Flüchtlingskinder und jugendliche Flüchtlinge in der Schule - Baden-Württemberg
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Eine Handreichung Flüchtlingskinder und jugendliche Flüchtlinge in der Schule Baden-Württemberg M i n i s t e r i u M f ü r K u lt u s , J u g e n d u n d s p o rt
Vorwort Mit der Vielzahl an Flüchtlingen, die Der erste Teil der Broschüre möchte für in unserem Land Schutz vor Gewalt die besonderen Belastungen sensibili- und Verfolgung suchen, kommen auch sieren, mit denen viele Flüchtlingskin- immer mehr Kinder und Jugendliche der und jugendliche Flüchtlinge leben nach Baden-Württemberg. Es ist unsere müssen. Im zweiten Teil sollen praxis- Aufgabe und menschliche Pflicht, bezogene Anregungen gegeben werden, all diese Menschen gut in unserem was an Schulen getan werden kann, um Land aufzunehmen. Bei Kindern und eine gute Integration zu ermöglichen. Jugendlichen spielt dabei die Schule eine entscheidende Rolle. Ergänzend zu dieser Broschüre werden für Lehrerinnen und Lehrer regionale In der Schule können sie Freundschaf- Fortbildungsveranstaltungen angeboten, ten schließen, viel über das Gastland, die sich mit den Fragen der Belastungen die fremde Sprache, dessen Sitten dieser Kinder und Jugendlichen be- und Gebräuche lernen, und sie haben schäftigen und damit, wie im Unterricht auch die Chance, mit dem erworbenen darauf reagiert werden kann. Wissen später ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben zu führen. Ich danke allen, die sich in der Schule der Flüchtlingskinder und jugendlichen Mit dieser Broschüre möchten wir vor Flüchtlinge annehmen, sich für sie en- allem Lehrerinnen und Lehrer, aber gagieren und ihnen damit einen guten auch andere am Schulleben Beteiligte Start in unserem Land ermöglichen. in ihrer Arbeit mit Flüchtlingskindern und jugendlichen Flüchtlingen unter- stützen. Andreas Stoch MdL Minister für Kultus, Jugend und Sport 3
Einleitung Im Oktober 2012 erhielt ein 15-jähriges Einigen wenigen dieser Flüchtlinge pakistanisches Mädchen Asyl in Groß- gelingt die Flucht nach Deutschland. britannien. Weil sie für das Recht auf Artikel 11 der Landesverfassung ge- Bildung für Mädchen eingetreten war, währt jedem jungen Menschen ohne war sie zuvor bei einem Attentat schwer Rücksicht auf seine Herkunft oder verletzt worden. Ihr Name ist Malala wirtschaftliche Lage das Recht auf eine Yousafzai und sie erhielt als jüngste seiner Begabung entsprechende Erzie- Preisträgerin der Geschichte zusammen hung und Ausbildung. Dies gilt auch mit dem Inder Kailash Satyarthi am für Flüchtlingskinder und jugendliche 10. Dezember 2014 in Oslo den Frie- Flüchtlinge. densnobelpreis. Der 60-jährige Kailash Satyarthi, der Ob und wie Integration gelingen kann, in seiner Heimat gegen Kinderarbeit hängt von verschiedenen Bedingungen kämpft, sagte: „Es gibt keine größere und Faktoren ab. Welche Erfahrungen Gewalt, als unseren Kindern ihre hat das Kind in seinem Heimatland mit Träume zu verwehren.“ der Schule gemacht? Welchen Stellen- wert hat Bildung und Schule in der Ähnlich wie Malala sind weltweit Mil- Familie, aus der das Kind kommt? lionen von Kindern und Jugendlichen Aber auch die Haltung und Einstellung gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. der Lehrkräfte spielt eine entscheiden- Sie fliehen vor Bürgerkrieg und aus de Rolle. Fühlt sich ein Kind sicher, Angst, als Kindersoldaten rekrutiert zu angenommen und willkommen, wird werden, vor körperlicher oder sexueller Lernen und Integration möglich. Ausbeutung und vor Verfolgung aus Fühlt sich ein Kind zurückgewiesen, politischen und religiösen Gründen nur mitleidig betrachtet oder nicht oder weil ihre Familien einer Minder- beachtet, „frieren seine Gedanken und heit angehören. Gefühle ein“ und dies behindert das Lernen sowie die seelische und geistige Entwicklung. 4
Es gibt nicht „die Flüchtlingskinder“ Viele Mitarbeitende in Bildungseinrich- und erst recht gibt es kein Patentrezept tungen werden in ihrem Arbeitsalltag für den Umgang mit „diesen Kindern täglich herausgefordert, mit den und Jugendlichen“. Jedes Kind, jeder Auswirkungen dieser Schwierigkeiten Jugendliche ist anders, jede Familie umzugehen. unterschiedlich. Die Kinder kommen aus den verschiedensten Ländern, Kon- Diese Broschüre möchte für die Belan- tinenten sowie oft grundverschiedenen ge der Flüchtlingskinder und jugendli- sozialen Schichten und haben unter- chen Flüchtlinge sensibilisieren, helfen schiedliche Religionen. Berührungsängste abzubauen und Ihnen praktische Hilfestellung für die Manche Familien haben ihr Leben lang alltägliche Arbeit zu geben. in extremster Armut gelebt, die Eltern können weder lesen noch schreiben Der Handreichung zugrunde liegen und die Kinder oder Jugendlichen eigene jahrelange Praxiserfahrung sowie haben noch nie eine Schule von innen zahlreiche Gespräche mit Flüchtlingen, gesehen. Andere Familien lebten in Lehrkräften, Mitarbeitenden vom Zent- ihrer Heimat im Wohlstand, die Eltern rum für Trauma- und Konfliktmanage- sind Ärzte, Anwälte oder Lehrer, hatten ment (ZTK, Köln) und anderen, die im ein Haus und viele Annehmlichkeiten. Bereich Trauer und Trauma tätig sind. Ihre Kinder besuchten die Schule, be- kamen vielleicht Musikunterricht und Hanne Shah hatten einen sorgenfreien Alltag. Aber sie alle sind geflohen, verloren Besitz und Heimat und haben nun als meist mittellose Flüchtlinge in Deutsch- land aus den verschiedensten Gründen Zuflucht gefunden. Je nachdem, wie das Leben früher für diese Kinder war, kämpfen sie hier mit unterschiedlichen Schwierigkeiten. 5
Inhalt I. teil Mögliche Folgen von Flucht, Vertreibung und dem Leben in der Fremde 8 Traumatisierte Kinder und Jugendliche 9 Trauernde Kinder und Jugendliche 10 Eine andere Kultur 11 Die „doppelte“ Sprachlosigkeit 12 Leben in Armut 13 Wenn das System Familie zusammengebrochen ist 14 Mögliche Reaktionen 16 II. Te il Was Sie beachten und tun können 18 Der erste Tag 18 Spracherwerb 18 Lernen durch Gleichaltrige 19 Struktur und klare Haltung 20 Fremdenfeindlichkeit, Mythen und Vorurteile 20 Kulturelle Missverständnisse 21 Interesse am Kind und seinem Leben bekunden 22 Informationen weitergeben 23 Essen und Trinken 24 Hausaufgaben 24 Erzählungen 25 Fantasie als wichtige Kraftquelle 25 Bewegung und Spiel 26 Theater, Romane, Filme, Musik 26 Elternarbeit 27 Andere Eltern mit einbeziehen 27 Eltern der Flüchtlingskinder 27 6
III. Tei l Monate oder Jahre später 29 Sicherheit 29 Selbstheilungskräfte 30 Unterstützungsangebote 30 Zukunftsperspektiven schaffen 31 Nac hdenkl iches (Aussagen von jugendlichen Flüchtlingen) 32 Impressum 34 7
Teil I Mögliche Folgen von Flucht, Vertreibung und dem Leben in der Fremde Ein Kind aus einer Flüchtlingsfamilie anderen öffentlichen Räumen gut kommt in Ihre Klasse. Sie wissen wenig unterstützt werden können, muss man oder gar nichts über seine Geschichte, zunächst verstehen, warum manche den Familienhintergrund oder sein Kinder so reagieren, wie sie reagieren, Befinden. Sicher jedoch ist, dass die warum sie sich für uns vielleicht merk- meisten dieser Kinder Schreckliches würdig verhalten und warum sie mit erlebt und gesehen haben. Vielleicht bestimmten, für uns alltäglichen Dingen sahen sie, wie Menschen erschossen Schwierigkeiten haben. oder vergewaltigt wurden, saßen während Bombardements in Kellern, Die Geschichten und Hintergründe hatten Hunger und Durst oder erlebten der Kinder und Jugendlichen sind sehr die Odyssee einer langen Flucht in unterschiedlich. ständiger Todesangst. Bei Flüchtlingskindern und -jugendli- Manche Familien sind auch „nur“ der chen kann Folgendes zutreffen oder ist großen Armut entflohen oder der täg- zumindest sehr wahrscheinlich: lichen Diskriminierung und Schikane, • Sie sind traumatisiert, weil sie einer bestimmten Ethnie oder • sie trauern, Religion angehören oder politisch • sie erleben einen „Kulturschock“, verfolgt wurden. • sie sind „sprachlos“, • sie leben (auch) jetzt in Armut und Nun sind sie in einem fremden Land, • ihr Familiensystem ist zusammen- zunächst sprachlos und hilflos. Vieles ist gebrochen. anders, ungewohnt und viele Alltäglich- keiten müssen neu erlernt werden. Bereits einer dieser Faktoren reicht aus, Insbesondere in den Herbst- und Win- um normales schulisches Lernen und termonaten erleben viele Deutschland die Entwicklung zu beeinträchtigen. als kalt und grau. Das fehlende Sonnen- Dann bedarf es sensibler Unterstüt- licht empfinden manche Menschen aus zung, damit das möglicherweise schwer wärmeren und sonnenreicheren Regio- verletzte Kind seine Möglichkeiten nen zusätzlich als sehr belastend. entfalten kann sowie Lernen und Inte- Das Leben hier spielt sich oft in den gration möglich werden. Häusern ab, weniger auf der Straße. Dies erschwert den Aufbau neuer Im Folgenden wird einzeln auf die sozialer Kontakte. Damit diese Kinder verschiedenen „Belastungsfaktoren“ und Jugendlichen im Schulalltag oder eingegangen. Dabei gilt es zu beachten, 8
dass diese sich in der Praxis häufig ver- ches gesehen oder gehört und sind dem mischen und selten getrennt voneinan- Geschehen hilflos und meist mit Todes- der auftreten. angst ausgeliefert gewesen. Bilder des Grauens, Schreie, aber auch Gerüche und Geräusche, die mit dem traumati- Tr a u matisierte Kinde r u n d schen Erleben einhergingen, haben sich Jugendliche tief ins Gehirn eingebrannt. In Krisen-, Kriegs- und Notsituationen Diese Bilder können sich auch später in schaltet der Körper auf einen Notme- Friedenszeiten und in Sicherheit immer chanismus. Um zu überleben, muss wieder unkontrolliert aufdrängen und man schnell begreifen und entscheiden, wie ein innerer Film ablaufen. Das handeln, ohne lange nachzudenken. Kind erlebt sich dann in der gleichen Es ist ein eher automatisches Tun wie ohnmächtigen Angst wie zum Zeit- beim Radfahren. Die Gedanken sind punkt, als das Trauma entstanden ist. ausgeschaltet, sie würden nur behin- dern. Bewältigen bedeutet, dass sich Besonders häufig tauchen diese Bilder ein Mensch der Katastrophe stellt, nachts in Form von Albträumen auf. während sie geschieht – es ist ein Über- Am nächsten Morgen ist das Kind dann lebensmechanismus. unausgeschlafen und gereizt. Aber auch tagsüber können diese Schreckensbilder Erst wenn die akute Notlage vorbei erscheinen. Dann wirken die Kinder ist, können sich manche Kinder und wie in einer anderen Welt, starren Jugendliche allmählich mit den Ein- vielleicht gedankenverloren vor sich drücken und Vorstellungen von dem, hin und schrecken zusammen, wenn sie was ihnen zugestoßen ist, gedanklich angesprochen werden. auseinandersetzen. Erst mittel- und langfristig zeigt sich, welche Ressourcen Unbewusst vermeiden Kinder dann Kinder oder Jugendliche haben oder bestimmte, angstmachende Situationen. welche Hilfe sie benötigen, um die Das Vermeiden dient als Schutz. So schlimmen Ereignisse in ihr Leben zu kann es beispielsweise vorkommen, integrieren. dass ein Kind nicht Bahn fahren möch- te, weil es Angst vor dem Kontrolleur Viele Flüchtlingskinder sind durch in Uniform hat, der es an einen Solda- Kriegserlebnisse, Flucht oder Gräuelta- ten erinnert. ten traumatisiert. Sie haben Schreckli- 9
Te i l I M ö g l i c he F o l g e n v o n F l u c h t, V e r t r e i b u n g u n d d em Le b e n Kleinigkeiten aus dem Alltag können bezeichnet. Eine Amnesie kann unter- für Kinder aus Kriegsgebieten „Trigger“ schiedlich lange anhalten, manchmal (Auslöser) sein, die den inneren Film viele Jahre lang, sogar ein ganzes Leben. zum Ablaufen bringen: • So kann rote Farbe an Blut erinnern, Ein schreckliches Erlebnis führt jedoch • ein einfacher Knall an Schüsse oder nicht zwangsläufig zur Traumatisierung. • der Geruch von Grillfleisch an Men- Viele Menschen „trauern einfach nur.“ schen, die im Feuer umkamen. Die meisten Kinder verstehen nicht, T ra u e r n d e K i n d e r u n d warum sie Angst haben. Sie reagie- Jug e n d l i c he ren einfach verstört, verkriechen sich unter einem Tisch oder weigern sich Fast alle Flüchtlingskinder haben große vehement, einen bestimmten Ort zu Verluste erlebt. Vielleicht starb ein Fa- betreten. milienmitglied, manchmal sogar Vater, Mutter und/oder ein Geschwisterkind. Durch das erlebte Trauma ist der Viele Familien sind auseinanderge- Körper in einer permanenten Hoch- rissen, sie wissen nicht, wie es ihren spannung. Wachsamkeit ist in einer Ge- Liebsten geht, ob sie gesund sind oder fahrenlage lebensnotwendig und kann noch leben. Zudem leiden die meisten von den Kindern auch in Friedenszei- Kinder unter Heimweh, vermissen ten nicht einfach abgestellt werden. Freunde und ein vertrautes Umfeld. Diese Übererregbarkeit kann sich durch motorische Unruhe, Schreckhaftigkeit, Jedes Kind trauert anders, so wie jedes aber auch Aggressivität zeigen. Kind auch seine eigene Art im Umgang mit Trauma hat. Vielen Kindern sieht Bei einem schweren Trauma gibt es man die Trauer nicht an. Sie lachen, eine weitere Schutzmaßnahme: das spielen und verhalten sich (scheinbar) Vergessen. völlig normal. Manche Erlebnisse sind so schlimm, Trauer ist mehr als ein Gefühl – Trauer dass sie vom Bewusstsein abgespalten ist ein komplexer Zustand, der sich werden. Das Kind erinnert sich nur verändern kann, jedoch nicht mit Trau- noch an Bruchstücke, oft aber gar nicht rigkeit verwechselt werden sollte. mehr an das Erlebte. Das totale oder Ein Kind ist zum Beispiel traurig über partielle Vergessen wird als Amnesie eine schlechte Note. 10
i n d e r F r em d e Jeder kennt das Gefühl der Traurigkeit. Ei n e an de re K u lt u r Dieses manchmal sehr starke Gefühl äußert sich nach außen sehr oft durch Das Kind kommt aus einer anderen Weinen, zumindest aber sieht man den Kultur. meisten Menschen ihre Traurigkeit In Thailand ist es tabu, ein Kind am an. Diese Traurigkeit ist ein linear ver- Kopf zu berühren, das bringt Unglück. laufender Prozess, ein Gefühl, das für In Kenia dagegen wird bei den Massai unterschiedlich lange Zeit sehr heftig einem Kind die Hand auf den Kopf sein kann, dann aber weniger wird und gelegt, um es zu segnen. In Indien isst nach einiger Zeit ganz verschwindet. man nur mit der rechten Hand, die linke ist unrein. In manchen Ländern Dagegen ist „Traurig sein“ nur eines ist es unhöflich, sehr leise zu sprechen, unter vielen Gefühlen in der Trauer – man könnte ja hinter dem Rücken eines man „ist in Trauer“. Schmerz, Kummer, anderen tuscheln. Zorn, Wut, Verzweiflung, Ohnmacht, Scham und Schuldgefühle sind weitere Jedes Land hat seine unausgesproche- Gefühle, die zusätzlich in unterschied- nen Regeln, die wir von klein auf bei- licher Heftigkeit, oft phasenweise, gebracht bekommen und verinnerlicht auftreten können, aber nicht müssen. haben. Menschen aus anderen Kultu- Trauer ist ein Zustand, der eine sehr ren, die andere Regeln gelernt haben, lange Zeit, eventuell ein Leben lang, müssen sich erst an das neue Umfeld anhalten kann. gewöhnen. Alles ist neu, alles anders Die Trauer um ein enges Familienmit- und es ist zutiefst verunsichernd, wenn glied, aber auch um den Verlust der man sich nicht verständigen kann und Heimat prägt meist das ganze Leben. zudem noch ständig Angst haben muss, etwas falsch zu machen. Zusätzlich müssen sich die Kinder und Jugendlichen an ein völlig neues Kinder lernen zwar schnell, doch auch soziales Gefüge und kulturelles Umfeld sie brauchen Zeit. anpassen. Vielleicht kennen sie ein Schulsystem, das sehr viel autoritärer war und den Kindern weniger Entscheidungsfreiheit ließ. Vielleicht waren sie es gewohnt, sich in der alten Heimat ohne Aufsicht völlig frei zu bewegen, zu klettern und 11
Te i l I M ö g l i c he F o l g e n v o n F l u c h t, V e r t r e i b u n g u n d d em Le b e n zu toben, ohne ständige Begrenzung. vergessen hatte. Kommentare, die oft Vielleicht sprach man in der Heimat nicht einmal böse gemeint sind, doch laut und hier nun plötzlich leise. Es extrem erniedrigend und beschämend sind nicht die großen Dinge, sondern wirken können. Sätze wie diese bren- die vielen Kleinigkeiten des Alltags, die nen sich ins Gedächtnis. normalerweise mühsam erlernt werden müssen und oft zu Missverständnissen führen. Flüchtlingskinder, die hierher- Die „doppelte“ Sprachlosigkeit kommen, haben meist keine Erwachse- nen, die ihnen die neuen Regeln und Flüchtlingskinder sind meist in doppel- Gebräuche beibringen können. Die Er- tem Sinne sprachlos. wachsenen, mit denen sie kamen, sind Das, was sie erlebt haben, ist oft so selbst unsicher und fühlen sich fremd. unvorstellbar, dass sie das Grauen, aber besonders auch ihre Gefühle kaum So müssen die Kinder alles alleine erzählen können. Je schlimmer das Er- lernen, am Anfang nur durch Beobach- lebte, desto größer die Sprachlosigkeit. ten und ohne Kenntnis der hiesigen Das Geschehen lässt sich meist nicht in Sprache. Worte fassen, auch nicht für Erwachse- ne. Und selbst wenn Worte gefunden Viele Flüchtlingskinder wollen Neues würden, so bleibt die Unsicherheit, wie lernen, sie sind neugierig, stoßen aber das Gegenüber auf solch eine Erzählung oft durch ihr „Anderssein“ an Grenzen, reagiert. die sie behindern. Hierbei ist eine sen- sible Unterstützung und Verständnis für Wird man die schrecklichen Dinge eine andere Prägung besonders wichtig. überhaupt glauben? Oder hält mein Eine ebenfalls nicht zu unterschätzende Gegenüber es aus, wenn ich ihm/ihr Belastung ist es für Kinder und Jugend- davon erzähle? Kinder haben meist liche, wenn sie miterleben müssen, dass feine Antennen und spüren, wie viel ihre Eltern aufgrund eines „falschen der Erwachsene verträgt. Nicht selten Verhaltens“ gerügt oder belächelt schweigen sie, wenn sie spüren, dass ihre werden. Geschichte eine zu große Belastung für den anderen ist, oder wenn sie befürch- „Wie die Kinder eben“, sagte die ältere ten, dass ihnen nicht geglaubt wird. Dame mit mildem Lächeln, als eine Fa- milie zu spät zum vereinbarten Treffen So sind viele traumatisierte Kinder kam und dann noch wichtige Papiere sprachlos. Doppelt sprachlos sind die 12
i n d e r F r em d e meisten, wenn sie die deutsche Sprache In Sammelunterkünften wohnen viele nicht oder nur rudimentär beherrschen. Menschen aus unterschiedlichen Ländern Gerade Gefühle sind besonders schwer und Religionen auf engstem Raum, was zu in einer fremden Sprache auszudrücken, Spannungen zwischen den Erwachsenen selbst wenn man sich im Alltag schon gut unterschiedlicher Herkunft führen kann, verständigen kann. die sich natürlich auch auf die Kinder auswirken. In den ersten Monaten in einer neuen Umgebung werden die Sinne besonders Nachts ist es oft laut, die Kinder können geschärft. In dieser Zeit beobachten nicht schlafen und sind am nächsten Kinder und Jugendliche und versuchen Morgen müde in der Schule oder im so, zu verstehen und für sich Dinge zu Kindergarten. Vor allem aber bewirkt die erklären und einzuordnen. Damit sind beengte Wohnsituation, dass die Kinder sie besonders abhängig von Gesten, dem ungefiltert alle Sorgen und Nöte der Tonfall, der Atmosphäre und der Körper- Erwachsenen mitbekommen. sprache ihres Umfelds. Das Leben in einer Umgebung, in der man die Sprache nicht Das Leben in ärmlichen Verhältnissen be- versteht, ist extrem anstrengend und kräf- wirkt Scham. Gerade in der Schule, wenn tezehrend. Zudem besteht eine dauernde Flüchtlingskinder auf Mitschülerinnen Anspannung, ob man etwas falsch verstan- und Mitschüler treffen, die aus wohlbehü- den oder gemacht hat. Daher ist die Angst teten Elternhäusern kommen oder zumin- vor Missverständnissen groß. dest materiell abgesichert sind, kommt es zu Vergleichen. Hier wird es dann vielen schmerzlich bewusst, dass man ihre Armut Le b en in Armut oft sieht, beispielsweise an abgetragener Kleidung, und ein Flüchtlingswohnheim Flüchtlinge in Deutschland leben in ein Ort des Stigmas ist. Dorthin möchte relativer Sicherheit, aber oftmals in Isola- man keine Klassenkameraden oder Freun- tion und in ärmlichen Verhältnissen. Die de einladen. Wohnsituation ist meist extrem beengt und viele Sammelunterkünfte befinden Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien sind sich abseits gelegen. Die meisten Familien oft besonders hart betroffen. Häufig reicht bewohnen auch mit zwei, drei oder mehr ihr Geld kaum zum Nötigsten, manchmal Kindern ein, allerhöchstens zwei kleine nicht einmal, um mit dem Bus zur Schule Zimmer. Das lässt keinen Platz für Privat- zu fahren. Und die meisten Aktivitäten sphäre. der deutschen Gleichaltrigen sind mit 13
Te i l I M ö g l i c he F o l g e n v o n F l u c h t, V e r t r e i b u n g u n d d em Le b e n Ausgaben verbunden. Diese treffen sich die sie lieben, stützen und führen. In im Café, gehen abends etwas trinken, Flüchtlingsfamilien sind viele Erwach- ins Kino oder verabreden sich zum sene selbst so traumatisiert und von Shoppen. Wer nie mitmachen kann, ist Trauer betroffen, dass sie nicht mehr in schnell ausgeschlossen. der Lage sind, ihre Kinder genügend zu unterstützen. Manchmal konnte Auch fremdenfeindliche Bemerkungen, nur ein Teil der Familie fliehen oder abwertende Äußerungen oder Blicke, ein Elternteil oder Geschwisterkind ist denen viele Flüchtlinge oft im täglichen umgekommen. Oft ist das ganze System Leben ausgesetzt sind, verunsichern Familie zusammengebrochen. zutiefst, schüren Angst und geben das Wenn in ihrem Heimatland noch Krieg Gefühl, weniger wert zu sein. herrscht, so verbringen die meisten fast jede freie Minute vor dem Fernseher Immer noch gibt es in Deutschland oder Laptop, um Nachrichten von zu Menschen, die nur geringe seriöse Hause zu hören. Sie sorgen sich um An- Informationen über politische Hinter- gehörige, vielleicht um die alten Eltern, gründe in den Kriegsgebieten haben. die nicht fliehen konnten, um Freunde Sie wissen wenig über die Flüchtlinge und um Nachbarn. und warum diese hier sind. Dann prägen Unkenntnis und Vorurteile die Die Familien leben zwischen zwei Einstellung und führen zu einer abwer- Welten, in ständiger Anspannung und tenden Haltung. Angst. All das nehmen die Kinder auf, sehen und spüren die Sorgen und So erzählte ein Mädchen: „Ich traute versuchen oft sogar noch, die Eltern zu mich überhaupt nicht, in einem Laden trösten und zu unterstützen. irgendetwas in die Hand zu nehmen, weil es gleich hieß, die Flüchtlinge Für die Kinder bedeutet dies, die Er- klauen doch alle.“ wachsenen verletzt, unsicher und hilflos zu erleben. Auch die Eltern sind fremd in der Kultur, beherrschen die Sprache Wenn das Sys tem Fam i li e nicht und sind unsicher, wie sie sich zusammen g e bro chen i s t verhalten sollen. Die wichtigste Ressource für die Oft lernen Kinder schneller als ihre seelische Gesundheit von Kindern sind Eltern die neue Sprache, passen sich zuverlässige Bezugspersonen, Eltern, besser an die fremden Regeln und 14
i n d e r F r em d e Gebräuche an und müssen dann nicht Familien sind nun meist auseinander- selten die Rolle von Dolmetscherinnen gerissen. Alles, was es an Positivem, und Dolmetschern, sowie Vermitteln- Stabilisierendem von Opa, Oma, Onkel, den zwischen den Kulturen einnehmen. Tanten, Cousins und Cousinen gab, fehlt nun. Das macht das Leben hier Sie gehen mit zu Elternabenden, zu einsam und schwer. Arztbesuchen, füllen Formulare und Anträge aus und tragen dadurch Ver- Besonders belastend ist die Lage für antwortung, für die sie oft viel zu jung minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, sind. Diese neue Rolle der Kinder ist die völlig alleine hierherkommen. ambivalent. Einerseits kommt es leicht zu einer Überforderung, andererseits Bei vielen Flüchtlingskindern und wird das Selbstbewusstsein der Kinder -jugendlichen ist nicht nur das System gestärkt. Das Kind kann etwas Sinnvol- Familie auseinandergebrochen, sondern les tun, verharrt nicht in Hilflosigkeit fast alle diese Kinder und Jugendlichen und bekommt daher auch eine gewisse sind durch das Verlassen der Heimat wichtige Position innerhalb der Familie. und von allem, was vertraut war, wur- zellos geworden. Sie wissen nicht mehr, Noch schwerer ist es, nichts tun zu wo sie herkommen und wo sie hingehö- können. Ungemein belastend ist es für ren. Wurzeln aber werden benötigt, um Kinder oder Jugendliche, wenn sie ein einen festen Halt zu haben. Sie können Elternteil durch Trauma, Trauer oder wieder neu gebildet werden, aber das Depression so schwer verletzt erleben, braucht Zeit. dass dieses den Alltag nicht mehr bewältigen kann: Wenn die Mutter nur noch apathisch auf dem Stuhl sitzt und stundenlang ins Leere schaut. Wenn der Vater nach Haft und Folter ein Schatten seiner selbst ist oder traumatisiert durch die Kriegserlebnisse ständig in Hoch- spannung lebt, unfähig, seine Gefühle zu regulieren. Zudem sollte nicht vergessen werden, dass etliche Kinder in ihrer Heimat in Großfamilien gelebt haben. Diese 15
Te i l I M ö g l i c he F o l g e n v o n F l u c h t, V e r t r e i b u n g u n d d em Le b e n Bi tte beachten Si e ! Nicht jedes Flüchtlingskind ist traumatisiert. Ebenso kann es sein, dass das Kind noch alle Familienangehörigen um sich hat, es nicht trau- ert, aber vielleicht besonders unter dem Leben in der fremden Kultur leidet. Andere Kinder wiederum sind schwer traumatisiert, sodass die „Traumaproblematik“ im Vordergrund steht. Nicht alle Eltern sind trau- matisiert und etliche Familien sind auch gut in der Lage, ihre Kinder zu unterstützen, ihnen Sicherheit und einen strukturierten Alltag zu vermitteln. Auch wenn es in der Praxis schwierig ist, alle Hintergründe zu verstehen, ist es für Sie wichtig zu wissen, welche Gründe es für die unterschiedlichsten Reaktionen der Kinder geben kann. Mögliche Reakti o n e n hin und her, ist schreckhaft und leicht reizbar. Wie ein Mensch, wie ein Kind auf • Das Kind ist aggressiv gegenüber sich Trauer, Trauma und Heimatverlust selbst oder anderen. reagiert, ist so unterschiedlich wie die • Das Kind spielt ständig Krieg, kämpft Menschen selbst. viel, malt Tod und Gewalt. • Das Kind ist oft krank, klagt über Genannt seien deshalb nur einzelne Kopf- oder Bauchschmerzen. Reaktionen und Verhaltensweisen, die • Das Kind ist ungewöhnlich reif, sein können, aber nicht sein müssen. schlüpft in die Rolle von Erwachsenen. Die meisten dieser Reaktionen können • Das Kind „fällt zurück in eine frühere sich natürlich genauso bei Jugendlichen Entwicklungsstufe“. zeigen, aus Gründen der Lesbarkeit ist • Das Kind ist fröhlich, unbekümmert, hier nur vom „Kind“ die Rede: passt sich an, zeigt keinerlei Auffällig- • Das Kind ist scheu, sehr zurückge- keiten. zogen, spricht kaum und beteiligt sich • Das Kind ist fröhlich, unbekümmert, nicht an gemeinsamen Aktivitäten. aber unfähig, sich zu konzentrieren und • Das Kind ist sehr unruhig, läuft viel Neues zu lernen. 16
i n d e r F r em d e Während sich die ersten Punkte leicht „Lächle mein Sohn, lächle und belaste mit den verschiedenen Trauer- und Fremde nicht mit deinen Tränen. Jeder Traumareaktionen erklären lassen, hat sein Päckchen zu tragen.“ kann es doch irritierend sein, wenn Sie ein Kind vor sich haben, das Sie trotz Eine weitere Problematik sollte nicht seines schweren Schicksals freundlich verschwiegen werden: Es gibt Kinder anlacht, unbekümmert spielt, selbstsi- und Jugendliche, die infolge von Trau- cher auftritt und sich auch noch sehr mata und jahrelangen Gewalterfahrun- sozial verhält. gen unterschiedlichster Art abgestumpft oder verroht sind. Sie zeigen keinerlei Manche Erlebnisse sind so schrecklich, Empathie und reagieren unkontrolliert dass sie im Gehirn abgespalten werden, aggressiv bei allem, was sie als Kritik der Schmerz wird abgekapselt, denn es oder Angriff wahrnehmen. Sie wur- würde das Kind überfordern, wenn es den nicht so geboren, sondern haben all die damit verbundenen Emotionen sich durch besondere Belastungen so zuließe. Nur ein Teil der Persönlichkeit entwickelt. wird für die anderen sichtbar, der ande- re Teil bleibt im Verborgenen. Was für Im schulischen Umfeld und sonstigen die erste Zeit als Schutzmechanismus betreuten Umfeld brauchen diese sinnvoll ist, kann langfristig problema- Jugendlichen völlig klare Ansagen, klare tisch werden, nämlich dann, wenn der Regeln (bei Verstoß mit Konsequen- Kummer in aller Heftigkeit unvorberei- zen), aber ebenso das Gefühl, angenom- tet hervorbricht. men zu sein. Zudem gilt es in vielen Kulturen als Es fällt diesen Kindern und Jugend- unhöflich, andere mit seinen Sorgen zu lichen schwer, Vertrauen aufzubauen, belasten. doch die einzige Möglichkeit, einen Die Menschen lächeln, selbst wenn sie positiven Einfluss auf sie zu haben, von Tod und Leid berichten. besteht darin, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Eine einzige Bezugsperson Eine Mutter aus einem Flüchtlingslager, in der Schule reicht mitunter, um eine eine Frau, die weder lesen noch schrei- Bindung herzustellen und das Kind ben konnte, schickte ihren Sohn mit oder den Jugendlichen zu stärken und folgenden Worten in die Fremde: zu ermutigen. 17
Teil II Was Sie beachten und tun können Flüchtlingskinder brauchen vor allem „Wie wird mein Sohn/meine Tochter in Verständnis, das Gefühl, angenommen der neuen Klasse aufgenommen?“ und willkommen zu sein, ein wertschät- „Wie verständige ich mich mit den zendes Gegenüber, Sicherheit, Stabilität Lehrerinnen und Lehrern?“ und Struktur. Als Lehrkraft können „Wie verbringt mein Kind den Tag in Sie sich nur begrenzt um ein einzel- dieser Schule?“ nes Flüchtlingskind kümmern. Viele „Was wird von mir als Elternteil engagierte Lehrerinnen und Lehrer erwartet?“ sind aufgrund der ständig wachsenden Anforderungen oft schon an ihrer Diese Unsicherheiten und Ängste Belastungsgrenze. Ein Kind oder einen können meist schon durch kurze, aber Jugendlichen intensiv wahrzunehmen, klare Information gemindert werden. Gespräche zu führen, braucht aber Zeit Erklären Sie Kind und Eltern, wie der und Raum, dafür sollten die Rahmen- erste Schultag für das Kind abläuft. Das bedingungen geschaffen werden – zum gibt Sicherheit. Zeigen Sie Kind und Wohl von Lehrkräften sowie Schülerin- Eltern möglichst gemeinsam, wo ihr nen und Schülern. Und doch können Kind sich aufhält, lernt und spielt. Da- Sie einiges tun, um diese Kinder im durch haben das Kind und die Eltern Klassenverband, meist ohne großen zu- eine gleiche Erfahrung, auf die sich das sätzlichen Zeitaufwand, zu unterstützen. Kind später bei Erzählungen beziehen kann. Stellen Sie Eltern vor allem die Klassenlehrkraft als Ansprechpartnerin Der erste Tag oder Ansprechpartner für Fragen und Anliegen vor. Der erste Tag an einer neuen Schule ist für jedes Kind aufregend und verbun- den mit Unsicherheit. Meist sind auch Spr a c herwe r b die Eltern nervös, denn sie möchten natürlich, dass ihr Kind einen guten Sicherlich das Wichtigste ist, dass Start in der neuen Umgebung hat. das Kind so schnell und so gut wie Für Flüchtlingsfamilien ist der erste möglich die deutsche Sprache lernt. Schultag eine ganz besondere Heraus- Das geschieht einerseits durch gezielten forderung und auch oft mit Ängsten Sprachunterricht, vor allem aber auch verbunden. Fragen, die sich Eltern durch das „Bad in der fremden Spra- möglicherweise stellen, sind: che“. Kinder lernen in der Regel eine 18
fremde Sprache recht schnell, wenn sie von Trauer zu erheblichen Konzentra- ausreichend Gelegenheit zum richtigen tionsstörungen bei Flüchtlingskindern Sprechen und Hören haben. Nachweis- kommen kann. lich lernen Kinder, die ihre Mutterspra- Belastete Kinder brauchen manchmal che gut beherrschen, auch eine neue wesentlich länger, um die fremde Spra- Sprache besser und leichter. che zu lernen. Das ist nicht ungewöhn- lich und keinesfalls ein Zeichen von Erfahrungsgemäß können sich unbe- geringer Intelligenz. lastete Kinder (bis ca. 12–14 Jahre) nach ungefähr 6 Wochen meistens einigermaßen verständigen (auch wenn Le rn e n du rch G l e i c h a lt r i g e noch sehr fehlerhaft und auf Praktisches begrenzt). Nach 3 Monaten sollten Vielleicht können Sie Patenschaften in- viele gut sprechen können und fast alles nerhalb der Klasse oder Schule vermit- verstehen. Nach 6 Monaten kann man teln. Ermutigen Sie die Kinder aus Ihrer davon ausgehen, dass alles verstanden Klasse, auf Flüchtlingskinder zuzugehen wird und das Kind für den Alltagsge- und sie ins Spiel zu integrieren. Fußball, brauch fast fließend spricht. alle Gruppenspiele, bei denen Sprache eine weniger wichtige Rolle spielt, Da jüngere Kinder einen begrenzten bieten fantastische Möglichkeiten, Wortschatz haben und auch weniger Kinder zu integrieren, die noch nicht über abstrakte Dinge sprechen, erreicht gut sprechen können. Auf diese Weise ein sechsjähriges Kind natürlich schnel- können die Kinder Anerkennung von ler das Sprachniveau von Gleichaltrigen ihren Mitschülerinnen und Mitschülern als ein 14-jähriger Teenager, der sich bekommen. über Zukunftspläne, andere Men- schen oder Liebeskummer unterhalten Flüchtlingskinder brauchen keine möchte. Sonderbehandlung, aber eine sensible Behandlung. Dies gilt allerdings nur, wenn das Kind auch täglich genügend Möglichkeit hat, Ein seelisch stabiles Kind, das sozial fehlerfreies Deutsch zu hören. An- eingebunden ist und Anerkennung sonsten prägt sich Falsches schnell ein. erhält, wird sich auch mit allen schu- Zudem sollte beachtet werden, dass es lischen Anforderungen leichter tun. als Folge eines möglichen Traumas und Die Bedeutung von Mitschülerinnen 19
Te i l II Was Sie beachten und tun können und Mitschülern sowie Freundinnen In vielen anderen Kulturen lernen und Freunden wird oftmals zu wenig Kinder, sich im Hintergrund zu halten, bedacht. unterzuordnen und ihre Pflicht zu erfüllen. Sie haben gar nicht so viel Bitte beachten Sie auch, dass etliche Wahlmöglichkeit. Die vielen Fragen zu Flüchtlingskinder älter sind als ihre Kleinigkeiten verwirren, die Kinder Klassenkameradinnen und -kameraden, ziehen sich zurück und sind verunsi- weil sie oft lange Zeit nicht zur Schule chert. Wichtige Entscheidungen, die das gehen konnten. Das kann gerade in der Kind oder den Jugendlichen betreffen, Pubertät zu Schwierigkeiten führen, ins- sollten natürlich nicht über seinen Kopf besondere weil die Jugendlichen durch hinweg getroffen werden – es gilt hier das Erlebte zusätzlich meist reifer sind zu unterscheiden zwischen wichtig und als Altersgenossen in Deutschland. unwichtig. Struktu r u n d klare Fremd e n fe i n d l i c h k e i t, Haltung M y t hen u n d V o r u rt e i l e Klare Klassenregeln und Rituale geben Bevorzugen Sie kein Flüchtlingskind, allen Kindern Halt und Struktur. Gera- aber stellen sie sich uneingeschränkt de für traumatisierte Kinder, die auch auf seine Seite, wenn sie mitbekom- zu Hause keine Orientierung mehr men, dass dieses Kind ausgegrenzt haben, können klar erklärte Regeln beziehungsweise gehänselt wird oder Schutz bieten. fremdenfeindliche, diskriminierende Verwirren Sie die Kinder nicht durch zu Äußerungen fallen. viel Entscheidungsfreiheit. In unserem Hier muss Ihre Haltung eindeutig sein. Kulturkreis werden Kinder permanent Das Kind braucht dann den Schutz von nach ihren Wünschen gefragt und Erwachsenen. müssen wählen: Rassismus, Intoleranz oder abwerten- „Wo möchtest du sitzen?“ de Sprüche über etwas, was einem „Welches Buch möchtest du lesen?“ fremd ist, gibt es in allen Kulturen „Möchtest du lieber malen und Schichten. Dumme, aber zutiefst oder spielen?“ verletzende Worte erleben Flüchtlin- ge von vielen Seiten, von Deutschen 20
ebenso wie von Migranten, manchmal K u ltu re lle M i ssve r s t ä n d - selbst von anderen Flüchtlingen. So n i sse kann es auch sein, dass in Ihrer Schule „Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!“, Kinder unterschiedlicher „verfeindeter“ meinte die Lehrerin ärgerlich, als sie Ethnien aufeinandertreffen. Es kann dem Kind etwas erklärte und dieses nur ebenfalls sein, dass es bei Flüchtlingen auf seine Schuhe blickte. Sie empfand untereinander Vorurteile und eine das Verhalten des Kindes als sehr unge- Hierarchie gibt. hörig. Dabei war ihr nicht bewusst, dass es in der Kultur, aus der das Kind kam, Machen Sie trotzdem ganz klar, dass als sehr unhöflich gilt, wenn ein Kind die Schule ein Ort ist, in dem alle einem Erwachsenen, noch dazu einer gleiche Rechte und Pflichten haben, Respektsperson wie einer Lehrerin, ein Ort mit null Toleranz gegenüber direkt in die Augen sieht. Diskriminierung. Von Ihnen kann nicht erwartet werden, Unwissen und Vorurteile prägen viele dass Sie all die verschiedenen Anstands- Debatten um Flüchtlinge, schüren regeln der unterschiedlichen Kulturen Ängste und fördern Aggressivität. Die kennen. Seien Sie sich aber bitte be- Auswirkungen von solchem Denken wusst, dass unsere Höflichkeitsregeln in gipfelten im zweiten Weltkrieg und in Deutschland nicht allen bekannt sind. der bis dahin beispiellosen Vernichtung von Juden, Roma und Sinti, Homosexu- Erklären Sie bitte, warum Sie möch- ellen, psychisch Kranken und Men- ten, dass ein Kind dieses oder jenes schen, die als fremd und bedrohlich tut. Sagen Sie, dass es in Deutschland wahrgenommen wurden. unhöflich ist, auf den Boden zu sehen, wenn jemand mit einem spricht. Aus der Geschichte kann und sollte gelernt werden. Aufklärung, Wissen Auch ein junges Kind kann die un- und Begegnungen helfen, Vorurteile terschiedlichen Regeln des Respekts abzubauen. Schulen sind wichtige Orte, verstehen, schnell lernen und wird auch die dies ermöglichen können. begreifen, in welchem Umfeld es sich wie zu verhalten hat. (Zu Hause sehe ich bescheiden zu Boden, wenn die Eltern mit mir sprechen, aber in der Schule sehe ich die Lehrerin direkt an, 21
Te i l II Was Sie beachten und tun können weil sie sonst denkt, ich höre nicht zu.) Momente des Glücks, Menschen, die Klare Worte helfen, zu verstehen und einem guttun, oder Begebenheiten, an die Dinge richtig einzuordnen. die man sich dankbar erinnert. Diese Kleinigkeiten wahrzunehmen und nicht nur das Schreckliche, gibt Kraft – das Interesse am K i n d u n d Kind wird nicht nur auf das „arme seinem Le be n be ku n de n Flüchtlingskind“ reduziert. Solche Gespräche sollten aber nicht zwischen Erkundigen Sie sich nach der Heimat Tür und Angel geführt werden, sondern der Kinder und Jugendlichen und wenn Sie wirklich etwas Zeit und Ruhe zeigen Sie dadurch, dass Ihnen bewusst haben, zuzuhören. ist, mit welchen Schwierigkeiten sie leben müssen. Begegnen Sie den Kindern und Jugend- Allgemeine Fragen wie „Wie geht es lichen mit Mitgefühl, aber nicht mit dir?“ sind meist zu Floskeln verkom- Mitleid. Mitleid lähmt. men, zu allgemein und werden genauso salopp beantwortet: „Gut.“ Der französische Arzt und Resilienz- Fragen Sie konkret, ohne Gefühle di- Forscher Boris Cyrulnik, der als jüdi- rekt anzusprechen. Dies könnte Kinder sches Kind in Frankreich versteckt die oder Jugendliche, besonders in der Nazi-Zeit überlebt hat, schreibt: „Die schulischen Umgebung, überfordern. Belastung kam erst mit dem Frieden, als „Wie habt ihr früher zu Hause Feste sich die Erwachsenen, die den Auf- gefeiert?“ trag hatten, sich um die Kinder ohne „Habt ihr in der Stadt oder auf dem Familie zu kümmern, nicht die Mühe Land gelebt?“ machten, mit ihnen zu sprechen. Oder „Was ist dein Lieblingsgericht? Gibt es wenn sie mitleidig sagten: ,Der Arme das hier auch? Vermisst du das manch- hat keine Familie.‘ Oder eine Sozial- mal?“ arbeiterin, die in schallendes Gelächter ausbrach, als ich ihr erzählte, ich wolle Falls es Gelegenheit und Zeit geben Arzt werden.“ (Boris Cyrulnik: Rette sollte, lassen Sie die Kinder und Ju- dich, das Leben ruft!, S. 112, Ullstein gendlichen von positiven Erlebnissen zu Verlag) Hause erzählen. Die Art und Weise, wie über Erlebnisse Auch in Kriegs- und Notzeiten gibt es gesprochen wird, ruft unterschiedliche 22
Empfindungen hervor. Viele Flücht- sche Betreuung, beispielsweise über die lingskinder haben Schreckliches erlebt Mittagszeit, nicht von Lehr-, sondern und überlebt. Sie verdienen Unterstüt- von anderen Betreuungskräften über- zung und unseren Respekt. nommen. Etliche Kinder malen Bilder vom Krieg Bitte tauschen Sie sich mit diesen oder von Entsetzlichem, was ihnen Betreuern gut über die Flüchtlingskin- zugestoßen ist. Das ist dann eine Mög- der aus. Gerade in dieser freien Zeit ist lichkeit, mit dem Kind ins Gespräch die Integrationsarbeit wichtig und kann zu kommen, sich das Bild erklären zu auch gezielt unterstützt werden. lassen, vorsichtig nachzufragen. Bitte vermeiden Sie Kommentare wie Wie schon erwähnt, sind alle Grup- „Das ist ja schrecklich, mal doch mal pen- und Ballspiele eine wunderbare etwas Schönes, Buntes“ oder „Das Möglichkeit, auch ohne Worte in solltest du schnell vergessen, jetzt geht es Kontakt zu kommen. Einfache Karten- dir ja gut“. oder Brettspiele (UNO, Mensch ärgere dich nicht und so weiter) sind leicht zu Manche verarbeiten ihren Schmerz im lernen, können mit mehreren gespielt Spiel. Sie wiederholen immer glei- werden und fördern Gemeinsamkeit. che Szenen, die sie beschäftigen und Hier wäre es natürlich ideal, wenn belasten. Das Spiel hilft dem Kind, das zumindest am Anfang ein Erwachsener Unfassbare zu begreifen, einzuordnen mitspielt. und sich damit auseinanderzusetzen. Das Spiel ermöglicht auch das Gespräch Geben Sie den Kindern die Möglich- mit Erwachsenen, wenn sie sich die keit, zu malen, vielleicht zu töpfern, Zeit nehmen, zuzuhören. etwas Kreatives zu machen, um ihre Gefühle auszudrücken. Vielleicht hat das Kind in seiner Heimat auch ein I n for mationen we ite rg e be n Musikinstrument gelernt und es besteht die Möglichkeit, dieses weiter zu spie- Viele Schulen sind inzwischen Ganz- len. Versuchen Sie herauszufinden, was tagsschulen oder verfügen über ein dem Kind vertraut ist, und wenn mög- erweitertes Betreuungsangebot, oft lich, daran anzuknüpfen. Altbekanntes noch mit Hausaufgabenbetreuung. In gibt Sicherheit. Gibt es gemeinsame etlichen Schulen wird die außerschuli- Lieder, die alle kennen? 23
Te i l II Was Sie beachten und tun können Vielleicht können alle zusammen Nahrungsumstellung braucht einfach kochen? Zeit. Schwierig ist es, wenn die Kinder Welche Spiele kennt das Kind aus zudem nicht frühstücken, weil sie das seiner Heimat? nicht gewohnt sind und auch kein Pau- senbrot mitbekommen, weil die Eltern das nicht kennen. Falls irgend möglich, Essen un d T ri n ke n klären Sie Eltern und Kinder auf, wie wichtig es ist, dass das Kind auch am In vielen Schulen und Tagesstätten gibt Vormittag etwas zu essen und trinken es kohlensäurehaltiges Wasser oder bekommt, weil sonst das Lernen sehr Früchtetee, wenn die Kinder durstig beeinträchtigt werden kann. sind. Bitte bedenken Sie, dass das kohlen- Ha u s a u f g a b e n säurehaltige Wasser in vielen Ländern unüblich ist und deshalb auch nicht Werden die Hausaufgaben in der Schule schmeckt. erledigt, gibt es dafür sehr verschiedene Betreuungsmodelle und „Betreuungs- Manche Kinder können dies aber nicht schlüssel“. Gängig ist, dass die Kinder sagen, haben auch Angst, aus der Was- bei den Hausaufgaben beaufsichtigt serleitung zu trinken, weil sie vielleicht werden, kleine Hilfestellungen gege- gewarnt wurden, dass das Wasser nicht ben werden können, aber ansonsten sauber ist. Wenn Leitungswasser in erwartet wird, dass die Kinder die ihrer Schule trinkbar ist, zeigen sie den Aufgaben alleine erledigen. So kann Kindern, dass sie das Wasser trinken die Lehrkraft am nächsten Tag sehen, können. Falls nicht, stellen Sie bitte wenn etwas nicht verstanden wurde. auch einfaches, nicht kohlensäurehalti- Das macht Sinn, aber Flüchtlingskinder ges Wasser zur Verfügung. brauchen mehr Unterstützung, bis sie die deutsche Sprache richtig können. Auch Früchte- oder Kräutertee ist Idealerweise bekommen sie eine manchen Kindern unbekannt und wird Einzelbetreuung oder Kleingruppenbe- deshalb nicht angerührt. Für einige treuung, bis sie richtig deutsch sprechen Kinder ist das deutsche Essen unge- können. Vielleicht lässt sich an Ihrer wohnt und wird gerade in der Anfangs- Schule durch Ehrenamtliche solch eine zeit manchmal schlecht vertragen. Die Begleitung ermöglichen. 24
E r z ä hl ungen Fan tas i e als w i c h t i g e K raf tq u e lle Gerade in Grundschulen oder in der Randbetreuung dürfen Kinder immer Kinder mit viel Fantasie schaffen sich wieder von kleinen Ereignissen, Festen, oft ihre eigene kleine innere Welt. Dies Geburtstagsgeschenken oder den Ferien ist ein wunderbarer Schutzfaktor. Als erzählen. Folge können sie aber manchmal gedan- kenverloren vor sich hin träumen und Achten Sie bitte sehr darauf, dass die auch im Unterricht wenig Aufmerksam- Kluft zwischen den Kindern nicht zu keit zeigen. Hier gilt es, behutsam einen deutlich betont wird. Ein Flüchtlings- guten Umgang damit zu gewinnen, kind (aber auch manch anderes Kind) ohne dem Kind den Schutz zu nehmen. bekommt keine Geschenke, kann nicht Eine Möglichkeit ist zum Beispiel, „Fan- mit der Familie in Urlaub fahren. tasiezeiten zu vereinbaren“. In einem Gespräch könnte geklärt wer- Nichts zu berichten, ist dann besonders den, ob das Kind wirklich träumt oder schwer. ob es an schlimme Erlebnisse denkt. Überlegen Sie sich „erweiterte Frage- Falls das Kind träumt, könnten Sie viel- stellungen“, um allen Kindern gerecht leicht betonen, dass dies eigentlich sehr zu werden. Zum Beispiel: „Ihr dürft schön ist und sicher auch guttut, dass es erzählen, was ihr zu Weihnachten be- aber für alles seine Zeit gibt. Überle- kommen habt oder was ihr am liebsten gen Sie gemeinsam, wann es für diese an Festtagen esst.“ (Anmerkung: Überall Kinder diese „Aus- und Träumzeiten“ wird gegessen und alle Kinder mögen geben kann, vielleicht auch Zeiten, irgendetwas besonders gerne.) Oder: über schwere Dinge nachzudenken. Er- „Wer möchte von seinen letzten Ferien klären Sie, warum es so wichtig ist, dass berichten oder von irgendeinem schönen das Kind nicht im Unterricht träumt. Erlebnis?“ So etwas funktioniert nicht von heute auf morgen, kann aber, bis zu einem gewissen Grad, erlernt werden. 25
Te i l II Was Sie beachten und tun können Bewegung u n d Spi e l aktiv oder passiv. Romane, Filme und Theaterstücke können eine erträgliche Wie schon im Abschnitt „Lernen durch Abbildung des Leidens schaffen und Gleichaltrige“ erwähnt, können Sport vermitteln oftmals das Gefühl, verstan- und Spiele die Integration erleichtern den zu werden. Es ist leichter, über die und die Gemeinschaft fördern. Empfindungen eines Romanhelden zu Für alle Kinder ist Bewegung gut. Aber sprechen als über die eigenen Gefühle. nicht, wenn sie erzwungen wird! Dann tut es gut, zu lesen, einen Film anzusehen oder Musik zu hören und sich Viele Flüchtlingskinder sind meist von darüber mit anderen auszutauschen. vielen Problemen belastet. Sie machen sich Gedanken und Sorgen, vielleicht Manchmal ist es besonders hilfreich, tauchen schreckliche Bilder vor ihrem selbst aktiv zu werden. So ermöglicht Inneren auf, sie sehnen sich nach Verlo- Theater spielen, in eine andere Rolle renem oder nach Verstorbenen. zu schlüpfen, und fördert das Selbstver- Wird der Körper sehr beansprucht, z.B. trauen. Bei manchen dieser Stücke kön- durch Sport, kann gar nicht so viel an nen sich auch Schüler beteiligen, die Belastendes gedacht werden. nur wenig Deutsch sprechen, beispiels- Die Aufmerksamkeit wird auf den weise durch eine Tanz- oder Musikein- eigenen Körper, die Mitspielenden und lage, Jonglieren oder Ähnliches. die Bewegungsaufgabe gelenkt: Mache ich die Tanzschritte richtig? Das Musizieren ist für viele Kinder Wo stehen meine Mitspieler? und Jugendliche eine weitere gute Wo springe ich genau ab? Möglichkeit, ihre Gefühle ohne Sprache ausdrücken zu können. Vielleicht gibt Zudem werden die angespannten es an Ihrer Schule außer dem regulären Muskeln gelockert, die angestaute Ener- Musikunterricht die Gelegenheit, ein gie kann entweichen und im Gehirn Instrument zu lernen oder in einer werden Hormone freigesetzt, die das Band mitzuspielen. Ältere Kinder Wohlbefinden fördern. können ermutigt werden, über ihre Erlebnisse zu schreiben. Es ist ein Weg, Worte für das Unaussprechliche zu The ater, R o m an e , Fi lme, finden. Dies kann sehr heilsam sein. Musik Genau wie beim Sport ist es wichtig, Manchmal ist es leichter, sich indirekt Angebote zu schaffen, ohne Druck mit Problemen zu befassen, entweder auszuüben. 26
Elternarbeit Andere Eltern miteinbeziehen Viele Eltern sind unsicher, wie sie auf Flüchtlingsfamilien zugehen sollen, die Falls möglich, beziehen Sie die Eltern sie nicht kennen und deren Sprache Ihrer Klasse mit ein. So könnten Sie bei sie nicht sprechen. Für beide Seiten einem Elternabend die Elternschaft er- ist es dann eine Erleichterung, wenn mutigen, die Kinder zusammen spielen die Kontakte über die Schule vermit- zu lassen. telt werden. Die Lehrkräfte oder auch Schulsozialarbeiterinnen und -sozialar- Positiver Kontakt zu Familien aus beiter haben meist wenigstens den Mi- Deutschland kann für Flüchtlingskinder nimalkontakt zu den Flüchtlingseltern, eine enorme Hilfe und Unterstützung wenn auch manchmal durch jemanden, sein. Umgekehrt können auch deutsche der übersetzt. Kinder und Jugendliche vom Kontakt Vielleicht können durch Eltern Frei- mit Familien aus anderen Kulturen zeitangebote angenommen werden, die profitieren. sonst nicht möglich wären. Immer mehr deutsche Jugendliche und Beispiel: „Ihre Tochter versteht sich sehr junge Erwachsene gehen für ein Jahr gut mit Lena. Die beiden Mädchen ins Ausland, um eine neue Sprache und möchten gerne zusammen zum Turnen Kultur kennenzulernen. Interkulturelle gehen. Frau Müller, Lenas Mutter, hat Kontakte werden in den verschiedens- angeboten, Ihre Tochter abzuholen und ten Berufsgruppen gewünscht, manch- danach auch wieder mit nach Hause zu mal auch gefordert. Längst beschränken bringen, bis sie den Weg alleine kennt. sich diese Auslandsaufenthalte nicht Wäre das in Ordnung für Sie?“ mehr nur auf England, Frankreich oder Je jünger die Kinder sind, desto wichti- die USA. Lateinamerika, verschiedenste ger ist eine aufklärende Elternarbeit. Länder in Afrika und Asien, die Türkei oder Polen sind beliebte Aufenthaltszie- le für junge Leute. Kontakte zwischen Eltern der Flüchtlingskinder den Kulturen sind aber nicht nur im Ausland, sondern auch innerhalb Im deutschen Schulsystem spielt, Deutschlands eine Bereicherung für insbesondere in den Grundschulen, das beide Seiten. Das gilt für alle Alters- Elternhaus noch eine große Rolle. Es ist gruppen! üblich, dass man zu Elternabenden und Elterngesprächen geht. Eltern helfen 27
Te i l II e lt e r n a r b e i t bei verschiedenen Veranstaltungen Erklären Sie den Eltern, was Ihnen und sollten mit den Kindern man- wichtig ist, warum Regeln eingehalten chen Schulstoff zu Hause üben. Hefte werden müssen, und schaffen Sie da- mit unterschiedlicher Lineatur sollen durch Klarheit und Transparenz. Haben angeschafft werden, Farbstifte einer be- Sie bitte Geduld. Das Verarbeiten all stimmten Dicke und all die speziellen der vielen Eindrücke und das Lernen Utensilien, die ein Kind zum Lernen von Neuem braucht Zeit. braucht. Es ist beschämend für Erwachsene, Die Auswahl der Arbeitsmaterialien wenn sie das Gefühl bekommen, alles und Angebote in Deutschland ist groß falsch zu machen, selbst wenn sie sich und manchmal verwirrend. Manches ist bemühen, oder wenn sie den Eindruck den Eltern einfach fremd und all diese gewinnen, ihr Kind werde sehr oft Dinge zu berücksichtigen, fällt etlichen gerügt. Den allermeisten ist es sehr schwer. Insbesondere kann es manchen, wichtig, was die Lehrerin oder der Leh- nach all dem Schrecklichen, was sie rer über ihr Kind denkt und sagt. erlebt haben, vergleichsweise unwichtig Versuchen Sie, Vertrauen aufzubauen erscheinen. und die Eltern miteinzubeziehen. Be- achten Sie auch kleine Fortschritte, die Bitte berücksichtigen Sie dies bei das Kind gemacht hat, und teilen Sie Elterngesprächen. Beachten Sie, dass diese den Eltern mit. etliche Eltern aufgrund dieser Ent- scheidungsvielfalt und all der neuen Positive Nachrichten über die Kinder Anforderungen verunsichert sind und und Lob sind Balsam für die Seele. sich dies manchmal auch in Form einer Abwehrhaltung ausdrücken kann. Immer wieder kommt es vor, dass die Kinder selbst oder ältere Geschwister Je nach Herkunftsland fällt es manchen für die Eltern übersetzen müssen. Das Eltern auch schwer, das deutsche Schul- erfordert besonderes Gespür, wie was system mit seinen vielen Freiheiten und formuliert werden kann, insbesondere, einer anderen Form der Disziplin zu wenn es um kritische Inhalte geht. verstehen. Falls irgend möglich, sollten Kinder bei besonders belastenden Gesprächen nicht dolmetschen, sondern eine andere Vertrauensperson der Familie. 28
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