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Gesundheit verein demokratischer ärztinnen und Politik ärzte braucht Zeitschrift für eine soziale Medizin Nr. 1/2019 | Solibeitrag: 5 Euro Ökonomisierung und Privatisierung International
3 Editorial Inhalt 4 Göran Dahlgren: Glaubenssätze, Wunschdenken und kommerzielle Interessen. Die Auswirkungen von Der vdää ist bundesweit organisiert; er setzt sich für eine soziale Medi- marktorientierten Gesundheitsreformen in Schweden zin, für die Demokratisierung der 6 Nadja Rakowitz: Schluss mit Tango. Finnische Regierung Gesundheitsversorgung und der tritt wegen Scheitern an Gesundheitsreform zurück Strukturen der ärztlichen Stan- 7 Giulia Loffreda: Wie der National Health Service desvertretung ein. Er nimmt Ein- fluss auf die Gesundheitspolitik privatisiert wurde - Und wie Aktivist*innen ihn retteten und unterstützt den Widerstand 10 John Puntis: Keep Our NHS Public. Der Kampf für einen gegen die Ökonomisierung der öffentlichen NHS im Jahr 2018 Medizin. 12 Wilfried Leisch: Recht so?! Die Zerschlagung der Sollten Sie von uns informiert werden wollen, so setzen Sie sich solidarischen Sozialversicherung in Österreich bitte mit unserer Geschäftsstelle 15 Andreas Xanthos / Panos Papadopoulos: Soziale in Verbindung. Gerne können Sie Reformen gegen den autoritären Neoliberalismus. Die sich auch online über den vdää- Gesundheitspolitik der SYRIZA-Regierung Newsletter auf dem Laufenden halten. Die Zeitschrift »Gesund- 19 Eckardt Johanning: National Medicare-for-all. heit braucht Politik« ist die Ver- Mehrheit der US-Bürger*innen für eine Nationale einszeitung, die viermal jährlich Krankenversicherung – aber wie?! erscheint. Namentlich gekenn- 22 Aktiv werden im vdää. Arbeitskreise, Redaktion der zeichnete Artikel geben nicht un- bedingt die Vereinsmeinung wie- Zeitschrift und Regionalgruppen der. 24 Herzlichen Glückwunsch, Uli! Zum 80. Geburtstag von Hans Ulrich Deppe Redaktion 26 Peter Hoffmann: Rettet die Pflege! Das Volksbegehren Felix Ahls, Elena Beier, Kai-Uwe bleibt unverzichtbar gegen den Pflegenotstand Helmers, Thomas Kunkel, Marei- ke Ledigen, Eva Pelz, Nadja Ra- 29 Andreas Wulf: Gefährdet statt gefährdend. Wie Migration kowitz, Ben Wachtler, Bernhard und Flucht mit Gesundheit zusammenhängen – und wie Winter nicht 31 Klug, geduldig, freundlich. Nachruf auf Klaus Stegmüller Impressum Gesundheit braucht Politik 1/2019 ISSN 2194-0258 Liebe vdää-Mitglieder, Hrsg. vom Verein demokratischer Kommunikation ist einfacher per Email als per Post. Wir haben aber noch im- Ärztinnen und Ärzte mer nicht die Emailadressen von allen Mitgliedern. Wenn Ihr uns Eure Mailad- V.i.S.d.P. Thomas Kunkel / resse noch nicht gegeben habt oder wenn Ihr eine neue Mailadresse habt, gebt Bernhard Winter Sie uns bitte. Gleiches gilt für die Postadresse und die Bankverbindung, falls Ihr uns eine Ein- Bilder dieser Ausgabe zugsermächtigung gegeben habt. Es erspart uns Bürokratie, wenn wir das Gewerkschaft der Privatangestell- rechtzeitig von Euch bekommen. ten, Druck, Journalismus, Papier Bei der Gelegenheit möchten wir auch daran erinnern, Euren Vereinsbeitrag an Österreich; Photo by Gunnar Eure evtl. neue berufliche Situation anzupassen. Lindholm; Flickr; Unsplash Herzliche Grüße aus der Geschäftsstelle Geschäftsstelle: Kantstraße 10, 63477 Maintal 30.03.2019 AK Ambulante Versorgung in Hamburg Termine Telefon 0 61 81 – 43 23 48 13.04.2019 Sitzung des erweiterten Vorstands Mobil 01 72 – 1 85 80 23 Frankfurt, 11-17 Uhr Fax 0 61 81 – 49 19 35 28.-31.05.2019 DÄT, Münster Email info@vdaeae.de 05./06.06.2019 Gesundheitsministerkonferenz Leipzig Internet www.vdaeae.de (zentrale Demo des Bündnis KsF, pressewirksame Bankverbindung: Aktionen, »Gegengipfel«/Aktionskonferenz ver.di, Postbank Frankfurt AK Psychiatrie, Bündnis KH statt Fabrik) IBAN: DE97500100600013747603 27.07.2019 Sitzung des erweiterten Vorstands BIC: PBNKDEFFXXX Erfurt, 11-17 Uhr Satz/Layout Birgit Letsch 17.08.2019 Treffen des AK KH in Kassel, 11-17 Uhr Druck Druckerei Grube 15.-17.11.2019 JHV in Göttingen 2 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019
zusammen. Viele der auch unter Linken verbreiteten Hoffnun- gen, die mit dem Regierungsantritt von Syriza verbunden Editorial waren, haben sich leider nicht bewahrheitet. Anders im Ge- sundheitswesen: Hier ist es gelungen, die Millionen Menschen ohne Zugang zum Gesundheitssystem wieder hereinzuholen. Und nicht nur das. Andreas Xanthos und Panos Papadopoulos geben uns einen – dennoch nicht nur optimistischen – Über- »Die Gesundheitsbewegung wendet sich gegen blick über die Gesundheitspolitik der Syriza-Regierung seit 2015. soziale Ungleichheit und kommerzielle Interessen Im internationalen Kontext stellt Andreas Wulf dar, wie im Gesundheitswesen. Sie geht davon aus, dass bzw. wie nicht Migration und Flucht mit Gesundheit zusam- Kranke in der Stunde der Not ein Recht auf gleiche menhängen. Peter Hoffmann lenkt den Blick wieder vor die eigene Haustür: In Bayern ist der vdää Teil eines Bündnisses, Versorgung haben und dass das Geschäft mit der das sich für ein Volksbegehren gegen den Pflegenotstand ein- Krankheit einzustellen ist: Die Privatisierung setzt. Nach Berlin und Hamburg das erste Flächenbundesland, in dem eine solche Initiative die Situation in der Pflege ver- wird deshalb grundsätzlich abgelehnt.« bessern helfen soll. Peter Hoffmann erläutert die Auswirkun- (Hans Ulrich Deppe) gen und Hintergründe des Pflegepersonalstärkungsgesetzes und der Pflegepersonaluntergrenzen. Nicht nur bei den Volksbegehren kann man aktiv werden, Dies ist ein Zitat aus Eröffnungsrede von Uli Deppe bei der auch im vdää. Auf der letzten JHV wurde mehrfach der Gründung des vdää. Uli Deppe gratulieren wir in diesem Heft Wunsch an uns herangetragen, diese Möglichkeiten transpa- ganz herzlich zum 80. Geburtstag. Die Aussagen des Zitats renter darzustellen. Dem möchten wir in diesem Heft mit der sind unverändert aktuell. Darstellung der Regionalgruppen und der Arbeitskreise nach- kommen. In der nächsten Ausgabe werden sich die Listen in Nachdem wir in der letzten Ausgabe (s. GbP 04/2018) den den Ärztekammern vorstellen. Schwerpunkt Ökonomisierung und Privatisierung des Gesund- In den letzten Monaten hat sich bereits die Redaktion deut- heitswesens in der BRD hatten, soll die vorliegende Ausgabe lich vergrößert und verjüngt. Obwohl diese Gruppe in dieser einen internationalistischen Blick auf die Entwicklungen in Zusammensetzung erst seit kurzem zusammen arbeitet, ge- anderen europäischen Ländern werfen. Wie auch hierzulande lang die Gestaltung dieser Ausgabe in einer sehr entspannten wird andernorts ebenfalls die Erfahrung gemacht, dass Pri- und angenehmen Atmosphäre, die allen Beteiligten Spaß ge- vatisierungen im Gesundheitswesen primär einerseits die macht hat. Wir hoffen dieser Spaß überträgt sich auch auf die Ökonomisierung antreiben und vice versa, dass dies anderer- Leser*innen. seits der Umverteilung von öffentlichen Geldern zu privaten, Die Redaktion profitorientierten Akteuren dient. Giulia Loffreda aus dem Peoples‘ Health Movement be- trachtet für uns dazu den Stand der politischen Auseinander- setzung in England, ebenso wie John Puntis, ein Aktivist der Initiative »Keep Our NHS Public«, mit der wir seit »vdää on »Gesundheit braucht Politik – tour« nach London im Jahr 2014 solidarisch verbunden sind. Zeitschrift für eine soziale Medizin« – Göran Dahlgren kritisiert die gesundheitspolitischen Entwick- im Abonnement lungen in Schweden, wo durch einen euphemistisch betitelten Gesetzentwurf drastische Verschlechterungen in weiten Be- Die Zeitschrift des vdää ist inhaltlich längst mehr als eine reichen der ambulanten Versorgung implementiert wurden. reine Vereinszeitschrift. Wir machen vier Themenhefte Nadja Rakowitz berichtet über politische Verwerfungen in pro Jahr zu aktuellen gesundheitspolitischen Problemen, Finnland. Dort musste die seit 2015 regierende rechtskon- die sich hinter anderen gesundheitspolitischen Zeitschrif- servative Regierung aufgrund der versuchten Einführung von ten im deutschsprachigen Raum nicht verstecken müssen. marktliberalen Prinzipien in den öffentlichen Gesundheitssek- Vereinsmitglieder bekommen die Zeitschrift kostenfrei tor auf Druck der Opposition zurücktreten. Werner Leischs zugesandt. Beitrag über die Gesundheitspolitik der rechtsradikalen Wer nicht Vereinsmitglied ist, hat die Möglichkeit, die schwarz-blauen Regierung in Österreich gibt einen kritischen »Zeitschrift für eine soziale Medizin« zum Preis von 26 Vorgeschmack auf die unsoziale Politik, die von Parteien des Euro oder als Studentin oder Student für 10 Euro im Jahr rechten Rands zu erwarten ist. Eine der ersten Amtshandlun- zu abonnieren. gen von US-Präsident Trump war ein Angriff auf Obamacare. Ein Probeabo besteht aus zwei Ausgaben und kostet eben- Breite Teile der Bevölkerung setzen sich dagegen zur Wehr. falls 10 Euro. Eckhardt Johanning, der in New York lebt, erläutert die Hin- tergründe. Bei Interesse wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstel- Der vdää arbeitet seit vielen Jahren solidarisch mit le:info@vdaeae.de Aktivist*innen und Gesundheitsarbeiter*innen in Griechenland Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019 | 3
Glaubenssätze, Wunschdenken und kommerzielle Interessen auch in Schweden wird die Gesundheitsversorgung kommerzialisiert Göran Dahlgren erklärt die marktorientierten Gesundheitsreformen in Schweden, beschreibt die Aus- wirkungen auf den Zugang und die Qualität der Gesundheitsversorgung und benennt die Gewinner und Verlierer dieser Umgestaltung. 1. Zwei große neoliberale Reformen wohl dies nie öffentlich als Zielvorgabe beschlossen und kommuniziert wurde. Die Gesundheitspolitik der letzten Jahre in Schweden war ge- Die abzusehenden Auswirkungen dieser beiden Reformen prägt von neoliberalen marktorientierten Reformen, die ins- wurden im Vorfeld ihrer Implementierung nie analysiert. Sie besondere die Primärversorgung betrafen. Was passierte – waren – und sind weiterhin – angetrieben durch neoliberale und immer noch stattfindet –, ist eine schrittweise und konservative ideologische Glaubenssätze, Wunschdenken Transformation der primären Versorgung in ein mehr und und starke kommerzielle Interessen. Die Sozialdemokraten mehr privatisiertes und profitorientiertes System. Die folgen- haben diese Reformen widerwillig akzeptiert, während die den beiden Reformen waren die zentralen Vehikel für diese linke Partei dagegen opponiert. Transformation dar: Die realen Auswirkungen dieser Reformen wurden nun – Das »Gesetz über die freie Wahl des Versorgungs- fast zehn Jahre nachdem das »Gesetz über die freie Wahl« system« (»Lagen om vårdvalssystem«) wurde 2010 vom ratifiziert wurde – durch mehrere nationale Behörden und Parlament verabschiedet. Das Gesetz sieht vor, dass alle pri- Forschungsgruppen analysiert und ausgewertet. Besonderes vaten, profitorientierten Anbieter, die bestimmte Kriterien Interesse galt dabei den Auswirkungen auf die Primärversor- erfüllen, in der öffentlichen Finanzierung bevorzugt werden. gung. Einige zentrale Ergebnisse dieser Analysen sollen hier Diesen kommerziellen Anbietern wird darin auch das Recht kurz dargestellt werden. eingeräumt, ihre steuerfinanzierten Gesundheitsleistungen an jenen Orten anzubieten, wo es für sie am profitabelsten 2. Inanspruchnahme der Primärversorgung erscheint. Der unterschiedliche Bedarf in den verschiedenen Regionen wird nicht berücksichtigt. Die für das Gesundheits- Wachsende Kluft zwischen Stadt und ländlichen Regionen: wesen zuständigen Landräte (schwed. »Landstings«) können Die Anzahl der steuerfinanzierten Gesundheitszentren stieg weder über die Anzahl noch den Ort jener Praxen mitbestim- zwischen 2010 und 2012 um 20 Prozent, seitdem jedoch wur- men, die sie aber mit Steuergeldern finanzieren. Obwohl der den jährlich nur noch wenige neue Zentren eingerichtet (2). Name des Gesetzes die freie Wahl suggeriert, hat es keiner- Fast alle dieser neuen Gesundheitszentren waren private, lei Einfluss auf das Arzt- bzw. Versorgungswahlrecht der Be- profitorientierte Anbieter, die häufig im Besitz internationaler völkerung. Kapitalinvestoren sind. Der Grund für die irreführende Namensgebung des Geset- 82% dieser steuerfinanzierten neuen Gesundheitszentren zes war der Umstand, dass die Menschen in Schweden in befinden sich in städtischen Regionen mit ohnehin schon ganz Umfragen zwar eine freie Arztwahl bevorzugten, aber gleich- guten Zugangsmöglichkeiten zur Gesundheitsversorgung (2). zeitig sehr kritisch gegenüber einer Steuerfinanzierung von Dies kann nur teilweise durch die Urbanisierung erklärt wer- privater, profitorientierter Gesundheitsversorgung eingestellt waren. Dementsprechend sollte die »Wahlfreiheit« im Titel des Gesetzes verschleiern, dass der eigentliche Zweck in der »Stärkung der Privatisierung« besteht. »Neue öffentliche Verwaltung« (New public ma- nagement, NPM) nennt sich die zweite große Reform. NPM ©Gunnar Lindholm zwingt die öffentlichen Gesundheitseinrichtungen, sich fast genauso zu verhalten wie die privaten, profitorientierten An- bieter. Die öffentlichen Akteure müssen ihre Arbeit finanzie- ren, indem sie ihre Leistungen auf einem umkämpften Markt anbieten. Kostendeckende Erlöse wurden somit zu einem wichtigen Ziel für öffentliche Gesundheitseinrichtungen, ob- 4 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019
Protestaktion am 12.12.18 vor der Wiener Gebietskrankenkasse – Foto: GPA/djp den. Fast keine neuen Versorgungszentren wurden in ländli- gelitten. Während im Jahr 2012 noch 40% der Allgemeinme chen, unterversorgten Gebieten eingerichtet. Von dem Teil diziner*innen bejahten, dass das Gesundheitssystem gut der Bevölkerung, der zuvor bereits weit weg von einem Ge- funktioniere, waren es im Jahr 2014 nur noch 19% (7). sundheitszentrum lebte, muss seit der »Wahlfreiheitsreform« Die marktorientierten Reformen haben die Versorgungs- eine viertel Million Menschen noch weiter fahren, um versorgt qualität nicht verbessert: Die Qualität des schwedischen Pri- zu werden. Typischerweise betrifft das vor allem Menschen märversorgungssystems ist im Vergleich zu vielen anderen mit niedrigem Einkommen und einem erhöhten Bedarf von westeuropäischen Ländern verhältnismäßig schlecht. Nur 64% medizinischer Versorgung (3). der Patient*innen haben eine Hausärzt*in. Die Entwicklung Die wachsende Kluft zwischen Stadtteilen mit hohen und seit 2010 ist ebenfalls negativ, wenn man den zunehmenden niedrigen Einkommen: Innerhalb der städtischen Regionen Grad der Fragmentierung im Gesundheitswesen betrachtet wurden die meisten der neuen privaten Gesundheitszentren (8), z.B. was die die Kooperation zwischen den Allgemein in ökonomisch bessergestellten Gegenden eröffnet. Eine Stu- mediziner*innen und anderen Fachrichtungen angeht(7). Es die der nationalen Prüfbehörde (National Auditing Authority) gibt viele Gründe für diese problematischen Entwicklungen, zeigte, dass es keine Korrelation gab zwischen der Implemen- aber es scheint so, dass die Einführung des Konkurrenzprin- tierung eines neuen Gesundheitszentrums und dem Bedarf zips zwischen den Leistungsanbieter*innen negative Auswir- an Leistungen. Es zeigte sich hingegen eine sehr starke Kor- kungen sowohl auf die Kontinuität der Versorgung als auch relation zwischen hohen Durchschnittseinkommen in einem die Zusammenarbeit der Anbieter*innen hatte. Gebiet und der Eröffnung von neuen privaten, profitorientier- Verlust knapper finanzieller Ressourcen für die Gesund- ten Gesundheitszentren (3). heitsversorgung: Dadurch, dass sie profitable, aber unnötige Das Hauptaugenmerk scheint auf Patient*innen zu liegen, medizinische Leistungen begünstigen, führen markt- und die eher kleine als schwerwiegende gesundheitliche Probleme profitorientierte Reformen zu einem Verlust an öffentlichen haben: Menschen mit kleineren gesundheitlichen Problemen Finanzmitteln. Hinzu kommt, dass viele der privaten Anbieter haben einer großen Studie zufolge ihre Inanspruchnahme von bzw. ihre Gesellschafter*innen Strategien zur Steuerhinter- Gesundheitsleistungen im Vergleich zu Menschen mit schwe- ziehung bzw. legalen Steuervermeidung als Teil ihres Ge- reren gesundheitlichen Problemen gesteigert (4). Eine Umfra- schäftsmodells betreiben, wodurch dem Staat wichtige ge unter Ärzt*innen einer primärversorgenden Einrichtung in Einnahmen verloren gehen. Stockholm ergab, dass nur 1% der Antwortenden glaubte, dass die gegenwärtigen marktorientierten Reformen auch den Men- 4. Wahrgenommene und medizinische schen mit schwerwiegenderen Gesundheitsproblemen zugute Versorgungsqualität kämen. 78% der Ärzt*innen fanden, dass das System Men- schen mit größeren Gesundheitsproblemen diskriminiert (5). Mehr private Anbieter vermochten die wahrgenommene Qua- litätssteigerung der Versorgung nicht erhöhen: Die beobach- 3. Versorgungsqualität des Gesundheitswesens. teten Unterschiede in der Wahrnehmung der Versorgungs- qualität zwischen öffentlichen und privaten Anbietern gleichen Deutlich weniger Vertrauen von Allgemeinmediziner*innen: sich an, wenn die Unterschiede in Hinblick auf die Krankheits- Das Vertrauen von Allgemeinärzt*innen in das Gesundheits- last sowie den sozioökonomischen Kontext mitbetrachtet system hat seit der Umsetzung der Marktreformen deutlich werden (9)(…) Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019 | 5
Gewinner und Verlierer: Die kommerziellen Anbieter und och förlorare«, Natur och Kultur (Future health care markets – ihre Inhaber*innen sind die klaren Gewinner dieser markto- winners and loosers. This book was published by Natur och Kultur) rientierten Reformen. Menschen, die in städtischen Regionen 2 Myndigheten för vårdanalys (2015), Rapport no 2015:6 (The mit einem relativ hohen Durchschnittseinkommen leben, wer- National Authority for health care analyses, Report 2015:6) den durch diese Reformen begünstigt, insbesondere dann, 3 Riksrevisionen (2014), Rapport no 2014:22 (The National Au- wenn sie nur kleinere Gesundheitsprobleme haben. Die klaren diting Authority, Report no 2014:22 ) Verlierer*innen dieser Entwicklung sind die Menschen aus 4 Myndigheten för vårdanalys (2013), Rapport 2013:1 (The Na- tional Authority for health care analyses, Report no 2013:1) ländlichen Regionen mit niedrigeren Einkommen, die chroni- 5 Landstingsrevisorerna SLL (2012), Rapport nummer 10/20 (The sche Gesundheitsprobleme haben. Darüber hinaus verlieren auditors at Stockholm count council, Report no 10/2012) Gesundheitseinrichtungen die Möglichkeit, unprofitable aber 6 Beckman A, Anell A. (2013): »Changes in health care utilizati- notwendige Leistungen zur Verfügung zu stellen. on following a reform involving choice and privatization in Swe- Abschließend sollte noch einmal betont werden, dass die dish primary care: a five year follow up of GP visits«, Universi- meisten Effekte der Gesundheitsreformen profitorientiert sind ty of Lund 7 Myndigheten för vårdanalys (2015), Rapport no. 2015:9 (The und somit in direktem Konflikt mit den Grundsätzen, Zielen National Authority for health care analyses, Report no. 2015:9 und ethischen Prinzipien des gültigen »Schwedischen Gesetz 8 Stiernstedt G et. al (2016), Dagens Medicin 13/1 2016 (Article über die Gesundheitsversorgung« (Hälso- och sjukvårdslagen) by Göran Stiernstedt in the magazine »Medicine of today«) aus dem Jahr 2007 stehen (10). 9 Myndigheten för vårdanalys (2015), Rapport 2015:5 (The Na- tional Authority for health care analyses, Report no 2015:5) Göran Dahlgren ist Visiting Professor an University of Liverpool, ehe- 10 Dahlgren G (2018): »När sjukvården blev en marknad – effek- maliger Abteilungsleiter des »Health Service Department« im Minis- ter och alternativ«, Premiss förlag« (»When the health care terium für Gesundheit und Soziales, Schweden. system became a market- effects and alternatives«, This book Übersetzung aus dem Englischen: Thomas Kunkel was published by Premiss) Literaturverweise Alle Texte außer Beckman et.al. wurden auf Schwedisch publiziert. 1 Dahlgren G (1994): »Framtidens sjukvårdsmarknader- vinnare Schluss mit Tango Finnische Regierung tritt wegen Scheitern an Gesundheitsreform zurück F innland wurde seit den Wahlen 2015 von einer rechts- organisierte Gesundheitsversorgung auf 18 neu zu schaf- konservativen Koalition (104 von 200 Sitzen im Par- fende regionale Behörden übertragen. Das alleine wäre noch lament) regiert: Ministerpräsident Juha Sipiläs liberal kein Problem der Opposition gewesen. Viel Kritik und gro- und bäuerlich ausgerichtete Zentrumspartei, die konserva- ßen Widerstand im linken Lager brachte der Regierung die- tive Nationale Sammlungspartei und die Partei Blaue Zu- ser Teil ihres Reformplanes: Patient*innen sollten in Zukunft kunft, die sich 2017 von den »Wahren Finnen« abgespalten »Wahlfreiheit« bekommen zwischen öffentlichen und pri- hatte. Anfang Februar, also ein paar Wochen vor den nächs- vaten Anbietern von Gesundheitsdienstleistungen. Neben ten Parlamentswahlen am 14. April, hat die Regierung ihren dem Zeitplan im Sozial- und Gesundheitsausschuss, sei die Rücktritt bekanntgegeben. Sipilä begründete das mit dem Reform, so die Informationen der finnischen Zeitung Huf- Scheitern der umfassenden Gesundheitspflege- und Sozial vudstadsbladet, zudem nicht verfassungskonform gewesen. reform, die er zum wichtigsten Projekt seiner Amtszeit er- N klärt hatte, für die man aber keine Parlamentsmehrheit icht wenige Kommentare interpretieren nun das zusammenbekommen habe. Marktliberale Reformen und Scheitern der Regierung an diesem Projekt als En- Sparpolitik waren Hauptinhalte der Politik Sipiläs: Die Re- de eines Versuches des rechten Flügels, die Ge- gierung kürzte in der Bildung und bei Sozialausgaben, sundheitsversorgung zu privatisieren. Laut der schwedi- betroffen waren Rentner*innen, Student*innen und Gering- schen Zeitung Dagens Nyheter könnte der Rücktritt eine verdienende. Entsprechend sah die geplante Gesund Wahlkampfstrategie sein, um die Wählerschaft nach dem heitsreform im bislang staatlichen Gesundheitswesen aus. Scheitern der Gesundheitsreform nicht zu verlieren. Unklar Argumentativ vorbereitet mit den üblichen Bedrohungssze- sei aber, ob diese Strategie aufgeht – nach zahlreichen narien von drohendem Anstieg der – im internationalen Skandalen um die Privatisierung von Altersheimen seien Vergleich eher niedrigen – Ausgaben, flankiert von der »na- der Koalition bereits viele ältere Wähler*innen abgesprun- türlichen« Unausweichlichkeit der Demographie. Wir kennen gen. Ob sie wiedergewählt werden, ist unklar. NR das aus Deutschland und aus anderen Ländern. (Vgl. Kai Strittmatter: »Finnland – Kollabiert wegen der Gesund- Die Regierung wollte das System »entschlacken« und heitsreform«, SZ 08.03.2019; »Streit um Reformpaket – Finnische die bislang in 295 Kommunen des Landes verwaltete und Regierung tritt zurück«, ntv vom 08.03.2019) 6 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019
Wie der National Health Service privatisiert wurde Und wie Aktivist*innen ihn retteten – von Giulia Loffreda »Save the NHS«, »Keep our NHS public«, »Hands off the NHS« waren einige der bekannten Slogans, mit denen die Zivilgesellschaft, Aktivist*innen und Ärzt*innen beharrlich gegen den Privatisierungs- prozess des NHS in Großbritannien kämpften. Dieser Artikel möchte kurz darstellen, wie der NHS fi- nanziert und organisiert wurde, zudem die Geschichte einiger struktureller Änderungen des NHS inkl. des Privatisierungsprozesses erläutern und schließlich die Rolle einiger Aktivist*innen aufzeigen, welche ein weltweites Vorbild im Widerstand gegen kommerzielle Interessen wurden. Wie der NHS ursprünglich finanziert wurde zahlungen variierten im Lauf der Jahre im Verhältnis zur Fi- nanzierung aus allgemeinen Steuereinnahmen, staatlicher In England wurde der NHS vor allem durch Steuereinnahmen Versicherung und Versichertenbeiträgen von einem Maximum finanziert, unterstützt durch staatliche Versicherungsbeteili- von 5% 1960 bis zu einem Minimum von 1,7% zwischen 2007 gungen. Während der NHS zwar im Allgemeinen als frei zu- und 2011. In Großbritannien besitzen 10,6% der Bevölkerung gänglich gilt, mussten Patient*innen doch seit 1951 für eini- eine private Krankenversicherung, wobei es sich bei der Mehr- ge Leistungen zuzahlen (z.B. bei Rezepten oder zahnärztlicher heit um betriebliche Policen handelt, die Angestellten als Teil Behandlung). Allerdings gibt es für viele Patient*innen Aus- ihrer Gesamtvergütung angeboten werden. nahmeregelungen, inkl. für Patient*innen unter 16 oder über 60 Jahren, sowie für Empfänger*innen staatlicher Unterstüt- Das sogenannte NewPublic Management (NPM), zungsleistungen. Die bestehenden Ausnahmeregeln führten strukturelle Anpassungen und Austerität dazu, dass letztes Jahr 90% aller Rezepte ohne Zuzahlung Das NPM, oft beschrieben als »markt-basierte Ideologie«, ist abgegeben wurden. Die zusätzlichen Einnahmen durch Zu- durch Vermarktung, staatliche Sparpolitik und Dezentralisa- tion charakterisiert; es wurde in der Thatcher-Ära 1990 ein- geführt und eröffnete die Privatisierung der öffentlichen Diens- te. Als Konsequenz daraus wurde eine Quasi-Marktstruktur im Gesundheitssystem Großbritanniens implementiert: Öf- fentliche und private Anbieter konkurrierten miteinander da- rum, die jeweils besseren und schnelleren Dienstleistungen anzubieten. NPM sollte ein effektiveres und effizienteres öf- fentliches Gesundheitssystem hervorbringen, indem top-down umstrukturiert und überwacht wurde, verbunden mit Perso- nalabbau sowie Dezentralisierung. Gesundheitsversorgung wurde so zur Ware, die durch den Markt angeboten wird, statt eines Rechts, das vom Staat geschützt wird. Die Sparpolitik passt in das Bild von Budgetkürzungen, Schließungen und Privatisierung. Ein gutes Beispiel dafür, wie Austerität wirkt und mit Public Private Partnerships (PPP) ver- knüpft ist, zeigt sich an Kürzungen für Leistungen im Bereich der psychischen Gesundheit, wo private Anbieter Jahr für Jahr unglaubliche Gewinne einfahren. Das hat zu einem massiven ©Garry Knight-CC0 1.0 Mangel an psychologischer Behandlung geführt. Der Privatisierungsprozess Der NHS wurde 1948 gegründet. Von Beginn an war er be- gleitet von zwei großen Kontroversen unter Politiker*innen: Zum einen sei er zu teuer, zum anderen würden die Leute ihn Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019 | 7
missbrauchen. Schließlich aber wurde diesen Politiker*innen das Gegenteil bewiesen; er war weder unerschwing- lich, noch missbrauchten es die Men- schen. Der NHS war eine der Säulen des Sozialstaates, den William Beve- rage während des zweiten Weltkriegs erdacht und umgesetzt hatte. Aneurin Bevan war der Architekt des NHS, wie wir ihn heute kennen. Er glaubte, dass die Gesellschaft allen ihren Mitgliedern den Zugang zu den besten medizini- schen Behandlungen gewähren sollte. Im NHS ging es um Umverteilung auf der Basis von Bedarfen, öffentlichem Eigentum und Rechenschaftspflicht Ei- nige wenige private Interessen waren zwar immer gegenwärtig, aber Kom- merzialisierung und Privatisierung wur- den sorgsam ferngehalten, um Ver- schwendung vorzubeugen. Mit dem Health and social care ©Flickr-Stephen Melkisethian act (HSCA) von 2012 begannen sich Gesundheits-Aktivist*innen ernsthafte gen durch die verschiedenen Leistungs- durch einen PCT versorgt wurden, kön- Sorgen um den NHS zu machen. Zen- erbringer im NHS auf regionaler Ebene nen Menschen nun zwischen verschie- trale Inhalte des Gesetzes waren: 1) Es zu organisieren. CCGs sind dabei in der denen CCGs in ihrer Region wählen, beseitigt die Pflicht des Gesundheits- Lage, Dienstleistungen von allen qua- aber auch die Versorgungsverantwor- ministers, die Versorgung aller sicher- lifizierten (auch privaten, Anm. der Re- tung der CCGs ist nicht mehr automa- zustellen. 2) Es führt neue Versiche- daktion) Anbietern zu erwerben. tisch auf alle Bewohner*innen einer rungsstrukturen ein, und 3) gibt es der Region ausgeweitet. Minister*in die Möglichkeit, eine Wirt- Einschub der Redaktion: Die CCGs wur- schaftsbürokratie einzuführen und es den als regionale Planungsinstanzen Um Mitglied zu werden, müssen die gibt Anbietern die Möglichkeit zu ent- der sekundären und gemeindebasierten Bürger*innen sich zunächst bei einem scheiden, wer von der Versorgung pro- Gesundheitsleistungen eingeführt. Sie GP registrieren, allerdings können nicht fitieren wird. Die Implementierung des setzen sich aus Allgemeinmedizine alle GPs einer CCG beitreten und nicht HSCA öffnete Tür und Tor für Versiche- r*innen (General Practitioner – GP), alle Menschen haben effektiv die Mög- rer auf risikostratifizierter Basis: Risi- anderen Gesundheitsberufen, wie Pfle- lichkeit, sich bei einem GP einzuschrei- ken müssen identifizierbar und vorher- gefachkräften und Laien einer Region ben. Theoretisch ist jeder Mensch, der sagbar sein, und sie müssen einem zusammen. Sie sind Verwaltungsorga- sich dauerhaft in Großbritannien auf- Vertrag zugeordnet und übertragen ne des NHS und für die Planung und hält, berechtigt, primäre Gesundheits- werden. Fragmentierte und extrem bü- Beauftragung von Gesundheitsleistun- versorgung in Anspruch zu nehmen. rokratische Strukturen wurden so ein- gen für die Menschen verantwortlich, Praktisch werden einige Bevölkerungs- geführt. Im alten Modell war die die bei einem Mitglied des CCGs behan- gruppen aber systematisch von der Minister*in verantwortlich für das Ge- delt werden (meist bei einem der GPs) Versorgung ausgeschlossen wie z.B. sundheitsministerium und für alle Ver- oder in der Region leben, die von einer Obdachlose oder Migrant*innen, weil sicherten landesweit. In David Came- bestimmten CCG abgedeckt wird und sie u.a. keinen Nachweis ihres dauer- rons (Premierminister von 2010-2016) gleichzeitig in keiner anderen CCG ein- haften Wohnsitzes erbringen können neuer komplexer Wirtschaftsbürokratie geschrieben sind. Die CCG erheben, (dieser ist aber Voraussetzung für eine hat die Minister*in zwar die ganze planen und evaluieren die regionalen Registrierung bei einem GP und somit Macht, aber de facto keine Verantwor- Gesundheitsbedarfe und vergeben Ver- bei einer CCG – Anm. der Redaktion). tung mehr. träge für die Erbringung von Gesund- Niemand ist mehr – wie früher – auto- Die interessanteste Erfindung des heitsleistungen z.B. an Krankenhäuser, matisch durch das Gesundheitssystem HSCA sind die sogenannten Clinical Rettungsstellen, Gemeindegesund- abgesichert. Bürger können beispiels- Commissioning Groups (CCGs): Sie heitsdienste oder zunehmend auch weise auch ausgeschlossen werden, ersetzen die Primary Care Trusts GPs. Sie verwalten einen großen Anteil weil sie eine chronische Erkrankung (PCTs), welche von der Labour-Partei des gesamten Budgets des NHS und haben, für die die CCGs die Behandlung 1997 implementiert wurden, um die arbeiten unter wirtschaftlicher Konkur- nicht länger bezahlen wollen – sie Bereitstellung von primären und ge- renz zueinander. Während früher alle müssen dann selbst zahlen oder die meindebasierten Gesundheitsleistun- Menschen einer Region automatisch Behandlung abbrechen. Entweder auf- 8 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019
grund ihres sozioökonomischen Status oder ihres Gesund Bezug auf den NHS nicht mehr vertraut werden könne. Das heitszustandes können Bürger*innen heute also ggf. nicht Gesetz war in jeder Hinsicht ein Fehlschlag: längere Warte- berechtigt sein, einer CCG beizutreten. zeiten, schlechtere Qualität, höherer Ausfall von Leistungen, Die Versorgung wird zunehmend privatisiert. Wegen weniger Personal und sinkende Arbeitszufriedenheit der des Verlusts regionaler Eigenverantwortung sind regionale Mitarbeiter*innen. Bedarfe nicht mehr die entscheidende Größe der Entwicklun- Verminderte staatliche Finanzierung des Gesundheitssys- gen im Gesundheitssystem; kommerzielle Aktionäre haben tems schuf in anderen Staaten, wie z.B. in Deutschland, einen es jetzt vom Gesetzgeber übertragen bekommen zu entschei- Raum, in welchem private Firmen erstarken konnten. Warum den, wer welche Versorgung bekommt. Eine unübersichtliche passierte das nicht in GB? Viele denken, dass die Aktivist*innen Anzahl neuer Firmen (z.B. Bupa, McKenzie, Virgin u.v.m.) eine Schlüsselrolle dabei spielten, den NHS zu schützen. wurde immer mehr in die Versorgungsstrukturen mit einbe- Es ist bemerkenswert, wie sehr die Öffentlichkeit seit 1983 zogen und ersetzen langsam das bisherige System. Nach die Kernaufgabe und die Prinzipien des NHS unterstützt. Der Schätzungen fließen Tag für Tag Millionen Pfund an NHS-Gel- King’s Fund, der einflussreichste Think Tank in GB, versichert, dern in die Taschen kommerzieller Firmen. Der HSCA ver- dass private Firmen keine größere Rolle im Gesundheitssys- pflichtet die CCGs dazu, jeden Vertrag über mehr als 615.278 tem spielen werden und dass es für alle Politiker*innen, die Pfund auszuschreiben. Dies führte zu einer gewaltigen Zu- das ändern wollten, politischer Selbstmord wäre. Akti nahme von NHS-Verträgen mit profitorientierten Firmen wie vist*innen des NHS – inklusive Prof. Stephen Hawking – die Virgin Care und Care UK . In den Jahren 2017-2018 floss ei- Zivilgesellschaft, Patient*innenenorganisationen und Ange- ne geschätzte Summe von 8,7 Milliarden Pfund vom NHS in stellte im NHS bekämpften und bekämpfen den Privatisie- die Taschen privater Anbieter. rungsprozess. Effektivität ist das Mantra der Privatisierung. Die Pro- Zeitungen wie der Guardian garantierten eine große me- fitorientierung des Marktes war uns immer wieder eine War- diale Aufmerksamkeit. Verschiedene Netzwerke wie »Members nung vor der Privatisierung des Gesundheitssystems, zumal of People’s Health Movement UK« und »Keep Our NHS Public« es keinen Hinweis auf eine höhere Effektivität in der Privat- arbeiteten gemeinsam an der Anti-Privatisierungs-Kampagne. wirtschaft gibt. Wenn man Marktmechanismen zulässt, wird Zweifellos wurde die Kampagne für andere Aktivist*innen es im Gegenteil viel teurer. Dieser Widerspruchwurde deutlich, weltweit ein Symbol an gesellschaftlicher Solidarität, um das nachdem die Gesundheitsausgaben zwischen 1990 und 2012, Gesundheitssystem gegen wirtschaftliche Interessen zu ver- also nach dem Beginn von Privatisierungen durch die Labour- teidigen. Nichtsdestotrotz darf die Wachsamkeit nicht nach- Partei, drastisch stiegen. Neue Ineffektivitäten traten auf: lassen: Wir alle müssen die Grundsätze des NHS immer wie- Versicherungen, Rechnungen und Verwaltung, unnötige der aufs Neue schützen, denn die Regierung wird erneute Dienstleistungen. Während zuvor nur 6% der Ausgaben für Privatisierungs-Versuche unternehmen. die Verwaltung verwendet wurden, sind es heute mehr als 40%. Der Markt erzeugt auch neuen Druck: z.B. all die un- Giulia Loffreda ist aktiv im Peoples Health Movement UK. Der eng- lische Originaltext mit Referenzen und Literatur ist über die Redak- nötigen Dienstleistungen (und Beratungstätigkeiten), die tion zu beziehen. – Übersetzung aus dem Englischen: Eva Pelz heute gebraucht werden, um Profitmöglichkeiten zu eruieren. Die Rolle der Aktivist*innen Genaueres hierzu findet sich immer noch in der Ausga- be 2/2014 von Gesundheit braucht Politik, das sich Der NHS ist so etwas wie das Herzstück des britischen Nati- dem Thema NHS und den Privatisierungsversuchen ge- onalismus; sogar die Brexit-Befürworter benutzten es, um widmet hatte (komplett auf der Homepage verfügbar). Emotionen zu schüren (das Versprechen, durch den Brexit würden 350 Mio. Pfund/Woche für den NHS frei, war einer der Grundpfeiler der Pro-Brexit-Kampagne; es wird inzwischen als vorsätzliche Lüge betrachtet). Der Brexit spielt auch eine große Rolle in der gesellschaftlichen Mobilisierung, die gegen- wärtig in Großbritannien stattfindet. Es wird davon ausgegan- gen, dass der Personalmangel schlimmer und die Wartezeiten sich verlängern werden und dass die Streichung von Geldern Probleme bei der Versorgung mit Arzneimitteln aufwerfen wird. Die Armut, die wichtigste soziale Determinante von schlechter Gesundheit, wird ansteigen. Gesundheitsprofessionelle bleiben die wichtigsten Verbün- deten des NHS. Sie wurden aufgefordert, die öffentliche Kam- pagne »Keep Our NHS Public« zu unterstützen, auch aus Angst, dass durch all die amerikanischen Versicherungsfirmen das amerikanische Modell in GB eingeführt werden könnte. Es kam zu einer wirklichen gesellschaftlichen Mobilisierung. Anhänger der Kampagne begutachteten das Gesetz (HSCA) von 2012 und kamen zu dem Schluss, dass der Regierung in ©Flickr_Molly Adams Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019 | 9
Keep Our NHS Public John Puntis über den Kampf für einen öffentlichen NHS im Jahr 2018 Keep Our NHS Public (KONP)1 ist eine landesweite aktivistische Organisation, die für eine öffentliche, aus Steuern finanzierte und bei Inanspruchnahme kostenfreie Gesundheitsversorgung eintritt. KONP wendet sich gegen die Privatisierung des NHS (National Health Service) und gegen Kürzungen in öf- fentlichen Einrichtungen, die durch die neoliberale Regierungspolitik vorangetrieben werden. I m Jahr 2018 war das 70. Jubiläum Zugangsberechtigung überprüfen, iatrie aufgeklärt. Eine Entscheidung, des NHS und ein intensives Jahr 150% der Behandlungskosten verlan- die Finanzierung in diesem Bereich um für unsere mehr als 70 Gruppen. gen und diejenigen, die nicht zahlen 150.000 £ zu kürzen, wurde zurückge- Die Webseite und der Newsletter von können, dem Innenministerium mel- nommen. KONP und die Zeitung Health Cam- den. Dass die Verwaltungskosten dieser paigns Together (HCT)2 bestärkt unse- neuen bürokratischen Hürden die so Arbeit mit Gewerkschaften re Mitglieder darin, kritische Fragen an generierten Einnahmen übersteigen, Kürzungen und Austerität untergraben die Regierung, Leistungsanbieter, ser- weist auf die Absicht der Regierung hin, die Gesundheitsversorgung, die sozia- vice commisioners (Planungs- und Eva- in größerem Umfang Gebühren für die len Dienste und die Bildungsmöglich- luationsorgane im NHS, Anm. d. Ü.) etc. Versorgung im NHS zu erheben. KONP keiten von Gewerkschaftsmitgliedern zu richten. Während des letzten Jahres begann eine Kampagne, die sich sowohl und ihren Familien. Neun landesweite haben wir im ganzen Land aufgeklärt, gegen die Gebühren als auch gegen das Gewerkschaften haben sich HCT (2016 demonstriert, Flugblätter verteilt, Peti- entstehende migrantenfeindliche Klima von KONP gegründet) angeschlossen tionen erstellt, Veranstaltungen und richtete. In einem Krankenhaus (Lewis- und gemeinsam mit KONP und der Kundgebungen abgehalten und vor ham & Greenwhich) wurden bei 541 People’s Assembly3 zum 70. Geburtstag dem Health Select Commitee (Komitee, von ca. 9.000 jährlichen Geburten Ge- des NHS eine riesige Demonstration in das das Handeln des Gesundheitsmi- bühren erhoben und bei weiteren 1.100 London organisiert. Daraus hervor ging nisteriums beobachtet und überprüft, wurde die Anspruchsberechtigung eine Abmachung zwischen HCT, KONP Anm. d. Ü.) im Parlament gesprochen. überprüft. Solche Gebühren halten und dem Trades Union Congress (TUC) Migrant*innen davon ab, medizinische zusammen zu arbeiten bezüglich Whol- Themen in 2018 Hilfe in Anspruch zu nehmen und wur- ly Owned Subsidiary Companies (von den nun von eine Vielzahl von medizi- manchen Krankenhäusern zur Steuer- Rassismus nischen Fachgesellschaften (Medical vermeidung genutzt, indem Angestell- Der »Windrush-Skandal« betraf Immi Royal Colleges) verurteilt. te aus dem NHS und der staatlichen grant*innen von den Westindies, die in Anstellung und somit aus den Tarifver- den späten 1940er Jahren zum Arbei- Psychische Gesundheit einbarungen des öffentlichen Dienstes ten nach Großbritannien gebracht wor- Im Verlauf der letzten zehn Jahre wur- herausgenommen werden) und psychi- den waren, und verdeutlichte, wie un- den die Stellen für Pflegekräfte in der scher Gesundheit. (…) trennbar die Themen Vorurteile und Psychiatrie um 3.800 und die Betten Vulnerabilität mit dem Zugang zur Ge- in psychiatrischen Abteilungen um Gesetzesinitiativen zur sundheitsversorgung verbunden sind. 8.100 gekürzt, während sich die Sui- Wiederherstellung des NHS Obwohl diese Immigrant*innen seit zidrate unter jungen Frauen verdoppelt Die Labour-Abgeordnete Eleanor Smith Jahren in Großbritannien ansässig sind, hat. Im Februar wurde der Stadtrat von unterstützte einen Gesetzentwurf der wurde einigen mit Abschiebung gedroht Lewisham durch Kinder, Eltern, Be- die gesetzlichen Grundlagen enthielt, und anderen gesagt, sie müssten nun schäftigte, Parlamentsabgeordnete, Jon um den NHS zurückzuerobern. Ein für die Behandlung zahlen. Ein öffent- Ashworth (Schattenministerfür Gesund- wichtiger Meilenstein war eine Diskus- licher Aufschrei zwang die Innenminis- heit der Labour Party) und KONP- sion im Juli zwischen Labour-Mitglie- terin Amber Rudd zum Rücktritt; sie Aktivist*innen, die Stadtratsmitglieder, dern (Allyson Pollock, Peter Roderick) wurde zum Sündenbock für die Ab- das scrutiny panel (Ausschuss, der die und führenden Aktivist*innen von schreckungspolitik von Premierminis- Handlungen der Stadtregierung über- KONP, HCT und der Socialist Health As- terin Theresa May. wacht) und Parlamentsabgeordnete auf sociation4. Das Ergebnis war die Zusi- Die Behandlung im NHS war für aus- die Anhörung vorbereitet, sie hatten cherung der Labour Party, in Zusam- ländische Patient*innen immer kosten- über die Gefahren von Kürzungen im menarbeit mit Aktivist*innen eine frei; nun müssen Krankenhäuser die Bereich der Kinder- und Jugendpsych- Gesetzgebung vorzubereiten, die in ein 10 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019
neu gewähltes Parlament eingebracht wird. KONP organisier- te eine das Gesetz unterstützende Demonstration außerhalb ©Garry KnightCC0 1.0 des Parlaments und hatte 34.000 Unterschriften für einen Petition gegen eine private Anbieterstruktur. Jon Ashworth schrieb für die Zeitung von HCT und versicherte öffentlich, die Privatisierung zu beenden, das NHS wieder zu einem staatlich finanzierten und angebotenen Versorger zu machen und damit die Grundprinzipien seines Gründers Aneurin Bevan wieder einzusetzen. Brexit Die Mitglieder und Unterstützer*innen von KONP haben keine einheitliche Meinung über den Brexit. Aus diesem Grund ha- ben wir als Organisation bezüglich dieses Themas keinen Standpunkt, aber haben versucht, die Folgen für die gesund- heitliche und soziale Versorgung zu verstehen. Jahrzehntelang hat der NHS Arbeitskräfte aus dem Ausland angeworben, um kehren, was das NHS jährlich ungefähr 0,5 Mrd. £ kosten die durch die einheimische Bevölkerung offen gelassenen Lü- würde. cken zu füllen. In den letzten Jahren hat sich der Anteil der Das Gesamtbild des NHS und der sozialen Dienste nach Beschäftigten im NHS und den sozialen Diensten, die von dem Brexit zeigt eine höhere Anzahl älterer Menschen, immer außerhalb der EU kommen, verringert. Das liegt an den weniger im Arbeitsalter, die zum Steueraufkommen beitragen schärferen Bedingungen für die nötigen Visa: man muss ein und ernsthafte Besetzungsprobleme, was eine Erleichterung Einkommen vorweisen können, welches das übliche Gehalt der scharfen Immigrationspolitik und eine Erhöhung der Be- dieser Berufsgruppen übersteigt. Der Anteil der Klinikbeschäf- schäftigungskosten nach sich ziehen wird. Der Handel mit tigen, die aus dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) Medikamenten und Material wird wahrscheinlich negativ be- stammen, ist gestiegen. In den sozialen Diensten ist die Zahl einflusst werden und der Zugang zu wissenschaftlichen För- gestiegen, sodass nun 95.000 der 1,34 Mio. Beschäftigen in dermitteln erschwert. Das Office of Budget Responsibility (von diesen Bereich aus dem EWR kommen. der Regierung ins Leben gerufene öffentliche Stelle, die un- Es wird geschätzt, dass es, alle Arbeitsbereiche des NHS abhängige Analysen der öffentlichen Finanzen erstellt, Anm. zusammengenommen, 110.000 zu besetzende Stellen gibt. d.Ü) vermutet, dass die Wirtschaft Großbritanniens nach dem Großbritannien bildet nicht genug Ärzt*innen für seinen ei- Brexit zumindest anfangs ein geringeres Wachstum als ihre genen Bedarf aus. Es gab zwar eine leichte Zunahme der Nachbarn haben wird. Die sogenannte »Brexit dividend« Studienplätze, es wird aber noch lange dauern, bis sich das (Geld, das sich aufgrund der wegfallenden Zahlungen an die bemerkbar machen wird. Untersuchungen bezüglich der Stim- EU ergeben soll, Anm. d. Ü.), die von Brexit-Befürworter*innen mung und der Absicht von Ärzt*innen aus dem EWR, Groß- als Finanzierungsquelle für das NHS vorgeschlagen wird, ist britannien zu verlassen, weisen darauf hin, dass das Risiko illusorisch. Ein sinkendes Wirtschaftswachstum und ein Rück- der Abwanderung wächst, was weitreichende Besetzungspro- gang an Steuereinnahmen bedeuten weniger Geld für die bleme zur Folge hätte. Neu angeworbene Arbeitskräfte werden öffentlichen Dienste. Die unmittelbaren negativen Folgen des am wahrscheinlichsten aus Asien oder Afrika kommen, oft Brexit, insbesondere wenn es keinen Deal gibt, könnten eine aus armen Ländern, die es sich nicht erlauben können, ihre gestärkte Lobby hervorbringen, die sich im Gegenzug zum Ärzt*innen zu verlieren. Eine Anwerbung ausländischer Fach- Zugang zu Handelsräumen für andere Industrien für den Aus- kräfte im Bereich der Pflege und bei Hebammen findet schon verkauf des NHS einsetzt. Obwohl es schwierig ist, die weiter lange statt, obwohl dieser Sektor gegenüber dem ärztlichen entfernt liegende Zukunft vorherzusagen, führt ein Abwägen Bereich bezüglich Mindesteinkommen und Arbeitserlaubnis der möglichen Kosten und Vorteile des Brexit in Bezug auf stärker reglementiert ist und es hat hier in den letzten Jahren den NHS und die sozialen Dienste zur Vermutung, dass das einen Rückgang gegeben. Resultat ein insgesamt negativer Effekt sein wird, der eine Nach dem Brexit-Referendum wurde ein Rückgang der Be- weitere Herausforderung für die darstellt, die sich für eine werbungen bei Pflege und Hebammen um 96% verzeichnet. qualitativ hochwertige öffentliche Daseinsvorsorge einsetzen. Im NHS sind zur Zeit 11,8% der Stellen in der Pflege nicht John Puntis ist Secretary bei KONP. Der, hier leicht gekürzte, engli- besetzt, was die Regierung dazu brachte, außerhalb des EWR sche Originaltext ist über die Redaktion zu beziehen – Übersetzung auf die Suche zu gehen. Vielen anderen spezialisierten wis- aus dem Englischen: Felix Ahls senschaftlichen Gesundheitsberufen wurden Ausnahmen bei 1 https://keepournhspublic.com/ der Immigrationskontrolle gewährt. 2 https://www.healthcampaignstogether.com/ Zum 1. Januar 2017 waren 784.900 britische Staatsbür 3 Die People’s Assembly Against Austerity ist eine 2013 gegründe- ger*innen als im EU-Ausland lebend registriert, davon knapp te Inititative, die von verschiedenen politischen und zivilgesell- unter 300.000 in Spanien, von denen wiederum ca. 120.000 schaftlichen Akteuren getragen wird, Anm. d. Ü. 4 Seit 1930 bestehende mit der Labour Party verbundene Organi- über 65 Jahre alt waren. Sie bekommen zur Zeit eine kosten- sation, die sich für einen kostenfrei zugänglichen, staatlichen NHS freie Gesundheitsversorgung, aber wenn dieser Zugang weg- und eine sozialistische Transformation der Gesellschaft einsetzt, fällt, könnte eine große Anzahl nach Großbritannien zurück- Anm. d. Ü. Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019 | 11
Recht so?! Wilfried Leisch zur Zerschlagung der solidarischen Sozialversicherung in Österreich Die österreichische Regierung aus Rechtsradikalen und Konservativen setzt sich mit den Sozialversi- cherungs-»Reformen« an die Speerspitze der marktförmigen Umgestaltung solidarischer Sicherungs- systeme. Unternehmen werden auf Kosten der Arbeiter*innen entlastet, die Sozialversicherung wird defizitärer, Selbstbeteiligungen, Personalabbau und Privatisierungen folgen. I m Jahr 2018 zog die Schwarz Drittel der rund 28.000 SV-Beschäftig- Entmachtung und Enteignung (Türkis)-Blaue Regierung Öster- ten in den nächsten zehn Jahren »ein- der arbeitenden Menschen reichs die Entmachtung und Ent- sparen« will. Weniger Beschäftigte be- eignung der sieben Millionen Arbeiter- deutet aber weniger Leistung. Die Kasse der Beamten bleibt bestehen, und Angestelltenversicherten 1 im Bald war klar: Die Zusammenlegung die der Selbständigen und Bauern wer- Interesse der Wirtschaft durch. Ab Ap- der Gebietskrankenkassen (GKKs) kos- den zusammengelegt. Die hohen und ril 2019 diktiert ein Überleitungsaus- tet 1,1 bis 1,5 Milliarden, die Arbeiter- höheren Leistungen von Beamten, schuss die Umsetzung, ab 2020 tritt die kammer (AK), die gesetzliche Interes- Selbständigen sowie Bauern bleiben neue Struktur in Kraft. Schon im Vor- senvertretung der Arbeiter*innen und bestehen und sie dürfen in ihren Kas- blatt zum Sozialversicherungs-Organi- Angestellten in Österreich, berechnete sen auch weiter selbst darüber bestim- sationsgesetz (SV-OG) steht, worum es Kosten von 2,1 Mrd. Euro (»Belas- men, wieviel wofür ausgegeben wird. letztlich geht: »Private Anbieter von tungsmilliarde«) für die von ÖVP und Im Gegensatz dazu wird die SV der Ar- Gesundheitsdiensten« sollen gefördert FPÖ geplante Kassen-»Reform«. beiter*innen und Angestellten (GKKs) werden. Mit der Zentralisierung der GKKs zur in die ÖGK zentralisiert, die Leistungen Derzeit ist die solidarische, nicht auf »Österreichischen Gesundheitskasse« aber nicht harmonisiert, d.h. nicht an Gewinn orientierte Sozialversicherung (ÖGK) erfolgt keine Verkleinerung der die höheren Leistungen der Beamten, (SV) nicht teuer, hat bloß knapp 3% Struktur – neun Landesstellen statt Selbständigen und Bauern angehoben. Verwaltungskosten, 97% der SV-Gelder neun GKKs – aber die Gelder gehen an Weiters sollen in Zukunft nicht mehr fließen also zurück an die Versicherten. die ÖGK, die die Budget- und Personal- die Arbeiter- und Angestelltenvertre Private, auf Gewinn ausgerichtete Ver- hoheit hat. Das ist die Zerstörung der ter*innen über die Versicherungsgelder sicherungskonzerne haben »Verwal- regionalen Gesundheitsversorgung mit der arbeitenden Menschen bestimmen, tungskosten« von bis zu 30%, also flie- massiven negativen Auswirkungen be- sondern zu 50% die Unternehmerver ßen nur 70% an die Versicherten sonders im ländlichen Raum und führt treter*innen, die dort gar nicht versi- zurück. Also wie dorthin kommen, dass zu einer Verteuerung, weil es u.a. län- chert sind. Mit regierungsnahen die SV »schlecht« ist, »teuer« ist und gere Entscheidungswege und höheren Arbeitnehmervertreter*innen (ÖAAB, deshalb »reformiert« (privatisiert) wer- bürokratische Aufwand mit sich bringt. FCG, AUF) haben die Unternehme den muss? Um die Notwendigkeit einer »Re- Machtverschiebung zu den Unternehmern in der SV, insbesondere in den Kassen form« des Gesundheitssystems in der der Arbeiter und Angestellten (GKKs/ÖGK, PVA) Öffentlichkeit zu platzieren, behaupte- te die Regierung, dass die SV-Funk bis zum Jahr 2001 Derzeit Künftig tionär*innen so teuer seien, dass man Hauptverband Hauptverband der SV Dachverband bei ihnen eine Milliarde Euro einsparen A + A 85% der Versicherten könnte (»Funktionärsmilliarde«), die dann den Patient*innen (»Patienten- AV in Mehrheit 6 AV : 6 UV (50% : 50%) 4 AV : 6 UV (40% : 60%) milliarde«) zugutekäme. Tatsache ist: GKKs Krankenversicherung/GKKs ÖGK Für alle 970 aktive Funktionär*innen – A + A 100% der Versicherten sie erhalten 42,- Euro pro Sitzung – werden in Summe bloß 5,7 Millionen AV in Mehrheit 4 AV : 1 UV (80% : 20%) 6 AV : 6 UV (50% : 50%) Euro inkl. aller Nebenkosten aufgewen- PVA Pensionsversicherung (PVA) det. Das sind 0,009% des SV-Gesamt- A + A 100% der Versicherten budgets von 61,7 Milliarden Euro. Wie kommt dann die Regierung auf eine AV in Mehrheit 2 AV : 1 UV (66,65% : 33,35%) 6 AV : 6 UV (50% : 50%) Milliarde »Einsparung«? Weil sie ein AV = Arbeiter- bzw. Angestelltenvertreter, UV = Unternehmervertreter 12 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2019
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