Sie empfand
untereinander Vorurteile und eine          das Verhalten des Kindes als sehr unge-
Hierarchie gibt.                           hörig. Dabei war ihr nicht bewusst, dass
                                           es in der Kultur, aus der das Kind kam,
Machen Sie trotzdem ganz klar, dass        als sehr unhöflich gilt, wenn ein Kind
die Schule ein Ort ist, in dem alle        einem Erwachsenen, noch dazu einer
gleiche Rechte und Pflichten haben,        Respektsperson wie einer Lehrerin,
ein Ort mit null Toleranz gegenüber        direkt in die Augen sieht.
Diskriminierung.
                                           Von Ihnen kann nicht erwartet werden,
Unwissen und Vorurteile prägen viele       dass Sie all die verschiedenen Anstands-
Debatten um Flüchtlinge, schüren           regeln der unterschiedlichen Kulturen
Ängste und fördern Aggressivität. Die      kennen. Seien Sie sich aber bitte be-
Auswirkungen von solchem Denken            wusst, dass unsere Höflichkeitsregeln in
gipfelten im zweiten Weltkrieg und in      Deutschland nicht allen bekannt sind.
der bis dahin beispiellosen Vernichtung
von Juden, Roma und Sinti, Homosexu-       Erklären Sie bitte, warum Sie möch-
ellen, psychisch Kranken und Men-          ten, dass ein Kind dieses oder jenes
schen, die als fremd und bedrohlich        tut. Sagen Sie, dass es in Deutschland
wahrgenommen wurden.                       unhöflich ist, auf den Boden zu sehen,
                                           wenn jemand mit einem spricht.
Aus der Geschichte kann und sollte
gelernt werden. Aufklärung, Wissen         Auch ein junges Kind kann die un-
und Begegnungen helfen, Vorurteile         terschiedlichen Regeln des Respekts
abzubauen. Schulen sind wichtige Orte,     verstehen, schnell lernen und wird auch
die dies ermöglichen können.               begreifen, in welchem Umfeld es sich
                                           wie zu verhalten hat. (Zu Hause sehe
                                           ich bescheiden zu Boden, wenn die
                                           Eltern mit mir sprechen, aber in der
                                           Schule sehe ich die Lehrerin direkt an,

                                                                                      21
Te i l II	    Was Sie beachten und tun können

              weil sie sonst denkt, ich höre nicht zu.)   Momente des Glücks, Menschen, die
              Klare Worte helfen, zu verstehen und        einem guttun, oder Begebenheiten, an
              die Dinge richtig einzuordnen.              die man sich dankbar erinnert. Diese
                                                          Kleinigkeiten wahrzunehmen und nicht
                                                          nur das Schreckliche, gibt Kraft – das
              Interesse am K i n d u n d                  Kind wird nicht nur auf das „arme
              seinem Le be n be ku n de n                 Flüchtlingskind“ reduziert. Solche
                                                          Gespräche sollten aber nicht zwischen
              Erkundigen Sie sich nach der Heimat         Tür und Angel geführt werden, sondern
              der Kinder und Jugendlichen und             wenn Sie wirklich etwas Zeit und Ruhe
              zeigen Sie dadurch, dass Ihnen bewusst      haben, zuzuhören.
              ist, mit welchen Schwierigkeiten sie
              leben müssen.                               Begegnen Sie den Kindern und Jugend-
              Allgemeine Fragen wie „Wie geht es          lichen mit Mitgefühl, aber nicht mit
              dir?“ sind meist zu Floskeln verkom-        Mitleid. Mitleid lähmt.
              men, zu allgemein und werden genauso
              salopp beantwortet: „Gut.“                  Der französische Arzt und Resilienz-
              Fragen Sie konkret, ohne Gefühle di-        Forscher Boris Cyrulnik, der als jüdi-
              rekt anzusprechen. Dies könnte Kinder       sches Kind in Frankreich versteckt die
              oder Jugendliche, besonders in der          Nazi-Zeit überlebt hat, schreibt: „Die
              schulischen Umgebung, überfordern.          Belastung kam erst mit dem Frieden, als
              „Wie habt ihr früher zu Hause Feste         sich die Erwachsenen, die den Auf-
              gefeiert?“                                  trag hatten, sich um die Kinder ohne
              „Habt ihr in der Stadt oder auf dem         Familie zu kümmern, nicht die Mühe
              Land gelebt?“                               machten, mit ihnen zu sprechen. Oder
              „Was ist dein Lieblingsgericht? Gibt es     wenn sie mitleidig sagten: ,Der Arme
              das hier auch? Vermisst du das manch-       hat keine Familie.‘ Oder eine Sozial-
              mal?“                                       arbeiterin, die in schallendes Gelächter
                                                          ausbrach, als ich ihr erzählte, ich wolle
              Falls es Gelegenheit und Zeit geben         Arzt werden.“ (Boris Cyrulnik: Rette
              sollte, lassen Sie die Kinder und Ju-       dich, das Leben ruft!, S. 112, Ullstein
              gendlichen von positiven Erlebnissen zu     Verlag)
              Hause erzählen.
                                                          Die Art und Weise, wie über Erlebnisse
              Auch in Kriegs- und Notzeiten gibt es       gesprochen wird, ruft unterschiedliche

         22
Empfindungen hervor. Viele Flücht-             sche Betreuung, beispielsweise über die
lingskinder haben Schreckliches erlebt         Mittagszeit, nicht von Lehr-, sondern
und überlebt. Sie verdienen Unterstüt-         von anderen Betreuungskräften über-
zung und unseren Respekt.                      nommen.

Etliche Kinder malen Bilder vom Krieg          Bitte tauschen Sie sich mit diesen
oder von Entsetzlichem, was ihnen              Betreuern gut über die Flüchtlingskin-
zugestoßen ist. Das ist dann eine Mög-         der aus. Gerade in dieser freien Zeit ist
lichkeit, mit dem Kind ins Gespräch            die Integrationsarbeit wichtig und kann
zu kommen, sich das Bild erklären zu           auch gezielt unterstützt werden.
lassen, vorsichtig nachzufragen.
Bitte vermeiden Sie Kommentare wie             Wie schon erwähnt, sind alle Grup-
„Das ist ja schrecklich, mal doch mal          pen- und Ballspiele eine wunderbare
etwas Schönes, Buntes“ oder „Das               Möglichkeit, auch ohne Worte in
solltest du schnell vergessen, jetzt geht es   Kontakt zu kommen. Einfache Karten-
dir ja gut“.                                   oder Brettspiele (UNO, Mensch ärgere
                                               dich nicht und so weiter) sind leicht zu
Manche verarbeiten ihren Schmerz im            lernen, können mit mehreren gespielt
Spiel. Sie wiederholen immer glei-             werden und fördern Gemeinsamkeit.
che Szenen, die sie beschäftigen und           Hier wäre es natürlich ideal, wenn
belasten. Das Spiel hilft dem Kind, das        zumindest am Anfang ein Erwachsener
Unfassbare zu begreifen, einzuordnen           mitspielt.
und sich damit auseinanderzusetzen.
Das Spiel ermöglicht auch das Gespräch         Geben Sie den Kindern die Möglich-
mit Erwachsenen, wenn sie sich die             keit, zu malen, vielleicht zu töpfern,
Zeit nehmen, zuzuhören.                        etwas Kreatives zu machen, um ihre
                                               Gefühle auszudrücken. Vielleicht hat
                                               das Kind in seiner Heimat auch ein
I n for mationen we ite rg e be n              Musikinstrument gelernt und es besteht
                                               die Möglichkeit, dieses weiter zu spie-
Viele Schulen sind inzwischen Ganz-            len. Versuchen Sie herauszufinden, was
tagsschulen oder verfügen über ein             dem Kind vertraut ist, und wenn mög-
erweitertes Betreuungsangebot, oft             lich, daran anzuknüpfen. Altbekanntes
noch mit Hausaufgabenbetreuung. In             gibt Sicherheit. Gibt es gemeinsame
etlichen Schulen wird die außerschuli-         Lieder, die alle kennen?

                                                                                           23
Te i l II	    Was Sie beachten und tun können

              Vielleicht können alle zusammen              Nahrungsumstellung braucht einfach
              kochen?                                      Zeit. Schwierig ist es, wenn die Kinder
              Welche Spiele kennt das Kind aus             zudem nicht frühstücken, weil sie das
              seiner Heimat?                               nicht gewohnt sind und auch kein Pau-
                                                           senbrot mitbekommen, weil die Eltern
                                                           das nicht kennen. Falls irgend möglich,
              Essen un d T ri n ke n                       klären Sie Eltern und Kinder auf, wie
                                                           wichtig es ist, dass das Kind auch am
              In vielen Schulen und Tagesstätten gibt      Vormittag etwas zu essen und trinken
              es kohlensäurehaltiges Wasser oder           bekommt, weil sonst das Lernen sehr
              Früchtetee, wenn die Kinder durstig          beeinträchtigt werden kann.
              sind.

              Bitte bedenken Sie, dass das kohlen-         Ha u s a u f g a b e n
              säurehaltige Wasser in vielen Ländern
              unüblich ist und deshalb auch nicht          Werden die Hausaufgaben in der Schule
              schmeckt.                                    erledigt, gibt es dafür sehr verschiedene
                                                           Betreuungsmodelle und „Betreuungs-
              Manche Kinder können dies aber nicht         schlüssel“. Gängig ist, dass die Kinder
              sagen, haben auch Angst, aus der Was-        bei den Hausaufgaben beaufsichtigt
              serleitung zu trinken, weil sie vielleicht   werden, kleine Hilfestellungen gege-
              gewarnt wurden, dass das Wasser nicht        ben werden können, aber ansonsten
              sauber ist. Wenn Leitungswasser in           erwartet wird, dass die Kinder die
              ihrer Schule trinkbar ist, zeigen sie den    Aufgaben alleine erledigen. So kann
              Kindern, dass sie das Wasser trinken         die Lehrkraft am nächsten Tag sehen,
              können. Falls nicht, stellen Sie bitte       wenn etwas nicht verstanden wurde.
              auch einfaches, nicht kohlensäurehalti-      Das macht Sinn, aber Flüchtlingskinder
              ges Wasser zur Verfügung.                    brauchen mehr Unterstützung, bis sie
                                                           die deutsche Sprache richtig können.
              Auch Früchte- oder Kräutertee ist            Idealerweise bekommen sie eine
              manchen Kindern unbekannt und wird           Einzelbetreuung oder Kleingruppenbe-
              deshalb nicht angerührt. Für einige          treuung, bis sie richtig deutsch sprechen
              Kinder ist das deutsche Essen unge-          können. Vielleicht lässt sich an Ihrer
              wohnt und wird gerade in der Anfangs-        Schule durch Ehrenamtliche solch eine
              zeit manchmal schlecht vertragen. Die        Begleitung ermöglichen.

         24
E r z ä hl ungen                          Fan tas i e als w i c h t i g e
                                          K raf tq u e lle
Gerade in Grundschulen oder in der
Randbetreuung dürfen Kinder immer         Kinder mit viel Fantasie schaffen sich
wieder von kleinen Ereignissen, Festen,   oft ihre eigene kleine innere Welt. Dies
Geburtstagsgeschenken oder den Ferien     ist ein wunderbarer Schutzfaktor. Als
erzählen.                                 Folge können sie aber manchmal gedan-
                                          kenverloren vor sich hin träumen und
Achten Sie bitte sehr darauf, dass die    auch im Unterricht wenig Aufmerksam-
Kluft zwischen den Kindern nicht zu       keit zeigen. Hier gilt es, behutsam einen
deutlich betont wird. Ein Flüchtlings-    guten Umgang damit zu gewinnen,
kind (aber auch manch anderes Kind)       ohne dem Kind den Schutz zu nehmen.
bekommt keine Geschenke, kann nicht       Eine Möglichkeit ist zum Beispiel, „Fan-
mit der Familie in Urlaub fahren.         tasiezeiten zu vereinbaren“.
                                          In einem Gespräch könnte geklärt wer-
Nichts zu berichten, ist dann besonders   den, ob das Kind wirklich träumt oder
schwer.                                   ob es an schlimme Erlebnisse denkt.

Überlegen Sie sich „erweiterte Frage-     Falls das Kind träumt, könnten Sie viel-
stellungen“, um allen Kindern gerecht     leicht betonen, dass dies eigentlich sehr
zu werden. Zum Beispiel: „Ihr dürft       schön ist und sicher auch guttut, dass es
erzählen, was ihr zu Weihnachten be-      aber für alles seine Zeit gibt. Überle-
kommen habt oder was ihr am liebsten      gen Sie gemeinsam, wann es für diese
an Festtagen esst.“ (Anmerkung: Überall   Kinder diese „Aus- und Träumzeiten“
wird gegessen und alle Kinder mögen       geben kann, vielleicht auch Zeiten,
irgendetwas besonders gerne.) Oder:       über schwere Dinge nachzudenken. Er-
„Wer möchte von seinen letzten Ferien     klären Sie, warum es so wichtig ist, dass
berichten oder von irgendeinem schönen    das Kind nicht im Unterricht träumt.
Erlebnis?“
                                          So etwas funktioniert nicht von heute
                                          auf morgen, kann aber, bis zu einem
                                          gewissen Grad, erlernt werden.

                                                                                      25
Te i l II	    Was Sie beachten und tun können

              Bewegung u n d Spi e l                     aktiv oder passiv. Romane, Filme und
                                                         Theaterstücke können eine erträgliche
              Wie schon im Abschnitt „Lernen durch       Abbildung des Leidens schaffen und
              Gleichaltrige“ erwähnt, können Sport       vermitteln oftmals das Gefühl, verstan-
              und Spiele die Integration erleichtern     den zu werden. Es ist leichter, über die
              und die Gemeinschaft fördern.              Empfindungen eines Romanhelden zu
              Für alle Kinder ist Bewegung gut. Aber     sprechen als über die eigenen Gefühle.
              nicht, wenn sie erzwungen wird!            Dann tut es gut, zu lesen, einen Film
                                                         anzusehen oder Musik zu hören und sich
              Viele Flüchtlingskinder sind meist von     darüber mit anderen auszutauschen.
              vielen Problemen belastet. Sie machen
              sich Gedanken und Sorgen, vielleicht       Manchmal ist es besonders hilfreich,
              tauchen schreckliche Bilder vor ihrem      selbst aktiv zu werden. So ermöglicht
              Inneren auf, sie sehnen sich nach Verlo-   Theater spielen, in eine andere Rolle
              renem oder nach Verstorbenen.              zu schlüpfen, und fördert das Selbstver-
              Wird der Körper sehr beansprucht, z.B.     trauen. Bei manchen dieser Stücke kön-
              durch Sport, kann gar nicht so viel an     nen sich auch Schüler beteiligen, die
              Belastendes gedacht werden.                nur wenig Deutsch sprechen, beispiels-
              Die Aufmerksamkeit wird auf den            weise durch eine Tanz- oder Musikein-
              eigenen Körper, die Mitspielenden und      lage, Jonglieren oder Ähnliches.
              die Bewegungsaufgabe gelenkt:
              Mache ich die Tanzschritte richtig?        Das Musizieren ist für viele Kinder
              Wo stehen meine Mitspieler?                und Jugendliche eine weitere gute
              Wo springe ich genau ab?                   Möglichkeit, ihre Gefühle ohne Sprache
                                                         ausdrücken zu können. Vielleicht gibt
              Zudem werden die angespannten              es an Ihrer Schule außer dem regulären
              Muskeln gelockert, die angestaute Ener-    Musikunterricht die Gelegenheit, ein
              gie kann entweichen und im Gehirn          Instrument zu lernen oder in einer
              werden Hormone freigesetzt, die das        Band mitzuspielen. Ältere Kinder
              Wohlbefinden fördern.                      können ermutigt werden, über ihre
                                                         Erlebnisse zu schreiben. Es ist ein Weg,
                                                         Worte für das Unaussprechliche zu
              The ater, R o m an e , Fi lme,             finden. Dies kann sehr heilsam sein.
              Musik
                                                         Genau wie beim Sport ist es wichtig,
              Manchmal ist es leichter, sich indirekt    Angebote zu schaffen, ohne Druck
              mit Problemen zu befassen, entweder        auszuüben.

         26
Elternarbeit

Andere Eltern miteinbeziehen               Viele Eltern sind unsicher, wie sie auf
                                           Flüchtlingsfamilien zugehen sollen, die
Falls möglich, beziehen Sie die Eltern     sie nicht kennen und deren Sprache
Ihrer Klasse mit ein. So könnten Sie bei   sie nicht sprechen. Für beide Seiten
einem Elternabend die Elternschaft er-     ist es dann eine Erleichterung, wenn
mutigen, die Kinder zusammen spielen       die Kontakte über die Schule vermit-
zu lassen.                                 telt werden. Die Lehrkräfte oder auch
                                           Schulsozialarbeiterinnen und -sozialar-
Positiver Kontakt zu Familien aus          beiter haben meist wenigstens den Mi-
Deutschland kann für Flüchtlingskinder     nimalkontakt zu den Flüchtlingseltern,
eine enorme Hilfe und Unterstützung        wenn auch manchmal durch jemanden,
sein. Umgekehrt können auch deutsche       der übersetzt.
Kinder und Jugendliche vom Kontakt         Vielleicht können durch Eltern Frei-
mit Familien aus anderen Kulturen          zeitangebote angenommen werden, die
profitieren.                               sonst nicht möglich wären.

Immer mehr deutsche Jugendliche und        Beispiel: „Ihre Tochter versteht sich sehr
junge Erwachsene gehen für ein Jahr        gut mit Lena. Die beiden Mädchen
ins Ausland, um eine neue Sprache und      möchten gerne zusammen zum Turnen
Kultur kennenzulernen. Interkulturelle     gehen. Frau Müller, Lenas Mutter, hat
Kontakte werden in den verschiedens-       angeboten, Ihre Tochter abzuholen und
ten Berufsgruppen gewünscht, manch-        danach auch wieder mit nach Hause zu
mal auch gefordert. Längst beschränken     bringen, bis sie den Weg alleine kennt.
sich diese Auslandsaufenthalte nicht       Wäre das in Ordnung für Sie?“
mehr nur auf England, Frankreich oder      Je jünger die Kinder sind, desto wichti-
die USA. Lateinamerika, verschiedenste     ger ist eine aufklärende Elternarbeit.
Länder in Afrika und Asien, die Türkei
oder Polen sind beliebte Aufenthaltszie-
le für junge Leute. Kontakte zwischen      Eltern der Flüchtlingskinder
den Kulturen sind aber nicht nur
im Ausland, sondern auch innerhalb         Im deutschen Schulsystem spielt,
Deutschlands eine Bereicherung für         insbesondere in den Grundschulen, das
beide Seiten. Das gilt für alle Alters-    Elternhaus noch eine große Rolle. Es ist
gruppen!                                   üblich, dass man zu Elternabenden und
                                           Elterngesprächen geht. Eltern helfen

                                                                                        27
Te i l II	e lt e r n a r b e i t

             bei verschiedenen Veranstaltungen          Erklären Sie den Eltern, was Ihnen
             und sollten mit den Kindern man-           wichtig ist, warum Regeln eingehalten
             chen Schulstoff zu Hause üben. Hefte       werden müssen, und schaffen Sie da-
             mit unterschiedlicher Lineatur sollen      durch Klarheit und Transparenz. Haben
             angeschafft werden, Farbstifte einer be-   Sie bitte Geduld. Das Verarbeiten all
             stimmten Dicke und all die speziellen      der vielen Eindrücke und das Lernen
             Utensilien, die ein Kind zum Lernen        von Neuem braucht Zeit.
             braucht.
                                                        Es ist beschämend für Erwachsene,
             Die Auswahl der Arbeitsmaterialien         wenn sie das Gefühl bekommen, alles
             und Angebote in Deutschland ist groß       falsch zu machen, selbst wenn sie sich
             und manchmal verwirrend. Manches ist       bemühen, oder wenn sie den Eindruck
             den Eltern einfach fremd und all diese     gewinnen, ihr Kind werde sehr oft
             Dinge zu berücksichtigen, fällt etlichen   gerügt. Den allermeisten ist es sehr
             schwer. Insbesondere kann es manchen,      wichtig, was die Lehrerin oder der Leh-
             nach all dem Schrecklichen, was sie        rer über ihr Kind denkt und sagt.
             erlebt haben, vergleichsweise unwichtig    Versuchen Sie, Vertrauen aufzubauen
             erscheinen.                                und die Eltern miteinzubeziehen. Be-
                                                        achten Sie auch kleine Fortschritte, die
             Bitte berücksichtigen Sie dies bei         das Kind gemacht hat, und teilen Sie
             Elterngesprächen. Beachten Sie, dass       diese den Eltern mit.
             etliche Eltern aufgrund dieser Ent-
             scheidungsvielfalt und all der neuen       Positive Nachrichten über die Kinder
             Anforderungen verunsichert sind und        und Lob sind Balsam für die Seele.
             sich dies manchmal auch in Form einer
             Abwehrhaltung ausdrücken kann.             Immer wieder kommt es vor, dass die
                                                        Kinder selbst oder ältere Geschwister
             Je nach Herkunftsland fällt es manchen     für die Eltern übersetzen müssen. Das
             Eltern auch schwer, das deutsche Schul-    erfordert besonderes Gespür, wie was
             system mit seinen vielen Freiheiten und    formuliert werden kann, insbesondere,
             einer anderen Form der Disziplin zu        wenn es um kritische Inhalte geht.
             verstehen.                                 Falls irgend möglich, sollten Kinder
                                                        bei besonders belastenden Gesprächen
                                                        nicht dolmetschen, sondern eine andere
                                                        Vertrauensperson der Familie.

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