Gesundheit braucht Politik - Ökonomisierung und Privatisierung International - vdää ...

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Gesundheit braucht Politik - Ökonomisierung und Privatisierung International - vdää ...
Gesundheit                                verein
                                          demokratischer
                                          ärztinnen und

   Politik
                                          ärzte

     braucht
Zeitschrift für eine soziale Medizin   Nr. 1/2019 | Solibeitrag: 5 Euro

         Ökonomisierung
         und Privatisierung
           International
3     Editorial

Inhalt        4     Göran Dahlgren: Glaubenssätze, Wunschdenken und
                    kommerzielle Interessen. Die Auswirkungen von
                                                                                       Der vdää
                                                                                       ist bundesweit organisiert; er
                                                                                       setzt sich für eine soziale Medi-
                    marktorientierten Gesundheitsreformen in Schweden
                                                                                       zin, für die Demokratisierung der
              6     Nadja Rakowitz: Schluss mit Tango. Finnische Regierung             Gesundheitsversorgung und der
                    tritt wegen Scheitern an Gesundheitsreform zurück                  Strukturen der ärztlichen Stan-
              7     Giulia Loffreda: Wie der National Health Service                   desvertretung ein. Er nimmt Ein-
                                                                                       fluss auf die Gesundheitspolitik
                    privatisiert wurde - Und wie Aktivist*innen ihn retteten
                                                                                       und unterstützt den Widerstand
              10    John Puntis: Keep Our NHS Public. Der Kampf für einen              gegen die Ökonomisierung der
                    öffentlichen NHS im Jahr 2018                                      Medizin.
              12    Wilfried Leisch: Recht so?! Die Zerschlagung der                   Sollten Sie von uns informiert
                                                                                       werden wollen, so setzen Sie sich
                    solidarischen Sozialversicherung in Österreich
                                                                                       bitte mit unserer Geschäftsstelle
              15    Andreas Xanthos / Panos Papadopoulos: Soziale                      in Verbindung. Gerne können Sie
                    Reformen gegen den autoritären Neoliberalismus. Die                sich auch online über den vdää-
                    Gesundheitspolitik der SYRIZA-Regierung                            Newsletter auf dem Laufenden
                                                                                       halten. Die Zeitschrift »Gesund-
              19    Eckardt Johanning: National Medicare-for-all.
                                                                                       heit braucht Politik« ist die Ver-
                    Mehrheit der US-Bürger*innen für eine Nationale                    einszeitung, die viermal jährlich
                    Krankenversicherung – aber wie?!                                   erscheint. Namentlich gekenn-
              22    Aktiv werden im vdää. Arbeitskreise, Redaktion der                 zeichnete Artikel geben nicht un-
                                                                                       bedingt die Vereinsmeinung wie-
                    Zeitschrift und Regionalgruppen
                                                                                       der.
              24    Herzlichen Glückwunsch, Uli! Zum 80. Geburtstag von
                    Hans Ulrich Deppe                                                  Redaktion
              26    Peter Hoffmann: Rettet die Pflege! Das Volksbegehren               Felix Ahls, Elena Beier, Kai-Uwe
                    bleibt unverzichtbar gegen den Pflegenotstand                      Helmers, Thomas Kunkel, Marei-
                                                                                       ke Ledigen, Eva Pelz, Nadja Ra-
              29    Andreas Wulf: Gefährdet statt gefährdend. Wie Migration
                                                                                       kowitz, Ben Wachtler, Bernhard
                    und Flucht mit Gesundheit zusammenhängen – und wie                 Winter
                    nicht
              31    Klug, geduldig, freundlich. Nachruf auf Klaus Stegmüller           Impressum
                                                                                       Gesundheit braucht Politik
                                                                                       1/2019 ISSN 2194-0258
   Liebe vdää-Mitglieder,                                                              Hrsg. vom Verein demokratischer
   Kommunikation ist einfacher per Email als per Post. Wir haben aber noch im-         Ärztinnen und Ärzte
   mer nicht die Emailadressen von allen Mitgliedern. Wenn Ihr uns Eure Mailad-        V.i.S.d.P. Thomas Kunkel /
   resse noch nicht gegeben habt oder wenn Ihr eine neue Mailadresse habt, gebt        Bernhard Winter
   Sie uns bitte.
   Gleiches gilt für die Postadresse und die Bankverbindung, falls Ihr uns eine Ein-   Bilder dieser Ausgabe
   zugsermächtigung gegeben habt. Es erspart uns Bürokratie, wenn wir das
                                                                                       Gewerkschaft der Privatangestell-
   rechtzeitig von Euch bekommen.
                                                                                       ten, Druck, Journalismus, Papier
   Bei der Gelegenheit möchten wir auch daran erinnern, Euren Vereinsbeitrag an        Österreich; Photo by Gunnar
   Eure evtl. neue berufliche Situation anzupassen.
                                                                                       Lindholm; Flickr; Unsplash
   Herzliche Grüße aus der Geschäftsstelle
                                                                                       Geschäftsstelle:
                                                                                       Kantstraße 10, 63477 Maintal
              30.03.2019         AK Ambulante Versorgung in Hamburg
Termine

                                                                                       Telefon     0 61 81 – 43 23 48
              13.04.2019         Sitzung des erweiterten Vorstands
                                                                                       Mobil       01 72 – 1 85 80 23
                                 Frankfurt, 11-17 Uhr
                                                                                       Fax         0 61 81 – 49 19 35
              28.-31.05.2019     DÄT, Münster
                                                                                       Email       info@vdaeae.de
              05./06.06.2019     Gesundheitsministerkonferenz Leipzig                 Internet    www.vdaeae.de
                                 (zentrale Demo des Bündnis KsF, pressewirksame
                                                                                       Bankverbindung:
                                 Aktionen, »Gegengipfel«/Aktionskonferenz ver.di,
                                                                                       Postbank Frankfurt
                                 AK Psychiatrie, Bündnis KH statt Fabrik)
                                                                                       IBAN: DE97500100600013747603
              27.07.2019         Sitzung des erweiterten Vorstands
                                                                                       BIC: PBNKDEFFXXX
                                 Erfurt, 11-17 Uhr
                                                                                       Satz/Layout Birgit Letsch
              17.08.2019         Treffen des AK KH in Kassel, 11-17 Uhr
                                                                                       Druck       Druckerei Grube
              15.-17.11.2019     JHV in Göttingen

 2 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019
zusammen. Viele der auch unter Linken verbreiteten Hoffnun-
                                                                 gen, die mit dem Regierungsantritt von Syriza verbunden

Editorial                                                        waren, haben sich leider nicht bewahrheitet. Anders im Ge-
                                                                 sundheitswesen: Hier ist es gelungen, die Millionen Menschen
                                                                 ohne Zugang zum Gesundheitssystem wieder hereinzuholen.
                                                                 Und nicht nur das. Andreas Xanthos und Panos Papadopoulos
                                                                 geben uns einen – dennoch nicht nur optimistischen – Über-
     »Die Gesundheitsbewegung wendet sich gegen                  blick über die Gesundheitspolitik der Syriza-Regierung seit
                                                                 2015.
    soziale Ungleichheit und kommerzielle Interessen
                                                                     Im internationalen Kontext stellt Andreas Wulf dar, wie
     im Gesundheitswesen. Sie geht davon aus, dass               bzw. wie nicht Migration und Flucht mit Gesundheit zusam-
 Kranke in der Stunde der Not ein Recht auf gleiche              menhängen. Peter Hoffmann lenkt den Blick wieder vor die
                                                                 eigene Haustür: In Bayern ist der vdää Teil eines Bündnisses,
   Versorgung haben und dass das Geschäft mit der                das sich für ein Volksbegehren gegen den Pflegenotstand ein-
           Krankheit einzustellen ist: Die Privatisierung        setzt. Nach Berlin und Hamburg das erste Flächenbundesland,
                                                                 in dem eine solche Initiative die Situation in der Pflege ver-
               wird deshalb grundsätzlich abgelehnt.«            bessern helfen soll. Peter Hoffmann erläutert die Auswirkun-
                                         (Hans Ulrich Deppe)     gen und Hintergründe des Pflegepersonalstärkungsgesetzes
                                                                 und der Pflegepersonaluntergrenzen.
                                                                     Nicht nur bei den Volksbegehren kann man aktiv werden,
Dies ist ein Zitat aus Eröffnungsrede von Uli Deppe bei der      auch im vdää. Auf der letzten JHV wurde mehrfach der
Gründung des vdää. Uli Deppe gratulieren wir in diesem Heft      Wunsch an uns herangetragen, diese Möglichkeiten transpa-
ganz herzlich zum 80. Geburtstag. Die Aussagen des Zitats        renter darzustellen. Dem möchten wir in diesem Heft mit der
sind unverändert aktuell.                                        Darstellung der Regionalgruppen und der Arbeitskreise nach-
                                                                 kommen. In der nächsten Ausgabe werden sich die Listen in
Nachdem wir in der letzten Ausgabe (s. GbP 04/2018) den          den Ärztekammern vorstellen.
Schwerpunkt Ökonomisierung und Privatisierung des Gesund-            In den letzten Monaten hat sich bereits die Redaktion deut-
heitswesens in der BRD hatten, soll die vorliegende Ausgabe      lich vergrößert und verjüngt. Obwohl diese Gruppe in dieser
einen internationalistischen Blick auf die Entwicklungen in      Zusammensetzung erst seit kurzem zusammen arbeitet, ge-
anderen europäischen Ländern werfen. Wie auch hierzulande        lang die Gestaltung dieser Ausgabe in einer sehr entspannten
wird andernorts ebenfalls die Erfahrung gemacht, dass Pri-       und angenehmen Atmosphäre, die allen Beteiligten Spaß ge-
vatisierungen im Gesundheitswesen primär einerseits die          macht hat. Wir hoffen dieser Spaß überträgt sich auch auf die
Ökonomisierung antreiben und vice versa, dass dies anderer-      Leser*innen.
seits der Umverteilung von öffentlichen Geldern zu privaten,                                                      Die Redaktion
profitorientierten Akteuren dient.
   Giulia Loffreda aus dem Peoples‘ Health Movement be-
trachtet für uns dazu den Stand der politischen Auseinander-
setzung in England, ebenso wie John Puntis, ein Aktivist der
Initiative »Keep Our NHS Public«, mit der wir seit »vdää on
                                                                       »Gesundheit braucht Politik –
tour« nach London im Jahr 2014 solidarisch verbunden sind.
                                                                   Zeitschrift für eine soziale Medizin« –
Göran Dahl­gren kritisiert die gesundheitspolitischen Entwick-
                                                                               im Abonnement
lungen in Schweden, wo durch einen euphemistisch betitelten
Gesetzentwurf drastische Verschlechterungen in weiten Be-        Die Zeitschrift des vdää ist inhaltlich längst mehr als eine
reichen der ambulanten Versorgung implementiert wurden.          reine Vereinszeitschrift. Wir machen vier Themenhefte
Nadja Rakowitz berichtet über politische Verwerfungen in         pro Jahr zu aktuellen gesundheitspolitischen Problemen,
Finnland. Dort musste die seit 2015 regierende rechtskon-        die sich hinter anderen gesundheitspolitischen Zeitschrif-
servative Regierung aufgrund der versuchten Einführung von       ten im deutschsprachigen Raum nicht verstecken müssen.
marktliberalen Prinzipien in den öffentlichen Gesundheitssek-    Vereinsmitglieder bekommen die Zeitschrift kostenfrei
tor auf Druck der Opposition zurücktreten. Werner Leischs        zugesandt.
Beitrag über die Gesundheitspolitik der rechtsradikalen          Wer nicht Vereinsmitglied ist, hat die Möglichkeit, die
schwarz-blauen Regierung in Österreich gibt einen kritischen     »Zeitschrift für eine soziale Medizin« zum Preis von 26
Vorgeschmack auf die unsoziale Politik, die von Parteien des     Euro oder als Studentin oder Student für 10 Euro im Jahr
rechten Rands zu erwarten ist. Eine der ersten Amtshandlun-      zu abonnieren.
gen von US-Präsident Trump war ein Angriff auf Obamacare.
                                                                 Ein Probeabo besteht aus zwei Ausgaben und kostet eben-
Breite Teile der Bevölkerung setzen sich dagegen zur Wehr.
                                                                 falls 10 Euro.
Eckhardt Johanning, der in New York lebt, erläutert die Hin-
tergründe.                                                       Bei Interesse wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstel-
   Der vdää arbeitet seit vielen Jahren solidarisch mit          le:info@vdaeae.de
Aktivist*innen und Gesundheitsarbeiter*innen in Griechenland

                                        Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019 | 3
Glaubenssätze, Wunschdenken
und kommerzielle Interessen
auch in Schweden wird die Gesundheitsversorgung kommerzialisiert
Göran Dahlgren erklärt die marktorientierten Gesundheitsreformen in Schweden, beschreibt die Aus-
wirkungen auf den Zugang und die Qualität der Gesundheitsversorgung und benennt die Gewinner
und Verlierer dieser Umgestaltung.

„„1. Zwei große neoliberale Reformen                             wohl dies nie öffentlich als Zielvorgabe beschlossen und
                                                                 kommuniziert wurde.
Die Gesundheitspolitik der letzten Jahre in Schweden war ge-        Die abzusehenden Auswirkungen dieser beiden Reformen
prägt von neoliberalen marktorientierten Reformen, die ins-      wurden im Vorfeld ihrer Implementierung nie analysiert. Sie
besondere die Primärversorgung betrafen. Was passierte –         waren – und sind weiterhin – angetrieben durch neoliberale
und immer noch stattfindet –, ist eine schrittweise              und konservative ideologische Glaubenssätze, Wunschdenken
Transformation der primären Versorgung in ein mehr und           und starke kommerzielle Interessen. Die Sozialdemokraten
mehr privatisiertes und profitorientiertes System. Die folgen-   haben diese Reformen widerwillig akzeptiert, während die
den beiden Reformen waren die zentralen Vehikel für diese        linke Partei dagegen opponiert.
Transformation dar:                                                 Die realen Auswirkungen dieser Reformen wurden nun –
    Das »Gesetz über die freie Wahl des Versorgungs-             fast zehn Jahre nachdem das »Gesetz über die freie Wahl«
system« (»Lagen om vårdvalssystem«) wurde 2010 vom               ratifiziert wurde – durch mehrere nationale Behörden und
Parlament verabschiedet. Das Gesetz sieht vor, dass alle pri-    Forschungsgruppen analysiert und ausgewertet. Besonderes
vaten, profitorientierten Anbieter, die bestimmte Kriterien      Interesse galt dabei den Auswirkungen auf die Primärversor-
erfüllen, in der öffentlichen Finanzierung bevorzugt werden.     gung. Einige zentrale Ergebnisse dieser Analysen sollen hier
Diesen kommerziellen Anbietern wird darin auch das Recht         kurz dargestellt werden.
eingeräumt, ihre steuerfinanzierten Gesundheitsleistungen
an jenen Orten anzubieten, wo es für sie am profitabelsten       „„2. Inanspruchnahme der Primärversorgung
erscheint. Der unterschiedliche Bedarf in den verschiedenen
Regionen wird nicht berücksichtigt. Die für das Gesundheits-     Wachsende Kluft zwischen Stadt und ländlichen Regionen:
wesen zuständigen Landräte (schwed. »Landstings«) können         Die Anzahl der steuerfinanzierten Gesundheitszentren stieg
weder über die Anzahl noch den Ort jener Praxen mitbestim-       zwischen 2010 und 2012 um 20 Prozent, seitdem jedoch wur-
men, die sie aber mit Steuergeldern finanzieren. Obwohl der      den jährlich nur noch wenige neue Zentren eingerichtet (2).
Name des Gesetzes die freie Wahl suggeriert, hat es keiner-      Fast alle dieser neuen Gesundheitszentren waren private,
lei Einfluss auf das Arzt- bzw. Versorgungswahlrecht der Be-     profitorientierte Anbieter, die häufig im Besitz internationaler
völkerung.                                                       Kapitalinvestoren sind.
    Der Grund für die irreführende Namensgebung des Geset-          82% dieser steuerfinanzierten neuen Gesundheitszentren
zes war der Umstand, dass die Menschen in Schweden in            befinden sich in städtischen Regionen mit ohnehin schon ganz
Umfragen zwar eine freie Arztwahl bevorzugten, aber gleich-      guten Zugangsmöglichkeiten zur Gesundheitsversorgung (2).
zeitig sehr kritisch gegenüber einer Steuerfinanzierung von      Dies kann nur teilweise durch die Urbanisierung erklärt wer-
privater, profitorientierter Gesundheitsversorgung eingestellt
waren. Dementsprechend sollte die »Wahlfreiheit« im Titel
des Gesetzes verschleiern, dass der eigentliche Zweck in der
»Stärkung der Privatisierung« besteht.
    »Neue öffentliche Verwaltung« (New public ma-
nagement, NPM) nennt sich die zweite große Reform. NPM
                                                                                                                                    ©Gunnar Lindholm

zwingt die öffentlichen Gesundheitseinrichtungen, sich fast
genauso zu verhalten wie die privaten, profitorientierten An-
bieter. Die öffentlichen Akteure müssen ihre Arbeit finanzie-
ren, indem sie ihre Leistungen auf einem umkämpften Markt
anbieten. Kostendeckende Erlöse wurden somit zu einem
wichtigen Ziel für öffentliche Gesundheitseinrichtungen, ob-

4 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019
Protestaktion am 12.12.18 vor der Wiener Gebietskrankenkasse – Foto: GPA/djp

den. Fast keine neuen Versorgungszentren wurden in ländli-      gelitten. Während im Jahr 2012 noch 40% der Allge­mein­me­
chen, unterversorgten Gebieten eingerichtet. Von dem Teil       di­ziner*innen bejahten, dass das Gesundheitssystem gut
der Bevölkerung, der zuvor bereits weit weg von einem Ge-       funktioniere, waren es im Jahr 2014 nur noch 19% (7).
sundheitszentrum lebte, muss seit der »Wahlfreiheitsreform«         Die marktorientierten Reformen haben die Versorgungs-
eine viertel Million Menschen noch weiter fahren, um versorgt   qualität nicht verbessert: Die Qualität des schwedischen Pri-
zu werden. Typischerweise betrifft das vor allem Menschen       märversorgungssystems ist im Vergleich zu vielen anderen
mit niedrigem Einkommen und einem erhöhten Bedarf von           westeuropäischen Ländern verhältnismäßig schlecht. Nur 64%
medizinischer Versorgung (3).                                   der Patient*innen haben eine Hausärzt*in. Die Entwicklung
   Die wachsende Kluft zwischen Stadtteilen mit hohen und       seit 2010 ist ebenfalls negativ, wenn man den zunehmenden
niedrigen Einkommen: Innerhalb der städtischen Regionen         Grad der Fragmentierung im Gesundheitswesen betrachtet
wurden die meisten der neuen privaten Gesundheitszentren        (8), z.B. was die die Kooperation zwischen den Allgemein­
in ökonomisch bessergestellten Gegenden eröffnet. Eine Stu-     mediziner*innen und anderen Fachrichtungen angeht(7). Es
die der nationalen Prüfbehörde (National Auditing Authority)    gibt viele Gründe für diese problematischen Entwicklungen,
zeigte, dass es keine Korrelation gab zwischen der Implemen-    aber es scheint so, dass die Einführung des Konkurrenzprin-
tierung eines neuen Gesundheitszentrums und dem Bedarf          zips zwischen den Leistungs­an­bie­ter*innen negative Auswir-
an Leistungen. Es zeigte sich hingegen eine sehr starke Kor-    kungen sowohl auf die Kontinuität der Versorgung als auch
relation zwischen hohen Durchschnittseinkommen in einem         die Zusammenarbeit der Anbie­te­r*innen hatte.
Gebiet und der Eröffnung von neuen privaten, profitorientier-       Verlust knapper finanzieller Ressourcen für die Gesund-
ten Gesundheitszentren (3).                                     heitsversorgung: Dadurch, dass sie profitable, aber unnötige
   Das Hauptaugenmerk scheint auf Patient*innen zu liegen,      medizinische Leistungen begünstigen, führen markt- und
die eher kleine als schwerwiegende gesundheitliche Probleme     profitorientierte Reformen zu einem Verlust an öffentlichen
haben: Menschen mit kleineren gesundheitlichen Problemen        Finanzmitteln. Hinzu kommt, dass viele der privaten Anbie­ter
haben einer großen Studie zufolge ihre Inanspruchnahme von      bzw. ihre Gesellschafter*innen Strategien zur Steuerhinter-
Gesundheitsleistungen im Vergleich zu Menschen mit schwe-       ziehung bzw. legalen Steuervermeidung als Teil ihres Ge-
reren gesundheitlichen Problemen gesteigert (4). Eine Umfra-    schäftsmodells betreiben, wodurch dem Staat wichtige
ge unter Ärzt*innen einer primärversorgenden Einrichtung in     Einnahmen verloren gehen.
Stockholm ergab, dass nur 1% der Antwortenden glaubte, dass
die gegenwärtigen marktorientierten Reformen auch den Men-      „„4. Wahrgenommene und medizinische
schen mit schwerwiegenderen Gesundheitsproblemen zugute           Versorgungsqualität
kämen. 78% der Ärzt*innen fanden, dass das System Men-
schen mit größeren Gesundheitsproblemen diskriminiert (5).      Mehr private Anbieter vermochten die wahrgenommene Qua-
                                                                litätssteigerung der Versorgung nicht erhöhen: Die beobach-
„„3. Versorgungsqualität des Gesundheitswesens.                 teten Unterschiede in der Wahrnehmung der Versorgungs-
                                                                qualität zwischen öffentlichen und privaten Anbietern gleichen
Deutlich weniger Vertrauen von Allgemeinmediziner*innen:        sich an, wenn die Unterschiede in Hinblick auf die Krankheits-
Das Vertrauen von Allgemeinärzt*innen in das Gesundheits-       last sowie den sozioökonomischen Kontext mitbetrachtet
system hat seit der Umsetzung der Marktreformen deutlich        werden (9)(…)

                                       Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019 | 5
Gewinner und Verlierer: Die kommerziellen Anbieter und                     och förlorare«, Natur och Kultur (Future health care markets –
ihre Inhaber*innen sind die klaren Gewinner dieser markto-                    winners and loosers. This book was published by Natur och
                                                                              Kultur)
rientierten Reformen. Menschen, die in städtischen Regionen
                                                                          2   Myndigheten för vårdanalys (2015), Rapport no 2015:6 (The
mit einem relativ hohen Durchschnittseinkommen leben, wer-                    National Authority for health care analyses, Report 2015:6)
den durch diese Reformen begünstigt, insbesondere dann,                   3   Riksrevisionen (2014), Rapport no 2014:22 (The National Au-
wenn sie nur kleinere Gesundheitsprobleme haben. Die klaren                   diting Authority, Report no 2014:22 )
Verlierer*innen dieser Entwicklung sind die Menschen aus                  4   Myndigheten för vårdanalys (2013), Rapport 2013:1 (The Na-
                                                                              tional Authority for health care analyses, Report no 2013:1)
ländlichen Regionen mit niedrigeren Einkommen, die chroni-
                                                                          5   Landstingsrevisorerna SLL (2012), Rapport nummer 10/20 (The
sche Gesundheitsprobleme haben. Darüber hinaus verlieren                      auditors at Stockholm count council, Report no 10/2012)
Gesundheitseinrichtungen die Möglichkeit, unprofitable aber               6   Beckman A, Anell A. (2013): »Changes in health care utilizati-
notwendige Leistungen zur Verfügung zu stellen.                               on following a reform involving choice and privatization in Swe-
   Abschließend sollte noch einmal betont werden, dass die                    dish primary care: a five year follow up of GP visits«, Universi-
meisten Effekte der Gesundheitsreformen profitorientiert sind                 ty of Lund
                                                                          7   Myndigheten för vårdanalys (2015), Rapport no. 2015:9 (The
und somit in direktem Konflikt mit den Grundsätzen, Zielen
                                                                              National Authority for health care analyses, Report no. 2015:9
und ethischen Prinzipien des gültigen »Schwedischen Gesetz                8   Stiernstedt G et. al (2016), Dagens Medicin 13/1 2016 (Article
über die Gesundheitsversorgung« (Hälso- och sjukvårdslagen)                   by Göran Stiernstedt in the magazine »Medicine of today«)
aus dem Jahr 2007 stehen (10).                                            9   Myndigheten för vårdanalys (2015), Rapport 2015:5 (The Na-
                                                                              tional Authority for health care analyses, Report no 2015:5)
Göran Dahlgren ist Visiting Professor an University of Liverpool, ehe-   10   Dahlgren G (2018): »När sjukvården blev en marknad – effek-
maliger Abteilungsleiter des »Health Service Department« im Minis-            ter och alternativ«, Premiss förlag« (»When the health care
terium für Gesundheit und Soziales, Schweden.                                 system became a market- effects and alternatives«, This book
Übersetzung aus dem Englischen: Thomas Kunkel                                 was published by Premiss)

Literaturverweise                                                        Alle Texte außer Beckman et.al. wurden auf Schwedisch publiziert.
 1 Dahlgren G (1994): »Framtidens sjukvårdsmarknader- vinnare

  Schluss mit Tango
  Finnische Regierung tritt wegen Scheitern an Gesundheitsreform zurück

  F
         innland wurde seit den Wahlen 2015 von einer rechts-            organisierte Gesundheitsversorgung auf 18 neu zu schaf-
         konservativen Koalition (104 von 200 Sitzen im Par-             fende regionale Behörden übertragen. Das alleine wäre noch
         lament) regiert: Ministerpräsident Juha Sipiläs liberal         kein Problem der Opposition gewesen. Viel Kritik und gro-
  und bäuerlich ausgerichtete Zentrumspartei, die konserva-              ßen Widerstand im linken Lager brachte der Regierung die-
  tive Nationale Sammlungspartei und die Partei Blaue Zu-                ser Teil ihres Reformplanes: Patient*innen sollten in Zukunft
  kunft, die sich 2017 von den »Wahren Finnen« abgespalten               »Wahlfreiheit« bekommen zwischen öffentlichen und pri-
  hatte. Anfang Februar, also ein paar Wochen vor den nächs-             vaten Anbietern von Gesundheitsdienstleistungen. Neben
  ten Parlamentswahlen am 14. April, hat die Regierung ihren             dem Zeitplan im Sozial- und Gesundheitsausschuss, sei die
  Rücktritt bekanntgegeben. Sipilä begründete das mit dem                Reform, so die Informationen der finnischen Zeitung Huf-
  Scheitern der umfassenden Gesundheitspflege- und So­zial­              vudstadsbladet, zudem nicht verfassungskonform gewesen.
  reform, die er zum wichtigsten Projekt seiner Amtszeit er-

                                                                         N
  klärt hatte, für die man aber keine Parlamentsmehrheit                         icht wenige Kommentare interpretieren nun das
  zusammenbekommen habe. Marktliberale Reformen und                              Scheitern der Regierung an diesem Projekt als En-
  Sparpolitik waren Hauptinhalte der Politik Sipiläs: Die Re-                    de eines Versuches des rechten Flügels, die Ge-
  gierung kürzte in der Bildung und bei Sozialausgaben,                  sundheitsversorgung zu privatisieren. Laut der schwedi-
  betroffen waren Rentner*innen, Student*innen und Gering-               schen Zeitung Dagens Nyheter könnte der Rücktritt eine
  verdienende. Entsprechend sah die geplante Gesund­                     Wahlkampfstrategie sein, um die Wählerschaft nach dem
  heitsreform im bislang staatlichen Gesundheitswesen aus.               Scheitern der Gesundheitsreform nicht zu verlieren. Unklar
  Argumentativ vorbereitet mit den üblichen Bedrohungssze-               sei aber, ob diese Strategie aufgeht – nach zahlreichen
  narien von drohendem Anstieg der – im internationalen                  Skandalen um die Privatisierung von Altersheimen seien
  Vergleich eher niedrigen – Ausgaben, flankiert von der »na-            der Koalition bereits viele ältere Wähler*innen abgesprun-
  türlichen« Unausweichlichkeit der Demographie. Wir kennen              gen. Ob sie wiedergewählt werden, ist unklar.         NR
  das aus Deutschland und aus anderen Ländern.
                                                                         (Vgl. Kai Strittmatter: »Finnland – Kollabiert wegen der Gesund-
     Die Regierung wollte das System »entschlacken« und                  heitsreform«, SZ 08.03.2019; »Streit um Reformpaket – Finnische
  die bislang in 295 Kommunen des Landes verwaltete und                  Regierung tritt zurück«, ntv vom 08.03.2019)

6 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019
Wie der National Health Service
                        privatisiert wurde
                        Und wie Aktivist*innen ihn retteten – von Giulia Loffreda
                        »Save the NHS«, »Keep our NHS public«, »Hands off the NHS« waren einige der bekannten Slogans,
                        mit denen die Zivilgesellschaft, Aktivist*innen und Ärzt*innen beharrlich gegen den Privatisierungs-
                        prozess des NHS in Großbritannien kämpften. Dieser Artikel möchte kurz darstellen, wie der NHS fi-
                        nanziert und organisiert wurde, zudem die Geschichte einiger struktureller Änderungen des NHS inkl.
                        des Privatisierungsprozesses erläutern und schließlich die Rolle einiger Aktivist*innen aufzeigen, welche
                        ein weltweites Vorbild im Widerstand gegen kommerzielle Interessen wurden.

                        „„Wie der NHS ursprünglich finanziert wurde                      zahlungen variierten im Lauf der Jahre im Verhältnis zur Fi-
                                                                                         nanzierung aus allgemeinen Steuereinnahmen, staatlicher
                        In England wurde der NHS vor allem durch Steuereinnahmen         Versicherung und Versichertenbeiträgen von einem Maximum
                        finanziert, unterstützt durch staatliche Versicherungsbeteili-   von 5% 1960 bis zu einem Minimum von 1,7% zwischen 2007
                        gungen. Während der NHS zwar im Allgemeinen als frei zu-         und 2011. In Großbritannien besitzen 10,6% der Bevölkerung
                        gänglich gilt, mussten Patient*innen doch seit 1951 für eini-    eine private Krankenversicherung, wobei es sich bei der Mehr-
                        ge Leistungen zuzahlen (z.B. bei Rezepten oder zahnärztlicher    heit um betriebliche Policen handelt, die Angestellten als Teil
                        Behandlung). Allerdings gibt es für viele Patient*innen Aus-     ihrer Gesamtvergütung angeboten werden.
                        nahmeregelungen, inkl. für Patient*innen unter 16 oder über
                        60 Jahren, sowie für Empfänger*innen staatlicher Unterstüt-      Das sogenannte NewPublic Management (NPM),
                        zungsleistungen. Die bestehenden Ausnahmeregeln führten          strukturelle Anpassungen und Austerität
                        dazu, dass letztes Jahr 90% aller Rezepte ohne Zuzahlung         Das NPM, oft beschrieben als »markt-basierte Ideologie«, ist
                        abgegeben wurden. Die zusätzlichen Einnahmen durch Zu-           durch Vermarktung, staatliche Sparpolitik und Dezentralisa-
                                                                                         tion charakterisiert; es wurde in der Thatcher-Ära 1990 ein-
                                                                                         geführt und eröffnete die Privatisierung der öffentlichen Diens-
                                                                                         te. Als Konsequenz daraus wurde eine Quasi-Marktstruktur
                                                                                         im Gesundheitssystem Großbritanniens implementiert: Öf-
                                                                                         fentliche und private Anbieter konkurrierten miteinander da-
                                                                                         rum, die jeweils besseren und schnelleren Dienstleistungen
                                                                                         anzubieten. NPM sollte ein effektiveres und effizienteres öf-
                                                                                         fentliches Gesundheitssystem hervorbringen, indem top-down
                                                                                         umstrukturiert und überwacht wurde, verbunden mit Perso-
                                                                                         nalabbau sowie Dezentralisierung. Gesundheitsversorgung
                                                                                         wurde so zur Ware, die durch den Markt angeboten wird, statt
                                                                                         eines Rechts, das vom Staat geschützt wird.
                                                                                            Die Sparpolitik passt in das Bild von Budgetkürzungen,
                                                                                         Schließungen und Privatisierung. Ein gutes Beispiel dafür, wie
                                                                                         Austerität wirkt und mit Public Private Partnerships (PPP) ver-
                                                                                         knüpft ist, zeigt sich an Kürzungen für Leistungen im Bereich
                                                                                         der psychischen Gesundheit, wo private Anbieter Jahr für Jahr
                                                                                         unglaubliche Gewinne einfahren. Das hat zu einem massiven
©Garry Knight-CC0 1.0

                                                                                         Mangel an psychologischer Behandlung geführt.

                                                                                         „„Der Privatisierungsprozess

                                                                                         Der NHS wurde 1948 gegründet. Von Beginn an war er be-
                                                                                         gleitet von zwei großen Kontroversen unter Politiker*innen:
                                                                                         Zum einen sei er zu teuer, zum anderen würden die Leute ihn

                                                                Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019 | 7
missbrauchen. Schließlich aber wurde
diesen Politiker*innen das Gegenteil
bewiesen; er war weder unerschwing-
lich, noch missbrauchten es die Men-
schen. Der NHS war eine der Säulen
des Sozialstaates, den William Beve-
rage während des zweiten Weltkriegs
erdacht und umgesetzt hatte. Aneurin
Bevan war der Architekt des NHS, wie
wir ihn heute kennen. Er glaubte, dass
die Gesellschaft allen ihren Mitgliedern
den Zugang zu den besten medizini-
schen Behandlungen gewähren sollte.
Im NHS ging es um Umverteilung auf
der Basis von Bedarfen, öffentlichem
Eigentum und Rechenschaftspflicht Ei-
nige wenige private Interessen waren
zwar immer gegenwärtig, aber Kom-
merzialisierung und Privatisierung wur-
den sorgsam ferngehalten, um Ver-
schwendung vorzubeugen.
    Mit dem Health and social care                                                      ©Flickr-Stephen Melkisethian

act (HSCA) von 2012 begannen sich
Gesundheits-Aktivist*innen ernsthafte        gen durch die verschiedenen Leistungs-     durch einen PCT versorgt wurden, kön-
Sorgen um den NHS zu machen. Zen-            erbringer im NHS auf regionaler Ebene      nen Menschen nun zwischen verschie-
trale Inhalte des Gesetzes waren: 1) Es      zu organisieren. CCGs sind dabei in der    denen CCGs in ihrer Region wählen,
beseitigt die Pflicht des Gesundheits-       Lage, Dienstleistungen von allen qua-      aber auch die Versorgungsverantwor-
ministers, die Versorgung aller sicher-      lifizierten (auch privaten, Anm. der Re-   tung der CCGs ist nicht mehr automa-
zustellen. 2) Es führt neue Versiche-        daktion) Anbietern zu erwerben.            tisch auf alle Bewohner*innen einer
rungsstrukturen ein, und 3) gibt es der                                                 Region ausgeweitet.
Minister*in die Möglichkeit, eine Wirt-      Einschub der Redaktion: Die CCGs wur-
schaftsbürokratie einzuführen und es         den als regionale Planungsinstanzen        Um Mitglied zu werden, müssen die
gibt Anbietern die Möglichkeit zu ent-       der sekundären und gemeindebasierten       Bürger*innen sich zunächst bei einem
scheiden, wer von der Versorgung pro-        Gesundheitsleistungen eingeführt. Sie      GP registrieren, allerdings können nicht
fitieren wird. Die Implementierung des       setzen sich aus Allgemeinme­di­zi­ne­      alle GPs einer CCG beitreten und nicht
HSCA öffnete Tür und Tor für Versiche-       r*innen (General Practitioner – GP),       alle Menschen haben effektiv die Mög-
rer auf risikostratifizierter Basis: Risi-   anderen Gesundheitsberufen, wie Pfle-      lichkeit, sich bei einem GP einzuschrei-
ken müssen identifizierbar und vorher-       gefachkräften und Laien einer Region       ben. Theoretisch ist jeder Mensch, der
sagbar sein, und sie müssen einem            zusammen. Sie sind Verwaltungsorga-        sich dauerhaft in Großbritannien auf-
Vertrag zugeordnet und übertragen            ne des NHS und für die Planung und         hält, berechtigt, primäre Gesundheits-
werden. Fragmentierte und extrem bü-         Beauftragung von Gesundheitsleistun-       versorgung in Anspruch zu nehmen.
rokratische Strukturen wurden so ein-        gen für die Menschen verantwortlich,       Praktisch werden einige Bevölkerungs-
geführt. Im alten Modell war die             die bei einem Mitglied des CCGs behan-     gruppen aber systematisch von der
Minister*in verantwortlich für das Ge-       delt werden (meist bei einem der GPs)      Versorgung ausgeschlossen wie z.B.
sundheitsministerium und für alle Ver-       oder in der Region leben, die von einer    Obdachlose oder Migrant*innen, weil
sicherten landesweit. In David Came-         bestimmten CCG abgedeckt wird und          sie u.a. keinen Nachweis ihres dauer-
rons (Premierminister von 2010-2016)         gleichzeitig in keiner anderen CCG ein-    haften Wohnsitzes erbringen können
neuer komplexer Wirtschaftsbürokratie        geschrieben sind. Die CCG erheben,         (dieser ist aber Voraussetzung für eine
hat die Minister*in zwar die ganze           planen und evaluieren die regionalen       Registrierung bei einem GP und somit
Macht, aber de facto keine Verantwor-        Gesundheitsbedarfe und vergeben Ver-       bei einer CCG – Anm. der Redaktion).
tung mehr.                                   träge für die Erbringung von Gesund-       Niemand ist mehr – wie früher – auto-
    Die interessanteste Erfindung des        heitsleistungen z.B. an Krankenhäuser,     matisch durch das Gesundheitssystem
HSCA sind die sogenannten Clinical           Rettungsstellen, Gemeindegesund-           abgesichert. Bürger können beispiels-
Commissioning Groups (CCGs): Sie             heitsdienste oder zunehmend auch           weise auch ausgeschlossen werden,
ersetzen die Primary Care Trusts             GPs. Sie verwalten einen großen Anteil     weil sie eine chronische Erkrankung
(PCTs), welche von der Labour-Partei         des gesamten Budgets des NHS und           haben, für die die CCGs die Behandlung
1997 implementiert wurden, um die            arbeiten unter wirtschaftlicher Konkur-    nicht länger bezahlen wollen – sie
Bereitstellung von primären und ge-          renz zueinander. Während früher alle       müssen dann selbst zahlen oder die
meindebasierten Gesundheitsleistun-          Menschen einer Region automatisch          Behandlung abbrechen. Entweder auf-

8 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019
grund ihres sozioökonomischen Status oder ihres Ge­sund­          Bezug auf den NHS nicht mehr vertraut werden könne. Das
heitszustandes können Bürger*innen heute also ggf. nicht          Gesetz war in jeder Hinsicht ein Fehlschlag: längere Warte-
berechtigt sein, einer CCG beizutreten.                           zeiten, schlechtere Qualität, höherer Ausfall von Leistungen,
    Die Versorgung wird zunehmend privatisiert. Wegen             weniger Personal und sinkende Arbeitszufriedenheit der
des Verlusts regionaler Eigenverantwortung sind regionale         Mitarbeiter*innen.
Bedarfe nicht mehr die entscheidende Größe der Entwicklun-           Verminderte staatliche Finanzierung des Gesundheitssys-
gen im Gesundheitssystem; kommerzielle Aktionäre haben            tems schuf in anderen Staaten, wie z.B. in Deutschland, einen
es jetzt vom Gesetzgeber übertragen bekommen zu entschei-         Raum, in welchem private Firmen erstarken konnten. Warum
den, wer welche Versorgung bekommt. Eine unübersichtliche         passierte das nicht in GB? Viele denken, dass die Aktivist*innen
Anzahl neuer Firmen (z.B. Bupa, McKenzie, Virgin u.v.m.)          eine Schlüsselrolle dabei spielten, den NHS zu schützen.
wurde immer mehr in die Versorgungsstrukturen mit einbe-             Es ist bemerkenswert, wie sehr die Öffentlichkeit seit 1983
zogen und ersetzen langsam das bisherige System. Nach             die Kernaufgabe und die Prinzipien des NHS unterstützt. Der
Schätzungen fließen Tag für Tag Millionen Pfund an NHS-Gel-       King’s Fund, der einflussreichste Think Tank in GB, versichert,
dern in die Taschen kommerzieller Firmen. Der HSCA ver-           dass private Firmen keine größere Rolle im Gesundheitssys-
pflichtet die CCGs dazu, jeden Vertrag über mehr als 615.278      tem spielen werden und dass es für alle Politiker*innen, die
Pfund auszuschreiben. Dies führte zu einer gewaltigen Zu-         das ändern wollten, politischer Selbstmord wäre. Akti­
nahme von NHS-Verträgen mit profitorientierten Firmen wie         vist*innen des NHS – inklusive Prof. Stephen Hawking – die
Virgin Care und Care UK . In den Jahren 2017-2018 floss ei-       Zivilgesellschaft, Patient*innenenorganisationen und Ange-
ne geschätzte Summe von 8,7 Milliarden Pfund vom NHS in           stellte im NHS bekämpften und bekämpfen den Privatisie-
die Taschen privater Anbieter.                                    rungsprozess.
    Effektivität ist das Mantra der Privatisierung. Die Pro-         Zeitungen wie der Guardian garantierten eine große me-
fitorientierung des Marktes war uns immer wieder eine War-        diale Aufmerksamkeit. Verschiedene Netzwerke wie »Members
nung vor der Privatisierung des Gesundheitssystems, zumal         of People’s Health Movement UK« und »Keep Our NHS Public«
es keinen Hinweis auf eine höhere Effektivität in der Privat-     arbeiteten gemeinsam an der Anti-Privatisierungs-Kampagne.
wirtschaft gibt. Wenn man Marktmechanismen zulässt, wird          Zweifellos wurde die Kampagne für andere Aktivist*innen
es im Gegenteil viel teurer. Dieser Widerspruchwurde deutlich,    weltweit ein Symbol an gesellschaftlicher Solidarität, um das
nachdem die Gesundheitsausgaben zwischen 1990 und 2012,           Gesundheitssystem gegen wirtschaftliche Interessen zu ver-
also nach dem Beginn von Privatisierungen durch die Labour-       teidigen. Nichtsdestotrotz darf die Wachsamkeit nicht nach-
Partei, drastisch stiegen. Neue Ineffektivitäten traten auf:      lassen: Wir alle müssen die Grundsätze des NHS immer wie-
Versicherungen, Rechnungen und Verwaltung, unnötige               der aufs Neue schützen, denn die Regierung wird erneute
Dienstleistungen. Während zuvor nur 6% der Ausgaben für           Privatisierungs-Versuche unternehmen.
die Verwaltung verwendet wurden, sind es heute mehr als
40%. Der Markt erzeugt auch neuen Druck: z.B. all die un-         Giulia Loffreda ist aktiv im Peoples Health Movement UK. Der eng-
                                                                  lische Originaltext mit Referenzen und Literatur ist über die Redak-
nötigen Dienstleistungen (und Beratungstätigkeiten), die
                                                                  tion zu beziehen. – Übersetzung aus dem Englischen: Eva Pelz
heute gebraucht werden, um Profitmöglichkeiten zu eruieren.

„„Die Rolle der Aktivist*innen                                    Genaueres hierzu findet sich immer noch in der Ausga-
                                                                  be 2/2014 von Gesundheit braucht Politik, das sich
Der NHS ist so etwas wie das Herzstück des britischen Nati-       dem Thema NHS und den Privatisierungsversuchen ge-
onalismus; sogar die Brexit-Befürworter benutzten es, um          widmet hatte (komplett auf der Homepage verfügbar).
Emotionen zu schüren (das Versprechen, durch den Brexit
würden 350 Mio. Pfund/Woche für den NHS frei, war einer der
Grundpfeiler der Pro-Brexit-Kampagne; es wird inzwischen
als vorsätzliche Lüge betrachtet). Der Brexit spielt auch eine
große Rolle in der gesellschaftlichen Mobilisierung, die gegen-
wärtig in Großbritannien stattfindet. Es wird davon ausgegan-
gen, dass der Personalmangel schlimmer und die Wartezeiten
sich verlängern werden und dass die Streichung von Geldern
Probleme bei der Versorgung mit Arzneimitteln aufwerfen
wird. Die Armut, die wichtigste soziale Determinante von
schlechter Gesundheit, wird ansteigen.
   Gesundheitsprofessionelle bleiben die wichtigsten Verbün-
deten des NHS. Sie wurden aufgefordert, die öffentliche Kam-
pagne »Keep Our NHS Public« zu unterstützen, auch aus
Angst, dass durch all die amerikanischen Versicherungsfirmen
das amerikanische Modell in GB eingeführt werden könnte.
Es kam zu einer wirklichen gesellschaftlichen Mobilisierung.
Anhänger der Kampagne begutachteten das Gesetz (HSCA)
von 2012 und kamen zu dem Schluss, dass der Regierung in                  ©Flickr_Molly Adams

                                        Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019 | 9
Keep Our NHS Public
John Puntis über den Kampf für einen öffentlichen NHS im Jahr 2018
Keep Our NHS Public (KONP)1 ist eine landesweite aktivistische Organisation, die für eine öffentliche,
aus Steuern finanzierte und bei Inanspruchnahme kostenfreie Gesundheitsversorgung eintritt. KONP
wendet sich gegen die Privatisierung des NHS (National Health Service) und gegen Kürzungen in öf-
fentlichen Einrichtungen, die durch die neoliberale Regierungspolitik vorangetrieben werden.

I
     m Jahr 2018 war das 70. Jubiläum       Zugangsberechtigung überprüfen,            iatrie aufgeklärt. Eine Entscheidung,
     des NHS und ein intensives Jahr        150% der Behandlungskosten verlan-         die Finanzierung in diesem Bereich um
     für unsere mehr als 70 Gruppen.        gen und diejenigen, die nicht zahlen       150.000 £ zu kürzen, wurde zurückge-
Die Webseite und der Newsletter von         können, dem Innenministerium mel-          nommen.
KONP und die Zeitung Health Cam-            den. Dass die Verwaltungskosten dieser
paigns Together (HCT)2 bestärkt unse-       neuen bürokratischen Hürden die so         Arbeit mit Gewerkschaften
re Mitglieder darin, kritische Fragen an    generierten Einnahmen übersteigen,         Kürzungen und Austerität untergraben
die Regierung, Leistungsanbieter, ser-      weist auf die Absicht der Regierung hin,   die Gesundheitsversorgung, die sozia-
vice commisioners (Planungs- und Eva-       in größerem Umfang Gebühren für die        len Dienste und die Bildungsmöglich-
luationsorgane im NHS, Anm. d. Ü.) etc.     Versorgung im NHS zu erheben. KONP         keiten von Gewerkschaftsmitgliedern
zu richten. Während des letzten Jahres      begann eine Kampagne, die sich sowohl      und ihren Familien. Neun landesweite
haben wir im ganzen Land aufgeklärt,        gegen die Gebühren als auch gegen das      Gewerkschaften haben sich HCT (2016
demonstriert, Flugblätter verteilt, Peti-   entstehende migrantenfeindliche Klima      von KONP gegründet) angeschlossen
tionen erstellt, Veranstaltungen und        richtete. In einem Krankenhaus (Lewis-     und gemeinsam mit KONP und der
Kundgebungen abgehalten und vor             ham & Greenwhich) wurden bei 541           People’s Assembly3 zum 70. Geburtstag
dem Health Select Commitee (Komitee,        von ca. 9.000 jährlichen Geburten Ge-      des NHS eine riesige Demonstration in
das das Handeln des Gesundheitsmi-          bühren erhoben und bei weiteren 1.100      London organisiert. Daraus hervor ging
nisteriums beobachtet und überprüft,        wurde die Anspruchsberechtigung            eine Abmachung zwischen HCT, KONP
Anm. d. Ü.) im Parlament gesprochen.        überprüft. Solche Gebühren halten          und dem Trades Union Congress (TUC)
                                            Migrant*innen davon ab, medizinische       zusammen zu arbeiten bezüglich Whol-
„„Themen in 2018                            Hilfe in Anspruch zu nehmen und wur-       ly Owned Subsidiary Companies (von
                                            den nun von eine Vielzahl von medizi-      manchen Krankenhäusern zur Steuer-
Rassismus                                   nischen Fachgesellschaften (Medical        vermeidung genutzt, indem Angestell-
Der »Windrush-Skandal« betraf Im­mi­        Royal Colleges) verurteilt.                te aus dem NHS und der staatlichen
grant*innen von den Westindies, die in                                                 Anstellung und somit aus den Tarifver-
den späten 1940er Jahren zum Arbei-         Psychische Gesundheit                      einbarungen des öffentlichen Dienstes
ten nach Großbritannien gebracht wor-       Im Verlauf der letzten zehn Jahre wur-     herausgenommen werden) und psychi-
den waren, und verdeutlichte, wie un-       den die Stellen für Pflegekräfte in der    scher Gesundheit. (…)
trennbar die Themen Vorurteile und          Psychiatrie um 3.800 und die Betten
Vulnerabilität mit dem Zugang zur Ge-       in psychiatrischen Abteilungen um          Gesetzesinitiativen zur
sundheitsversorgung verbunden sind.         8.100 gekürzt, während sich die Sui-       Wiederherstellung des NHS
Obwohl diese Immigrant*innen seit           zidrate unter jungen Frauen verdoppelt     Die Labour-Abgeordnete Eleanor Smith
Jahren in Großbritannien ansässig sind,     hat. Im Februar wurde der Stadtrat von     unterstützte einen Gesetzentwurf der
wurde einigen mit Abschiebung gedroht       Lewisham durch Kinder, Eltern, Be-         die gesetzlichen Grundlagen enthielt,
und anderen gesagt, sie müssten nun         schäftigte, Parlamentsabgeordnete, Jon     um den NHS zurückzuerobern. Ein
für die Behandlung zahlen. Ein öffent-      Ashworth (Schattenministerfür Gesund-      wichtiger Meilenstein war eine Diskus-
licher Aufschrei zwang die Innenminis-      heit der Labour Party) und KONP-           sion im Juli zwischen Labour-Mitglie-
terin Amber Rudd zum Rücktritt; sie         Aktivist*innen, die Stadtratsmitglieder,   dern (Allyson Pollock, Peter Roderick)
wurde zum Sündenbock für die Ab-            das scrutiny panel (Ausschuss, der die     und führenden Aktivist*innen von
schreckungspolitik von Premierminis-        Handlungen der Stadtregierung über-        KONP, HCT und der Socialist Health As-
terin Theresa May.                          wacht) und Parlamentsabgeordnete auf       sociation4. Das Ergebnis war die Zusi-
    Die Behandlung im NHS war für aus-      die Anhörung vorbereitet, sie hatten       cherung der Labour Party, in Zusam-
ländische Patient*innen immer kosten-       über die Gefahren von Kürzungen im         menarbeit mit Aktivist*innen eine
frei; nun müssen Krankenhäuser die          Bereich der Kinder- und Jugendpsych-       Gesetzgebung vorzubereiten, die in ein

10 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019
neu gewähltes Parlament eingebracht wird. KONP organisier-
te eine das Gesetz unterstützende Demonstration außerhalb

                                                                  ©Garry KnightCC0 1.0
des Parlaments und hatte 34.000 Unterschriften für einen
Petition gegen eine private Anbieterstruktur. Jon Ashworth
schrieb für die Zeitung von HCT und versicherte öffentlich,
die Privatisierung zu beenden, das NHS wieder zu einem
staatlich finanzierten und angebotenen Versorger zu machen
und damit die Grundprinzipien seines Gründers Aneurin Bevan
wieder einzusetzen.

Brexit
Die Mitglieder und Unterstützer*innen von KONP haben keine
einheitliche Meinung über den Brexit. Aus diesem Grund ha-
ben wir als Organisation bezüglich dieses Themas keinen
Standpunkt, aber haben versucht, die Folgen für die gesund-
heitliche und soziale Versorgung zu verstehen. Jahrzehntelang
hat der NHS Arbeitskräfte aus dem Ausland angeworben, um                           kehren, was das NHS jährlich ungefähr 0,5 Mrd. £ kosten
die durch die einheimische Bevölkerung offen gelassenen Lü-                        würde.
cken zu füllen. In den letzten Jahren hat sich der Anteil der                          Das Gesamtbild des NHS und der sozialen Dienste nach
Beschäftigten im NHS und den sozialen Diensten, die von                            dem Brexit zeigt eine höhere Anzahl älterer Menschen, immer
außerhalb der EU kommen, verringert. Das liegt an den                              weniger im Arbeitsalter, die zum Steueraufkommen beitragen
schärferen Bedingungen für die nötigen Visa: man muss ein                          und ernsthafte Besetzungsprobleme, was eine Erleichterung
Einkommen vorweisen können, welches das übliche Gehalt                             der scharfen Immigrationspolitik und eine Erhöhung der Be-
dieser Berufsgruppen übersteigt. Der Anteil der Klinikbeschäf-                     schäftigungskosten nach sich ziehen wird. Der Handel mit
tigen, die aus dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR)                              Medikamenten und Material wird wahrscheinlich negativ be-
stammen, ist gestiegen. In den sozialen Diensten ist die Zahl                      einflusst werden und der Zugang zu wissenschaftlichen För-
gestiegen, sodass nun 95.000 der 1,34 Mio. Beschäftigen in                         dermitteln erschwert. Das Office of Budget Responsibility (von
diesen Bereich aus dem EWR kommen.                                                 der Regierung ins Leben gerufene öffentliche Stelle, die un-
    Es wird geschätzt, dass es, alle Arbeitsbereiche des NHS                       abhängige Analysen der öffentlichen Finanzen erstellt, Anm.
zusammengenommen, 110.000 zu besetzende Stellen gibt.                              d.Ü) vermutet, dass die Wirtschaft Großbritanniens nach dem
Großbritannien bildet nicht genug Ärzt*innen für seinen ei-                        Brexit zumindest anfangs ein geringeres Wachstum als ihre
genen Bedarf aus. Es gab zwar eine leichte Zunahme der                             Nachbarn haben wird. Die sogenannte »Brexit dividend«
Studienplätze, es wird aber noch lange dauern, bis sich das                        (Geld, das sich aufgrund der wegfallenden Zahlungen an die
bemerkbar machen wird. Untersuchungen bezüglich der Stim-                          EU ergeben soll, Anm. d. Ü.), die von Brexit-Befürworter*innen
mung und der Absicht von Ärzt*innen aus dem EWR, Groß-                             als Finanzierungsquelle für das NHS vorgeschlagen wird, ist
britannien zu verlassen, weisen darauf hin, dass das Risiko                        illusorisch. Ein sinkendes Wirtschaftswachstum und ein Rück-
der Abwanderung wächst, was weitreichende Besetzungspro-                           gang an Steuereinnahmen bedeuten weniger Geld für die
bleme zur Folge hätte. Neu angeworbene Arbeitskräfte werden                        öffentlichen Dienste. Die unmittelbaren negativen Folgen des
am wahrscheinlichsten aus Asien oder Afrika kommen, oft                            Brexit, insbesondere wenn es keinen Deal gibt, könnten eine
aus armen Ländern, die es sich nicht erlauben können, ihre                         gestärkte Lobby hervorbringen, die sich im Gegenzug zum
Ärzt*innen zu verlieren. Eine Anwerbung ausländischer Fach-                        Zugang zu Handelsräumen für andere Industrien für den Aus-
kräfte im Bereich der Pflege und bei Hebammen findet schon                         verkauf des NHS einsetzt. Obwohl es schwierig ist, die weiter
lange statt, obwohl dieser Sektor gegenüber dem ärztlichen                         entfernt liegende Zukunft vorherzusagen, führt ein Abwägen
Bereich bezüglich Mindesteinkommen und Arbeitserlaubnis                            der möglichen Kosten und Vorteile des Brexit in Bezug auf
stärker reglementiert ist und es hat hier in den letzten Jahren                    den NHS und die sozialen Dienste zur Vermutung, dass das
einen Rückgang gegeben.                                                            Resultat ein insgesamt negativer Effekt sein wird, der eine
    Nach dem Brexit-Referendum wurde ein Rückgang der Be-                          weitere Herausforderung für die darstellt, die sich für eine
werbungen bei Pflege und Hebammen um 96% verzeichnet.                              qualitativ hochwertige öffentliche Daseinsvorsorge einsetzen.
Im NHS sind zur Zeit 11,8% der Stellen in der Pflege nicht                         John Puntis ist Secretary bei KONP. Der, hier leicht gekürzte, engli-
besetzt, was die Regierung dazu brachte, außerhalb des EWR                         sche Originaltext ist über die Redaktion zu beziehen – Übersetzung
auf die Suche zu gehen. Vielen anderen spezialisierten wis-                        aus dem Englischen: Felix Ahls
senschaftlichen Gesundheitsberufen wurden Ausnahmen bei
                                                                                   1 https://keepournhspublic.com/
der Immigrationskontrolle gewährt.
                                                                                   2 https://www.healthcampaignstogether.com/
    Zum 1. Januar 2017 waren 784.900 britische Staats­bür­                         3 Die People’s Assembly Against Austerity ist eine 2013 gegründe-
ger*innen als im EU-Ausland lebend registriert, davon knapp                          te Inititative, die von verschiedenen politischen und zivilgesell-
unter 300.000 in Spanien, von denen wiederum ca. 120.000                             schaftlichen Akteuren getragen wird, Anm. d. Ü.
                                                                                   4 Seit 1930 bestehende mit der Labour Party verbundene Organi-
über 65 Jahre alt waren. Sie bekommen zur Zeit eine kosten-
                                                                                     sation, die sich für einen kostenfrei zugänglichen, staatlichen NHS
freie Gesundheitsversorgung, aber wenn dieser Zugang weg-                            und eine sozialistische Transformation der Gesellschaft einsetzt,
fällt, könnte eine große Anzahl nach Großbritannien zurück-                          Anm. d. Ü.

                                       Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019 | 11
Recht so?!
Wilfried Leisch zur Zerschlagung der solidarischen Sozialversicherung in Österreich

Die österreichische Regierung aus Rechtsradikalen und Konservativen setzt sich mit den Sozialversi-
cherungs-»Reformen« an die Speerspitze der marktförmigen Umgestaltung solidarischer Sicherungs-
systeme. Unternehmen werden auf Kosten der Arbeiter*innen entlastet, die Sozialversicherung wird
defizitärer, Selbstbeteiligungen, Personalabbau und Privatisierungen folgen.

I
      m Jahr 2018 zog die Schwarz             Drittel der rund 28.000 SV-Beschäftig-       „„Entmachtung und Enteignung
      (Türkis)-Blaue Regierung Öster-         ten in den nächsten zehn Jahren »ein-          der arbeitenden Menschen
      reichs die Entmachtung und Ent-         sparen« will. Weniger Beschäftigte be-
eignung der sieben Millionen Arbeiter-        deutet aber weniger Leistung.                Die Kasse der Beamten bleibt bestehen,
und Angestelltenversicherten 1 im                Bald war klar: Die Zusammenlegung         die der Selbständigen und Bauern wer-
Interesse der Wirtschaft durch. Ab Ap-        der Gebietskrankenkassen (GKKs) kos-         den zusammengelegt. Die hohen und
ril 2019 diktiert ein Überleitungsaus-        tet 1,1 bis 1,5 Milliarden, die Arbeiter-    höheren Leistungen von Beamten,
schuss die Umsetzung, ab 2020 tritt die       kammer (AK), die gesetzliche Interes-        Selbständigen sowie Bauern bleiben
neue Struktur in Kraft. Schon im Vor-         senvertretung der Arbeiter*innen und         bestehen und sie dürfen in ihren Kas-
blatt zum Sozialversicherungs-Organi-         Angestellten in Österreich, berechnete       sen auch weiter selbst darüber bestim-
sationsgesetz (SV-OG) steht, worum es         Kosten von 2,1 Mrd. Euro (»Belas-            men, wieviel wofür ausgegeben wird.
letztlich geht: »Private Anbieter von         tungsmilliarde«) für die von ÖVP und         Im Gegensatz dazu wird die SV der Ar-
Gesundheitsdiensten« sollen gefördert         FPÖ geplante Kassen-»Reform«.                beiter*innen und Angestellten (GKKs)
werden.                                          Mit der Zentralisierung der GKKs zur      in die ÖGK zentralisiert, die Leistungen
    Derzeit ist die solidarische, nicht auf   »Österreichischen Gesundheitskasse«          aber nicht harmonisiert, d.h. nicht an
Gewinn orientierte Sozialversicherung         (ÖGK) erfolgt keine Verkleinerung der        die höheren Leistungen der Beamten,
(SV) nicht teuer, hat bloß knapp 3%           Struktur – neun Landesstellen statt          Selbständigen und Bauern angehoben.
Verwaltungskosten, 97% der SV-Gelder          neun GKKs – aber die Gelder gehen an            Weiters sollen in Zukunft nicht mehr
fließen also zurück an die Versicherten.      die ÖGK, die die Budget- und Personal-       die Arbeiter- und Angestell­ten­ver­tre­
Private, auf Gewinn ausgerichtete Ver-        hoheit hat. Das ist die Zerstörung der       ter*innen über die Versicherungsgelder
sicherungskonzerne haben »Verwal-             regionalen Gesundheitsversorgung mit         der arbeitenden Menschen bestimmen,
tungskosten« von bis zu 30%, also flie-       massiven negativen Auswirkungen be-          sondern zu 50% die Unterneh­mer­ver­
ßen nur 70% an die Versicherten               sonders im ländlichen Raum und führt         treter*innen, die dort gar nicht versi-
zurück. Also wie dorthin kommen, dass         zu einer Verteuerung, weil es u.a. län-      chert sind. Mit regierungsnahen
die SV »schlecht« ist, »teuer« ist und        gere Entscheidungswege und höheren           Arbeitnehmervertreter*innen (ÖAAB,
deshalb »reformiert« (privatisiert) wer-      bürokratische Aufwand mit sich bringt.       FCG, AUF) haben die Unter­neh­me­
den muss?
    Um die Notwendigkeit einer »Re-           Machtverschiebung zu den Unternehmern in der SV, insbesondere in den Kassen
form« des Gesundheitssystems in der           der Arbeiter und Angestellten (GKKs/ÖGK, PVA)
Öffentlichkeit zu platzieren, behaupte-
te die Regierung, dass die SV-Funk­            bis zum Jahr 2001     Derzeit                           Künftig
tionär*innen so teuer seien, dass man          Hauptverband          Hauptverband der SV               Dachverband
bei ihnen eine Milliarde Euro einsparen
                                                                                      A + A 85% der Versicherten
könnte (»Funktionärsmilliarde«), die
dann den Patient*innen (»Patienten-            AV in Mehrheit        6 AV : 6 UV (50% : 50%)           4 AV : 6 UV (40% : 60%)
milliarde«) zugutekäme. Tatsache ist:          GKKs                  Krankenversicherung/GKKs          ÖGK
Für alle 970 aktive Funktionär*innen –
                                                                                     A + A 100% der Versicherten
sie erhalten 42,- Euro pro Sitzung –
werden in Summe bloß 5,7 Millionen             AV in Mehrheit        4 AV : 1 UV (80% : 20%)           6 AV : 6 UV (50% : 50%)
Euro inkl. aller Nebenkosten aufgewen-         PVA                   Pensionsversicherung (PVA)
det. Das sind 0,009% des SV-Gesamt-
                                                                                     A + A 100% der Versicherten
budgets von 61,7 Milliarden Euro. Wie
kommt dann die Regierung auf eine              AV in Mehrheit        2 AV : 1 UV (66,65% : 33,35%) 6 AV : 6 UV (50% : 50%)
Milliarde »Einsparung«? Weil sie ein          AV = Arbeiter- bzw. Angestelltenvertreter, UV = Unternehmervertreter

12 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019
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