Flüsse als Netzwerk verstehen - Universität Innsbruck

 
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Flüsse als Netzwerk verstehen - Universität Innsbruck
Ausgabe Oktober 2021

                                                                        Magazin der
                                             Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Flüsse als
Netzwerk verstehen
Seite 6

Interview mit Rektor Märk      Seite 4   ◼       Antikörper: Natur als Vorbild     Seite 8   ◼

Die Schule als Ort, der öffnet Seite 12      ◼   Der Löwe auf der Hohen Birga Seite 16 ◼

Beilage zur Tiroler Tageszeitung                                     www.uibk.ac.at
Flüsse als Netzwerk verstehen - Universität Innsbruck
Tiroler Hochschultag
                                   ONLINE                                                     21
                                                                                          21.10 . 2021
                      Die Tiroler Hochschulen öffnen virtuell ihre Türen

                                             Virtuelle Studieninfos | Vorträge | Führungen

                                           Universität Innsbruck | Medizinische Universität Innsbruck | UMIT TIROL |
                                       fh gesundheit | MCI - Die Unternehmerische Hochschule® | FH Kufstein Tirol |
                                    Pädagogische Hochschule Tirol | Kirchliche Pädagogische Hochschule Edith Stein

                                                                               www.hochschulen.tirol
                                                                                                     Das gesamte Programm
                                                                                                                                          © BfÖ 2021

                                                                                              mit zusätzlichen Informationen
                                                                                                  zu den Tiroler Hochschulen

Inserat wissenwert 212x284 THT 2021.indd 1                                                                                     15.09.21 14:13
Flüsse als Netzwerk verstehen - Universität Innsbruck
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Inhalt                                  Ausgabe Oktober 2021
                                                                                                     Editorial

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                                        4      Gestärkt aus der Corona-Krise
                                               Rektor Tilmann Märk fasst im Interview zusam-
                                               men, wie die Universität die damit verbundenen
                                               Schwierigkeiten gemeistert hat, und gibt Aus-
                                               blicke auf die Zukunft.

                                        6      Flüsse als Netzwerk
                                               Der Ökologe Gabriel Singer erforscht die Kom-

                                                                                                                                          Foto: Gerhard Berger
                                               plexität von Fließgewässerökosystemen.

                                        8      Der Natur nachgebaut
                                               Eine Arbeitsgruppe um den Chemiker Klaus Liedl
                                               arbeitet am Design therapeutischer Antikörper.

                                        10     Gegen das Gasthaussterben
                                               Die Initiative „#dufehlst – Tiroler Wirtshäuser
                                               suchen DICH“ will dieser Entwicklung entgegen-        Liebe Leserin, lieber Leser!
                                               wirken.
                                                                                                        Am 4. Oktober sind wir in das neue
                                        12     Schule, die öffnet                                    und damit bereits vierte Semester
                                               Transnationale Netzwerke moralkonservativer           während der Corona-Pandemie ge-
                                               Akteure stehen im Fokus der Innsbrucker Sozi-         startet. Die vergangenen drei Semester
                                               ologin Kristina Stoeckl.                              haben allen, Lehrenden wie Studie-
                                                                                                     renden, viel abverlangt, aber trotz der
                                        14     Kindgerechte Wissenschaft                             für uns alle schwierigen Bedingungen

                       18
                                               Im Projekt „Growing Ideas“ arbeitet die Bil-          konnten diese durchaus mit Erfolgen
                                               dungswissenschaftlerin Julia Nagy daran, Na-          abgeschlossen werden. Aber auch wenn
                                               turwissenschaft für Kinder ab fünf zu erklären.       es in den vergangenen Monaten weit-
                                                                                                     gehend gut funktioniert hat, aus der
                                        16     Der Löwe auf der Hohen Birga                          Distanz zu lehren und zu lernen, lebt
                                               Neue archäologische Grabungen auf der Hohen           eine Universität auch von dem persön-
                                               Birga gewähren einen umfassenden Einblick in          lichen und direkten Austausch zwi-
                                               das Leben der Räter während der Eisenzeit.            schen WissenschaftlerInnen und ihren

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                                                                                                     Studierenden. Aus diesem Grund haben
                                        18     Die Welt im Kleinen                                   wir uns gut auf das neue Semester vor-
                                               Das Dorf „Globo“ verkörpert mit seinen 100 Ein-       bereitet und freuen uns, im Rahmen
                                               wohnern die Weltbevölkerung.                          der gesetzlichen Vorgaben nun wieder
                                                                                                     regen Betrieb in unseren Räumen zu
                                        20     Mikrokosmos „Bögen“                                   haben. An unserer Universität gilt die
                                               Neue Perspektiven auf die berühmteste Inns-           3-G-Regel – Zutritt zu den Gebäuden
                                               brucker Ausgehmeile eröffnet die Ausstellung          hat nur, wer getestet, geimpft oder ge-
                                               „Gemma Bögen. Mikrokosmos Viadukt“.                   nesen ist. Zudem gilt in allen öffentli-
                                                                                                     chen Bereichen, und solange Personen
                                        21     Förderkreise 1669                                     in Bewegung sind, Maskenpflicht. Die-
                                               Das Kuratorium hat entschieden, welche Ideen          se Maßnahmen werden auch entspre-
                                               aus dem Spendentopf unterstützt werden.               chend kontrolliert. Wir gehen aber von
                                                                                                     der entsprechenden Disziplin und der
                                                                                                     Kooperationsbereitschaft aller Uni-
                                                                                                     versitätsangehörigen aus. Jüngste Er-
                                                                                                     gebnisse, die zeigen, dass der Anteil
IMPRESSUM                                                                                            der Geimpften unter Studierenden mit
                                                                                                     über 80 Prozent wesentlich höher ist
wissenswert ­– Magazin der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck – 19. Oktober 2021                 als im Rest dieser Altersgruppe, lassen
Herausgeber und Medieninhaber: Universität Innsbruck; Hersteller: Intergraphik GmbH.
Sonderpublikationen, Leitung: Frank Tschoner;
                                                                                                     mich optimistisch in das neue Semes-
Redaktionelle Koordination: Susanne E. Röck, Christa Hofer.                                          ter blicken. Ich wünsche Ihnen allen
Redaktion: Melanie Bartos, Christian Flatz, Christa Hofer, Stefan Hohenwarter, Lisa Marchl, Fabian   einen guten Start in den Herbst und
Oswald, Susanne E. Röck, Miriam Sorko, Uwe Steger.                                                   bleiben Sie vor allem gesund!
Covergestaltung: Catharina Walli.
Foto Titelseite: Gabriel Singer.
Fotos Seite 3: iStock/FooTToo, teamGlobo/Studia Verlag Innsbruck, www.gemma-boegen.at.                           Univ.-Prof. Dr. Tilmann Märk
Anschrift für alle: 6020 Innsbruck, Brunecker Straße 3, Postfach 578, Tel. 0512 53 54-1000.                   Rektor der Universität Innsbruck
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Gestärkt aus
der Krise
Am 4. Oktober startete die Universität Innsbruck in                                                  Disziplinen beteiligt, von der Informatik
                                                                                                     über die Chemie und die Astrophysik bis hin
das vierte Semester während der Corona-Pandemie.                                                     zu den Geo- und Geisteswissenschaften. Das
                                                                                                     spiegelt die fachliche Bandbreite an exzel-
Rektor Tilmann Märk fasst im Interview zusammen,                                                     lenter Forschung wider, die an der Universi-
                                                                                                     tät Innsbruck betrieben wird.
wie die Universität die damit verbundenen
                                                                                                     Gut vorbereitet ins Wintersemester
Schwierigkeiten gemeistert hat, und gibt Ausblicke auf
die Zukunft.
                                                                                                       Wie sehen die Pläne an der Universität Inns-
                                                                                                       bruck für das kürzlich gestartete Winterse-
                                                                                                       mester aus?
                                                                                                     Märk: Wir haben uns gut auf das neue Se-
   Wie ist die Universität aus Ihrer Sicht rückbli-                                                  mester vorbereitet, um mit möglichst viel
   ckend durch die Pandemie und die damit ver-                                                       Präsenzunterricht sicher in das neue Win-
   bundenen Einschränkungen gekommen?                                                                tersemester starten zu können. An unserer
Rektor Tilmann Märk: Dieses Virus hat uns                                                            Universität gilt die 3-G-Regel. Zutritt zu den
mit einer Intensität getroffen, die wir zu-                                                          Gebäuden hat nur, wer getestet, geimpft oder
nächst nicht für möglich gehalten haben.                                                             genesen ist. Zudem gilt in allen öffentlichen
Ganz besonders in Tirol hat es uns alle vor                                                          Bereichen, und solange Personen in Bewe-
große Herausforderungen gestellt, im Klei-                                                           gung sind, Maskenpflicht. Diese Maßnah-
nen wie im Großen. Was nun die Universi-                                                             men werden auch entsprechend kontrolliert.
tät Innsbruck betrifft, war es eine schwere,                                                         Zudem haben wir in der Startphase unter-
aber, wie sich aus heutiger Sicht zeigt, gänz-                                                       stützende Maßnahmen gesetzt: Ein Impf-
lich notwendige und richtige Entscheidung,                                                           angebot für alle Angehörigen der Universität
den Vorlesungsbetrieb sehr früh und kom-                                                             beispielsweise, das auch Studierende ohne
plett von Präsenzlehre auf digitale Formate                                                          österreichische     Sozialversicherungsnum-
umzustellen. Wir waren hier die Ersten in                                                            mer in Anspruch nehmen können. Gleich-
Österreich, die diese Entscheidung mit un-                                                           zeitig bieten wir nach wie vor an den drei
serem sehr professionell agierenden Krisen-                                                          Universitätsstandorten Innrain, Technik
stab getroffen haben. Die vergangenen drei                                                           und SOWI kostenlose Antigentests für Stu-
Semester haben allen, Lehrenden wie Stu-                              Rektor Tilmann Märk.           dierende und Mitarbeitende an. Wie lange
                                                                               Foto: Uni Innsbruck
dierenden, viel abverlangt, aber trotz dieser                                                        das alles gut funktioniert, hängt natürlich
für uns alle schwierigen Bedingungen konn-                                                           von der Disziplin und der Kooperationsbe-
ten diese vergangenen drei Semester durch-                                                           reitschaft aller Uniangehörigen ab. Jüngste
aus mit Erfolgen abgeschlossen werden. So                                                            Ergebnisse, die zeigen, dass der Anteil der
hat sich beispielsweise sowohl die Zahl der           das U-Multirank, ein multidimensionales        Geimpften unter Studierenden mit über
Prüfungsaktivität als auch die der Studien-           Ranking mit knapp 40 Indikatoren aus den       80 % wesentlich höher ist als im Rest dieser
abschlüsse um 3,5 % gesteigert.                       Bereichen Lehre, Forschung, Wissenstrans-      Altersgruppe, lassen mich aber optimistisch
   Der Bereich Lehre hat sich also auch während       fer, Internationalität und Regionalität, be-   in das neue Semester blicken.
   der Pandemie positiv entwickelt, wie steht es      stätigen die Qualität unserer Forschung
   um die Forschung an der Universität Inns-          und Lehre immer wieder. Auch im neuen          Erfolgreiche Budgetverhandlungen
   bruck?                                             Exzellenzzentren-Programm des österrei-
Märk: Dank des hohen Engagements unserer              chischen Wissenschaftsfonds FWF konn-            Kürzlich haben Sie die Leistungsvereinba-
Forscherinnen und Forscher sind wir auch in           ten wir bereits erste Erfolge erzielen: Drei     rungen mit dem Bundesministerium für Bil-
diesem Bereich sehr erfolgreich durch die             Lead-Anträge der Universität Innsbruck, die      dung, Wissenschaft und Forschung abge-
Krise gekommen und gehen gestärkt aus ihr             in unserem Schwerpunktsystem fest ver-           schlossen, das über das Universitätsbudget
hervor. Die Zahl der Spitzenpublikationen             ankert sind, greifen wichtige Forschungs-        der nächsten Jahre entscheidet; mit welchem
hat sich erhöht und 2020 wurden sieben Pro-           fragen aus den Themenbereichen Quanten-          Ergebnis?
jekte der Universität Innsbruck mit einem             physik, Klimaforschung und Ökonomie auf.       Märk: Das Budget der Leistungsvereinba-
ERC Grant, die höchste Auszeichnung des               Diese haben die erste Prüfungsphase bereits    rung 2019–2021 war aufgrund der Einfüh-
Europäischen Forschungsrates, ausgezeich-             bestanden, die endgültige Entscheidung fällt   rung des Systems Studienplatzfinanzierung
net. Und auch die Zahl der eingeworbenen              im Frühjahr 2023. Darüber hinaus sind Wis-     wesentlich erhöht.
Drittmittel konnte 2020 auf den Rekordwert            senschaftlerinnen und Wissenschaftler der         Dieser erfolgte Einstieg in eine kapazi-
von 50 Millionen erhöht werden. Unabhän-              Universität Innsbruck an weiteren Anträgen     tätsorientierte, studierendenbezogene Uni-
gige, internationale Vergleiche, wie jüngst           aus unterschiedlichen wissenschaftlichen       versitätsfinanzierung mit den seitens des
Flüsse als Netzwerk verstehen - Universität Innsbruck
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                                                                                                             Am 4. Oktober startete die
                                                                                                          Universität Innsbruck in das
                                                                                                          vierte Semester während der
                                                                                                                    Corona-Pandemie.
                                                                                                                           Foto: Uni Innsbruck

        »Die vergangenen drei                  Inflation“ - fortzuführen und Freiräume für            »Aufgrund unserer positiven
        Semester haben allen                   strategisch wichtige Projekte zu schaffen.            Kennzahlen in Forschung und
         viel abverlangt, aber                   Welche Projekte sind das, was sind die The-          Lehre konnten wir auch die
                                                 men der Zukunft an der Uni Innsbruck?
       trotz dieser für uns alle               Märk: Wichtige Themen, die uns neben un-              jüngsten Verhandlungen über
      schwierigen Bedingungen                  seren Hauptaufgaben der Lehre, Forschung                die Leistungsvereinbarung
      konnten sie durchaus mit                 und des Wissenstransfers beschäftigen, sind                2022–2024 unter den
                                               Nachhaltigkeit, Diversität, Digitalisierung
       Erfolgen abgeschlossen                                                                        gegebenen Randbedingungen
                                               und Internationalität. Diese vier Bereiche
               werden.«                        stehen als Querschnittsmaterien in unserem            sehr erfolgreich abschließen.«
              TILMANN MÄRK                     Fokus.                                                           TILMANN MÄRK

Ministeriums verfolgten Zielen hinsichtlich    International vernetzt
einer Qualitätsverbesserung in Lehre und                                                         und Wissenschaftler sowie Beschäftigte in
Forschung, einer Steigerung der prüfungs-        Stichwort Internationalität: Die Universität    der Verwaltung. Bereits in diesem Winter-
aktiven Studien, einer verbesserten Steue-       Innsbruck ist seit 2019 Mitglied des interna-   semester finden mit den Ringvorlesungen
rung und Planung der Kapazitäten sehe ich        tionalen Netzwerkes Aurora. Was genau ist       „Sustainability & Climate Change“ sowie
positiv. Aufgrund unserer positiven Kenn-        Aurora und was sind die Ziele dieses Netz-      „Doing Diversity in Higher Education“ zwei
zahlen in Forschung und Lehre – beispiels-       werkes?                                         Ringvorlesungen an der Universität Inns-
weise die Steigerung bei prüfungsaktiven       Märk: Das Aurora-Netzwerk besteht aus             bruck statt, die für alle Studierenden aus
Studien und Abschlüssen – konnten wir          neun hervorragend ausgewiesenen euro-             dem Aurora-Netzwerk zugänglich sind. Ein
auch die jüngsten Verhandlungen über die       päischen Universitäten und wird seit 2020         erster besonderer Höhepunkt im Rahmen
Leistungsvereinbarung 2022–2024 unter          auch von der EU als European University           der letztgenannten Ringvorlesung findet
den gegebenen Randbedingungen sehr er-         Alliance finanziell gefördert. Im Rahmen          am 20. Oktober statt: In der Reihe „Aurora
folgreich abschließen. Die Herausforderung     dieses Netzwerkes setzen wir auf intensive        Talks“ wird der luxemburgische Außenmi-
in den nächsten zwei Jahren wird darin lie-    Kooperationen mit ausgewählten Partnern           nister Jean Asselborn zum Thema „Perspek-
gen, die bisher erfolgreich verfolgte aktive   von Reykjavik bis Neapel. Von dieser Zusam-       tiven für Europa“ sprechen.
und gestaltende Budgetpolitik trotz eines      menarbeit profitieren alle an der Univer-                   Das Interview führte Susanne E. Röck
schwierigen Umfelds - Stichwort „erhöhte       sität Studierenden, Wissenschaftlerinnen                            susanne.e.roeck@uibk.ac.at ◼
Flüsse als Netzwerk verstehen - Universität Innsbruck
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     Studierende im Raft auf
     der unteren Vjosa bei einer
     Exkursion im September 2021.
     Fotos: Singer; Franz Oss

Flüsse als Netzwerk
verstehen
Bäche und Flüsse – und alles, was sie in ihrem Fluss möglicherweise stört –
stehen im Fokus des Interesses von Gabriel Singer. Der Ökologe erforscht die
Komplexität von Fließgewässerökosystemen auf der ganzen Welt und engagiert
sich mit seiner Expertise im Umweltschutz.

                                                                                             F
                                                                                                   ließende Gewässer bilden in der Land-
    ZUR PERSON                                                                                     schaft ein verzweigtes System aus
                                                                                                   langen, dünnen Lebensadern. Fließ-
                       Gabriel Singer (*1976) studierte Biologie an der Universität Wien,    gewässer sind immer Teil eines komplexen
                       wo er 2009 mit einem Doktorat in Ökologie abschloss. Ab 2013 war      Netzwerkes aquatischer Lebensräume“, er-
                       er als Arbeitsgruppenleiter am Leibniz-Institut für Gewässeröko-      klärt Prof. Gabriel Singer vom Institut für
                       logie und Binnenfischerei (IGB) in Berlin tätig. Seine Arbeit wurde   Ökologie. „Aus zahlreichen Zubringern zu-
                       mehrfach ausgezeichnet, seit 2016 forscht Gabriel Singer auf Basis    sammengesetzt, bietet ein Flussnetzwerk
                       eines renommierten ERC-Starting Grants mit seiner Arbeitsgrup-        einen kontinuierlichen Lebensraum für eine
                       pe an Ökosystemfunktionen in Flussnetzwerken. Seit Dezember           Vielzahl von Organismen. Durch Beeinflus-
                       2019 ist Singer Universitätsprofessor für Aquatische Biogeochemie     sung des Umlandes prägt und unterhält ein
    am Institut für Ökologie. Im von der EU geförderten Horizon 2020 Projekt DRYvER be-      Fluss weitere aquatische und semi-aqua-
    schäftigt sich Gabriel Singer aktuell in einem internationalen Team mit den Auswir-      tische Lebensräume in der Umgebung, wie
    kungen von durch den Klimawandel veränderten hydrologischen Regimen auf Biodi-           zum Beispiel Auenlandschaften.“ Fluss-
    versität und Funktionen von Flussnetzwerken.                                             netzwerke mit ihren vielfältigen Ökosyste-
                                                                                             men stehen im Mittelpunkt der Arbeit des
Flüsse als Netzwerk verstehen - Universität Innsbruck
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Gewässerökologen mit seinem 10-köpfigen
Team am Institut für Ökologie. In vielen Re-
gionen der Erde besitzen nur noch die we-
nigsten Flüsse und Bäche einen natürlichen
Lauf, unveränderten Wasserhaushalt oder
intakten Sedimenttransport – auch in Tirol.
Das Abflussregime, der natürlicherweise oft
variable Wasserstand, ist häufig stark durch
menschliche      Beeinflussung     verändert.
„Schwankungen in der Wassermenge, auch
wenn sie den Charakter größerer Störungen
in Form von Hochwasserwellen und Nied-
rigwasserzeiten haben, sind bis zu einem
gewissen Ausmaß normal und ermöglichen
Flüssen den Erhalt ihrer Lebensraumvielfalt
und natürlicher Funktionen wie Selbstreini-
                                                    In der Drift eines kleinen Baches
gung. Oft genug ist aber der Mensch invol-
                                                    wird Mikroplastik eingefangen.
viert, verändert Flussläufe durch Verbauung
und Begradigung und den Wasserhaushalt
durch Ausleitungen und Wasserkraftwerke“,
so Singer. Für ein Flussnetzwerk bedeuten
diese Einflussnahmen oft eine sogenann-
te Fragmentierung, deren Auswirkungen           Lebenszyklus mehrmals ein Flussnetzwerk         bensraum Fluss ist oftmals nicht mehr viel
auf die Lebensräume und ihre Artenviel-         und sind somit ein Bindeglied zwischen Le-      übrig“, gibt Gabriel Singer zu bedenken.
falt großteils unerforscht sind: „An vielen     bensräumen – manchmal sogar zwischen            „Wir haben zwei Herausforderungen, denen
Stellen sehen wir, dass der Verlust von frei    den Ozeanen und Wäldern entlang von             wir uns gleichzeitig stellen müssen: dem
fließenden Gewässern mit negativen Aus-         kleinen Oberläufen. Gut erkennbar ist die-      Klimawandel und dem Verlust an Biodiver-
wirkungen auf die biologische Vielfalt ver-     se Verbundenheit auch an Stellen, wo Flüs-      sität. Naturschutz darf dem Klimaschutz
bunden ist und teils irreversible Schäden an    se ineinanderfließen: Allein schon aus der      nicht geopfert werden, weil die Biodiversi-
den Ökosystemen mit sich bringt. Lebensge-      unterschiedlichen Färbung und Trübe wird        tät, die wir in unseren Lebensräumen ha-
meinschaften in und entlang der Flüsse sind     ersichtlich, dass verschiedene Zusammen-        ben, die wesentliche Versicherung gegen die
besonders stark vom Artensterben betroffen.     setzungen aufeinandertreffen“, betont Sin-      massiven künftigen Folgen des Klimawan-
Ein gezähmter Fluss büßt einiges an Vielfalt    ger. Konnektivität besitzt aber nicht nur ei-   dels ist.“ Singer sieht seine Arbeit im Span-
in seiner Funktion als Lebensraum ein.“ In      ne räumliche Dimension: „Es geht nicht nur      nungsfeld politischer und gesellschaftlicher
Österreich etwa ist die längste, nicht frag-    um Kilometer, sondern auch um Zeit: Auch        Entscheidungen und bringt seine Expertise
mentierte Strecke eines Flusses circa 60 Ki-    die Veränderung der Dauer, wie lange Was-       auch bei umstrittenen Projekten, beispiels-
lometer lang, nur noch 15 Prozent der Flüsse    ser von A nach B braucht, nimmt Einfluss        weise dem Kraftwerksbau an der Ötztaler
sind ökologisch intakt, mehr als die Hälfte     auf den Lebensraum.“ Vor diesem Hinter-         Ache in Tumpen/Habichen, ein. „Flüsse bie-
der heimischen Fischarten sind gefährdet.       grund plädiert Gabriel Singer, auch den Bau     ten auch Lebens-, Erholungs- und Erfah-
Einer der letzten großteils freifließenden      von Kraftwerken mit Staudämmen und Ver-         rungsraum für Menschen. Mir ist es wichtig,
Flüsse Europas ist die Vjosa, die in Grie-      änderungen des Abflussregimes zu sehen:         das Ökosystem Fluss nicht nur intellektuell
chenland entspringt und in Albanien in die      „Kraftwerksbauten sind Eingriffe in kom-        zu erfassen, sondern auch die emotionale
Adria mündet. In diesem fast unberührten        plexe Ökosysteme. Wir müssen beginnen,          Bedeutung zu erkennen. Beides lässt mich
Flussnetzwerk, in seiner gesamten Ausdeh-       Auswirkungen nicht nur lokal, sondern auch      für den Schutz dieser Ökosysteme für künf-
nung etwa der Größe des Inns bei Innsbruck      regional auf Maßstab des gesamten Fluss-        tige Generationen plädieren.“
entsprechend, forscht Singer seit mehre-        netzwerkes zu verstehen. Denn der ‚grüne                           melanie.bartos@uibk.ac.at ◼
ren Jahren. Daraus erhofft sich das Team        Strom‘ steht einer potenziell irreversiblen
nicht nur ein besseres Grundverständnis des     Zerstörung von Ökosystemen gegenüber.“
komplexen Flussökosystems, sondern auch
                                                Biodiversität                                     Podcast „Zeit für
Erkenntnisse für möglichst erfolgreiche
Renaturierungsprojekte in stark vom Men-
schen beeinflussten Bächen und Flüssen des         Im Angesicht des Klimawandels spitzt           Wissenschaft“
Alpenraums.                                     sich die Situation auch für Fließgewässer-
                                                Ökosysteme zu. „Abflussregime werden in              Gabriel Singer war zu Gast im Pod-
Verbundenheit                                   Zukunft extremer ausfallen, sowohl Tro-           cast der Universität Innsbruck, „Zeit
                                                ckenheit als auch Überflutungen werden zu-        für Wissenschaft“: Im ausführlichen
  Wird das Abflussregime eines Flusses          nehmen. Das steht außer Frage. Um dem be-         Gespräch erzählt er mehr über seine
verändert, sind die Folgen nicht nur an Ort     gegnen zu können, brauchen Flüsse Raum,           Arbeit in der Natur und im Labor, die
und Stelle des Eingriffes zu verorten, son-     an vielen Orten mehr, als wir ihnen in den        Bedeutung von Wissenschaftskom-
dern betreffen durch unterbundenen Arten-       letzten Jahren zugestanden haben. Oder an-        munikation und Engagement im Um-
austausch und Ressourcentransport weite         ders formuliert: Man kann einen Fluss nicht       weltschutz – und was vom Kajakfah-
Teile des Gewässernetzwerkes. Es ist gera-      domestizieren, man muss ihm eine gewisse          ren für die Forschung gelernt werden
de die spezifische Ausgestaltung der Kon-       Wildheit zugestehen. In den letzten 50 Jah-       kann. Auch die Frage, wie grün „grü-
nektivität, also der Verbindung zwischen        ren wurde viel begradigt und vereinheit­          ner Strom“ heute wirklich noch sein
den Lebensräumen, die Flusslebensräume          licht, vor allem auch seitlicher Lebensraum       kann, ist Thema in der 50. Episode:
zu solch speziellen und artenreichen Le-        abgezwackt und dadurch der Abfluss be-            uibk.ac.at/podcast/zeit
bensräumen werden lässt. „Viele Fischarten      schleunigt. Das Wasser fließt zwar noch aus
durchwandern zum Beispiel im Laufe ihres        den Bergen Richtung Meer, aber vom Le-
Flüsse als Netzwerk verstehen - Universität Innsbruck
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    Die Baupläne der Antikörper von Haien und
    Kamelen sind Vorbild für das Design von
    erfolgsversprechenden Biologicals.
    Fotos: iStock/Ramon Carretero, Chris Hepburn

Der Natur nachgebaut
Antikörper haben nicht nur eine große Bedeutung im menschlichen
Immunsystem, sie haben in den vergangenen 20 Jahren auch massiv an
Bedeutung als Therapeutika gewonnen. Eine Arbeitsgruppe um den Chemiker
Klaus Liedl arbeitet am optimalen Design therapeutischer Antikörper. Ihr Vorbild
dafür kommt aus der Natur.

A
       ntikörper sind zentraler Bestandteil        on von Antikörpern hat die pharmazeutische    therapeutische Antikörper zum Einsatz“,
       des menschlichen Immunsystems.              Forschung dazu inspiriert, mithilfe moleku-   erklärt Klaus Liedl. Der Universitätsprofes-
       Die Proteine dienen dazu, eingedrun-        larbiologischer Methoden sogenannte the-      sor am Innsbrucker Institut für Allgemeine,
gene Antigene oder beschädigte Zellen ab-          rapeutische Antikörper zu entwickeln. „Vor    Anorganische und Theoretische Chemie be-
zufangen und sie so daran zu hindern, mit          allem im Bereich der Onkologie und jüngst     schäftigt sich gemeinsam mit seiner Mitar-
den Körperzellen zu interagieren oder in die       auch in Zusammenhang mit der Therapie         beiterin Dr. L. Monica Fernández-Quintero
Zellen einzudringen. Diese zentrale Funkti-        gegen SARS-CoV-2 kommen immer häufiger        und einem größeren Forschungsteam mit
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der Weiterentwicklung und dem Design von         erkrankungen und Erkrankungen des Zen-            Für den durchschlagenden Erfolg ist von es-
therapeutischen Antikörpern.                     tralen Nervensystems. „Bis jetzt hat man          sentieller Bedeutung, dass die Forschungs-
                                                 therapeutische Antikörper für Krankheiten         gruppe in der Lage ist, ihre Rechnersysteme
Hoffnungsträger der Medizin                      entwickelt, deren Angriffspunkte an der           selbst zusammenzubauen und an besonders
                                                 Zelloberfläche liegen – die also gut für die      herausfordernde Problemstellungen anzu-
   „Da Antikörper Proteine sind, enthal-         Antikörper erreichbar sind. Um das Behand-        passen. „So gelingt es uns, mit vergleichs-
ten sie per se keine toxischen Bausteine,        lungsspektrum auszuweiten, müssen die             weise wenig Geld mit Eliteuniversitäten
auch ihre Verweil- und damit Wirkdauer im        Antikörper auch in die Zelle oder in das Zen-     konkurrenzfähig zu sein“, so Liedl. Für das
Körper ist länger als bei klassischen Medi-      trale Nervensystem eindringen können“, er-        optimale Design der therapeutischen An-
kamenten aus kleinen chemischen Verbin-          klärt Klaus Liedl. Hier kommt allerdings ein      tikörper spielt auch ihre Flexibilität eine
dungen. Zudem können sie durch die mole-         Nachteil der Antikörper ins Spiel: Es handelt     wichtige Rolle. „Das Thema der Protein-
kularbiologische Auswahl relativ einfach für     sich dabei um relativ große Moleküle.             flexibilität beschäftigt mich in meiner Ar-
die Anwendung bei verschiedenen Krank-                                                             beitsgruppe schon seit vielen Jahren. Dabei
heiten hergestellt werden“, beschreibt Klaus     Vorbild aus der Natur                             untersuchen wir, sehr vereinfacht erklärt,
Liedl die Vorteile. „Anders als klassische                                                         nicht nur die starre Struktur der einzelnen
chemische Wirkstoffe können sie allerdings          In zwei voneinander völlig unabhängigen        Proteine. Wir schauen uns auch die Kräfte
nicht oral eingenommen werden, sondern           Fällen hat die Natur bereits viel einfachere      an, die auf die einzelnen Atome im Protein
müssen gespritzt werden, um ans Ziel ihrer       Antikörper entwickelt: „Antikörper sind so-       wirken, und bewegen das Protein in Simu-
Wirkung zu gelangen.“ Auch wenn die Her-         genannte Multidomänen-Moleküle. Sie be-           lationen entlang dieser Kräfte. Dadurch er-
stellungs- und Behandlungskosten für die-        stehen aus mehreren Domänen (siehe Abbil-         halten wir ein sehr genaues Bild von der Fle-
se Form von Medikamenten noch sehr hoch          dung). Antikörper von Haien und Kamelen           xibilität des Proteins“, erklärt Klaus Liedl.
sind, überwiegen aufgrund des möglichen          sind wesentlich kompakter aufgebaut als die       „Diese Simulationen liefern uns wichtige
zielgenauen Designs und der guten Verträg-       von Menschen. Vor allem in den Bereichen,         Hinweise für das optimale Design der the-
lichkeit – vor allem im Bereich der Onkolo-      in denen sie an das gewünschte Antigen bin-       rapeutischen Antikörper, denn die Bindeei-
gie – klar die Vorteile, weshalb die pharma-     den sollen, sind sie deutlich kleiner“, erklärt   genschaften einzelner fast identischer Pro-
zeutische Industrie mittlerweile gleich viel     Monica L. Fernández-Quintero. Diese gerin-        teine können sich aufgrund ihrer Flexibilität
Umsatz mit Biologicals macht wie mit her-        gere Größe und ihren einfacheren Bauplan          stark unterscheiden.“
kömmlichen Medikamenten.                         machen sich die Wissenschaftler*innen zu-
   Das Design der therapeutischen Antikör-       nutze, um verbesserte therapeutische An-          Täuschungsmanöver
per ist für ihren Einsatz dabei wesentlich,      tikörper zu entwickeln. „Wir bauen soge-
denn nur wenn sie optimal an das für ihre        nannte Nanobodies nach dem Vorbild dieser            Ein     weiterer    Aspekt,    den      die
Wirkung vorgesehene Antigen binden, kön-         Hai- oder Kamel-Antikörper“, beschreibt           Chemiker*innen um Klaus Liedl erforschen,
nen sie ihre gewünschte Wirkung entfalten.       die Chemikerin den komplizierten Vorgang.         ist die sogenannte Humanisierung der the-
Krankheiten, bei denen man bereits sehr          Bei der Kombination der einzelnen Domä-           rapeutischen Antikörper. „Bevor therapeu-
gute Erfolge mit therapeutischen Antikör-        nen gibt es eine Vielzahl an Möglichkeiten,       tische Antikörper zur Behandlung einge-
pern erzielt hat, sind diverse Krebsarten, wie   die die Wissenschaftler*innen mithilfe von        setzt werden können, müssen wir verhin-
Brust- oder Darmkrebs sowie Autoimmun-           Graphics Processing Units (GPU) simulieren.       dern, dass der Körper den Antikörper als
                                                                                                   Hai- oder Kamel-Antikörper identifiziert.
                                                                                                   Wäre dies der Fall, würde das Immunsystem
                                                                                                   die Antikörper abbauen, noch bevor sie an
                                                                                                   das gewünschte Ziel binden könnten“, er-
                                                                                                   klärt Monica L. Fernández-Quintero. Des-
                                                                                                   halb verwenden die Wissenschaftler*innen
                                                                                                   nur den oberen Teil der Hai- oder Kamel-
                                                                                                   Antikörper – also ihr wesentlich kleineres
                                                                                                   Binde-Interface – und setzen dieses auf
                                                                                                   molekularbiologisch veränderte mensch-
                                                                                                   liche Antikörper, die dann die weitere Kom-
                                                                                                   munikation mit den Zellen übernehmen. Da
                                                                                                   dieser Vorgang natürlich auch etwas an den
                                                                                                   Bindeeigenschaften der Antikörper verän-
                                                                                                   dern kann, ist auch er Teil der Forschungs-
                                                                                                   arbeit des Teams um Klaus Liedl. „Wir er-
                                                                                                   forschen im Rahmen unserer Simulationen
                                                                                                   nicht nur, wie dieser Umbau im Design die
                                                                                                   Bindeeigenschaften verändert, sondern na-
                                                                                                   türlich auch, wie wir die entsprechenden
                                                                                                   Veränderungen nutzen können, um die
                                                                                                   Wirkung der Nanobodies zu verbessern“,
                                                                                                   beschreibt Liedl. Neben der Grundlagen-
                                                                                                   forschung setzen die Chemiker*innen um
                                                                                                   Klaus Liedl ihr Know-how auch im Rahmen
  Die Abbildungen zeigen den Aufbau von Hai- und Kamel-Antikörpern im Vergleich zu                 verschiedener Kooperationsprojekte mit
  einem menschlichen Antikörper. Die Antikörper der Haie und die des Kamels verfügen               Pharmaunternehmen ein, denn therapeu-
  über viel kompaktere Binde-Interfaces (oben) und bestehen aus wesentlich weniger Do-             tische Antikörper sind die Hoffnungsträ-
  mänen als der menschliche Antikörper.                                                            ger der Wirkstoffforschung, davon sind sie
  Abbildung: M. Fernández-Quintero                                                                 überzeugt.
                                                                                                                     susanne.e.roeck@uibk.ac.at ◼
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Initiative gegen das
Gasthaussterben
Seit Jahren schließen immer mehr Gasthäuser in Tirol, darunter auch
Traditionsbetriebe. Die gemeinsame Initiative „#dufehlst – Tiroler Wirtshäuser
suchen DICH“ vom Land Tirol, der Standortagentur Tirol, der Tirol Werbung, der
Privatuniversität UMIT TIROL und der Universität Innsbruck will dieser Entwicklung
entgegenwirken. Auch Studierende tragen einen wesentlichen Teil dazu bei.

D
       ie Geschichte des Gasthauses reicht     haussterben ist die Rede, auch in Tirol. Für    ne erfolgreiche Übernahme gelingen kann.
       historisch gesehen weit zurück. Um      Alexander Plaikner vom Institut für Strate-     „In unserer Studie hat sich bestätigt, dass
       1800 entwickelte sich schließlich die   gisches Management, Marketing und Tou-          vor allem der Fachkräftemangel, der demo-
Gastronomie in der uns heute bekannten         rismus höchste Zeit, um den Ursachen da-        graphische Wandel, aber auch einfach ein
Form. Und bis heute sind Gasthäuser wich-      für genauer auf den Grund zu gehen. Im          sich änderndes Freizeitverhalten der Bevöl-
tige Begegnungsstätten. Das ist vielen nicht   Rahmen der Initiative „#dufehlst – Tiroler      kerung Ursachen für das Gasthaussterben
zuletzt durch die Lockdowns in den ver-        Wirtshäuser suchen DICH“ hat er unter-          sind, mit denen sogar Traditionsbetriebe zu
gangenen zwei Jahren bewusst geworden.         sucht, warum viele Gastronomiebetriebe          kämpfen haben“, sagt Alexander Plaikner.
Trotzdem scheint das Gasthaus besonders        schließen müssen, welche möglichen Aus-         Die Corona-Pandemie hingegen war für viele
bedroht zu sein, vom regelrechten Gast-        wege es aus dieser Situation gibt und wie ei-   Gasthäuser überraschenderweise nicht nur

     Auch in Tirol schließen immer
     mehr Gasthäuser. Die Initiative
     „#dufehlst – Tiroler Wirtshäuser
     suchen DICH“ will das ändern.
     Foto: iStock/FooTToo
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Risiko, sondern auch Chance. „Während der
Lockdowns haben viele Betriebe auf Speisen
zur Abholung umgestellt und das hat sich
bewährt. Denn dazu musste zum Teil auch
die digitale Infrastruktur angepasst werden,
wovon diese Gasthäuser nun langfristig pro-
fitieren“, so Plaikner weiter. Ziel der Initia-
tive ist es, heimische Traditionswirtshäuser
zu erhalten und stillgelegte zu reaktivieren,
indem zum einen Angebotsanpassungen an
die sich veränderten Gästeanforderungen
entwickelt werden und zum anderen die
Übergabeprozesse optimiert werden.

Beitrag von Studierenden
   In allen Phasen des Forschungsprojektes
hat Alexander Plaikner auch auf die Unter-
                                                                           Theorie trifft Praxis in der Gasthausküche: Die Zwillinge
stützung seiner Studierenden gesetzt. So
                                                               Katharina und Barbara Weiskopf mit Studienleiter Alexander Plaikner
sind in den vergangenen zwei Jahren, seit
                                                                          und den beiden Gastronomen Josef und Seppl Haueis im
dem Start der Forschungsinitiative, vier Ba-
                                                                                                             Gasthof Gemse in Zams.
chelorarbeiten entstanden. Dabei hat er be-
                                                                                                                                       Foto: Eiter
wusst Studierende der Betriebswirtschaft
gesucht, die einen Hintergrund in der Gas-
tronomie oder einem anderen Klein- oder
Mittelständischen Betrieb haben: „Wir for-
schen überwiegend qualitativ. In unserem          tenfalls in der Gastronomie gesammelt hat         für Digital Tourism am Institut für Strate-
Fall heißt das konkret, dass die Studieren-       und weiß, wo man vielleicht besser noch-          gisches Management, Marketing und Tou-
den direkt zu den betroffenen Gasthäusern         mal nachhaken muss. Außerdem haben wir            rismus übernommen hat und dort nun auch
gehen und mit den Wirtsleuten bzw. dem            dadurch oft erfahren, in welchen Betrieben        seine Dissertation schreibt.
Personal vor Ort sprechen. Da ist das Eis         eine Schließung zur Option steht oder wo es
schnell gebrochen, wenn man selbst be-            Schwierigkeiten bei der Übergabe gibt“, be-       Gelungenes Beispiel der
reits Erfahrungen in einem Betrieb und bes­       tont Alexander Plaikner die Vorteile des gas-
                                                                                                    Zusammenarbeit
                                                  tronomischen Hintergrunds. Katharina und
                                                  Barbara Weiskopf sind zwei der Studieren-            Neben dem Erfolg seiner Studierenden
                                                  den, die ihre Bachelorarbeit im Rahmen der        freut Plaikner sich auch über die Resonanz aus
                                                  Initiative erstellt haben. Mittlerweile sind      der Bevölkerung. Seit dem Start von „#du-
                                                  beide Masterstudierende, haben eine An-           fehlst“ wurden gut zwei Dutzend Wirtshäu-
                                                  stellung an der Universität und stehen nun        ser in Tirol, die zur Übernahme bereitstehen,
                                                  kurz davor, die gemeinsam erarbeiteten For-       betreut und interessierte Übernehmer*innen
                                                  schungsergebnisse in einem internationalen        beraten. Das Gasthaus Peterbrünnl in Inns-
                                                  Buchband zu veröffentlichen. „Sowohl fach-        bruck war das erste, das erfolgreich in neue
                                                  lich als auch persönlich haben wir von der        Hände übergeben und wieder zum Leben er-
                                                  Mitarbeit an dieser Initiative sehr profitiert.   weckt werden konnte. Nun dient es als Blau-
                                                  Uns ist dadurch der Stellenwert eines Wirts-      pause für die folgenden Übernahmen im
                                                  hauses für das gesellschaftliche Leben erst       Rahmen von „#dufehlst“. „Diese Entwick-
                                                  bewusst geworden – im Wirtshaus kommen            lung zeigt uns, dass es hier auch tatsächlich
                                                  die Leute zusammen. Zudem hat uns unse-           Bedarf bei den Betroffenen gibt. Jetzt ist es
                                                  re Forschung aufgezeigt, dass ein Gasthaus        an uns, den Forschenden und den Partnern,
                                                  mit weit mehr als dem Fachkräftemangel            weiterführende Strategien zu erarbeiten, um
                                                  und der großen Konkurrenz zu kämpfen              dem Gasthaussterben entgegenzuwirken“,
                                                  hat“, berichten die Zwillinge. Das Engage-        betont Plaikner. Die Initiative „#dufehlst –
                                                  ment und die Entwicklung seiner Studieren-        Tiroler Wirtshäuser suchen DICH“ ist somit
                                                  den freut auch Alexander Plaikner: „Es liegt      auf mehreren Ebenen ein gelungenes Bei-
                                                  mir besonders am Herzen, Studierenden die         spiel dafür, wie Universität wirkt: Studieren-
                                                  Möglichkeit zu geben, ,hands on‘-Forschung        de forschen mit und bekommen die Möglich-
                                                  zu betreiben und dabei Wissenschaft und           keit, Gelerntes in der Praxis anzuwenden. Die
                                                  Praxis möglichst gut zu verbinden. Wenn           Kooperation zwischen dem Land Tirol, der
                                                  sich daraus dann eine Publikation ergibt,         Standortagentur Tirol, der Tirol Werbung, der
                                                  ist das natürlich toll.“ Plaikner legt großen     Privatuniversität UMIT TIROL und der Uni-
                                                  Wert darauf, dass die Studierenden lang-          versität Innsbruck vereint wichtige Akteure,
                                                  fristig von ihrem Einsatz profitieren. Der        wenn es darum geht, aktiv an Lösungswegen
                                                  Betriebswirt und Psychologe hat selbst vor        gegen das Gasthaussterben zu arbeiten. Und
                                                  seinen Studien eine kaufmännische Groß-           wenn es durch „#dufehlst“ langfristig ge-
                                                  handelslehre absolviert und danach viele          lingt, Wirtshäuser zu erhalten oder zu reak-
                                                  praktische Jahre in der Automobilindus­trie       tivieren, profitiert letztendlich vor allem die
                                                  und in Nichtregierungsorganisationen ver-         Bevölkerung davon.
                                                  bracht, bevor er das Projektmanagement                                    lisa.marchl@uibk.ac.at ◼
12

Schule als Ort,
der öffnet
Transnationale Netzwerke moralkonservativer Akteure stehen
im Fokus der Innsbrucker Soziologin Kristina Stoeckl. Wie
dabei Homeschooling Teil ihrer Forschungsarbeit wurde und
wie sie den aktuellen Trend zum Heimunterricht in Österreich
einschätzt, erklärt sie im Interview.

  Wie kamen Sie als Religionssoziologin und        deutsche Familie hatte ihre Kinder u. a. auf-    nanzielle Interessen – neben dem Rechts-
  Russland-Forscherin zum Thema Homesch-           grund ihrer religiösen Werte zuhause un-         beistand werden auch Unterrichtsmateri-
  ooling?                                          terrichtet. Da in Deutschland – anders als       alien verkauft –, andererseits handelt es sich
Kristina Stoeckl: Das Thema ist in meiner          in Österreich – Schulpflicht und nicht nur       klar um Lobbying-Arbeit für moralkonser-
Forschungsarbeit ganz unerwartet aufge-            Unterrichtspflicht gilt, wurden die deut-        vative Zwecke, die auch von entsprechenden
taucht. Ich beschäftige mich mit transna-          schen Behörden tätig und haben der Familie       Spendern unterstützt wird. Christliche
tionalen Netzwerken von moralkonser-               in letzter Instanz sogar die Kinder für drei     Homeschooler lehnen Unterrichtsprinzipien
vativen Akteuren. Dabei untersuchen wir            Wochen entzogen. Die Familie wurde bei           wie beispielsweise Gendergerechtigkeit und
Gruppen und Organisationen, die sich über          dem darauf folgenden Rechtsstreit, der bis       in Amerika auch die darwinsche Evolutions-
Nationen- und Religionsgrenzen hinweg              vor den Europäischen Gerichtshof für Men-        theorie ab. Einerseits öffnet ihrer Ansicht
vernetzen. Aus meiner Perspektive als Russ-        schenrechte führte, von der amerikanischen       nach Schule schon aufgrund des Lehrplans
land- und Orthodoxie-Forscherin war es be-         Menschenrechtsorganisation „Alliance De-         für Inhalte, die von den moralkonservativen
sonders interessant, dass Russland und auch        fending Freedom International“ mit Sitz in       Eltern nicht für gut befunden werden, ande-
die orthodoxe Kirche in diesen Netzwerken          Wien vertreten.                                  rerseits lehnen sie auch das soziale, diverse
zunehmend wichtige Rollen einnehmen.               Eine weitere Gruppierung, die wir genauer        Umfeld mit Mitschüler*innen ab, deren El-
Wir haben untersucht, wie Bewegungen zur           untersucht haben, ist die „Homeschooling         tern beispielsweise geschieden, alleinerzie-
Vermittlung konservativer Familienwerte,           Legal Defence Association“, die die Anliegen     hend oder homosexuell sind.
die Anti-Abtreibungsbewegung und Bewe-             von Homeschooling-Familien in den USA
gungen gegen Genderrechte agieren. Dabei           vertritt und seit rund zehn Jahren mit inter-    Umdeutung von Menschenrechten
kam dann auch das Thema Homeschooling              nationalen Kongressen bewusst eine trans-
auf unsere Agenda.                                 nationale Vernetzung versucht. Derartige           Sie sprechen in Ihrer Arbeit von einer Um-
  Ist das Thema Homeschooling nicht eher im        Kongresse fanden bereits in Berlin, in Rio         deutung der Menschenrechte durch die mo-
  linksalternativen Bereich der Gesellschaft zu    oder zuletzt in Moskau statt. Letztere habe        ralkonservative Homeschooling-Bewegung.
  finden?                                          ich mit meinen Doktorand*innen wissen-             Was genau meinen Sie damit?
Stoeckl: Hier würde ich zwischen zwei Be-          schaftlich beobachtet.                           Stoeckl:    Lobbying-Organisationen       für
wegungen unterscheiden: Das sogenann-                Was ist das Ziel dieser Vernetzung, was sind   christliche Homeschooler berufen sich häu-
te Unschooling ist tatsächlich eher im lin-          die Motive dieser Organisationen?              fig auf den Paragraf 26 der UN-Menschen-
ken Spektrum und im Alternativschulbe-             Stoeckl: Einerseits geht es natürlich um fi-     rechtskonvention, der besagt, dass Eltern
reich verortet. Hier geht es um die Idee, dass
Schule Kinder zu stark diszipliniert und in
ihrer freien Entwicklung einschränkt. Bei
den konservativen christlichen Homeschoo-            ZUR PERSON
lern dagegen geht es um genau das Gegen-
teil: Hier stellt Schule einen Ort dar, der öff-                         Kristina Stoeckl hat in Innsbruck, Budapest und Florenz stu-
net und diese Öffnung wird als Bedrohung                                 diert und ihre Post-Doc-Zeit als Marie S. Curie Fellow in Rom und
wahrgenommen.                                                            APART-Fellow der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
                                                                         in Wien absolviert. Sie hat einen START-Preis des FWF (2015) und
Transnationale Vernetzung                                                einen ERC-STARTING GRANT des European Research Council (2015)
                                                                         erhalten, ist Mitglied der Jungen Akademie der Österreichischen
  Wie gehen moralkonservative Homeschoo-                                 Akademie der Wissenschaften und seit 2019 Leiterin des Instituts
  ling-Gruppen vor, um sich zu vernetzen?                                für Soziologie an der Uni Innsbruck.
Stoeckl: Ein sehr gutes Beispiel für Vernet-
zung ist der Fall der Familie Wunderlich. Die
13

    Schule, als ein pluralistischer Ort, der alle
    Bereiche der Gesellschaft abdeckt, wird von
    christlichen, wertkonservativen Gruppen
    als Bedrohung für ihre Kinder angesehen.
    Fotos: iStock/martinedoucet; Uni Innsbruck

das Recht haben, über die Ausbildung ihrer       lar sind. Im Rahmen unserer Feldforschung       änderte. Die aktuelle Debatte über Heim-
Kinder zu entscheiden. Dieser Artikel ist        in Italien war es interessant zu sehen, dass    unterricht berührt zentrale gesellschaft-
entstanden zur Zeit des Kalten Kriegs vor        sich Eltern, die ihre Kinder aus christlichen   liche und bildungspolitische Fragen, wie die
dem Hintergrund einer politischen Indok-         Motiven zu Hause unterrichten, im Konflikt      Aufteilung der Erziehungsarbeit innerhalb
trinierung in den Schulen und eines Verbots      mit ihrem Bischof befinden. Die katholische     der Familien, die Effizienz von Distance-
von religiöser Betätigung von Eltern und         Kirche in Europa will ihren Platz im öffent-    Learning und den Bildungsauftrag der öf-
auch eines Verbots von religiöser Erziehung      lichen Raum behaupten, sie will nicht in die    fentlichen Schule. Ich denke, dass es sich bei
durch Eltern. Dieser Artikel war also auch                                                       diesem Zuwachs an Schulabmeldungen um
ein Kommentar zu den Zuständen im kom-                                                           einen Mix aus Verunsicherungen bei den El-
munistischen Osten. Heute wird von kon-                   »Bei konservativen                     tern handelt: Einerseits gibt es sicher Angst
servativen Bewegungen die Bedeutung des               christlichen Homeschoolern                 vor einer Pflicht-Impfung und Ablehnung
Artikels 26 umgedreht zu einem Kommen-                   stellt Schule einen Ort                 von Maßnahmen gegen die Pandemie, ande-
tar zu den Zuständen in westlichen Schu-                                                         rerseits haben Eltern aber sicher auch Angst
                                                        dar, der öffnet und diese
len, wo Unterrichtsprinzipien wie Diversität,                                                    vor einer Ansteckung. Zudem glaube ich,
Toleranz und Nicht-Diskriminierung in die             Öffnung wird als Bedrohung                 dass diese hohe Zahl an Abmeldungen auch
Lehrpläne Eingang gefunden haben. Home-                    wahrgenommen.«                        eine Rechnung ist, die Schulen für schlech-
schooling ist nur ein Schauplatz dieser Be-                                                      te Distanzlehre erhalten. Ich kann mir ehr-
                                                              KRISTINA STOECKL
wegungen, das Recht auf gleichgeschlecht-                                                        lich gesagt aber nicht vorstellen, dass sich
liche Ehe, der Umgang mit Reproduktions-                                                         die Zahlen auf diesem Niveau einpendeln.
maßnahmen oder Euthanasie sind andere.           Privaträume verschwinden. Diese Home-           Sie werden mit der Zeit wieder zurückgehen
Die moralkonservative Themenpalette ist          schooling-Tendenzen sind deshalb schon in       auf das Niveau von vor der Pandemie. In die-
relativ breit. Im Kern geht es um die Frage,     einem fundamentalistischen, rechten Rand        sem Wintersemester halte ich gemeinsam
welche Werte in einer Gesellschaft gelten        des katholischen Spektrums einzuordnen.         mit Silke Meyer vom Institut für Europä-
sollen.                                            Mit der Corona-Pandemie kam ein weiterer      ische Ethnologie und mit Inputs von Vero-
   Gibt es innerhalb dieser Bewegungen auch        Grund dazu, warum Kinder von der Schu-        nika Hofinger vom Institut für angewandte
   Konflikte?                                      le abgemeldet werden. Im aktuellen Schul-     Rechts- und Kriminalsoziologie eine Lehr-
Stoeckl: Ja, diese Form des moralkonser-           jahr haben sich die Zahlen der Schulabmel-    veranstaltung zum Thema Homeschooling,
vativen Homeschoolings birgt vor allem             dungen in Österreich mehr als verdreifacht.   in der wir gemeinsam mit Studierenden das
innerhalb der Kirchen ein hohes Konflikt-          Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?       empirische Feld, das durch die Erfahrung
potenzial. Die religiösen Homeschooler, die      Stoeckl: Homeschooling und Distance-            mit Homeschooling in Österreich neu ent-
wir erforscht haben, lehnen beispielsweise       Learning waren in den letzten zwei Jahren       standen ist, qualitativ bearbeiten.
auch konfessionelle Privatschulen ab, weil       für sehr viele Menschen eine neue Realität,              Das Interview führte Susanne E. Röck
diese ihrer Meinung nach bereits zu säku-        die ihren Alltag in wesentlichen Teilen ver-                      susanne.e.roeck@uibk.ac.at ◼
14

Kindgerechte
Wissenschaft
Im Projekt „Growing Ideas“ arbeitet die Bildungswissenschaftlerin Julia M. Nagy
daran, Naturwissenschaft für Kinder ab fünf zu erklären. Entstehen sollen zwei
Bücher, das erste zu Bauchweh und Verdauung ist kürzlich erschienen.

                                                         D
                                                                er Mensch stammt vom Affen ab und
                                                                von unserer Hirnkapazität nutzen wir
                                                                nur rund zehn Prozent, die restlichen
                                                         neunzig praktisch gar nicht. Kinder lernen
                                                         je nach Lerntyp am besten, manche mit vi-
                                                         suellen Methoden, andere wiederum, wenn
                                                         sie Inhalte anhören. Alles anerkannte Wis-
                                                         senschaft? Nein – ganz im Gegenteil, wie
                                                         Julia Magdalena Nagy vom Institut für Fach-
                                                         didaktik erklärt: „Es gibt eine ganze Reihe
                                                         an Fehlvorstellungen, die sich hartnäckig
15

halten und immer wieder aufs Neue weiter-
verbreitet werden, auch in Kindergärten und       ZUR PERSON
Schulen. Menschen und heutige Affen haben
gemeinsame Vorfahren, aber wir stammen                               Julia M. Nagy (*1989) studierte in Innsbruck Biologie und Deutsch
nicht voneinander ‚ab‘, dass ein Großteil des                        auf Lehramt und absolvierte außerdem in Wien ein Masterstudi-
Gehirns nicht gebraucht wird, ist außerdem                           um in Verhaltens-, Neuro- und Kognitionsbiologie. Sie unterrich-
genauso widerlegt wie eine Typisierung von                           tet am Reithmanngymnasium in Innsbruck, arbeitet zusätzlich
Kindern oder auch Erwachsenen danach,                                an ihrer Dissertation an der Universität Innsbruck und wirkt im
wie sie Inhalte am besten aufnehmen.“ Wie                            Projekt „Growing Ideas“ mit, das sich zum Ziel gesetzt hat, wis-
Pädagog*innen diesen Fehlvorstellungen                               senschaftliche Inhalte für Kindergartenkinder aufzubereiten. Ge-
am besten begegnen können, dem ist Na-                               meinsam mit der Tiroler Illustratorin Bine Penz hat sie kürzlich im
gy im Projekt „Growing Ideas“ und in ihrer        Rahmen von „Growing Ideas“ das Kinderbuch „Was mir mein Bauch erzählt“ für Kin-
Doktorarbeit auf der Spur.                        der zwischen fünf und acht Jahren beim Tyrolia-Verlag herausgebracht. Die beiden
                                                  arbeiten bereits am zweiten Band „Was mir mein Kopf erzählt“, der sich dem Gehirn
Von klein auf                                     und den Mythen rund um den Kopf widmet.

   „Ein wesentlicher Teil meiner Doktorarbeit
besteht darin, die angesprochenen Fehlvor-      türlich begrenzt, aber es besteht trotzdem      ausfällt oder Inhalte fehlerhaft vermittelt
stellungen überhaupt zu identifizieren – al-    die Gefahr, dass sich alternative Vorstel-      werden, setzt sich das oft bis ins Erwachse-
so herauszufinden, welche weit verbreiteten     lungen, die zum Beispiel die Pädagog*innen      nenalter fort. Und viele Kinderbücher arbei-
Fehlvorstellungen auch bei Pädagog*innen        unbeabsichtigt weitergeben, in den Köpfen       ten mit starker Vereinfachung, anatomisch
vorherrschen“, sagt Nagy, die auch selbst an    von Kindern festsetzen.“                        korrekt ist da oft wenig – stattdessen gibt es
einem Gymnasium unterrichtet. Dazu hat sie         Hier setzt das Projekt „Growing Ideas“       Zeichnungen von Bäuchen mit aufgemaltem
Kindergartenpädagog*innen in Ausbildung         an, bei dem Nagy neben ihrer Doktorar-          traurigem Gesicht, wenn Bauchschmer-
und auch schon im Beruf Tätige ausführlich      beit mitarbeitet: Zwei im Rahmen des Pro-       zen gezeigt werden sollen“, sagt Julia M.
befragt. „In der Forschung ist bekannt, dass    jekts entstehende Bücher vermitteln na-         Nagy. Der nun erschienene Band „Was mir
Lernen durch bereits bestehende Vorstel-        turwissenschaftliche Erkenntnisse kindge-       mein Bauch erzählt“ wirkt diesen Klischees
lungen und existierendes Wissen beeinflusst     recht, aber nicht kindisch, und wollen auch     entgegen und zeigt liebevoll illustriert und
wird“, erklärt die PhD-Studentin. Wir neh-      Pädagog*innen dabei unterstützen, diese         wissenschaftlich recherchiert anhand ei-
men Inhalte hauptsächlich dann auf, wenn        Inhalte wissenschaftlich korrekt wieder-        ner Geschichte über den kleinen Toni, wo-
sie unseren schon bekannten Vorstellungen       zugeben. „Growing Ideas“ wird von Univ.-        her Bauchweh kommt und was man dagegen
entsprechen – unsere Vorstellungen werden       Prof. Suzanne Kapelari geleitet, Partner        tun kann. „Tonis Geschichte beginnt da-
nicht ersetzt, sondern erweitert oder ver-      sind das Wissenstransferzentrum West, die       mit, dass er wegen seiner Bauchschmerzen
ändert. „Auch Kinder halten an ihren Vor-       Medizinische Universität Innsbruck, Klas-       nicht einschlafen kann – und zeigt, warum
stellungen und Erfahrungen fest, um für sie     se! Forschung, die Tyrolia und die Bundes-      er vielleicht Bauchweh hat. Die Geschich-
unbekannte Phänomene in ihrer Umwelt zu         bildungsanstalt für Elementarpädagogik in       te ist als Vorlesegeschichte für Kinder ab
erklären. Zuerst sind diese Erfahrungen na-     Innsbruck. Das Projekt soll das Interesse an    fünf gedacht, dazu gibt es kindgerecht ge-
                                                MINT-Fächern – Mathematik, Informatik,          schriebene Informationen auf jeder Dop-
                                                Naturwissenschaft und Technik – schon im        pelseite, mit denen Erwachsene Fragen der
                                                Kindergartenalter wecken. „Gerade der erste     Kinder beantworten können“, sagt Nagy.
                                                Kontakt mit solchen Themen ist wichtig,         Behandelt werden neben dem Verdauungs-
                                                und wenn der für die Kinder unangenehm          vorgang allgemein auch Lebensmittelun-
                                                                                                verträglichkeiten, der Einfluss der Psyche
                                                                                                auf den Bauch, aber auch Krankheiten wie
                                                                                                Magen-Darm-Grippe oder ein entzündeter
                                                                                                Blinddarm. „Das Buch wird auch in Kinder-
                                                                                                gärten in Leserunden zum Einsatz kommen
                                                                                                und soll Pädagog*innen dabei unterstüt-
                                                                                                zen, Antworten auf Kinderfragen geben zu
                                                                                                können, ohne selbst dabei unsicher sein zu
                                                                                                müssen. Damit fangen wir jetzt im Oktober
                                                                                                an.“

                                                                                                Zusatzmaterial
                                                                                                   Neben dem Buch gibt es auf einer eige-
                                                                                                nen Website auch weiterführendes Materi-
                                                                                                al – sowohl für den Kindergarten als auch
                                                                                                für zuhause, die Bastelübungen sind leicht
                                                                                                durchzuführen. Als Nächstes soll das Kon-
                                                                                                zept auch für das Gehirn bzw. den Kopf um-
                                                                                                gesetzt werden: 2022 erscheint „Was mir
                                                              Toni liegt zu Beginn mit
                                                                                                mein Kopf erzählt“ mit kindgerechten In-
                                                            Bauchschmerzen im Bett.
                                                                       Fotos: Bine Penz; Nagy
                                                                                                formationen zum Gehirn und der Widerle-
                                                                                                gung altbekannter Mythen – etwa dem mit
                                                                                                den 90 Prozent unbenutzter Hirnkapazität
                                                                                                oder den Affen als unseren Vorfahren.
                                                                                                             stefan.hohenwarter@uibk.ac.at ◼
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                                                                                                       Die Grabungsstelle Hohe Birga
                                                                                                            hat 2021 sehr vielfältiges
                                                                                                       Fundmaterial hervorgebracht.
                                                                                                                          Foto: Florian Müller

Wie der Löwe auf
die Hohe Birga kam
Neue archäologische Grabungen auf der Hohen Birga in Birgitz gewähren dank
moderner Forschungsmethoden einen umfassenden Einblick in das Leben der
Räter während der Eisenzeit.

D
        ie Silbermünze ist unscheinbar, kaum    dieser Siedlung auf der Hohen Birga, in der     werden kann, auch bekannt als Räter. Dann
        so groß wie ein 2-Cent-Stück. Flo-      Mitte des Alpenraumes, ein reger Austausch      geschah über mehrere Jahrzehnte nichts
        rian Müller dreht sie in der Hand.      stattgefunden hat. Unsere Funde weisen in       mehr. Dass die Hohe Birga nicht in Verges-
„Auf dieser Seite sehen wir eindeutig ei-       den Mittelmeerraum und in den Voralpen-         senheit geriet, war der Verdienst des lokalen
nen Löwen“, sagt er. „Und das hier ist eine     raum.“                                          Vereins „Archäotop Hohe Birga“, der neue
Artemis.“ Es handelt sich um eine keltische                                                     Forschungen ankurbelte und das archäolo-
Münze. Warum also ist eine griechische          Lange Tradition
Göttin darauf zu sehen? „Die Griechen hat-
ten in Südfrankreich eine Stadt gegründet,         Florian Müller ist assoziierter Professor
das heutige Marseille, und dort Münzen ge-      am Institut für Archäologien der Universi-
prägt. Als die Kelten beschlossen, dass sie     tät Innsbruck und leitet seit 2009 die Aus-       Video-Tipp
auch Münzen haben wollten, orientierten         grabungen auf der Hohen Birga. Forschun-
sie sich an dem griechischen Motiv, weil es     gen dort haben bereits eine lange Tradition.      Ein Forschungsvideo der Uni liefert
bereits bekannt war und akzeptiert wurde“,      Oswald Menghin, Professor für Urgeschich-         weitere       interes-
erklärt Müller. Die Münze wurde bei Gra-        te an der Universität Wien, besuchte im Jahr      sante Einblicke in die
bungen auf der Hohen Birga gefunden, nur        1937 den Hügel bei Birgitz und stieß dort auf     Arbeit der Innsbru-
wenige Kilometer von Innsbruck entfernt.        Vertiefungen, die er bei ersten Grabungen         cker Archäolog*innen
Sie liefert eine wichtige Erkenntnis über die   als Überreste von Gebäuden identifizierte.        auf der Hohen Birga:
dort gelegene 2000 Jahre alte Siedlung. „Es     Bei Grabungen in den 1940er und 1950er Jah-       youtube.com/uniinns-
zeigt sich mehr und mehr, dass wir es hier      ren konnte dann eine ganze Siedlung aus der       bruck
nicht mit einem kleinen, isolierten Bauern-     jüngeren Eisenzeit freigelegt werden, die
dorf zu tun haben, sondern dass auch mit        der Fritzens-Sanzeno-Kultur zugeordnet
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