Gewaltprävention an Brandenburger Schulen - Handlungsanleitungen und Anregungen für Schulen
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Impressum Herausgeber: Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Heinrich-Mann-Allee 107 14473 Potsdam Internet: mbjs.brandenburg.de E-Mail: pressestelle@mbjs.brandenburg.de Gestaltung: pigurdesign, Potsdam Fotos: iStockphoto, Titelbild (Motortion), S. 8 (SolStock), S. 11 (MachineHeadz), S. 18 (skynesher), S. 21 (yacobchuk), S. 31 (wildpixel) Druck: G&S Druck und Medien, Potsdam April 2021 Redaktionsschluss: Dezember 2020
Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 5 2. Gewalt 6 2.1 Definition Gewalt 6 2.2 Ziel der Gewaltprävention 6 2.3 Formen von Gewalt 7 2.4 Das Phänomen Mobbing 8 2.5 Gewalt und digitale Medien 10 2.6 Gewalt gegen Lehrkräfte 12 2.7 Gewalt durch Lehrkräfte und die Rolle von Lehrkräften bei der Gewalt zwischen Schülerinnen und Schülern 15 2.8 Studienlage/Statistiken 16 3. Aufgaben, Möglichkeiten und Herausforderung für die Schulen 19 3.1 Gestaltung der Schulkultur und des Schulklimas 19 3.2 Integration der Gewaltprävention in den Unterricht 19 3.3 Demokratiebildung als Gewaltprävention 20 3.4 Lehrkräfte-Fortbildungen 22 3.5 Ganztag und Hort – Zusammenarbeit mit der Grundschule, Zusammenarbeit Schule – Jugendhilfe 23 3.6 Verhalten und Maßnahmen in Gewaltsituationen 24 3.7 Gelingensbedingungen effektiver Gewaltprävention 25 3.8 Angebote außerschulischer Partnerinnen und Partner 26 3.9 MBJS-Internet /Bildungsserver Berlin-Brandenburg 27 4. Rechtliche Regelungen 28 4.1 Rundschreiben „Hinsehen – Handeln – Helfen, Angst- und gewaltfrei leben und lernen in der Schule“ 28 4.2 Notfallpläne für die Schulen des Landes Brandenburg 28 4.3 Gemeinsamer Runderlass des Ministeriums des Innern und für Kommunales (MIK) und des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (MBJS): „Partnerschaften Polizei und Schule – Kooperation bei der Prävention und Bekämpfung von Kriminalität und Verkehrsunfällen sowie der Notfallplanung“ 30 4.4 Fachportal „Schule gegen sexuelle Gewalt“ 30 5. Broschüren, Handreichungen und Ratgeber 32 6. Fazit: Gewaltprävention und Intervention sind langjährige Projekte 32 Anhang 1 33 Strafrechtliche Relevanz bei Vorfällen (Gefahren aus dem Netz) 33 Anhang 2 34 Praxisbezogene Beispiele einer gelingenden Gewaltprävention an zwei Brandenburger Schulen 34 Anhang 3 41 Broschüren, Handreichungen und Ratgeber Handreichung „Herausforderung Gewalt“ 41 Literaturverzeichnis 43 3
Konflikte und Spannungen lösen sich nicht von selbst. Meistens ist dies ein komplizierter Aus- handlungsprozess, der auf allen Ebenen geführt wird. Er muss gelernt und geübt werden. Es zählt nicht das Recht des Stärkeren. Konflikte müs- sen lösungsorientiert, kommunikativ, friedlich und zum Nutzen aller bewältigt werden. Dafür muss die Schule ein Ort sein, an dem sich alle Schülerinnen und Schüler wohl fühlen, angstfrei lernen und sich individuell entwickeln können. Ein gemeinsames Miteinander bietet die beste Sicherheit. Gewaltprävention muss daher Bestandteil jeder Schulkultur sein, um das gemeinsame Leben, ein friedvolles Lernen und Lehren zu fördern. Es ist mir bewusst, dass die Schule die Spannungen, das „Machtgerangel“ zwischen Schülerinnen und Schülern, offen ausgetragene oder verdeckte Kon- flikte nicht allein lösen kann. Dafür stehen Ihnen kompetente und sachkundige Expertinnen und Ex- perten zur Seite, die Sie dabei unterstützen, die Schülerinnen und Schüler, aber auch Schulleitun- Sehr geehrte Lehrerinnen und Lehrer, Schulso- gen und Lehrkräfte für die Interessen und Bedürf- zialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter, sehr nisse Anderer zu sensibilisieren, damit heraufzie- geehrte Schulleitungen, sehr geehrte Damen hende Konflikte rechtzeitig und gewaltfrei gelöst und Herren, werden können. die Schule ist ein wichtiger Ort für den Kinder- und Ich danke allen herzlich, die sich täglich für eine Jugendschutz, hier werden nahezu alle Kinder und angst- und gewaltfreie Schule einsetzen und sie Jugendlichen erreicht. Der Lern- und Lebensort zu einem Ort machen, den die Schülerinnen und „Schule“ verfügt über Potenziale und Kompeten- Schüler gern besuchen. zen, die für den verbesserten Schutz von Mäd- chen und Jungen genutzt werden können. Dabei sind Sie als Lehrkräfte wichtige Bezugspersonen, die erklären und aufklären sowie ihren Schülerin- nen und Schülern soziale Werte und Normen ver- mitteln. Britta Ernst Es erfordert eine hohe Kompetenz, Notsituationen zu erkennen und auf Gewalthandlungen angemes- Ministerin für Bildung, Jugend und Sport sen zu reagieren, um weiteren Schaden abzuweh- des Landes Brandenburg ren. Mit diesem Ziel richtet sich diese Broschüre an Schulleitungen und Lehrkräfte, Sozialarbeiterin- nen und Sozialarbeiter sowie an alle, die für eine gewaltfreie Schule gemeinsam Sorge tragen. Die nachfolgenden Handlungsanleitungen und Anre- gungen sollen Sie dabei unterstützen, gewaltfreie Strukturen an Ihrer Schule zu etablieren und zu festigen. Die Broschüre soll Ihnen dabei als Unter- stützung im Bereich der Gewaltprävention dienen. 4
Vorbemerkung 1 Gewaltprävention ist an vielen Schulen bereits be- leisten können.2 Gewaltfreiheit an Schule setzt währte Praxis und wird regelmäßig angewandt und voraus, dass Gewaltprävention und soziales Ler- umgesetzt. Durch die Verortung des fächerüber- nen als selbstverständliche Erziehungs- und Quer- greifenden Themas „Gewaltprävention“ im neuen schnittsaufgabe der Schulentwicklung verstanden Rahmenlehrplan für die Jahrgangsstufen 1 – 10 für werden. die Länder Berlin und Brandenburg sind die Schu- len gehalten, dieses Thema in ihrem schulinter- nen Curriculum zu verankern. Dieser Bereich kann nicht von den anderen, gleichfalls verpflichtenden übergreifenden Themen losgelöst betrachtet wer- den, wie „Demokratiebildung“, „Interkulturelle Bil- dung und Erziehung“, „Gesundheitsförderung“, „Gleichstellung und Gleichberechtigung der Ge- schlechter“ (Gender Mainstreaming), „Sexualer- ziehung/Bildung für sexuelle Selbstbestimmung“ sowie „Bildung zur Akzeptanz von Vielfalt“ (Diver- sity). Immer bezogen auf den Einzelfall muss jede Schule intervenieren und dafür die am besten ge- eigneten Maßnahmen ergreifen. Den Schulleitun- gen und allen daran Beteiligten steht dabei frei, für die eigene Schule ein konkret dafür zugeschnitte- nes Gewaltpräventionskonzept zu erstellen. Der schulpädagogische Auftrag leitet sich aus dem Brandenburgischen Schulgesetz sowie dem Orientierungsrahmen Schulqualität ab. Im Brandenburgischen Schulgesetz heißt es dazu im § 4, dass die Schule zum Schutz der seelischen und körperlichen Unversehrtheit, der geistigen Freiheit und der Entfaltungsmöglichkei- ten der Schülerinnen und Schüler verpflichtet ist. Weiterhin fördert die Schule bei der Vermittlung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Werthaltungen insbesondere die Fähigkeit und Bereitschaft der Schülerinnen und Schüler, Beziehungen zu an- deren Menschen auf der Grundlage von Achtung, Gerechtigkeit und Solidarität zu gestalten, Konflik- te zu erkennen und zu ertragen sowie an vernunft- gemäßen und friedlichen Lösungen zu arbeiten.1 Mit dem Orientierungsrahmen Schulqualität wird allen Brandenburger Schulen ein Handlungs- konzept zum komplexen Thema Schulqualität zur Verfügung gestellt. Im Qualitätsbereich 3. Schul- kultur wird im Qualitätsmerkmal 3.2 beschrieben, wie die Schulen durch systematische Förderung der Konfliktlösefähigkeit gewaltpräventive Arbeit 1 vgl. Land Brandenburg (2018), o. S., in: https://bravors.brandenburg.de/gesetze/bbgschulg. 2 vgl. Bildungsserver Berlin-Brandenburg (2016), o. S., in: https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/schule/schulent wicklung/ schulqualitaet/orientierungsrahmen_schulqualitaet/Orientierungsrahmen_Schulqualitaet.pdf. 5
2 Gewalt 2.1 Definition Gewalt subjektive Empfinden, wo Gewalt beginnt und was diesen Begriff umfasst, seitens der Lehrkräfte, aber Der Gewaltbegriff ist weder umgangssprachlich auch der Schülerinnen und Schüler, unterschiedlich noch in der Wissenschaft eindeutig definiert. sein. Für die einen fängt Gewalt bei ironischen Be- merkungen oder Beleidigungen an, für andere sind Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert es bewusstes Ausgrenzen und Drangsalieren oder Gewalt in ihrem „Weltbericht Gewalt und Gesund- aber körperliche Auseinandersetzungen. heit“ (2002) wie folgt: „Der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem In der Schule spiegeln sich die gesellschaftlichen Zwang oder physischer Macht gegen die eigene Entwicklungen wider. Auch wenn Schule den Auf- oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder trag hat, ein angstfreies Klima zu schaffen, können Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit ho- Konflikte, die sich aggressiv und gewalttätig entwi- her Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psy- ckeln, nicht grundsätzlich verhindert werden. Da- chischen Schäden, Fehlentwicklung oder Depri- her ist es wichtig, die Schülerinnen und Schüler vation führt.“3 zum Umgang mit Konflikten und deren gewaltfrei- en Lösung zu befähigen. Gewalt wird einerseits als intentionales, also durch den Gewaltausübenden mit Sinn versehenes Han- deln verstanden, andererseits als eruptive, unüber- 2.2 Ziel der Gewaltprävention legte („sinnlose“) Reaktion, die gegebenenfalls aufgrund aggressiver Stimmungslagen zustande Gewaltprävention bezeichnet alle personellen und kommt. In beiden Fällen wird Gewalt als sozial un- institutionellen Maßnahmen, die der Entstehung erwünschtes, delinquentes Handeln beschrieben.4 von Gewalt vorbeugen bzw. diese reduzieren. Die- (Interessen-)Konflikte um soziale Machtpositionen se Maßnahmen zielen auf die Person selbst ab, auf sind nur dann legitim, wenn sie gewaltfrei ausge- die Lebenswelt dieser Adressaten, aber auch auf tragen werden. den Kontext der sie tangierenden sozialen Sys- teme. Aggression wird darüber hinaus beschrieben als „intendiertes Handeln mit dem Ziel, anderen phy- Die Gewaltprävention lässt sich in Anlehnung an sischen oder psychischen Schmerz zuzufügen. den kanadischen Wissenschaftler Gerald Caplan Dabei definiert sich feindselige Aggression als (1964) auf die drei Ebenen der primären, sekundä- Aggression mit dem Ziel, anderen Schmerz zuzu- ren und tertiären Prävention anwenden. fügen; instrumentelle Aggression benutzt das Zu- fügen von Schmerz als Mittel für einen anderen • Die primäre Prävention soll Gewaltbereitschaft Zweck.“5 und gewalttätiges Verhalten erst gar nicht ent- stehen lassen. Sie wendet sich an alle Schüle- Gewalt kann aber auch eine soziale Praxis sein, rinnen und Schüler. die Anerkennung schaffen soll. So erscheint Ge- • Die sekundäre Prävention zielt darauf ab, eine walt mutmaßlich attraktiv, weil sie unmittelbare bei einzelnen Schülerinnen und Schülern oder Wirkung zeigt.6 Diese (a-)soziale Funktion von Ge- Schülergruppen sich abzeichnende Gewaltent- walt verweist darauf, dass Gewalt sich häufig nicht wicklung rechtzeitig zu erkennen und ihr wirk- (nur) an das Opfer richtet, sondern auch an Drit- sam entgegenzuwirken. te; „Es wird vorgeführt, dass man Gewaltpotenzi- • Die tertiäre Prävention beabsichtigt, den Rück- ale besitzt“.7 fall bereits gewaltauffällig gewordener Schü- lerinnen und Schüler oder Schülergruppen zu Auch „Gewalt in der Schule“ ist ein Phänomen, das verhindern. nicht klar definiert und abgrenzbar ist. So kann das 3 WHO (2002) S. 6, in: https://www.who.int/violence_injury_prevention/violence/world_report/en/summary_ge.pdf. 4 vgl. Koloma, T. (2017), S. 17. 5 Aronson, E./ Wilson, T./Akert, R. (2008), S. 415. 6 vgl. Nassehi, A. (2020), S. 116. 7 ebenda, S. 117. 6
Das generelle Ziel von schulischer Gewaltpräven- 2.3 Formen von Gewalt tion ist es, die pädagogische Arbeit so zu gestal- ten, dass Gewalt entweder gar nicht auftreten kann An Schulen sind vielfältige Formen von Gewalt an- oder das bisher registrierte Gewaltniveau deutlich zutreffen. Diese können sowohl sehr verschiede- reduziert wird.8 Gewalt vorzubeugen ist eine wich- ne individuelle als auch unterschiedliche institutio- tige Aufgabe der Schulentwicklung. Gewaltpräven- nelle Gewaltformen sein. Die nachfolgende Tabelle tion ist daher bereits in vielen Schulprogrammen zeigt, dass Gewaltformen im schulischen Kontext bzw. dem schulinternen Curriculum verankert. nach individueller und institutioneller Gewalt klas- sifiziert werden können:9 Formen der Gewalt Beispiele Individuelle Gewalt physische Gewalt körperliche Angriffe; Schlagen; Treten • psychische Gewalt Abwertung; Abwendung; Ablehnung; Entmutigung; emotionales Erpressen • verbal beschimpfen; beleidigen; hänseln • nonverbal Gesten; Mimik; Blicke • indirekt jemanden schlechtmachen; Gerüchte streuen; ausgrenzen; ignorieren; andere anstiften usw. • neue psychische Gewaltformen Cyberbullying; Happy Slapping; Cybermobbing/-grooming (s. S. 11 ff) Vandalismus Zerstörung von Schuleigentum schwere Gewalt Amoklauf fremdenfeindliche, rassistische Gewalt Gewalt gegen bestimmte Herkunftsgruppen geschlechterfeindliche Gewalt Diskriminierung des (anderen) Geschlechts sexuelle Gewalt erzwungener intimer Körperkontakt; sexuelle oder sexualisierte Gewalt Institutionelle Gewalt legitime „Ordnungsgewalt“ Verfügungsmacht der Lehrkräfte zur Erfüllung der gesellschaftlichen Funktionen von Schule; vorge- gebene Schüler- und Lehrerrolle; Struktur schuli- scher Kommunikation; Leistungsprinzip illegitime „strukturelle Gewalt“ Beeinträchtigung der Selbstentfaltung und Selbstbestimmung der Schülerinnen und Schüler Tab. 1: verändert entnommen von: Schubarth, W. (2019), o. S., Klassifikation von Gewalt im schulischen Kontext 8 vgl. Bertet, R./Keller, G. (2011), S. 30. 9 vgl. Schubarth, W. (2019), o. S. 7
Die vorgenannten Formen der Gewalt sind bei- tes Verhalten wie ärgern, drangsalieren, ausgren- spielhaft und nicht abschließend; es gibt eine Rei- zen, demütigen oder auch angreifen. Mobbing he weiterer Formen. kann direkt (verbal oder körperlich) oder indirekt, etwa durch soziale Isolierung, erfolgen11 (s. vorste- Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Problem hende Tabelle unter 2.3). Als Beispiele für Mobbing und nicht nur ein Problem von Kindern und Ju- in der Schule können genannt werden: Schülerin- gendlichen. Gewalt kann auch ein Signal für unge- nen oder Schüler werden wegen ihres Aussehens, löste soziale Probleme und Konflikte sein. An den ihrer Kleidung, ihres Stils oder ihres Verhaltens be- Schulen ist Gewalt ein soziales ernstzunehmen- leidigt. Der schwedisch-norwegische Psychologe des Problem, das keinesfalls verharmlost werden und Professor für Persönlichkeitspsychologie Dan darf. Für die Prävention an der Schule ist zunächst Olweus definiert Mobbing so: „Wenn eine Schüle- zu klären, über welche Gewaltphänomene man rin oder ein Schüler Gewalt ausgesetzt ist oder ge- spricht und über welches Gewaltverständnis man mobbt wird, wenn sie oder er wiederholt oder über selbst verfügt. Dies kann mittels einer Gruppendis- eine längere Zeit den negativen Handlungen ei- kussion oder eines Fragebogens geschehen. Auf- nes oder mehrerer Schülerinnen und Schüler aus- bauend auf diese Bestandsaufnahme lassen sich gesetzt ist.12 konkrete Maßnahmen zur Gewaltprävention pla- nen und durchführen.10 Aus den vorgenannten Beschreibungen wird deut- lich, dass sich Mobbing über einen längeren Zeit- raum entwickelt. Kurzzeitige Konflikte, Streiterei- 2.4 Das Phänomen Mobbing en oder Ausgrenzungen fallen dagegen nicht unter den Begriff „Mobbing“. Wegen des subtilen Vorge- Unter die individuelle Gewalt fällt auch das Mob- hens des oder der für Mobbing Verantwortlichen, bing. Bei Mobbing handelt sich um ein gegen der Scham des Opfers und des Prozesscharakters Schülerinnen oder Schüler gerichtetes dauerhaf- ist Mobbing schwer zu erfassen. Mobbing ist oft 10 vgl. Schubarth, W. (2019), o. S. 11 vgl. Profiling Institut (2017), S. 1, in: https://www.profiling-institut.de/mobbing-in-der-schule/. 12 vgl. Olweus, D. (2006), o. S. 8
nicht auf Anhieb oder mitunter schwer erkennbar. • Schulhofgestaltung, Lehrkräfte und Sozialpädagogen aber auch die El- • Kontakttelefon einrichten, tern müssen daher genau hinsehen und aufmerk- • Kooperation Lehrkräfte – Eltern, sam gegenüber den Kindern und Jugendlichen • Lehrer-Arbeitsgruppen zur Entwicklung bleiben. Ein gutes soziales Klima in der Schule des sozialen Milieus an der Schule, sowie ein vertrauensvolles Lehrer-Schülerverhält- • Arbeitsgruppen der Elternbeiräte nis sind dafür die besten Voraussetzungen. Wich- (Klassen- und Schulelternbeiräte). tigstes Ziel von Schule muss die Entwicklung und Stärkung der sozialen und personalen Kompe- Maßnahmen auf der Klassenebene tenzen, hier insbesondere des Selbstwertgefühls der Schülerinnen und Schüler, sein. Dabei geht • Klassenregeln gegen Gewalt: Klarstellung, es auch um Reflektion des Verhaltens, Konfliktlö- Lob und Sanktionen, sungsstrategien, Kommunikation, Verantwortungs- • regelmäßige Klassengespräche (um z. B. übernahme und Respekt anderen gegenüber. die Regeln sowie deren Einhaltung zu über prüfen, etc.), Ein Programm, mit dem Schulen arbeiten können • Behandlung der Mobbing-Problematik im um Mobbing zu begegnen, ist das Präventions- Unterricht (z. B. Rollenspiele, Literatur, Filme und Interventionsprogramm des Psychologen Dan mit Fallbeispielen; bspw. Projekt „Gemeinsam Olweus, welches um vier Schlüsselprinzipien her- Klasse sein!“), um aufgebaut ist. Um die Ziele zu erreichen, bedarf • kooperatives Lernen (Gruppenaufgaben, es der Erfüllung zweier Voraussetzungen: soziales Lernen), • gemeinsame positive Klassenaktivitäten, • Problembewusstsein: Die Erwachsenen in der • Zusammenarbeit von Klassenelternbeirat und Schule, aber auch die Eltern müssen sich des Lehrkräften (wichtig bei Täter-Opfer-Eltern- Problems „Mobbing unter Schülern“ bewusst Konflikten). sein. • Betroffenheit: Die Erwachsenen müssen be- Maßnahmen auf der persönlichen Ebene (individu- schließen, sich ernsthaft mit dem Problem zu elle Schülerebene) befassen und sich für eine Änderung der Situa- tion einzusetzen.13 • intensive Gespräche mit den Gewalttätern und Mobbingopfern, Das Programm selbst setzt sich aus diversen Maß- • intensive Gespräche mit den Eltern beteiligter nahmen zusammen und spricht drei unterschiedli- Schülerinnen und Schüler, che Ebenen an: • Hilfe von unbeteiligten, „neutralen“ Schülern, • Hilfe und Unterstützung von Eltern (Eltern Maßnahmen auf der Schulebene mappe usw.), • Diskussionsgruppen für die Eltern der • Fragebogenerhebung zur Abschätzung des Täter und Opfer, Ausmaßes von Gewalt und Mobbing an der • nötigenfalls Klassen- und Schulwechsel. Schule (z. B. SMOB-Fragebogen – Fragebo- gen zum Schülermobbing), Besonders wichtig ist es dabei, möglichst auf allen • Gestaltung eines pädagogischen Tages „Ge- drei Ebenen parallel zu arbeiten. Das Programm walt und Gewaltprävention in unserer Schule“ sieht weiterhin Gespräche mit den Eltern sowie mit Experten (Schulpsychologinnen/Schulpsy- Tipps für Opfereltern vor: chologen, Polizei usw.), • Einberufung der Schulkonferenz zur „Verab- Gespräch mit den Eltern schiedung des Schulprogramms Gewaltprä- vention“, • ratsam: zunächst Einzelgespräche mit den • bessere Aufsicht während der Pausen und Täter-Eltern und Opfer-Eltern führen, der Essenzeit, 13 vgl. Olweus, D. (2002), S. 45 ff. 9
• im Gespräch: den Mobbingfall aufarbeiten/ und Schüler herbeigeführt werden. Der Ansatz ver- analysieren und Ziele zur Beseitigung des traut auf die Ressourcen und Fähigkeiten von Kin- Mobbings entwickeln sowie vereinbaren, dern und Jugendlichen, wirksame Lösungen auch • regelmäßige Überprüfung der Ziele durch im Fall von Mobbing herbeizuführen. Der No Bla- regelmäßige Gespräche. me Approach ist eine klar strukturierte Methode, die in drei aufeinander folgenden Schritten erfolgt: Hinweise für Eltern • Gespräch mit dem Mobbing-Betroffenen, • bei Verdacht auf Mobbing: Kontakt mit der • Gespräch mit der Unterstützungsgruppe, Lehrkraft zur Zusammenarbeit aufnehmen, • Nachgespräche.15 • Selbstvertrauen des Kindes aufbauen (z. B. spezifische Begabungen fördern, andere Mobbing unter Schülerinnen und Schülern ist ein soziale Gruppen erschließen/anbieten), kompliziertes gruppendynamisches Phänomen, • bei körperlicher Angst: Körpertraining das zu lösen nicht unterschätzt werden darf. Die und Selbstbehauptungstraining, Handelnden sind in ihren Rollen dabei ähnlich den • Kontaktaufnahme mit anderen Kindern Spielenden in einem Theaterstück; allerdings mit in der Schule, sich beraten, dem Unterschied, dass die Spielerinnen und Spie- • eine „übermäßig beschützende Haltung“ ler und Zuschauerinnen und Zuschauer identisch des eigenen Kindes hemmt hingegen den sind. Es gibt keine erhabene Bühne, die die Dar- Kontaktaufbau mit anderen Gleichaltrigen, stellerinnen und/oder Darsteller vom Publikum • alternative Reaktionsmuster entwickeln und trennt. Alles ist bespielter Raum, jede bzw. jeder unterstützen (mögliches, provozierendes wirkt mit – selbst die bzw. der Ruhigste, die oder Opferverhalten reflektieren), der scheinbar keine Rolle innehat. Kinder und Ju- • Mobbingprozess dokumentieren, gendliche dürfen in dieser Komplexität nicht sich • ggf. Fachkräfte hinzuziehen (Arzt, Schul selbst überlassen werden. Bei Mobbing darf nie psychologen/-innen, Polizei, Mobbing- auf eine „Selbstheilung“ vertraut werden. Der An- berater/-in, Therapeut/-in).14 spruch, das solle sich am besten „untereinander selbst klären“ ist im Fall von Mobbing eine fatale Weitere Präventionsmöglichkeit: im Klassenver- Einstellung (von Erwachsenen), die immer zu Las- band das „Gemeinsam Klasse sein“ thematisieren ten des Opfers enden wird.16 sowie soziales Lernen in allen Unterrichtsfeldern. Gewalt einschließlich Mobbing ist ein Phänomen Eine wirksame lösungsorientierte Vorgehenswei- unter Jugendlichen, das nicht neu ist und insbe- se, um Mobbing unter Schülerinnen und Schülern sondere die Schulen vor große Herausforderungen zeitnah und nachhaltig zu beenden, ist im Rah- stellt. Neu sind lediglich die Formen bzw. Orte (In- men der Intervention der sogenannte No Blame ternet), die ein Erkennen und ein Handeln schwie- Approach, also ein „Ansatz ohne Schuldzuwei- riger machen. sung“. Hierbei wird – trotz der schwerwiegenden Mobbing-Problematik – auf Schuldzuweisungen und Bestrafungen verzichtet. Der Ansatz hat sich 2.5 Gewalt und digitale Medien als wirksames Instrument für die Bewältigung von vielschichtigen und diffusen Mobbing-Problemati- Das Aufwachsen junger Menschen wird von digi- ken in der Schule bundesweit etabliert und weiten talen Medien geprägt wie nie zuvor. Mit der allge- Bekanntheitsgrad erreicht. In allen Schritten der genwärtigen Verfügbarkeit und mit immer neuen Durchführung richtet sich der Blick darauf, konkre- Inhalten und Interaktionsmöglichkeiten erfordern te Ideen zu entwickeln. So soll eine bessere Situa- die damit verbundenen Chancen und Herausforde- tion für die von Mobbing betroffenen Schülerinnen rungen eine fortlaufende Positionsbestimmung.17 14 vgl. Olweus, D. (2006), o. S. 15 vgl. fairaend Mediation, Konfliktberatung Heike Blum/Detlef Beck (2021) o. S., in: https://www.no-blame-approach.de/no_blame_approach.html. 16 vgl. Lehner, H./Vervoort, D. (2017), S. 7. 17 vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2013), S. 10, in: https://www.gmk-net.de/wp-content/uploads/2018/07/ medienkompetenzbericht_2013.pdf. 10
Das Internet übt einen Reiz aus, der nicht darüber Cybermobbing/Cyberbullying hinwegtäuschen darf, dass viele Kinder und Ju- Unter Cybermobbing (Synonym zu Cyberbullying) gendliche gerade dadurch Gefahren ausgesetzt wird absichtliches Beleidigen, Bedrohen, Bloß- werden, auf die sie gar nicht vorbereitet sind. Vor stellen oder Belästigen anderer mithilfe von Inter- allem bei Kindern im Alter zwischen 6 und 13 Jah- net- und Mobiltelefondiensten über einen längeren ren ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie in Zeitraum hinweg verstanden. Die Täterin oder der Kontakt mit gefährdenden Kommunikationsinhalten Täter – auch „Bully“ genannt – sucht sich ein Op- kommen können.18 Die inhaltliche Vielfalt und die er- fer, das sich nicht oder nur schwer gegen die Über- weiterten Zugangsmöglichkeiten der digitalen Me- griffe zur Wehr setzen kann. Zwischen Täterin bzw. dien bringen – gerade für die 6- bis 13-Jährigen – Täter und Opfer besteht somit ein Machtungleich- auch problematische Aspekte mit sich. Im Rahmen gewicht, welches die Täterin oder der Täter aus- der KIM-Studie 2018 (Kindheit-Internet-Medien) nutzt, während das Opfer sozial isoliert wird. Cy- gaben 5% der Internetnutzerinnen und Internetnut- bermobbing findet im Internet (Social Media oder zer an, online auf unangenehme Inhalte gestoßen Video-Portale) und über Smartphones (Instant- zu sein, 4% sind mit ängstigenden Inhalten in Kon- Messaging-Anwendungen wie WhatsApp oder läs- takt gekommen. 3% haben online schon unange- tige Anrufe etc.) statt. Dabei handelt der „Bully“ oft nehme Bekanntschaften gemacht, 7% haben schon anonym, sodass das Opfer nicht weiß, von wem im Freundeskreis mitbekommen, dass problemati- genau die Angriffe stammen. Bei Cybermobbing sche Nachrichten, Bilder oder Filme online oder per unter Kindern und Jugendlichen kennen sich Op- Smartphone verbreitet wurden.19 fer und Täterinnen oder Täter aber meist aus dem realen persönlichen Umfeld, wie z. B. der Schule, Durch den richtigen Umgang mit digitalen Medien dem Wohnviertel, dem Dorf oder der ethnischen können Kinder und Jugendliche vor Gefahren aus Community. Opfer haben daher fast immer einen dem Netz gewarnt und geschützt werden. Gefah- Verdacht, wer hinter den Attacken stecken könn- ren aus dem Netz können sein: te. Das Cybermobbing geht oft mit Mobbing in der 18 vgl. Leingartner, L. (2017), o. S., in: https://soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/499/900. 19 vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2019), S. 60, 62f., in: https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/KIM/2018/ KIM-Studie_2018_web.pdf. 11
realen Welt einher, gerade weil der „Bully“ meist Hate Speech aus dem näheren Umfeld des Opfers stammt. Das Das englische hate bedeutet Hass. Hate Speech Mobbing wird teils online weitergeführt oder es be- ist somit eine Ausdrucksform mit Botschaftscha- ginnt online und setzt sich im Schulalltag fort. Aus rakter (bspw. Schrift, Sprache, Video), die absicht- diesem Grund sind Mobbing und Cybermobbing in lich Ausgrenzung, Verachtung und Abwertung för- der Mehrheit der Fälle kaum oder schwer vonein- dert, rechtfertigt oder verbreitet und jemanden oder ander zu trennen.20 ganze Gruppen in diskriminierender Weise in der Würde verletzt, herabsetzt oder demütigt.24 Cybergrooming nennt man die Tatsache, wenn Täterinnen oder Zur Prävention ist es wichtig, dass Kinder und Ju- Täter (gezielt) im Internet nach ihren Opfern su- gendliche wissen, dass das Verbreiten von oder chen. Der Begriff leitet sich vom englischen groo- der Aufruf zu Hass und Gewalt strafbar ist. Erreicht ming für anbahnen oder vorbereiten ab und steht wird das durch die Vermittlung von Medienkom- für unterschiedliche Handlungen, die einen sexu- petenz. Ebenso spielt die Wertevermittlung sowie ellen Missbrauch vorbereiten. Es bezeichnet das der Beutelsbacher Konsens eine wichtige Rolle. strategische Vorgehen von Täterinnen und Tätern Das bedeutet, dass die Kinder und Jugendlichen gegenüber Mädchen und Jungen.21 Sie suchen lernen, was mit dem Handy erlaubt ist und was den Kontakt, gewinnen das Vertrauen der Mäd- nicht. Die vorgenannten Gefahren aus dem Netz chen und Jungen, manipulieren deren Wahrneh- sind nicht abschließend. Im Anhang 1 sind Ausfüh- mung, verstricken sie in Abhängigkeit und sorgen rungen zur strafrechtlichen Relevanz aufgeführt, dafür, dass sie sich niemandem anvertrauen. Die- die sich bei vorgenannten Fällen ergeben können. se Handlungen sind als Vorbereitung zu sexuel- lem Kindesmissbrauch strafbar, selbst wenn sie in einem Chatroom erfolgen.22 Ein Beispiel dafür ist 2.6 Gewalt gegen Lehrkräfte der Mädchenhandel durch die sogenannte Lover- boy-Methode. Das Problem „Gewalt gegen Lehrkräfte“ kann nicht isoliert vom Gesamtphänomen „Gewalt an Schu- Sexting len“ betrachtet werden. Die in den Kapiteln 2.3 bis beschreibt das Versenden und Empfangen selbst- 2.5 vorgestellten Formen von Gewalt, aber auch produzierter, freizügiger Fotos oder Video-Aufnah- die Verbreitung durch bzw. über die Medien, kön- men via Computer oder Smartphone. In der Wis- nen gleichermaßen auch Lehrkräfte und darüber senschaft hat sich der Begriff „Sexting“ etabliert, hinaus auch alle anderen an Schule Beteiligte (Se- aber unter Jugendlichen ist er nicht besonders kretär/-in, Schulsozialarbeiter/-in, Hausmeister/-in bekannt. Jugendliche (und auch Erwachsene) be- etc.) treffen. Schule sollte ein Ort des Respekts nennen eher die Tätigkeit und nutzen dafür Wör- und des friedlichen Miteinanders sein. Gewalttäti- ter wie „sexy Aufnahmen/Selfies/Pics/Posingbilder ges Verhalten zielt direkt auf die jeweilige Person oder Nudes“. Bei Sexting-Aufnahmen handelt es als Individuum ab, oder Schulbeschäftigte geraten sich oft um Fotos in Badehose, Bikini oder Unter- als Vertreterin bzw. Vertreter der Schule in den Fo- wäsche, oben-ohne-Aufnahmen sowie Nacktbil- kus aggressiver Schülerinnen und Schüler, Eltern der bestimmter Körperregionen. Soziale Netzwer- oder auch schulfremder Personen. ke wie Snapchat und WhatsApp werden häufig für Sexting genutzt.23 20 vgl. Landeszentrale für Medien und Kommunikation (LMK) Rheinland-Pfalz gemeinsam mit der Landesanstalt für Medien NRW (o. J.), o. S., in: https://www.klicksafe.de/themen/kommunizieren/cyber-mobbing/cyber-mobbing-was-ist-das/. 21 vgl. Bundesregierung (2020), o. S., in: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/schutz-vor-cybergrooming-1640572. 22 vgl. Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindermissbrauchs (2020), o. S., in: https://beauftragter-missbrauch.de/praevention/ sexuelle-gewalt-mittels-digitaler-medien/cybergrooming. 23 vgl. Landeszentrale für Medien und Kommunikation (LMK) Rheinland-Pfalz gemeinsam mit der Landesanstalt für Medien NRW (o. J.), o. S., in: https://www.klicksafe.de/themen/problematische-inhalte/sexting/sexting-worum-gehts/. 24 vgl. Schubarth, W. (2019), S. 21. 12
Gewalt an Lehrkräften die Leitung des zuständigen staatlichen Schulam- Eine Lehrkraft kann grundsätzlich Anzeige in eige- tes hat grundsätzlich – im Rahmen der Fürsorge- ner Sache erstatten. Bei bestimmten Delikten ge- pflicht – die Möglichkeit, eine Strafanzeige zu stel- nügt eine Strafanzeige indes nicht. Bei einer Be- len. In allen Fällen, in denen ein gezielter Angriff leidigung oder einfachen Körperverletzung muss auf eine Lehrkraft in Ausübung ihres/seines Am- die/der Geschädigte einen Strafantrag stellen. Für tes erfolgt, ist grundsätzlich – in Wahrnehmung der einen Straftatbestand muss eine Strafmündigkeit Fürsorgeverantwortung der Behörde – von der Lei- des mutmaßlichen Täters bzw. der Täterin vorlie- tung des staatlichen Schulamtes ein Strafantrag gen; Kinder unter 14 Jahren können strafrechtlich zu stellen. Das gilt besonders bei jedem Angriff nicht belangt werden. Jugendliche Täter müssen mit Waffengewalt und verdeutlicht der Täterin/dem mit Sanktionen nach dem Jugendgerichtsgesetz Täter oder außenstehenden Dritten exemplarisch, (JGG) rechnen. welche Art der Grenzüberschreitung nicht hinzu- nehmen ist. Lehrkräfte sollten darüber hinaus – unter Berück- sichtigung des Alters der Schülerinnen und Schü- Maßnahmen zur Prävention ler – erzieherische Maßnahmen oder weitere Um Gewalt gegenüber Lehrkräften nach Möglich- Maßnahmen entsprechend der Verordnung über keit präventiv zu begegnen bzw. im Vorfeld einzu- Konfliktschlichtung, Erziehungs- und Ordnungs- dämmen, werden konkrete Unterstützungen und maßnahmen (Erziehungs- und Ordnungsmaß- Maßnahmen angeboten: nahmen Verordnung – EOMV) in Betracht ziehen. Wichtig bleibt es, klare Grenzen zu setzen, wenn • Fortbildungsveranstaltungen für Schulberate- es zu psychischer oder physischer Gewalt gegen- rinnen und Schulberater, über Lehrkräften gekommen ist. Dafür braucht es • speziell an Schulpsychologinnen und Schul- von allen Seiten einen Konsens darüber, dass Ge- psychologen sowie Schulleitungen gerichtete walt in der Schule keinen Platz haben darf.25 Dies Veranstaltungen, gilt nicht nur, wenn die Gewalt gegen Lehrkräfte • Schulleiterqualifikation, Zusatzqualifizierung, von Schülerinnen oder Schülern ausgeht sondern Prozessberatung und -begleitung, auch, wenn Gewalt seitens der Schulleitung bzw. • nachfrageorientierte Angebote der regiona- von den Kolleginnen und Kollegen erfolgt (soge- len Beratungs- und Unterstützungssysteme nanntes Bossing). (BUSS), • Zusammenarbeit der Schulen mit der Polizei, Hat sich ein Mobbing-/Bossingfall bestätigt, werden • Angebote der Gewaltprävention durch die Re- nachfolgende Schritte empfohlen: gionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA Brandenburg). • Unterstützung der/des Ratsuchenden bei Ver- trauenspersonen, Experten etc., ggf. mit Hand- Im Rahmen der Schulentwicklung werden z. B. an- lungsempfehlungen, geboten: • Gespräch aller Beteiligten unter Einbeziehung des Personalrates, • Präventionskonzepte, • Angebot an die/den Ratsuchende/-n, an einer • schulinterne Veranstaltungen, anderen Schule zu arbeiten, • Teams zur gegenseitigen Unterstützung, • Prüfung dienstrechtlicher Konsequenzen für • „Neue Autorität“. die/den Vorgesetzten. Darüber hinaus steht die überregionale Arbeitsstel- Dabei sind auch die Regelungen nach dem Rund- le „Arbeitssicherheit und Gesundheit“ beim Staatli- schreiben „Hinsehen-Handeln-Helfen“ zu beach- chen Schulamt Cottbus26 zur Verfügung. Sie ist An- ten. Sie sind auch anwendbar, wenn Lehrkräften sprechpartner für: Gewalt angetan wird. Auch die Schulleitung bzw. 25 vgl. Böhm, J. (2017), o. S., in: https://www.polizei-dein-partner.de/nc/themen/schule/detailansicht-schule/artikel/wie-koennen-sich-lehrer-vor-gewalt- schuetzen.html. 26 Die Arbeitsstelle befindet sich auf der Liegenschaft des Studienseminars Potsdam in der Karl-Marx-Str. 33/34, 14482 Potsdam und ist telefonisch unter der Nr. (0331) 2844-124) zu erreichen. 13
• Sprechstunden der Arbeitspsychologinnen und Schulamt Frankfurt (Oder) an. Die „Betriebliche Arbeitspsychologen, Gesundheitsförderung“ umfasst alle präventiven • Einzelmaßnahmen – Umgang mit Gewalt Maßnahmen zur Verbesserung von Gesundheit erfahrungen (nach einem Ereignis), und Wohlbefinden der Lehrkräfte am Arbeitsplatz • Maßnahmen zur Gesundheitsprävention für Schule sowie das Thema Mobbing/Bossing. Kollegien und Teilkollegien, • Angebote des arbeitsmedizinischen Dienstes, Interventionen • Gewaltprävention nach dem „Aachener Modell Interventionsansätze existieren auf zwei Ebenen: zur Reduzierung von Bedrohungen und Über- der persönlichen Ebene, auf der all die Interventi- griffen am Arbeitsplatz“ (resultiert aus Erfah- onsmaßnahmen angesiedelt sind, die sich auf die rungen der gemeinsamen erfolgreichen und betroffene Lehrkraft bezieht und auf der Ebene der kooperativ gestalteten Aufsichts- und Präventi- Organisation Schule. Diese umfasst alle Maßnah- onsarbeit der Unfallkasse Nordrhein-Westfalen men, die zur Einleitung und Durchführung von or- und des Polizeipräsidiums Aachen), ganisatorischen Verfahren zur schulischen und au- • DOKI-Methode (dialogorientierte körperliche ßerschulischen Be- und Verarbeitung notwendig Intervention). sind. Es ist daher empfehlenswert, unabhängig von der konkreten Gewaltform und den dahinter- Zudem bietet sich eine Kooperation mit der neu liegenden Straftatbeständen, folgende Interventi- gegründeten überregionalen Arbeitsstelle „Be- onsmaßnahmen zu ergreifen: triebliche Gesundheitsförderung“ beim Staatlichen Interventionsmaßnahmen auf der Interventionsmaßnahmen auf der persönlichen Ebene Ebene der Organisation Schule Erste Hilfe leisten (physisch und auch psychisch) Organisation einer wirksamen Ersten Hilfe sicherstellen (physisch und psychisch) Unterstützung anbieten und Lehrkraft in einen Ressourcen bereitstellen, um die Bedürfnisse der geschützten Raum begleiten. betroffenen Lehrkraft wahrnehmen und sie unter- stützen zu können. Meldung des Vorfalls bei der Schulleitung innerschulisches Krisen- und Beratungsteam (wenn vorhanden) zur Planung der nächsten Schritte einberufen Eingehen auf die Bedürfnisse der Lehrkraft Kontaktaufnahme mit der schulischen Ansprech- (z. B. kann sie in der kommenden Stunde in den person Polizei Unterricht gehen? Unterstützung der Lehrkraft nach dem Unterricht?) bei notwendiger medizinischer Versorgung Dokumentation der Gewalttat an der Schule, Transport ins Krankenhaus oder Aufsuchen z. B. im Verbandbuch des Durchgangsarztes Dokumentation der Gewalttat an der Schule, Meldung des Vorfalls als Arbeits- oder Dienstun- z. B. im Verbandbuch fall Meldung des Vorfalls als Arbeits- bzw. Kommunikation und Information im Kollegium, da Dienstunfall sich solche Vorfälle ggf. bereits in ähnlicher Form ereignet haben oder sich wiederholen können. Ziel ist die Sensibilisierung des Kollegiums, um frühzeitig Gewaltbereitschaft von Schülerinnen und Schülern wahrzunehmen. 14
zeitnahe Anfertigung eines Geschehensproto- Nachsorge anstoßen: „Sicherheits- und Deeska- kolls mit Zeit, Ort, beteiligten Personen, Zeugen, lationstraining“ als individuelles Angebot oder als Tathergang, wörtlichen Zitaten der Tatbeteiligten allgemeine Fortbildung in Betracht ziehen; sich im Kollegium um einen fallbezogenen Austausch bemühen (Intervision). Beim Vorliegen einer Gewaltstrafftat wird weitere Maßnahmen (evtl. schulische Ordnungs- empfohlen, eine Strafanzeige zu erstatten maßnahmen abstimmen, Täter-Opfer-Ausgleich und die Straf(un)mündigkeit von Kindern unter etc.) 14 Jahren zunächst zu vernachlässigen. Beim Vorliegen eines Verbrechenstatbestandes entfällt jedoch jeglicher Ermessensspielraum und eine Strafanzeige ist zwingend notwendig. Nachbereitung anstoßen: sich um einen fallbezo- Unterstützung dazu finden Lehrkräfte bei den genen Austausch bemühen (Intervision, Super Schulleitungen, dem BUSS- und den Schulbe vision und kollegiale Fallberatung). rater/-innen der RAA Brandenburg. Tab. 2: entnommen und ergänzt aus Broschüre „Gewalt gegen Lehrkräfte“ der Bezirksregierung Münster in Zusammenarbeit mit der Unfallkasse NRW und weiteren Beteiligten, 2017, S. 22. Neben den genannten Maßnahmen der Interven- Sie kann sich in physischer Form, z. B. durch Kör- tion gibt es – je nach Gewaltform – unterschied- perkraft oder Gegenstände, als auch in psychi- liche rechtliche Verortungen und daran gekoppelt scher Form, z. B. Abwertung oder Vernachlässi- spezifische Interventionsmöglichkeiten. Die Inter- gung äußern.29 Die Unschärfe des Gewaltbegriffs vention ist eine Aufgabe der Schulen.27 macht es schwierig, empirische Daten zu erheben und zu bewerten. Körperliche Züchtigung als pä- dagogisches Konzept ist streng verboten, gefragt 2.7 Gewalt durch Lehrkräfte und die Rolle wird aber, inwiefern demütigendes und verletzen- von Lehrkräften bei der Gewalt zwi- des Handeln durch Lehrkräfte zu den Alltagserfah- schen Schülerinnen und Schülern rungen von Kindern und Jugendlichen gehören. Aus Sicht von Schülerinnen und Schülern sowie In der Mehrzahl der Literatur zum Thema „Gewalt Eltern wird häufig der Vorwurf der „Ungerechtig- an Schule“ steht die Gewalt zwischen Schülerin- keit“ und des kränkenden Verhaltens erhoben. An- nen und Schülern im Vordergrund. Das Thema sätze solchen Verhaltens in der Schule – unter- „Gewalt durch Lehrkräfte“ wird in Studien und der halb der Schwelle dienst- und schulaufsichtlichen Literatur kaum erwähnt, aber in Schüler- und El- Handelns – zu thematisieren, können bei Lehr- ternforen diskutiert. Darüber hinaus wird das The- kräften z. B. an den eigenen Erfahrungen als frü- ma „Gewalt gegen Lehrkräfte“ zunehmend durch here Schülerin oder Schüler anknüpfen – mit der Medien, Politik und Verwaltung wahrgenommen.28 Fragestellung: Was haben sie als Kind oder Ju- Die Erziehungswissenschaftler Schubarth und Ul- gendliche selbst als ungerecht, demütigend, be- bricht definieren den Begriff „Lehrergewalt“ als „die leidigend oder gewalttätig empfunden? Positiv – von Schülerinnen und Schülern wahrgenommene und von den Kinderrechten ausgehend – wird dies Schädigung oder Verletzung durch Lehrpersonen“. durch die sogenannten Reckahner Reflexionen zur 27 vgl. Bezirksregierung Münster (2017), S. 22, 24ff. 28 Ausnahmen bilden die Arbeiten um die Erziehungswissenschaftler Volker Krumm (Uni Salzburg), Annedore Prengel und Wilfried Schubarth (Uni Pots- dam) sowie eine kleine Studie des Bremer Senats. Schließlich sind die Untersuchungen zur sexualisierten Gewalt im Zusammenhang der Skandale des Canisius-Kollegs und der Odenwaldschule zu nennen. 29 vgl. Dudziak, I. (2017), in: Bilz, L./Schubarth, W./Dudziak, I./Fischer, S./Niproschke, S./Ulbricht, J. (Hrsg.) (2017), S. 58. 15
Ethik pädagogischer Erziehungen30 (Lehrer-Ethos) Eine weitere Möglichkeit besteht in der Einrichtung aufgenommen. eines Beschwerdemanagements für alle am Ort Schule, wo jede Form und jede „Richtung“ von Ge- Eine weitere Frage ist, welche Rolle Lehrkräfte walt thematisiert werden können. Grundlegende bei der Gewalt zwischen Schülerinnen und Schü- Materialien sind bei der Landeskooperationsstel- lern spielen. Zielgruppe von Gewalt sind sehr häu- le Schule – Jugendhilfe im Internet abrufbar.33 fig Dritte: Wer Gewalt ausübt demonstriert ande- ren, dass er oder sie über Gewaltpotenzial verfügt. Lehrkräfte können dies unterbinden; sie können 2.8 Studienlage/Statistiken aber auch – bewusst und absichtlich oder unbe- wusst und unabsichtlich – ausgrenzendes, dis- Viele fragen sich: Gibt es immer mehr Gewalt an kriminierendes und verletzendes Verhalten unter Schulen oder hat sich nur das Empfinden geän- Schülerinnen und Schülern verstärken oder sogar dert? Zahlreiche Studien haben das Gewaltverhal- auslösen.31 ten an Schulen untersucht. Die Schule als Institution prägt den Rahmen für Für die Spezialstudie „Lehrerintervention bei das soziale Lernen. Wenn ein gutes Schulklima Gewalt und Mobbing“ wurden von Juni bis Okto- herrscht, die Lehrkräfte professionell agieren und ber 2014 an 24 sächsischen Schulen (7 Gymnasi- die Schulstrukturen Partizipation ermöglichen, en, 13 Oberschulen, 4 Förderschulen) über 2.000 können diese Faktoren dazu beitragen, Leistungs- Schülerinnen und Schüler der Klassenstufen 6 und druck, Schulangst und Problemverhalten unter 8 sowie rund 550 Lehrkräfte befragt. Schwerpunk- Schülerinnen und Schülern zu mindern. Dadurch te sind zwei bislang kaum beachtete Aspekte: die sind Lernmotivation und Freude am Schulbesuch als Forschungsdesiderat zu bezeichnenden Trend- leichter möglich. Das Kollegium einer Schule soll- analysen unter Nutzung eines Schülerfragebogens te mit allen Beteiligten möglichst klare Regeln für (z. B. HBSC-Studie), der bereits vor mehr als 20 den Gewaltverzicht formulieren. Zum Beispiel kann Jahren bei einer ähnlichen Stichprobenkonstrukti- ein gemeinsamer Schulvertrag für ein gewaltfreies on eingesetzt wurde, sowie die Lehrerintervention Miteinander vereinbart werden, den Lehrkräfte so- im Kontext schulischer Gewaltprävention. Mit der wie Schülerinnen und Schüler gemeinsam unter- Veröffentlichung dieser Studie konnten die gesi- zeichnen. Möglich sind auch jährliche Aktionstage cherten Erkenntnisse zur Entwicklung der Schü- an Schulen, die sich mit dem Phänomen bewusst lergewalt im Zeitraum von etwa 1996 bis 2014 vor- auseinandersetzen. In konfliktträchtigen Situatio- gestellt werden. nen sollten die Lehrkräfte sowie die Schulleitung entsprechend konsequent eindeutige Grenzen set- Als Ergebnis der Befragung geben Schülerinnen zen. Um aggressives oder gewalttätiges Handeln und Schüler sowie Lehrkräfte mehrheitlich an, jedoch wirklich zu verstehen, muss der Kontext dass in Gewalt- und Mobbingfällen interveniert einbezogen und ermessen werden. Neben dem wird. Nur 2% der Lehrkräfte geben an, bei dem situativen Rahmen zählen dazu die Beziehungen letzten, selbst erlebten Gewalt- bzw. Mobbingvor- zwischen den teilnehmenden Personen, Hinweise fall, nicht interveniert zu haben. 77% der Lehrkräf- auf Gruppenkonstellationen und ein geschlechter- te haben in der Situation interveniert, 21% haben sensibler Blick. Auch die familiäre Situation sollte die Situation zunächst nur beobachtet und später beachtet werden. So können Lehrkräfte beim Auf- interveniert. treten von Gewalt das individuelle Verhalten einer Schülerin oder eines Schülers besser bewerten. 32 30 vgl. Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Erziehungen (2017), S. 12, in: http://paedagogische-beziehungen.eu/wp-content/uploads/2017/11/ bf_Broschu%CC%88re-ReckahnerReflektionen.pdf. 31 Es geht hier einerseits um die Förderung einer hohen Sensibilität gegenüber den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen, als auch um eine sen- sible Reflexion der Möglichkeiten des eigenen Handelns. Die Reckahner Reflexionen als auch RAA Brandenburg arbeiten hier mit dem Anti Bias Ansatz (Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung). 32 vgl. GEW (2011), S. 9, 13f., in: https://www.gew.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=24451&token=774de92d- 6873c50ef598456c97db229c5114b487&sdownload=. 33 Jann, N./von Oppen, J. (2019), o. S., in: https://www.kobranet.de/fileadmin/user_upload/Projekte/Landeskooperationsstelle_Schule_-_Jugendhilfe/ Fachbeitr%C3%A4ge_zur_Kooperation/FzK_1-19_Beschwerdeverfahren_in_Jugendhilfe_und_Schule.pdf. 16
30% der Schülerinnen und Schüler berichteten, Schülerinnen und Schüler mit materiellen Sorgen dass die Lehrkräfte von dem von ihnen berichte- erleben der Studie zufolge häufiger Gewalt.35 ten Fall nicht erfahren haben. Damit wurde rund jeder dritte Mobbingfall den Lehrkräften gar nicht Nach der Studie „Jugend in Brandenburg 2017“ erst gemeldet. Nach Aussagen der Schülerinnen des Instituts für angewandte Familien-, Kindheits- und Schüler soll jede zehnte Lehrkraft nichts unter- und Jugendforschung e. V. an der Universität Pots- nommen und das Geschehen nicht weiter beach- dam hat sich die Gewaltakzeptanz der branden- tet haben, selbst wenn sie von dem Vorfall gehört burgischen Jugendlichen gegenüber dem Jahr hätte. 5% der Lehrkräfte sollen Mobbingfälle baga- 2010 kaum verändert. Es ist eine leichte Abnahme tellisiert haben. 14% der Schülerinnen und Schüler zu verzeichnen; in allen Teilgruppen ist die Gewalt- gaben an, dass die Lehrkräfte die Situation nur be- akzeptanz in der Kategorie „hoch“ gegenüber 2010 obachtet haben. Umgekehrt haben jedoch in 71% gesunken. Die größte Veränderung ist bei den der geschilderten realen Mobbingsituationen, die Oberschülerinnen und Oberschülern festzustel- den Lehrkräften bekannt waren, die Lehrkräfte laut len, jedoch ist trotz dieser Abnahme die Gewalt- Schüleraussagen interveniert. akzeptanz in dieser Gruppe noch deutlich höher als bei den Schülerinnen und Schülern an Gym- Die Ergebnisse dieser Trendanalyse zeigen sehr nasien oder an den beruflichen Schulen (OSZ). deutlich eine Tendenz zur Besserung im Zeitraum Der Anteil der brandenburgischen Jugendlichen, von 1996 bis 2014. Entgegen von Medien sugge- die sich nie an gewalttätigen Aktionen beteiligen, rierten Alltagsannahmen zeigt die Studie, dass im ist nach einem Rückgang im Jahr 2005 in den zu- Zeitvergleich von 1996 mit 2014 die Gewalt an den rückliegenden Jahren wieder deutlich gestiegen untersuchten Schulen nicht zu-, sondern abgenom- und erreicht damit den höchsten Wert in der Zeit- men hat. Das betrifft sowohl die Schüler- als auch reihe seit dem Jahr 1996. Der Anteil der Jugendli- Lehrergewalt. Die Bereitschaft, in gewalthaltigen chen, die außerhalb der Schule noch „nie“ geschla- Konfliktsituationen einzugreifen und zu schlichten, gen wurden, ist gestiegen, ebenso der Anteil von hat sowohl bei den Schülerinnen und Schülern als Jugendlichen, die „fast nie“ Gewalt in ihrem Frei- auch bei den Lehrkräften zugenommen.34 zeitumfeld erfahren. Im Hinblick auf Gewalt an der Schule lässt sich im Zeitreihenvergleich zwischen Die Studie „Nehmt sie ernst! Junge Menschen 1996 und 2005 sowie im Jahr 2017 ein starker An- wollen gehört und beteiligt werden“ (2019) der stieg bei den Jugendlichen erkennen, die an ihrer Bertelsmann Stiftung führt an, dass mehr als die Schule „fast nie“ Gewalt wahrnehmen. Weitere Be- Hälfte aller Kinder und Jugendlichen in der Schule fragungsergebnisse deuten darauf hin, dass sich Ausgrenzung, Hänseleien oder körperliche Gewalt seit 2010 der Umgang der Lehrkräfte mit Gewalt erleben. Etwa ein Viertel fühlt sich in der Schule an der Schule verändert hat. In den Augen der Ju- nicht sicher. Für die Untersuchung wurden bun- gendlichen scheinen die Lehrkräfte Gewalt an der desweit 3.448 Schülerinnen und Schüler im Alter Schule seltener zu ignorieren.36 zwischen acht und 14 Jahren befragt. Besonders hoch sei der Anteil an Übergriffen in Grundschu- Die Ergebnisse der HBSC-Gesundheitsstudie len: Knapp 30% der befragten Jungen und Mäd- 2018 „Kinder- und Jugendgesundheit in Bran- chen hätten angegeben, von anderen Schülerin- denburg“ zeigen in den Brandenburger Ergebnis- nen und Schülern gehänselt, ausgegrenzt und sen auf, dass die meisten befragten Brandenbur- zudem noch „absichtlich gehauen“ worden zu ger Kinder und Jugendlichen keine Erfahrungen sein. An Haupt-, Real-, Gesamt- und Sekundar- als Gemobbte oder Mobbende in der Schule ge- schulen hat nach eigenen Angaben jeder Fünfte macht haben. So haben im Bereich des schuli- sämtliche dieser Übergriffe im Monat zuvor erlebt schen Mobbings 90,9% der Befragten keine Er- oder mitbekommen, in Gymnasien jeder Zehnte. fahrung als Gemobbte gemacht und 95,8% keine Erfahrung als Mobbende. Im Bereich des Cyber- 34 vgl. Melzer, W./Schubarth, W./Bilz, L. (2017), in: Bilz, L./Schubarth, W./Dudziak/Fischer, S./Niproschke, S./Ulbricht, J. (Hrsg.), S. 11, 278 f. 35 vgl. Studie „Nehmt sie ernst…“ (2019), in: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2019/juli/nehmt-sie-ernst-junge- menschen-wollen-gehoert-und-beteiligt-werden/. 36 vgl. Institut für angewandte Familien-, Kindheits- und Jugendforschung e.V. an der Universität Potsdam (2018), S. 14ff. 17
mobbing haben 96,3% keine Erfahrung als Ge- der Körperverletzung einen Rückgang (86 Fälle) mobbte gemacht und 98% keine Erfahrung als sowohl vom 2. Schulhalbjahr 2018/2019 (78 Fäl- Mobbende.37 Jedoch sind 6,2% mobbende Schü- le) als auch im gesamten Schuljahr 2018/2019 lerinnen und Schüler immer noch zu viel. In der (154 Fälle) auf. HBSC-Studie wird an den Zahlen auch deutlich, dass insbesondere Mobbing in Folge zu einer Zu- Erkennbar ist, dass die Studien unterschiedliche nahme von psychisch auffälligen und besonders Ergebnisse aufweisen. In einigen Studien gehen problembelasteten Schülerinnen und Schülern die Gewaltakzeptanz und Gewalterfahrung zurück; führt. Die psychischen Belastungen können z. B. in anderen haben sie zugenommen. Auch die Sta- zu Schlafproblemen oder Depressionen führen. tistiken der Meldungen an die Polizei und die Mel- dungen durch die staatlichen Schulämter weisen In der polizeilichen Kriminalstatistik wurden im unterschiedliche Ergebnisse auf. Gemeinsam wei- Jahr 2019 insgesamt 1.317 Gewaltdelikte an Schu- sen aber alle Studien und Statistiken aus, dass die len im Land Brandenburg erfasst. Das sind 18 Fäl- Problemlage in den jeweiligen Schulformen ver- le (1,4%) mehr als im Jahr 2018. Schwerpunkt der schieden ist. Es besteht also weiterer Handlungs- Gewaltdelikte an Schulen bildeten die Körperver- bedarf: Gewaltprävention muss an Schulen in allen letzungen mit 826 Fällen bzw. einem Anteil von Jahrgangsstufen weiterhin aktiv wahrgenommen 62,7% (2018: 64,4%, 837 Fälle). In die polizeiliche und umgesetzt werden. Kriminalstatistik fließen nur die der Polizei bekannt gewordenen Straftaten ein.38 Die Meldungen der staatlichen Schulämter über gemeldete Vorfälle gemäß des Rundschreibens 16/17 „Hinsehen-Handeln-Helfen“ (Pkt. 6.1) zeigen für das erste Schulhalbjahr 2019/2020 im Bereich 37 vgl. John, N./Bilz, L. (2020) S. 62ff. 38 Auszug aus der Berichterstattung zur Polizeilichen Kriminalstatistik hinsichtlich der Gewalt an Schulen und gegen Lehrkräfte 18
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